Einleitung Die Griechen kannten für das, was wir mit dem Begriff Leben ausdrücken, kein Einzelwort, Sie gebrauchten zwei Begriffe, die morphologisch und semantisch verschieden sind, auch wenn man sie auf eine gemeinsame Wurzel zurückführen kann: meinte die einfache Tatsache des Lebens, die allen Lebewesen gemein ist (Tieren, Menschen und Göttern), dagegen bezeichnete die Form oder Art und Weise des Lebens, die einem einzelnen oder einer Gruppe eigen ist. Wenn Platon im Philebos drei Lebensarten anführt und Aristoteles in der Nikomac hischen Ethik das kontemplative Leben des Philosophen vom Leben der Lust und des Vergnügens apound vom politischen Leben unterscheidet, hätten sie niemals den Begriff gebrauchen können (dem bezeichnenderweise im Griechischen die Pluralform fehlt); und zwar aus dem einfachen Grund, weil es beiden in keiner Weise um das natürliche Leben, sondern um ein qualifiziertes Leben, um eine besondere Lebensweise zu tun war. Aristoteles kann sehr wohl von einer einem kai höheren und ewigen Leben sprechen (Met. 1072 b, 28), aber nur, um die nicht banale Tatsache herauszustreichen, d a ß auch Gott ein Lebewesen ist (so wie er sich im selben Kontext des Begriffs bedient, um in ebensowenig trivialer Weise den Akt des Denkens zu bestimmen); von einer der Athener Bürger zu sprechen hätte jedoch keinen Sinn ergeben. Nicht da ß der Antike die Idee nicht vertraut gewesen wäre, daß das natürliche Leben, die einfache als solche, an sich ein Gut sei; Aristoteles druckt dieses Bewußtsein in einem Abschnitt der Politik sogar mit unübertrefflicher Klarheit aus. Nachdem er daran erinnert hat, daß der Zweck des Gemeinwesens sei, dem Guten gemäß zu leben, sagt er: »Und das [dem Guten gemäß zu leben] ist nun besonders das Ziel, sowohl für alle in Gemeinschaft als auch voneinander getrennt. Sie kommen aber auch bloß um des Lebens willen zusammen, und sie verfügen zusammen über eine politische Gemeinschaft. Vielleicht liegt nämlich schon ein Teil des Guten im Leben allein an sich Wenn die Beschwerlichkeiten des Lebens nicht zu sehr über-
handnehmen so ist es klar, daß viele Menschen in ihrem Verlangen nach Leben reichlich Not ertragen, als gäbe es in diesem ein gewisses Glücksgefühl schöner Tag] und eine natürliche Annehmlichkeit.« (Pol. 278 b, 23 - 30) I
In der antiken Welt ist das einfache natürliche Leben jedoch aus der polis im eigentlichen Sinn ausgeschlossen und als rein repro-
duktives Leben strikt auf den Bereich des eingeschränkt (1 2 5 2 a, 26- 3 2). Am Anfang seiner Politik verwendet Aristoteles alle Sorgfalt darauf, den (Kopf eines häuslichen Unternehmens) und den (Familienoberhaupt), die sich um die Fortpflanzung und Erhaltung des Lebens kümmern, vom Politiker zu unterscheiden, und verspottet diejenigen, die glauben, es handle sich um einen quantitativen Unterschied und nicht um einen Unterschied in der Art. Und wo er den Zweck der Gemeinschaft bestimmt - eine Stelle (125 2 b, 30), die für die abendländische Tradition kanonisch bleiben sollte -, tut er dies gerade, indem er die einfache Tatsache des Lebens gegen das politisch qualifizierte Leben abgrenzt des Lebens willen, aber bestehend um des guten Lebens willen« (in der lateinischen Übersetzung des Wilhelm von Moerbeke, die sowohl Thomas von Aquin wie Marsilius von Padua vor sich hatten: facta quidem igitur vivendi gratia, existens autem gratia
bene vivendi). Es stimmt, da ß an einer sehr berühmten Stelle desselben Werkes der Mensch als politikon definiert wird (1253 a, 4); hier aber (abgesehen davon, da ß in der attischen Prosa das Verb kaum im Präsens gebraucht wird) ist »politisch« nicht ein Attribut des Lebewesens als solches, sondern eine spezifische Differenz zur Bestimmung der Gattung (Im übrigen wird unmittelbar danach die menschliche Politik von derjenigen der anderen Lebewesen unterschieden, weil sie durch einen sprachgebundenen Zusatz an Politizität auf einer Gemeinschaft von Gutem und Bösem, Gerechtem und Ungerechtem und nicht einfach nur von Lust- und Schmerzvollem gegründet ist). Auf diese Bestimmung bezieht sich Michel Foucault, wenn er am Schluß von Der Wille zum Wissen den Prozeß zusammenfaßt, aufgrund dessen man auf der Schwelle zur Moderne das natürliche Leben in die Mechanismen und Kalküle der Staatsmacht einzubeziehen beginnt und sich die Politik in Biopolitik 12
verwandelt: »Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblieben, was er für Aristoteles war: ein lebendes Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.« (Foucault 1, S. 171) Foucault zufolge liegt die »>biologische Modernitätsschwellet einer Gesellschaft« dort, wo die Gattung und das Individuum als einfacher lebender Körper zum Einsatz ihrer politischen Strategie werden. Im Brennpunkt seiner Vorlesungen am Collège de France steh von 1977 an der Übergang vom »Territorialstaat« zum »Bevölkerungsstaat<< und damit die schwindelerregend wachsende Bedeutung des biologischen Lebens und der Volksgesundheit für die souveräne Macht, die sich zunehmend in eine »Regierung der Menschen« verwandelt (Foucault 2, S. 719). Daraus ergibt sich eine gewisse Animalisierung des Menschen, die durch die ausgeklügeltsten politischen Techniken ins Werk gesetzt wird. Gleichzeitig mit der Ausbreitung der Möglichkeiten der Human- und Sozialwissenschaften entsteht nun auch die Möglichkeit, das Leben sowohl zu schützen wie auch seinen Holocaust zu autorisieren. Von dieser Seite her betrachtet wären insbesondere die Entwicklung und der Triumph des Kapitalismus ohne die disziplinarische Kontrolle nicht möglich gewesen, welche die neue Biomacht ausgeübt hat; mittels einer Reihe geeigneter Technologien schuf sie gewissermaße n die »gelehrigen Körper«, deren sie bedurfte. Auf der anderen Seite hat Hannah Arendt in The Human bereits Ende der fünfziger Jahre (also fast zwanzig Jahre vor Der Wille zum Wissen) den Prozeß analysiert, der den homo laborans und mit ihm das biologische Leben zunehmend ins Zentrum der politischen Bühne der Moderne rückt. Sogar die Veränderung und den Niedergang des öffentlichen Raumes hat Hannah Arendt auf diesen Vorrang des natürlichen Lebens vor dem politischen Handeln zurückgeführt. Daß ihre Forschungen praktisch ohne Nachfolge geblieben sind und Foucault sein biopolitisches Feld ohne Bezug auf sie hat eröffnen können, zeugt von den Schwierigkeiten und den Widerständen, die das Denken in diesem Bereich zu gewärtigen hatte. Und ge1
Deutsche Ausgabe unter dem Titel Vita activa oder Vom tätigen Leben; der auch im Original genannte Titel der amerikanischen Ausgabe (1959) entspricht dem referierten Inhalt thematisch besser. 13
handnehmen so ist es klar, daß viele Menschen in ihrem Verlangen nach Leben reichlich Not ertragen, als gäbe es in diesem ein gewisses Glücksgefühl schöner Tag] und eine natürliche Annehmlichkeit.« (Pol. 278 b, 23 - 30) I
In der antiken Welt ist das einfache natürliche Leben jedoch aus der polis im eigentlichen Sinn ausgeschlossen und als rein repro-
duktives Leben strikt auf den Bereich des eingeschränkt (1 2 5 2 a, 26- 3 2). Am Anfang seiner Politik verwendet Aristoteles alle Sorgfalt darauf, den (Kopf eines häuslichen Unternehmens) und den (Familienoberhaupt), die sich um die Fortpflanzung und Erhaltung des Lebens kümmern, vom Politiker zu unterscheiden, und verspottet diejenigen, die glauben, es handle sich um einen quantitativen Unterschied und nicht um einen Unterschied in der Art. Und wo er den Zweck der Gemeinschaft bestimmt - eine Stelle (125 2 b, 30), die für die abendländische Tradition kanonisch bleiben sollte -, tut er dies gerade, indem er die einfache Tatsache des Lebens gegen das politisch qualifizierte Leben abgrenzt des Lebens willen, aber bestehend um des guten Lebens willen« (in der lateinischen Übersetzung des Wilhelm von Moerbeke, die sowohl Thomas von Aquin wie Marsilius von Padua vor sich hatten: facta quidem igitur vivendi gratia, existens autem gratia
bene vivendi). Es stimmt, da ß an einer sehr berühmten Stelle desselben Werkes der Mensch als politikon definiert wird (1253 a, 4); hier aber (abgesehen davon, da ß in der attischen Prosa das Verb kaum im Präsens gebraucht wird) ist »politisch« nicht ein Attribut des Lebewesens als solches, sondern eine spezifische Differenz zur Bestimmung der Gattung (Im übrigen wird unmittelbar danach die menschliche Politik von derjenigen der anderen Lebewesen unterschieden, weil sie durch einen sprachgebundenen Zusatz an Politizität auf einer Gemeinschaft von Gutem und Bösem, Gerechtem und Ungerechtem und nicht einfach nur von Lust- und Schmerzvollem gegründet ist). Auf diese Bestimmung bezieht sich Michel Foucault, wenn er am Schluß von Der Wille zum Wissen den Prozeß zusammenfaßt, aufgrund dessen man auf der Schwelle zur Moderne das natürliche Leben in die Mechanismen und Kalküle der Staatsmacht einzubeziehen beginnt und sich die Politik in Biopolitik 12
verwandelt: »Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblieben, was er für Aristoteles war: ein lebendes Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.« (Foucault 1, S. 171) Foucault zufolge liegt die »>biologische Modernitätsschwellet einer Gesellschaft« dort, wo die Gattung und das Individuum als einfacher lebender Körper zum Einsatz ihrer politischen Strategie werden. Im Brennpunkt seiner Vorlesungen am Collège de France steh von 1977 an der Übergang vom »Territorialstaat« zum »Bevölkerungsstaat<< und damit die schwindelerregend wachsende Bedeutung des biologischen Lebens und der Volksgesundheit für die souveräne Macht, die sich zunehmend in eine »Regierung der Menschen« verwandelt (Foucault 2, S. 719). Daraus ergibt sich eine gewisse Animalisierung des Menschen, die durch die ausgeklügeltsten politischen Techniken ins Werk gesetzt wird. Gleichzeitig mit der Ausbreitung der Möglichkeiten der Human- und Sozialwissenschaften entsteht nun auch die Möglichkeit, das Leben sowohl zu schützen wie auch seinen Holocaust zu autorisieren. Von dieser Seite her betrachtet wären insbesondere die Entwicklung und der Triumph des Kapitalismus ohne die disziplinarische Kontrolle nicht möglich gewesen, welche die neue Biomacht ausgeübt hat; mittels einer Reihe geeigneter Technologien schuf sie gewissermaße n die »gelehrigen Körper«, deren sie bedurfte. Auf der anderen Seite hat Hannah Arendt in The Human bereits Ende der fünfziger Jahre (also fast zwanzig Jahre vor Der Wille zum Wissen) den Prozeß analysiert, der den homo laborans und mit ihm das biologische Leben zunehmend ins Zentrum der politischen Bühne der Moderne rückt. Sogar die Veränderung und den Niedergang des öffentlichen Raumes hat Hannah Arendt auf diesen Vorrang des natürlichen Lebens vor dem politischen Handeln zurückgeführt. Daß ihre Forschungen praktisch ohne Nachfolge geblieben sind und Foucault sein biopolitisches Feld ohne Bezug auf sie hat eröffnen können, zeugt von den Schwierigkeiten und den Widerständen, die das Denken in diesem Bereich zu gewärtigen hatte. Und ge1
Deutsche Ausgabe unter dem Titel Vita activa oder Vom tätigen Leben; der auch im Original genannte Titel der amerikanischen Ausgabe (1959) entspricht dem referierten Inhalt thematisch besser. 13
rade diesen Schwierigkeiten ist wahrscheinlich sowohl die sonderbare Tatsache geschuldet, daß Hannah Arendt in The Human Condition keinerlei Anschlüsse an die tiefgehenden Analysen herstellt, die sie zuvor der totalitären Macht gewidmet hat (und in denen jegliche biopolitische Perspektive fehlt), als auch der ebenfalls merkwürdige Umstand, daß Foucault seine Untersuchungen nie auf das Feld schlechthin der modernen Biopolitik verlegt hat: das Konzentrationslager und die Struktur der große n totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts. Der Tod hat Foucault daran gehindert, alle Implikationen des Konzepts der Biopolitik zu entfalten und die Richtung anzuzeigen, in der er die Untersuchung vertieft hätte. Doch das Eintreten der in die Sphäre der polis, die Politisierung des nackten Lebens als solches bildet auf jeden Fall das entscheidende Ereignis der Moderne und markiert eine radikale Transformation der klassischen politisch-philosophischen Kategorien. Es ist sogar wahrscheinlich, daß es, wenn die Politik heute eine fortwährende Finsternis zu durchqueren scheint, genau daran liegt, daß sie versäumt hat, es mit diesem Gründungsereignis der Moderne aufzunehmen. Die »Rätsel« (Furet, S. 7), die unser Jahrhundert dem historischen Verstehen aufgegeben hat und die ihre Aktualität behaupten (der Nazismus ist davon bloß das beunruhigendste), wird man nur auf dem Boden - demjenigen der Biopolitik - lösen können, auf dem sie gewachsen sind. Nur in einem biopolitischen Horizont wird man entscheiden können, ob die Kategorien, auf deren Opposition sich die moderne Politik gegründet hat (rechts/links, privat/öffentlich, Absolutismus/Demokratie etc.), die nun aber immer mehr verschwimmen und heute in eine eigentliche Zone der Ununterscheidbarkeit geraten, endgültig aufzugeben sind oder ob sie womöglich die Bedeutung wiedergewinnen können, die sie gerade in jenem Horizont zeitweilig verloren haben. Und nur eine Reflexion, die ausgehend von Foucaults und Walter Benjamins Ansätzen die Beziehung zwischen nacktem Leben und Politik thematisch befragt - eine Beziehung, die im geheimen auch die scheinbar am weitesten entfernten Ideologien regiert -, wird das Politische aus seiner Verborgenheit heraus- und das Denken zu seiner praktischen Aufgabe zurückführen.
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Eine der konstantesten Ausrichtungen von Foucaults Arbeit ist die entschiedene Abkehr von den traditionellen Zugangsweisen zum Machtproblem, weg von den juridisch-institutionellen Modellen (die Definition der Souveränität, die Theorie des Staates) in Richtung einer vorbehaltlosen Analyse der konkreten Weisen, in denen die Macht selbst den Körper der Subjekte und ihre Lebensformen durchdringt. In den letzten Jahren, wie das etwa ein an der Universität von Vermont gehaltenes Seminar zeigt, scheint diese Analyse zwei gesonderte Forschungsrichtungen einzuschlagen: auf der einen Seite das Studium der politischen Techniken (wie die Polizeiwissenschaft), mit denen der Staat die Sorge um das natürliche Leben der Individuen übernimmt und in sich integriert; auf der anderen Seite das Studium der Technologien des Selbst, mittels deren sich der Subjektivierungsprozeß vollzieht, der die Individuen dazu bringt, sich an die eigene Identität und zugleich an eine äußere Kontrollmacht zu binden. Es ist offensichtlich, da ß diese beiden Linien (sie folgen übrigens zwei seit Beginn von Foucaults Arbeit vorhandenen Tendenzen) sich an mehreren Punkten verknoten und auf ein gemeinsames Zentrum verweisen. In einer seiner letzten Schriften stellt Foucault fest, daß der moderne westliche Staat in einem bislang unerreichten Maß subjektive Techniken der Individualisierung und objektive Prozeduren der Totalisierung integriert hat; er spricht von einem eigentlichen »politischen double bind, das die gleichzeitige Individualisierung und Totalisierung der modernen Machtstrukturen bildet« (Foucault 3, 229 - 232).
Der Punkt, in dem diese beiden Aspekte konvergieren, ist in seinen Forschungen dennoch seltsam unbeleuchtet geblieben, so daß man bemerkt hat, er habe sich einer einheitlichen Theorie der Macht konsequent verweigert. Doch wenn Foucault den traditionellen Zugang zum Machtproblem von juridischen (»was legitimiert die Macht?«) oder institutionellen (»was ist der Staat?«) Modellen her ablehnt und vorschlägt, sich »von der theoretischen Privilegierung des Gesetzes und der Souveränität« zu lösen (Foucault I, S. I I 1) und eine Analytik der Macht aufzubauen, deren Modell und Code nicht mehr das Recht ist, wo im Körper der Macht befindet sich dann jene Zone der Ununterscheidbarkeit (oder wenigstens der Schnittpunkt), in der sich die Techniken der Individualisierung und die Prozeduren
der Totalisierung berühren? Gibt es, allgemeiner gesagt, ein einheitliches Zentrum, in dem das »double bind« seinen Ort hat? Da ß es in der Genese der Macht einen subjektiven Aspekt gibt, war bereits im Begriff der servitude volontaire von La Boétie implizit enthalten; doch welches ist der Punkt, in dem die freiwillige Knechtschaft der einzelnen mit der objektiven Macht kommuniziert? Ist es möglich, daß man sich in einem so entscheidenden Bereich mit psychologischen Erklärungen begnügt wie jener (gewiß nicht reizlosen), die eine Parallele zwischen äußeren und inneren Neurosen zieht? Und ist es angesichts von Phänomenen wie der Medien-Spektakel-Macht, die heute überall den politischen Raum verwandelt, überhaupt noch legitim oder auch nur möglich, subjektive Technologien und politische Techniken auseinanderzuhalten? Obwohl eine solche Ausrichtung in Foucaults Forschungen logisch impliziert zu sein scheint, bleibt sie ein blinder Fleck im Gesichtsfeld des Forschers oder eine Art Fluchtpunkt, der sich unendlich entzieht, auf den die verschiedenen Perspektivlinien seiner Untersuchungen (und allgemeiner die ganze abendländische Reflexion über die Macht) zulaufen, ohne ihn je erreichen zu können. Die vorliegende Untersuchung betrifft genau diesen verborgenen Kreuzpunkt zwischen dem juridisch-institutionellen Modell und dem biopolitischen Modell der Macht. Und was sie als eine der wahrscheinlichen Folgerungen hat festhalten müssen, besteht genau darin, da ß die beiden Analysen nicht getrennt werden können und da ß die Einbeziehung des nackten Lebens in den politischen Bereich den ursprünglichen - wenn auch verborgenen - Kern der souveränen Macht bildet. Man kann sogar sagen, da ß die Produktion eines biopolitischen Körpers die u r sprüngliche Leistung der souveränen Macht ist. In diesem Sinn ist die Biopolitik mindestens so alt wie die souveräne Ausnahme. Indem der moderne Staat das biologische Leben ins Zentrum seines Kalküls ruckt, bringt er bloß das geheime Band wieder ans Licht, das die Macht an das nackte Leben bindet, und knüpft auf diese Weise (gemäß einer hartnäckigen Entsprechung zwischen Modernem und Archaischem, die man in den verschiedensten Bereichen antrifft) an das Unvordenkliche der arcana imperii an. Wenn das zutrifft, dann muß man die aristotelische Defini-
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tion der p ol is in der Opposition von leben und gut leben mit erneuter Aufmerksamkeit betrachten. Tatsächlich vollzieht die Opposition im selben Zug eine Einbeziehung des ersten in das zweite, des nackten Lebens in das politisch qualifizierte Leben. In der aristotelischen Definition gilt es nicht nur, wie das bis anhin geschehen ist, den Sinn, die Modi und die möglichen Einteilungen des »guten Lebens« als telos des Politischen zu untersuchen; vielmehr ist es notwendig, sich zu fragen, warum die abendländische Politik sich vor allem über eine Ausschließung (die im selben Zug eine Einbeziehung ist) des nackten Lebens begründet. Welcher Art ist die Beziehung von Politik und Leben, wenn das Leben sich als das darbietet, was durch eine Ausschließung eingeschlossen werden muß? Die Struktur der Ausnahme, die wir im ersten Teil dieses Buches nachgezeichnet haben, scheint in dieser Perspektive konsubstantiell mit der abendländischen Politik zu sein. Foucaults Feststellung, der Mensch sei Aristoteles zufolge »ein lebendes Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist«, muß konsequent integriert werden, und zwar in dem Sinn, daß gerade die Bedeutung dieses »auch« problematisch ist. Die eigentümliche Formel »Enstanden um des Lebens willen, aber bestehend um des guten Lebens willen« kann nicht nur als Einbeziehung der Zeugung in das Sein sondern auch als eine einschließende Ausschließung (eine exceptio) der aus der polis gelesen werden, beinah als ob die Politik der Ort wäre, an dem sich das Leben in gutes Leben verwandeln muß, und als ob das, was politisiert werden muß, immer schon das nackte Leben wäre. Dem nackten Leben kommt in der abendländischen Politik das einzigartige Privileg zu, das zu sein, auf dessen Ausschließung sich das Gemeinwesen der Menschen gründet. Es ist also kein Zufall, wenn ein Abschnitt der Politik den eigentlichen Ort der p ol is im übergang von der Stimme zur Sprache ansiedelt. Das Band zwischen nacktem Leben und Politik ist dasselbe, das auch die metaphysische Definition des Menschen als »Lebewesen, das über die Sprache verfügt« in der Verbindung und sucht: »über die Sprache aber verfügt allein von den Lebewesen der Mensch. Die Stimme nun bedeutet schon ein Anzeichen von Leid und Freud, daher steht sie auch den anderen Lebewesen zu Gebote; ihre Natur ist nämlich bis dahin gelangt, daß sie über Wahrnehmung von Leid und 17
Freud verfügen und das den anderen auch anzeigen können, Doch die Sprache ist da, um das Nützliche und das Schädliche klarzulegen und in der Folge davon das Gerechte und das Ungerechte. Denn das ist im Gegensatz zu den anderen Lebewesen den Menschen eigentümlich, daß nur sie allein über die Wahrnehmung des Guten und des Schlechten, des Gerechten und des Ungerechten und anderer solcher Begriffe verfügen. Und die Gemeinschaft mit diesen Begriffen schafft Haus und Staat.« (1253a, 10-18)
Die Frage: »In welcher Weise verfügt das Lebewesen über die Sprache?« entspricht genau der Frage: »In welcher Weise bewohnt das nackte Leben die polis?« Das Lebewesen verfügt über den logos, indem es in ihm die eigene Stimme aufhebt und bewahrt, so wie es die polis bewohnt, indem es das eigene nackte Leben in ihr ausgenommen sein läßt. Die Politik erweist sich demnach als im eigentlichen Sinn fundamentale Struktur der abendländischen Metaphysik, insofern sie die Schwelle besetzt, auf der sich die Verbindung zwischen Lebewesen und Sprache vollzieht. Die »Politisierung« des nackten Lebens ist die Aufgabe schiechthin der Metaphysik, in der über die Menschheit und den lebenden Menschen entschieden wird; und wenn die Moderne diese Aufgabe annimmt, tut sie nichts anderes, als der wesentlichen Struktur der metaphysischen Tradition ihre Treue zu bekunden. Das fundamentale Kategorienpaar der abendländischen Politik ist nicht jene Freund/Feind-Unterscheidung, sondern diejenige von nacktem Leben/politischer Existenz, Ausschluß/Einschluß. Politik gibt es deshalb, weil der Mensch das Lebewesen ist, das in der Sprache das nackte Leben von sich abtrennt und sich entgegensetzt und zugleich in einer einschließenden Ausschließung die Beziehung zu ihm aufrechterhält. Der Protagonist dieses Buches ist das nackte Leben, das heißt das Leben des homo sacer, der getötet werden kann, aber nicht geopfert werden darf, und dessen bedeutende Funktion in der modernen Politik wir zu erweisen beabsichtigen. Eine obskure Figur des archaischen römischen Rechts, in der das menschliche Leben einzig in der Form ihrer Ausschließung in die Ordnung’ I
»Ordinamento« meint im Unterschied zu »ordine« (auch »Befehl«) die »politisch-rechtliche Ordnung «, wie der Begriff in dem von Carl Schmitt geprägten Zusammenhang in der Folge gebraucht wird; zur Verdeutlichung steht hier bisweilen »Rechtsordnung«.
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eingeschlossen wird, liefert also den Schlüssel, dank dessen nicht nur die heiligen Texte der Souveränität, sondern allgemeiner noch die Kodices der politischen Macht selbst ihre arcana enthüllen. Aber zugleich stellt uns diese vielleicht älteste Bedeutung des Begriffs sacer vor das Rätsel einer Figur des Heiligen diesseits oder jenseits des Religiösen, die das erste Paradigma des politischen Raumes im Abendland bildet. Die Foucaultsche These muß mithin berichtigt oder wenigstens ergänzt werden: Was die moderne Politik auszeichnet, ist nicht so sehr die an sich uralte Einschließung der in die polis noch einfach die Tatsache, daß das Leben als solches zu einem vorrangigen Gegenstand der Berechnungen und Voraussicht der staatlichen Macht wird; entscheidend ist vielmehr, daß das nackte Leben, ursprünglich am Rand der Ordnung angesiedelt, im Gleichschritt mit dem Prozeß, durch den die Ausnahme überall zur Regel wird, immer mehr mit dem politischen Raum zusammenfällt und auf diesem Weg Ausschluß und Einschluß, Außen und Innen, und Recht und Faktum in eine Zone irreduzibler Ununterscheidbarkeit geraten. Der Ausnahmezustand, in dem das nackte Leben zugleich von der Ordnung ausgeschlossen und von ihr erfaßt wurde, schuf gerade in seiner Abgetrenntheit das verborgene Fundament, auf dem das ganze politische System ruhte. Wenn seine Grenzen bis ins Unbestimmte verschwimmen, dann setzt sich das nackte Leben, das ihn bewohnte, im Staat frei und wird zum Subjekt und Objekt der Konflikte der politischen Ordnung, dem einzigen Ort sowohl der Organisation der staatlichen Macht als auch der Emanzipation von ihr. Es scheint ganz so, als ob im Gleichschritt mit dem Prozeß der Disziplinierung, durch den die Staatsmacht den Menschen als Lebewesen zu seinem eigenen spezifischen Ob jekt erhebt, ein weiterer Prozeß in Gang gekommen wäre, der im großen und ganzen mit der Geburt der modernen Demokratie zusammenfällt, in der sich der Mensch als Lebewesen nicht mehr als Objekt, sondern als Subjekt der politischen Macht präsentiert. Diese Prozesse, die einander in vielem entgegengesetzt sind und (wenigstens scheinbar) in hartem Konflikt stehen, stimmen jedoch in der Tatsache überein, daß in beiden das nackte Leben des Staatsbürgers, der neue biopolitische Körper der Menschheit auf dem Spiel steht. Demnach kennzeichnet sich die moderne Demokratie gegen‘9
über der antiken dadurch, daß sie von Anfang an als eine Einforderung und Freisetzung der erscheint, daß sie unablässig versucht, das nackte Leben selbst in Lebensform zu verwandeln und sozusagen den der zu finden. Daher rührt auch die spezifische Aporie, die darin besteht, die Freiheit und Glückseligkeit der Menschen am selben Ort - dem »nackten Leben« ins Spiel bringen zu wollen, der doch ihre Verknechtung bezeichnete. Hinter dem langen antagonistischen Prozeß, der zur Anerkennung der Menschenrechte und der formalen Freiheiten fuhrt, steht noch einmal der Körper des homo sacer [uomo sacro] mit seinem souveränen Doppel, seinem nicht opferbaren, jedoch tötbaren Leben. Diese Aporie ins Bewußtsein zu heben, bedeutet nicht, die Errungenschaften und Anstrengungen der Demokratie zu entwerten, sondern ein für allemal verstehen zu wollen, warum sie in dem Moment, da sie endgültig über ihre Gegner zu triumphieren und den Gipfel erreicht zu haben schien, sich wider alles Erwarten als unfähig erwies, jene vor einem nie dagewesenen Ruin zu bewahren, zu deren Befreiung und Glückseligkeit sie alle ihre Kräfte aufgeboten hatte. Der Niedergang der modernen Demokratie und ihre zunehmende Konvergenz mit den totalitären Staaten in den postdemokratischen Spektakel-Gesellschaften (was sich bereits mit Alexis de Tocqueville abzeichnet und in den Analysen Guy Debords klar zutage tritt) finden ihre Wurzel vielleicht in dieser Aporie, die den Beginn der Demokratie markiert und sie zu einer geheimen Komplizenschaft mit ihrem erbittertsten Feind zwingt. Unsere Politik kennt heute keinen anderen Wert (und folglich keinen anderen Unwert) als das Leben, und solange die Widerspruche, die sich daraus ergeben, nicht gelöst sind, werden Nazismus und Faschismus, welche die Entscheidung über das nackte Leben zum höchsten politischen Kriterium erhoben haben, bedrohlich aktuell bleiben. Der Zeugenschaft von Robert Antelme zufolge bestand die Lektion, welche die Konzentrationslager ihren Insassen beigebracht hatten, darin: »Sobald das eigentliche Menschsein in Frage gestellt wird, stellt sich ein fast biologischer Anspruch auf Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung ein.« (Antelme, S. IO) Die These von einer innersten Solidarität zwischen Demokratie und Totaliarismus (die wir hier, wenn auch mit aller Vorsicht, aufstellen müssen) ist offensichtlich keine historiographi2 0
sche These (übrigens ebensowenig wie Leo Strauss’ These von einer geheimen Konvergenz zwischen Liberalismus und Kommunismus, was ihr Endziel angeht), die der Ausräumung und Einebnung der enormen Unterschiede, die ihre Geschichte und ihre Gegnerschaft kennzeichnen, Vorschub leisten soll. Trotzdem muß auf der historisch-philosophischen Ebene, die ihr eigen ist, an der These entschieden festgehalten werden; denn sie allein erlaubt es, uns angesichts der neuen Realitäten und der unvorhergesehenen Konvergenzen dieses Jahrtausendendes zu orientieren und das Feld für jene neue Politik frei zu machen, die im wesentlichen noch zu erfinden bleibt. Indem Aristoteles im oben zitierten Abschnitt den »schönen Tag« des einfachen Lebens den »Beschwerlichkeiten« des politischen bios entgegensetzte, gab er der Aporie, die der abendländischen Politik zugrunde liegt, ihre vielleicht schönste Ausformulierung. Die vierundzwanzig Jahrhunderte, die seither verflossen sind, haben keine anderen als vorläufige und unwirksame Lösungen gebracht. Es ist der Politik in der Ausführung des metaphysischen Auftrags, der sie zunehmend die Form einer Biopolitik hat annehmen lassen, nicht gelungen, die Verbindung herzustellen, die den Bruch zwischen und bios, zwischen Stimme und Sprache hätte überwinden sollen. Das nackte Leben bleibt in diesem Bruch in der Form der Ausnahme eingefaßt, das heißt als etwas, das nur durch eine Ausschließung eingeschlossen wird. Wie ist es möglich, die »natürlizu »politisieren«? Und vor allem: che Annehmlichkeit« der Bedarf die wirklich der Politisierung, oder ist das Politische etwa bereits als ihr wertvollster Kern in ihr enthalten? Die Biopolitik des modernen Totalitarismus auf der einen, die Massengesellschaft des Konsums und des Hedonismus auf der anderen Seite geben gewiß, jede auf ihre Art, eine Antwort auf diese Fragen. Doch solange keine völlig neue - das heißt nicht mehr auf die exceptio des nackten Lebens gegründete - Politik da ist, wird jede Theorie und jede Praxis in einer Sackgasse steckenbleiben, und der *schöne Tag« des Lebens wird das politische Bürgerrecht nur über Blut und Tod erlangen oder in der vollkommenen Sinnlosigkeit, zu der es die Spektakel-Gesellschaft verdammt. Carl Schmitts Definition der Souveränität (»Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet«; Schmitt 1, S. 13) ist, 21
noch bevor man begriffen hätte, wovon sie wirklich handelt, zu einem Gemeinplatz geworden. Es ist nicht weniger als der Grenzbegriff der Staats- und Rechtslehre, die in ihm (da jeder Grenzbegriff die Grenze zwischen zwei Begriffen ist) an die Sphäre des Lebens anstößt und sich mit ihr vermischt. Solange der Horizont der Staatlichkeit den weitesten Kreis des Gemeinschaftslebens bildete und die politischen, religiösen, juridischen und ökonomischen Lehren, die ihn stützten, noch Bestand hatten, konnte diese »äußerste Sphäre« (ebd.) nicht wirklich ans Licht kommen. Das Problem der Souveränität war damals darauf beschränkt, zu bestimmen, wer innerhalb der Ordnung mit gewissen Machtbefugnissen ausgestattet wurde, ohne da ß die Schwelle der Ordnung selbst je in Frage gestellt wurde. Heute, da die großen staatlichen Strukturen in einen Prozeß der Auflösung geraten sind und der Notstand, wie das Benjamin vorausahnte, zur Regel geworden ist, wird es Zeit, das Problem der Grenzen und der originären Struktur der Staatlichkeit erneut und in einer neuen Perspektive aufzuwerfen. Denn die Unzulänglichkeit der anarchistischen und marxistischen Kritik des Staates bestand genau darin, diese Struktur nicht einmal erahnt und deshalb das arcanum imperii voreilig beiseite geschoben zu haben, wie wenn es außerhalb der Simulakren und der Ideologien, die ihm zur Rechtfertigung beigestellt wurden, keinen Bestand hätte. Der Kampf gegen einen Feind, dessen Struktur einem unbekannt bleibt, endet früher oder später damit, daß man sich mit ihm identifiziert. Und die Theorie des Staates (und besonders des Ausnahmezustandes, das heißt die Diktatur des Proletariats als Übergangsphase zu einer staatslosen Gesellschaft) ist gerade die Klippe, an der die Revolutionen unseres Jahrhunderts gescheitert sind. Dieses Buch, das anfänglich als Antwort auf die blutige Mystifikation einer neuen globalen Ordnung konzipiert worden war, mußte sich indes Problemen stellen - zuvorderst der Heiligkeit des Lebens -, mit denen es nicht gerechnet hatte. Aber im Verlauf der Untersuchung ist klar geworden, da ß in einem derartigen Bereich keiner der Begriffe, welche die Humanwissenschaften (von der Jurisprudenz bis zur Anthropologie) zu definieren glaubten oder als evident voraussetzten, als verbürgt anzunehmen ist und daß viele dieser Begriffe -in der Dringlichkeit der Katastrophe - einer rückhaltlosen Revision bedurften.
Erster Teil
Logik der Souveränität
I.
Das Paradox der Souveränität
I. I. Das Paradox der Souveränität druckt sich so aus: »Der Souverän steht zugleich außerhalb und innerhalb der Rechtsordnung.« Wenn derjenige souverän ist, dem die Rechtsordnung die Macht zuerkennt, den Ausnahmezustand auszurufen und auf diese Weise die geltende Ordnung aufzuheben, dann »steht« er in der Tat »außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung und gehört doch zu ihr, denn er ist zuständig für die Entscheidung, ob die Verfassung in toto suspendiert werden kann« (Schmitt 1, S. 14). Die Präzisierung »zugleich« ist mitnichten trivial: Der Souverän, der die legale Macht innehat, die Geltung des Rechts aufzuheben, setzt sich legal außerhalb des Rechts. Das bedeutet, daß das Paradox auch so formuliert werden kann: »Das Recht ist außerhalb seiner selbst«, oder: »Ich, der Souverän, der ich außerhalb des Rechts stehe, erkläre, da ß es kein Außerhalb des Rechts gibt.« Es lohnt sich, über die dem Paradox implizite Topologie nachzudenken, denn erst wenn seine Struktur einmal begriffen ist, wird klar, in welchem Maß die Souveränität die Grenze (im doppelten Sinn von Ende und Anfang) der Rechtsordnung bezeichnet. Schmitt stellt diese Struktur als die Struktur der Ausnahme dar: »Die Ausnahme ist das nicht Subsumierbare;sie entzieht sich der generellen Fassung, aber gleichzeitig offenbart sie ein spezifisch-juristisches Formelement, die Dezision, in absoluter Reinheit. In seiner absoluten Reinheit ist der Ausnahmefall dann eingetreten, wenn erst die Situation geschaffen werden muß, in der Rechtssätze gelten können. Jede generelle Norm verlangt eine normale Gestaltung der Lebensverhältnisse, auf welche sie tatbestandsmäßig Anwendung finden soll und die sie ihrer normativen Regelung unterwirft. Die Norm braucht ein homogenes Medium. Diese faktische Normalität ist nicht bloß eine >äußere Voraussetzung<, die der Jurist ignorieren kann; sie gehört vielmehr zu ihrer immanenten Geltung. Es gibt keine Ordnung, die auf ein Chaos anwendbar wäre. Die Ordnung muß hergestellt sein, damit die Rechtsordnung einen Sinn hat. Es muß eine normale Situation geschaffen werden, und souverän ist derjenige, der definitiv darüber entscheidet, ob dieser normale Zustand tatsächlich herrscht. Alles Recht ist Situationsrecht<. Der Souverän schafft und garantiert die Situation als 25
Ganzes in ihrer Totalität. Er hat das Monopol dieser letzten Entscheidung. Darin liegt das Wesen der staatlichen Souveränität, die also richtigerweise nicht als Zwangs- oder Herrschaftsmonopol, sondern als Entscheidungsmonopol juristisch zu definieren ist, wobei das Wort >Entscheidung< in dem noch weiter zu entwickelnden allgemeinen Sinne gebraucht wird. Der Ausnahmefall offenbart das Wesen der staatlichen Autorität am klarsten. Hier sondert sich die Entscheidung von der Rechtsnorm, und (um es paradox zu formulieren) die Autorität beweist, daß sie, um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben
braucht. [. . .] Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall. Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme. [. . .] Ein protestantischer Theologe, der bewiesen hat, welcher vitalen Interessen die theologische Reflexion auch im 19. Jahrhundert fähig sein kann, hat es gesagt: ›Die Ausnahme erklärt das Allgemeine und sich selbst. Und wenn man das Allgemeine richtig studieren will, braucht
man sich nur nach einer wirklichen Ausnahme umzusehen. Sie legt alles viel deutlicher an den Tag als das Allgemeine selbst. Auf die Länge wird man des ewigen Geredes vom Allgemeinen überdrüssig; es gibt Ausnahmen. Kann man sie nicht erklären, so kann man auch das Allgemeine nicht erklären. Gewöhnlich merkt man die Schwierigkeit nicht, weil man das Allgemeine nicht einmal mit Leidenschaft, sondern
mit einer bequemen Oberflächlichkeit denkt. Die Ausnahme dagegen denkt das Allgemeine mit energischer Leidenschaft.<« (Schmitt 1, s. 19-21)
Es ist kein Zufall, daß Schmitt für seine Definition der Ausnahme sich auf das Werk eines Theologen beruft (der niemand anderes ist als Sören Kierkegaard). Zwar hatte Giambattista Vico die Vorrangigkeit der Ausnahme in nicht allzu unähnlicher Weise als »letzte Konfiguration der Fakten« bestimmt (»Indidem iurisprudentia non censetur, qui beata memoria ius theticum sive summum et generale regularum tenet; sed qui acri iudicio videt in causis ultimas factorum peristases seu circumstantias, quae aequitatem sive exceptionem, quibus lege universali eximantur, promereant«; De antiquissima, Kap. II); doch gibt es im I
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»Daher wird die Rechtswissenschaft nicht von dem betrieben, der mittels eines gesegneten Gedächtnisses das positive Recht oder die allgemeinen Regeln des Gesetzes meistert, sondern eher von einem, der mit scharfem Urteil die Fälle betrachtet und die letzten Sachverhalte oder Umstände der Tatsachen zuerkennt, die Billigkeit oder eine Ausnahme von der allgemeinen Regel verdienen.*
Bereich der Rechtswissenschaften keine Theorie der Ausnahme, welche dieser einen solch hohen Rang zuspricht. Denn was Schmitt zufolge mit der souveränen Ausnahme in Frage steht, ist die Bedingung der Möglichkeit selbst der Gültigkeit der Rechtsnorm und mit ihr der Sinn der Staatsautorität. Durch den Ausnahmezustand »schafft und garantiert« der Souverän »die Situation«, deren das Recht für seine eigene Geltung bedarf. Doch was ist das für eine »Situation«? Welches ist ihre Struktur, wenn sie bloß in der Aufhebung der Norm besteht? Vicos Opposition zwischen positivem Recht (ius theticum) und Ausnahme drückt die besondere Stellung der Ausnahme gut aus. Sie ist ein Element im Recht, das über das positive Recht in Form seiner Aufhebung hinausgeht. Sie verhält sich zum positiven Recht, wie sich die negative zur positiven Theologie verhält. Während diese Gott bestimmte Eigenschaften prädiziert, negiert und suspendiert die negative (oder mystische) Theologie mit ihrem »weder . , . noch . . .« die Attribution jeglicher Prädikate. Letztere befindet sich dennoch nicht außerhalb der Theologie, sondern funktioniert bei näherem Hinsehen wie das Prinzip, das die Möglichkeit von etwas wie Theologie im allgemeinen begründet. Nur deshalb, weil die Göttlichkeit negativ als das vorausgesetzt worden ist, was außerhalb jedes möglichen Prädikats Bestand hat, kann sie Sub jekt einer Prädikation werden. Und analog dazu kann das positive Recht den Normalfall nur deshalb als Bereich seiner eigenen Gültigkeit bestimmen, weil die Gültigkeit des positiven Rechts im Ausnahmezustand suspendiert ist.
Die Ausnahme ist eine Art der Ausschließung. Sie ist ein Einzelfall, der aus der generellen Norm ausgeschlossen ist. Doch was die Ausnahme eigentlich kennzeichnet, ist der Umstand, daß das, was ausgeschlossen wird, deswegen nicht völlig ohne Beziehung zur Norm ist; sie bleibt im Gegenteil mit ihr in der Form der Aufhebung verbunden. Die Norm wendet sich auf die Ausnahme an, indem sie sich von ihr abwendet, sich von ihr zurückzieht. Der Ausnahmezustand ist also nicht das der Ordnung vorausgehende Chaos, sondern die Situation, die aus ihrer Aufhebung hervorgeht. In diesem Sinn ist die Ausnahme wirklich, der Etymologie gemäß, herausgenommen (excapt um < excapere) und nicht einfach nur ausgeschlossen. Daß die juridisch-politische Ordnung die Struktur einer Einschließung dessen hat, was zugleich ausgeschlossen wird, ist oft bemerkt worden, Die »Souveränität«, so schreiben Gilles De1.2.
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leuze und Felix Guattari, »herrscht nur über das, was sie verinnerlichen [. . .] kann« (Deleuze und Guattari, S. 494); und im Zusammenhang mit der »großen Gefangenschaft« ( l e grand renfermement), die Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft beschrieben hat, spricht Maurice Blanchot vom Versuch der Gesellschaft, das »Außen einzuschließen« (enfermer l e dehors), da s heißt eine »Innerlichkeit der Erwartung oder der Ausnahme« einzurichten. Erfährt das System eine Überschreitung, dann verinnerlicht es das, was es überschreitet, mittels eines Verbots; auf diese Weise »bezeichnet es sich als außerhalb seiner selbst« (Blanchot, S. 292). Die Ausnahme, welche die Struktur der Souveränität definiert, ist jedoch noch komplexer. Hier wird das, was draußen ist, nicht einfach mittels eines Verbots oder einer Internierung eingeschlossen, sondern indem die Gültigkeit der Ordnung aufgehoben wird, das heißt indem zugelassen wird, daß sich die 0 r d nung von der Ausnahme zurückzieht, sie verläßt.1 Es ist nicht die Ausnahme, die sich der Regel entzieht, es ist die Regel, die, indem sie sich aufhebt, der Ausnahme stattgibt; und die Regel setzt sich als Regel, indem sie mit der Ausnahme in Beziehung bleibt. Die besondere »Kraft« des Gesetzes rührt von dieser Fähigkeit her, mit einem Außen in Beziehung zu bleiben. Die äußerste Form der Beziehung, die etwas einzig durch seine Ausschließung einschließt, nennen wir AusnahmeBeziehung. Das Besondere der Situation, die im Ausnahmezustand geschaffen wird, besteht nun darin, daß sie weder als faktische noch als rechtliche Situation bestimmt werden kann, sondern dazwischen eine paradoxe Schwelle der Ununterschiedenheit errichtet. Faktisch ist sie deshalb nicht, weil sie nur durch die Aufhebung der Norm geschaffen wird; aber aus demselben Grund ist sie ebensowenig ein juristischer Tatbestand, auch wenn sie die Möglichkeit der Geltung des Rechts eröffnet. Dies ist der letzte Sinn des Paradoxes, das Schmitt formuliert, wenn er schreibt, da ß die souveräne Entscheidung, »um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht«. Denn bei der souveränen Ausnahme geht es nicht so sehr darum, eine Überschreitung zu kontrollieren oder zu neutralisieren, als vielmehr und zualI
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Zur Übersetzung von »abbandonare« (verlassen) und Begriffsfeld vgl. hier und später die grundsätzliche Anmerkung am Ende des Bandes.
lererst um die Schaffung und Bestimmung des Raumes selbst, in dem die juridisch-politische Ordnung überhaupt gelten kann. Sie ist in diesem Sinn die fundamentale »Ortung«,l die sich nicht darauf beschränkt, zwischen dem, was außen, und dem, was innen ist, zwischen normaler Situation und Chaos zu unterscheiden; sie zieht dazwischen eine Schwelle (den Ausnahmezustand), von der aus Innen und Außen in jene komplexen topologischen Beziehungen treten, welche‘ die Gültigkeit der Rechtsordnung ermöglichen. Die »Ordnung des Raumes «, in der für Schmitt der souveräne »Nomos« besteht, ist jedoch nicht nur »Landnahme«,2 Festlegung einer juridischen »Ordnung« und einer territorialen »Ortung«, sondern vor allem »Einnahme des Außen«, Ausnahme.4 Da es »keine Ordnung [gibt], die auf ein Chaos anwendbar wäre«, muß dieses zuerst durch Schaffung einer Zone der Ununterschiedenheit zwischen Innen und Außen, Chaos und normaler Situation, das heißt des Ausnahmezustandes, eingeschlossen werden. Denn eine Norm muß, um sich auf etwas beziehen zu können, das voraussetzen, was außerhalb der Beziehung ist (das Beziehungslose), und trotzdem auf diese Weise eine Beziehung damit herstellen. Die Ausnahmebeziehung führt so einfach die originäre formale Struktur der Rechtsbeziehung vor. Die souveräne Entscheidung über die Ausnahme ist in diesem Sinn die originäre politisch-juridische Struktur, von der aus das, was in der Ordnung eingeschlossen und das, was aus ihr ausgeschlossen ist, erst seine Bedeutung gewinnt. In seiner archetypischen Form ist der Ausnahmezustand das Prinzip jeglicher juridischen Lokalisierung; denn nur in ihm öffnet sich der Raum, in dem die Festlegung einer gewissen Ordnung und eines bestimmten Territoriums erstmals möglich wird. Als solcher ist er aber wesentlich unlokalisierbar (auch wenn ihm von Mal zu Mal definierte raumzeitliche Grenzen zugewiesen werden können). Der Nexus von Ortung5 und Ordnung,6 der den »Nomos der Erde« konstituiert (Schmitt 2, S. 48), ist mithin noch komplexer, als ihn Schmitt beschreibt; es wohnt ihm eine fundamentale Doppeldeutigkeit inne, eine nicht zu lokalisierende Zone der Ununterschiedenheit oder der Ausnahme, die als Prinzip der unendlichen Verschiebung letzten Endes gegen 1 Im Original deutsch beigefügt. 2 Im Original deutsch hinter »presa della terra« beigefügt.
Im Original deutsch hinter (ordine) »guridico« und »territoriale« beigefügt. 4 Im Original deutsch hinter »›presa del fuori<, eccezione« beigefügt. 5 Im Original deutsch hinter »localizzazione« beigefügt. 6 Im Original deutsch hinter »ordinamento« beigefügt. 3
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ihn selbst agiert. Eine der Thesen dieser Untersuchung ist die, daß gerade der Ausnahmezustand als fundamentale politische Struktur in unserer Zeit immer mehr in den Vordergrund rückt und letztlich zur Regel zu werden droht. Als man in unserer Zeit versucht hat, diesem Unlokalisierbaren eine dauerhafte sichtbare Lokalisierung zu verleihen, kam das Konzentrationslager heraus. Das Lager, und nicht das Gefängnis, ist der Raum, der dieser originären Struktur des Nomos entspricht. Das zeigt unter anderem die Tatsache, daß das Strafvollzugsrecht nicht außerhalb der normalen Rechtsordnung liegt, sondern bloß einen besonderen Bereich des Strafrechts bildet, während die juristische Konstellation, unter der das Lager steht, das Kriegsrecht und der Belagerungszustand ist, wie wir noch sehen werden. Deshalb ist es nicht möglich, die Analyse des Lagers in jene Bahnen einzuschreiben, die Foucault von Wahnsinn un d Gesellschaft bis überwachen und Strafen gezogen hat. Das Lager als absoluter Ausnahmeraum ist topologisch verschieden von einem einfachen Haftraum. Und in diesem Ausnahmeraum zerreißt der Nexus zwischen Ortung und Ordnung, der die Krise des alten »Nomos der Erde« geprägt hat, endgültig.
1.3. Die Gültigkeit einer Rechtsnorm stimmt nicht mit ihrer Anwendung auf den einzelnen Fall, etwa in einem Prozeß oder im Vollzug, überein; im Gegenteil muß die Norm, gerade weil sie allgemein ist, unabhängig vom Einzelfall gelten. Hier zeigt die Sphäre des Rechts ihre Wesensnähe zu jener der Sprache. So wie ein Wort im tatsächlichen Vollzug der Rede die Macht, einen Ausschnitt der Wirklichkeit zu bezeichnen, nur insofern erlangt, als es auch, wenn es selbst nicht bezeichnet, Bedeutung hat (das heißt als langue im Unterschied zu parole, als Wort in seinem schieren lexikalischen Bestand, unabhängig von seinem konkreten Einsatz in der Rede), so kann auch eine Norm sich nur deshalb auf einen Einzelfall beziehen, weil sie in der souveränen Ausnahme als reine Potenz gilt, in der Aufhebung jeglichen aktuellen Bezugs. Und so wie die Sprache das Nichtsprachliche als dasjenige voraussetzt, mit dem sie in virtueller Beziehung bleiben muß (in Form einer langue, oder genauer eines grammatikalischen Spiels, einer Rede, deren aktuelle Bezeichnung unbestimmt in der Schwebe gehalten wird), um es dann im Vollzug der Rede bezeichnen zu können, so setzt das Gesetz das Nichtrechtliche (zum Beispiel die schiere Gewalt als Naturzustand) als das voraus, womit sie im Ausnahmezustand potentiell verbunden bleibt. Die souveräne Ausnahme (als Zone der Ununterschiedenheit zwischen Natur und Recht) ist die Vor30
aussetzung der juridischen Referenz in der Form ihrer Aufhebung. In jeder Norm, die etwas gebietet oder verbietet (zum Beispiel in der Norm, die den Mord verbietet) ist als vorausgesetzte Ausnahme die reine und unsanktionierbare Figur des Tatbestandes eingeschrieben, der im Normalfall die Normübertretung erfüllt (wie, im nämlichen Beispiel, die Tötung eines Menschen nicht als natürliche Gewalt, sondern als souveräne Gewalt im Ausnahmezustand). Hegel war der erste, der diese voraussetzende Struktur der Sprache bis ins Innerste verstanden hat; aufgrund dieser Struktur ist die Sprache zugleich außerhalb und innerhalb ihrer selbst, und das Unmittelbare (das Nichtsprachliche) stellt sich als nichts anderes als eine Voraussetzung der Sprache heraus. »Das vollkommene Element«, schreibt Hegel in der Phänomenologie des Geistes, »worin die Innerlichkeit ebenso äußerlich als die Äußerlichkeit innerlich ist, ist [.. .] die Sprache« (Hegel, S. 528f.). Wie nur die souveräne Entscheidung über den Ausnahmezustand den Raum gibt, in dem die Grenzen zwischen dem Innen und dem Außen gezogen und bestimmte Normen bestimmten Gebieten zugewiesen werden können, so teilt nur die Sprache als reine Potenz der Bezeichnung, indem sie sich aus jedem konkreten Redevollzug zurückzieht, das Sprachliche vom Nichtsprachlichen und erlaubt, den bezeichnenden Reden Bereiche zu öffnen, in denen bestimmten Worten bestimmte Bedeutungen entsprechen. Die Sprache ist der Souverän, der in einem permanenten Ausnahmezustand erklärt, daß es kein Außerhalb der Sprache gibt, daß Sprach e stets jenseits ihrer selbst ist. Die eigentümliche Struktur des Rechts hat ihr Fundament in dieser voraussetzenden Struktur der menschlichen Sprache. Sie formuliert das Band der einschließenden Ausschließung, dem ein Ding aufgrund der Tatsache, in der Sprache zu sein, genannt zu werden, unterworfen ist. Sprechen ist in diesem Sinn immer ius dicere.
1.4, Aus dieser Perspektive steht die Ausnahme in einer symmetrischen Position zum Beispiel und bildet ein System mit ihm. Ausnahme und Beispiel sind die beiden Modi, mittels deren eine Menge die eigene Kohärenz herzustellen und zu erhalten sucht. Doch während die Ausnahme, wie wir gesehen haben, eine einschließende Ausschließung ist (also dazu dient, das einzuschließen, was ausgestoßen wird), funktioniert das Beispiel als ausschließende Einschließung. Man nehme den Fall des grammatikalischen Exempels (Milner, S. 176): Das Paradox besteht hier darin, daß eine einzelne Aussage, die sich in nichts von den anderen Fällen ihrer Art unterscheidet, von diesen gerade insofern isoliert wird, als es zu ihnen gehört. Wenn man als Bei31
spiel eines performativen Sprechakts das Syntagma » I c h liebe dich« ausspricht, kann es einerseits nicht wie in einem normalen Kontext verstanden werden, andererseits aber muß es wie eine reale Aussage behandelt werden, um als Beispiel fungieren zu können. Was das Exempel zeigt, ist seine Zugehörigkeit zu einer Klasse, aber genau darum fällt es im selben Moment, da es diese zur Schau stellt, als exemplarischer Fall aus ihr heraus (im Fall eines linguistischen Syntagmas zeigt es das eigene Bedeuten und hebt auf diese Weise die Bedeutung auf). Wenn man nun fragt, ob die Regel auf das Beispiel angewandt wird, so ist die Antwort nicht einfach, denn man wendet die Regel nur auf das Beispiel als Normalfall an, und eben nicht als Beispiel. Das Beispiel ist aus dem Normalfall nicht deshalb ausgeschlossen, weil es nicht dazugehörte, sondern weil es seine Zugehörigkeit zur Schau stellt. Es ist tatsächlich paradeigma im etymologischen Wortsinn, das, was »sich daneben zeigt <<; eine Klasse kann alles beinhalten, nur nicht das eigene Paradigma. Der Mechanismus der Ausnahme ist anders. Während das Beispiel von der Menge insofern ausgeschlossen wird, als es dazugehört, ist die Ausnahme gerade deswegen in den Normalfall eingeschlossen, weil sie nicht dazugehört. Und so wie die Zugehörigkeit zu einer Klasse nur durch ein Beispiel erwiesen werden kann, das heißt außerhalb der Klasse, so kann die Nichtzugehörigkeit nur in ihrem Innern erwiesen werden, das heißt mit einer Ausnahme. In jedem Fall (das zeigt der Disput zwischen Anomalisten und Analogisten unter den antiken Grammatikern) sind Ausnahme und Beispiel korrelierte Begriffe, die letztlich ununterscheidbar werden und jedesmal ins Spiel kommen, wenn es darum geht, den Sinn selbst der Zugehörigkeit der einzelnen, den Sinn ihrer Gemeinschaftsbildung zu definieren. So komplex gestaltet sich, in jedem logischen wie in jedem sozialen System, das Verhältnis zwischen dem Drinnen und dem Draußen, zwischen Fremdheit und Vertrautheit. Die exceptio des römischen Prozeßrechts gibt diese besondere Struktur der Ausnahme gut zu erkennen. Sie ist ein Verteidigungsinstrument des Beklagten, das bei einem Urteil die Schlüssigkeit der vom Kläger geltend gemachten Gründe neutralisieren kann, falls die normale Anwendung des ius civile sich als ungerechtfertigt herausstellen sollte. Die Römer sahen darin eine Form der gegen die Anwendung des ius civile ge-
richteten Ausschließung (Dig.
Ulp. 74: »Exceptio dicta est quasi
quaedem exclusio, quae opponi actioni solet ad excludendum id, quod in intentionem condemnationemve deductum In diesem Sinn ist die exceptio nicht vollständig außerhalb der Rechts, sondern manifestiert einen Widerstreit zwischen zwei juristischen Erfordernissen, der im römischen Recht auf die Gegenüberstellung zwischen ius civile und ius honorarium verweist, das heißt das vom Prätor eingeführte Recht mit dem Zweck, die exzessive Allgemeinheit der zivilrechtlichen Normen zu mäßigen. Der technische Ausdruck verleiht der exceptio den Charakter einer negativen Bedingungsklausel, welche die Prozeßformel zwischen die intentio und die condemnatio einfügt und mittels deren die Verurteilung des Beklagten von der Nichtexistenz der von ihm zur Verteidigung vorgebrachten Tatsache abhängt (zum Beispiel: si in ea re nihil malo A. Agerii factum rit neque fiat,2 das heißt, wenn es keinen Vorsatz gab). Auf diese Weise ist der Ausnahmefall aus der Anwendung des ius civile ausgeschlossen, ohne daß allerdings die Zugehörigkeit des Sachverhaltes zum normativen Tatbestand in Frage gestellt wäre. Die souveräne Ausnahme geht darüber hinaus: Sie verschiebt den Widerstreit zwischen zwei juristischen Erfordernissen in ein Grenzverhältnis zwischen dem, was innerhalb, und dem, was außerhalb des Rechts ist. Es mag unangemessen erscheinen, die Struktur der souveränen Macht angesichts der Grausamkeit ihrer faktischen Implikationen mittels zweier harmloser grammatikalischer Kategorien zu definieren. Dennoch gibt es einen Fall, in dem der Entscheidungscharakter des linguistischen Beispiels und seine Grenzverschmelzung mit der Ausnahme eine offenkundige Implikation mit der Macht über Leben und Tod aufweisen. Es handelt sich um die Episode im Buch der Richter 12,6, in der die Gileaditer die flüchtenden Ephraimiter, die sich über den Jordan in Sicherheit zu bringen versuchen, dadurch erkennen, daß sie von ihnen verlangen, das Wort »Schibbolet« zu sagen, das die Ephraimiter aber als aussprechen (»Dicebant ei Galaaditae: numquid Ephrataeus es? Quo dicente: non sum, interrogabant eum: dic ergo Scibbolet, quod interpretatur spica. Qui respondebat: sibbolet, eadem littera spicam exprimere non valens. Statimque apprehensum ingulabant in ipso Jordanis transitu«). Im Schibbolet vermischen sich Beispiel und Ausnahme: Es ist eine beispielhafte Ausnahme oder ein Beispiel, das als Ausnahme gilt. (Es wundert daher nicht, daß man im Ausnahmezustand gerne auf exemplarische Strafen zurückgreift.)
I
2
»Ausnahme heißt eigentlich gewissermaßen eine Ausschließung, die gewöhnlich einer Klage entgegengehalten wird, um das auszuschließen, was Gegenstand der klägerischen Forderung und der Verurteilung ist.« *Wenn in dieser Angelegenheit in Folge von Arglist des Aulus Agerius weder etwas geschehen ist noch geschieht«. 33
. 5. In der Mengenlehre unterscheidet man zwischen Zugehörigkeit und Einschließung. Eine Einschließung liegt vor, wenn ein Glied in dem Sinn Teil einer Menge ist, daß alle ihre Glieder Teil der Menge sind (man sagt dann, daß b eine Untermenge von a ist, und schreibt: b C a). Aber ein Glied kann auch zu einer Menge gehören, ohne in sie eingeschlossen zu sein (die Zugehöa), oder rigkeit als Grundbegriff der Mengenlehre, lautet: b umgekehrt eingeschlossen sein, ohne dazuzugehören. Alain Badiou hat diese Unterscheidung entwickelt, um sie in politische Begriffe zu übersetzen. Er läßt die Zugehörigkeit der Präsentation und die Einschließung der Repräsentation (Re-Präsentation) entsprechen. So kann man sagen, daß ein Glied zu einer Situation dazugehört, wenn es als ein Glied präsentiert und gezählt wird (in politischen Begriffen sind das die einzelnen Individuen, insofern sie zu einer Gesellschaft gehören). Daß ein Glied in eine Situation eingeschlossen ist, sagt man hingegen, wenn es in der Metastruktur (dem Staat) repräsentiert wird, in der die Struktur der Situation ihrerseits als ein Glied gezählt wird (das sind die Individuen, insofern sie vom Staat in Klassen neu gefaßt werden, zum Beispiel als ,Wähler«). Badiou definiert ein Glied dann als normal, wenn es zugleich präsentiert und repräsentiert wird (das heißt dazugehört und eingeschlossen ist), als dagegen ein Glied, das repräsentiert, aber nicht präsentiert wird (also in eine Situation eingeschlossen ist, jedoch nicht dazugehört), als singulär schließlich ein Glied, das präsentiert, aber nicht repräsentiert wird (das dazugehört, ohne eingeschlossen zu sein) (Badiou, S. 95 Was wird aus der souveränen Ausnahme in diesem Schema? Auf den ersten Blick könnte man denken, daß sie im dritten Fall enthalten ist und somit eine Form der Zugehörigkeit ohne Einschließung darstellt. Und so verhält es sich bestimmt aus Badious Sicht. Aber die Eigentümlichkeit des souveränen Anspruchs besteht eben darin, d a ß er sich auf die Ausnahme anwendet, indem er sich von ihr abwendet, daß er das einschließt, was außerhalb seiner liegt. Die souveräne Ausnahme ist mithin die Figur, in der die Singularität als solche repräsentiert ist, das heißt, insofern sie unrepräsentierbar ist. Was auf keinen Fall eingeschlossen werden kann, wird in der Form der Ausnahme eingeschlossen. Sie I
I Auswuchs, Wucherung; vor allem medizinisch gebraucht.
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fügt in Badious Schema eine vierte Figur ein, eine Schwelle der Ununterschiedenheit zwischen Exkreszenz (Repräsentation ohne Präsentation) und Singularität (Präsentation ohne Repräsentation), eine Art von paradoxer Einschließung der Zugehörigkeit selbst. Sie ist dasjenige, was nicht in das Ganze eingeschlossen werden kann, zu dem sie gehört, und nicht zu der
Menge gehören kann, in die sie schon immer eingeschlossen ist. Was in dieser Grenzfigur hervortritt, ist die radikale Krise jeglicher Möglichkeit, deutlich zwischen Zugehörigkeit und Einschließung, zwischen dem, was draußen, und dem, was drinnen ist, zwischen Ausnahme und Norm zu unterscheiden. Badious Denken ist so gesehen ein rigoroses Denken der Ausnahme. Tatsächlich entspricht seine zentrale Kategorie, das Ereignis, auch der Struktur der Ausnahme. Er bestimmt das Ereignis als Element einer Situation derart, da ß seine Zugehörigkeit zu ihr in der Perspektive der Situation selbst Unentscheidbar ist. Darum erscheint dem Staat das Ereignis zwangsläufig als Exkreszenz. Darüber hinaus kennzeichnet das Verhältnis zwischen Zugehörigkeit und Einschließung nach Badiou eine fundamentale Inadäquatheit, aufgrund deren die Einschließung die Zugehörigkeit immer überschreitet (Theorem des Überschreitungspunktes). Die Ausnahme drückt gerade diese Unmöglichkeit eines Systems aus, die Einschließung mit der Zugehörigkeit in Übereinstimmung zu bringen, alle ihre Teile auf eine Einheit zu reduzieren. Unter dem Blickwinkel der Sprache kann man die Einschließung der Bedeutung und die Zugehörigkeit der Denotation zuordnen. Dem Theorem des Überschreitungspunktes entspricht dann die Tatsache, da ß ein Wort immer mehr Bedeutung birgt, als es im Akt der Denotation bezeichnen kann, daß es über die Denotation hinaus einen uneinholbaren Überschuß an Bedeutung gibt. Genau um diesen Überschuß geht es in Claude Lévi-Strauss’ Theorie von der konstitutiven Überschreitung des Signifikanten gegenüber dem Signifikat (,Zwischen beiden besteht immer eine Inadäquatheit, die nur für den göttlichen Verstand auflösbar ist und die daraus resultiert, daß es einen Überfluß von Signifikanten gibt im Verhältnis zu den Signifikaten, welche es besetzen Lévi-Strauss, S. 39) und in Benvenistes Lehre von der irreduziblen Opposition zwischen Semiotischem und Semantischem. Unser gegenwärtiges Denken sieht sich in allen Bereichen mit der Struktur der Ausnahme konfrontiert. Die Behauptung der Souveränität der Sprache bestünde dann im Versuch, die Bedeutung mit der Denotation zur Deckung zu bringen, dazwischen eine Zone der Ununterschiedenheit einzurichten, in der die Sprache mit ihren denotata in Beziehung bleibt, indem sie sie verläßt bandonandoli], indem sie sich von ihnen in eine reine (den lingui35
stischen »Ausnahmezustand«) zurückzieht. Das tut die Dekonstruktion, wenn sie die Unentscheidbarkeiten in der unendlichen Überschreitung über jede effektive Möglichkeit des Signifikats stellt. I .6. Deshalb nimmt die Souveränität bei Schmitt die Form einer Entscheidung über die Ausnahme an. Die Entscheidung ist hier nicht Ausdruck des Willens eines Subjekts, das allen anderen hierarchisch übergeordnet ist, sondern stellt die Einschreibung der Äußerlic hkeit in den Körper des nomos dar, die ihn beseelt und ihm Sinn verleiht. Der Souverän entscheidet nicht über das Zulässige und das Unzulässige, sondern über die ursprüngliche Einbeziehung des Lebewesens in die Sphäre des Rechts oder, mit Schmitts Worten, in die »normale Gestaltung der Lebensverhältnisse«, deren das Gesetz bedarf. Die Entscheidung betrifft weder eine quaestio iuris noch eine quaestiofacti, sondern die Beziehung selbst zwischen Rechtlichem und Faktischem. Es geht hier nicht nur, wie Schmitt zu meinen scheint, um den Einfall des »wirklichen Lebens«, das in der Ausnahme »die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik« »durchbricht« (Schmitt I, S, sondern um etwas, das die innerste Natur des Gesetzes betrifft. Das Recht besitzt normativen Charakter, es ist nicht deswegen »Norm« (im eigentlichen Sinn von »Winkelmaß«), weil es befiehlt oder vorschreibt, sondern insofern es vor allem den Bereich der eigenen Referenz im wirklichen Leben schaffen und diese Referenz normalisieren muß. Die originäre Struktur der Norm ist aus diesem Grund insofern sie also die Bedingungen der Referenz festlegt und zugleich voraussetzt stets folgenden Typs: »Wenn (realer Sachverhalt, e. g.: si membrum rupsit ), dann (juristische Konsequenz, e.g.: talio hier wird ein Faktum durch seine Ausschließung in die Rechtsordnung eingeschlossen, und die Überschreitung scheint dem zulässigen Fall vorauszugehen und ihn zu bestimmen. Wenn das Recht ursprünglich die Form einer lex talionis (talio geht vielleicht auf talis zurück: »die Sache als solche«) hat, dann bedeutet das, da ß die Rechtsordnung nicht einfach mit der Sanktion einer Überschreitung steht, sondern sich eher mittels der Wiederholung derselben Handlung ohne jede Sanktion konstituiert, das
membrum rupsit, ni cum eo pacit, talio esto: »Wenn er einem ein Glied bricht und sich nicht mit ihm vergleicht, soll ihm das gleiche geschehen« (Duod. tab. ap. Fest.).
Si
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heißt als Ausnahmefall. Dieser ist keine Bestrafung der ersten Handlung, sondern vollzieht die Einschließung in die Rechtsordnung, setzt die Gewalt als ursprüngliche Rechtshandlung Festus 496, (permittit enim lexparem Die Chiffre dieser Hereinnahme des Lebens ins Recht ist nicht die Sanktion (die keineswegs ein ausschließliches Merkmal der Rechtsnorm ist), sondern die Schuld (nicht in dem technischen Sinn, die sie als Begriff im Strafrecht hat, sondern im ursprünglichen Sinn eines In-der-Schuld-Seins: in culpa esse); das bedeutet eben, durch eine Ausschließung eingeschlossen zu werden, mit etwas in Beziehung zu stehen, wovon man ausgeschlossen ist oder das man nicht vollständig annehmen kann. Die Schuld bezieht sich nicht auf die Überschreitung, das beißt auf die Bestimmung des Zulässigen oder Unzulässigen, sondern a u f die reine Geltung des Gesetzes, a u f den einfachen Umstand, daß sich das Gesetz auf etwas bezieht. Dies ist auch der letzte Grund der - jeder Moral fremden - juridischen Maxime, daß Unwissenheit nicht vor Strafe schützt. Diese Unmöglichkeit zu entscheiden, ob die Schuld die Norm begründet oder die Norm die Schuld setzt, wirft ein klares Licht auf die Ununterscheidbarkeit zwischen Außen und Innen, Leben und Recht, welche die souveräne Entscheidung über die Ausnahme kennzeichnet. Die »souveräne« Struktur des Gesetzes, seine eigentümliche und ursprüngliche »Kraft«, hat die Form des Ausnahmezustandes, in dem Faktum und Recht ununterscheidbar sind (und dennoch darüber entschieden werden muß). Das Leben, das auf diese Weise ob-ligat gemacht, ins Recht einbezogen ist, kann dies letztlich nur durch die Voraussetzung seiner einschließenden Ausschließung, nur in der exceptio sein. Es gibt da eine Grenzfigur des Lebens, eine Schwelle, wo sich das Leben zugleich außerhalb und innerhalb der Rechtsordnung befindet, und diese Schwelle ist der Ort der Souveränität. Deshalb muß die Behauptung, daß »die Regel [. . .] überhaupt nur von der Ausnahme« »lebt«, buchstäblich genommen werden. Das Recht lebt von nichts anderem als dem Leben, das es durch die einschließende Ausschließung der exceptio in sich hineinzunehmen vermag: Es nährt sich davon und ist ohne es toter Buchstabe. In diesem Sinn hat das Recht »kein Dasein für sich, I
»Denn das Gesetz erlaubt gleichwertige Rache.« 37
.
sein Wesen vielmehr ist das Leben der Menschen selbst« (Savigny). Die souveräne Entscheidung zieht und erneuert von Mal zu Mal diese Schwelle der Ununterschiedenheit zwischen Auße n und Innen, Ausschließung und Einschließung, nomos und Recht ausge physis, wo das Leben in ursprünglicher Weise nommen wird. Ihre Entscheidung ist die Position eines Unentscheidbaren. Es ist kein Zufall, daß die erste Arbeit Schmitts ganz der Definition des rechtlichen Begriffs der Schuld gewidmet ist. Was an dieser Studie sofort auffällt, ist die Entschiedenheit, mit welcher der Verfasser jede technisch-formale Definition des Schuldbegriffs ablehnt, um ihn dagegen mit Ausdrucken zu charakterisieren, die auf den ersten Blick eher moralisch als juridisch erscheinen. Denn die Schuld ist (entgegen dem alten rechtlichen Sprichwort, das ironisch behauptet, es gebe »keine Schuld ohne Norm«) vornehmlich ein »Vorgang des Innenlebens*, das heißt etwas wesentlich »Innersubjektives« (Schmitt 3, S. 8 - 28); man kann es als wahren »bösen Willen« qualifizieren, der »in der den Zwekken des Rechtes nicht entsprechenden Zwecksetzung« besteht (ebd., S. 92). Es läßt sich nicht sagen, ob Benjamin diesen Text kannte, als er Schick sal und Charakter und Zur Kritik der Gewalt schrieb; unbestreitbar ist jedoch, d a ß seine Definition der Schuld als ursprünglicher Rechtsbegriff, der ungebührlich auf die ethisch-religiöse Sphäre übertragen wurde, mit Schmitts Auffassung genau übereinstimmt - auch wenn sie entschlossen eine andere Richtung einschlägt. Denn Benjamin geht es gerade darum, die Stufe der dämonischen Existenz, deren Residuum das Recht ist, zu überwinden und den Menschen von der Schuld zu befreien (was nichts anderes als die Einschreibung des natürlichen Lebens in die Ordnung des Rechts und des Schicksals ist). Dagegen steht im Mittelpunkt von Schmitts Einforderung des rechtlichen Charakters und der zentralen Bedeutung der Schuld nicht die Freiheit des ethischen Menschen, sondern lediglich die zügelnde Kraft einer souveränen Macht welche die Herrschaft des Antichristen bestenfalls hinauszögern kann. Eine analoge Konvergenz liegt bezüglich des Charakters vor. Schmitt unterscheidet wie Benjamin klar zwischen Schuld und Charakter (der »Begriff der Strafschuld«, schreibt er, »hat es also mit einem operari, nicht mit einem esse zu tun«; ebd., S. 46). Bei Benjamin stellt sich aber gerade dieses Element (der Charakter als das, was sich jedem bewußten Willen entzieht) als das Prinzip vor, das den Menschen von der Schuld zu erlösen und seine natürliche Unschuld zu erweisen vermag. I
I
Hervorhebung durch den Übersetzer.
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.7. Wenn die Ausnahme die Struktur der Souveränität ist, dann ist die Souveränität weder ein ausschließlich politischer noch ein ausschließlich juridischer Begriff, weder eine dem Gesetz äußerliche Potenz (Schmitt) noch die höchste Norm der Rechtsordnung (Hans Kelsen): Sie ist die originäre Struktur, in der sich das Gesetz auf das Leben bezieht und es durch die eigene Aufhebung in sich einschließt. Diese Potenz (im eigentlichen Sinn der aristotelischen dynamis, die immer auch dynamis energein ist, die Potenz, nicht zum Akt überzugehen) des Gesetzes, sich im eigenen Entzug zu unterhalten, sich in der Abwendung anzuwenden, nennen wir, einem Hinweis von Jean-Luc Nancy folgend, Bann (das alte germanische Wort bezeichnet sowohl den Ausschluß aus der Gemeinschaft als auch den Befehl und das Banner des Souveräns). Die Ausnahmebeziehung ist eine Beziehung des Banns. Tatsächlich ist der Verbannte ja nicht einfach außerhalb des Gesetzes gestellt und von diesem unbeachtet gelassen, sondern von ihm verlassen [abbundonato], das heißt ausgestellt und ausgesetzt auf der Schwelle, wo Leben und Recht, Außen und Innen verschwimmen. Von ihm läßt sich in einem buchstäblichen Sinn nicht sagen, ob er außerhalb oder innerhalb der Ordnung ist (aus diesem Grund bedeuten im Italienischen »in bando, a bandono« ursprünglich »der Gnade überlassen, ausgeliefert« [alla di] sowie »aus freien Stücken, freiwillig« [a proprio talento], und »bandito« meint sowohl »ausgeschlossen, verbannt« als auch »für alle offen, frei«, etwa in den Wendungen »mensa bandita «, »öffentlicher, reich gedeckter Tisch«, und »a redina bandita« »mit losgelassenen Zügeln«). Deshalb kann auch das Paradox der Souveränität die Form annehmen: »Es gibt kein Außerhalb des Gesetzes«. Die originäre Beziehung des Gesetzes mit dem Leben ist nicht die Anwendung, sondern die Verlassenheit[l’Abbandono]. Die unüberbietbare Potenz des nomos, seine originäre »Gesetzeskraft«, besteht darin, daß er das Leben in seinem Bann hält, indem er es verläßt. Diese Struktur des Banns gilt es hier zu verstehen, um sie gegebenenfalls erneut in Frage zu stellen. I
Der Bann ist eine Beziehungsform. Doch um was für eine Beziehung handelt es sich eigentlich, wenn sie keinen positiven Inhalt hat und sich die Glieder gegenseitig auszuschließen (und zugleich einzuschließen) scheinen? Welche Gesetzesform druckt sich darin aus? Der Bann ist 39
die reine Form des Sich-auf-etwas-Beziehens im allgemeinen, das heißt die einfache Setzung einer Beziehung mit dem Beziehungslosen. In diesem Sinn ist sie mit der Grenzform der Beziehung identisch. Eine Kritik des Banns muß also notwendigerweise die Beziehungsform selbst zum Problem erheben und fragen, ob das Politische nicht vielleicht jenseits der Beziehung, das heißt nicht mehr in der Form eines Verhältnisses gedacht werden kann.
2.
Nomos basileus
2.1. Der Grundsatz, nach dem die Souveränität zum Gesetz gehört und der von unserer heutigen Auffassung von Demokratie und Rechtsstaat nicht zu trennen zu sein scheint, räumt das Paradox der Souveränität keineswegs aus, sondern treibt es im Gegenteil auf die Spitze. Seit der ältesten überlieferten Formulierung dieses Grundsatzes, dem Fragment. 169 von Pindar, ist die Souveränität des Gesetzes in einer derart dunklen und doppeldeutigen Dimension angesiedelt, daß man diesbezüglich mit gutem Grund von einem »Rätsel« gesprochen hat (Ehrenberg, S. 1 19). Hier also der Text des Fragments in der Rekonstruktion Boeckhs:
te kai
Das Rätsel besteht nicht so sehr darin, mehrere Interpretationen des Fragments möglich sind; entscheidend ist vielmehr, daß der Dichter daran läßt der Bezug auf Herakles’ Diebstahl keinen Zweifel die Souveränität des durch eine Rechtfertigung der Gewalt bestimmt. Die Bedeutung des Fragments klärt, sich also nur, wenn man begreift, daß es in seinem Zentrum eine skandalöse Zusammenfügung jener beiden antithetischen Prinzipien schlechthin birgt, welche für die Griechen und Gewalt und Gerechtigkeit, sind. ist die Macht, die »mit höchster Hand« die paradoxe Vereinigung der beiden Gegenkräfte bewerkstelligt (wenn man in diesem Sinn unter »Rätsel« die aristotelische Definition von als »Verbindung von Gegensätzen« versteht, so enthält das Fragment wirklich ein Rätsel).
I
»Nomos, der König aller Sterblichen wie Unsterblichen, lenkt, Recht setzend, das Gewaltsamste mit höchster Hand. Ich beweise es durch Herakles’ Taten.« Der Text ist umstritten.
Wenn man im Fragment 24 von Solon lesen (wie das die meisten Forscher tun), dann wurde die spezifische »Kraft« des Gesetzes bereits im sechsten Jahrhundert genau in der »Verknüpfung« von Gewalt und Gerechtigkeit erte kai »durch kannt Kraft des habe ich Gewalt und Recht verknüpft«; aber auch wenn man statt liest, bleibt der zentrale Gedanke derselbe, wenn Solon von seiner Handlung als Gesetzgeber spricht; vgl. Romilly, S. I Auch ein Abschnitt von siods Werke und diesen mochte im Sinn gehabt haben weist dem eine entscheidende Stellung im Verhältnis von Gewalt und Recht zu: Perses, du aber laß dir davon das Herz nun bewegen: Höre du jetzt auf das Recht und schlag die Gewalt aus dem Sinn dir Denn ein solches Gesetz erteilt den Menschen [Zeus]: Fische zwar sollten und wildes Getier und gefiederte Vögel fressen einer den andern, weil unter ihnen kein Recht ist. Aber den Menschen gab er das Recht bei weitem als bestes Gut. 280) Bei Hesiod ist der immerhin die Macht, die Gewalt und Recht. tierische und menschliche Welt trennt, und bei Solon birgt die »Verknüpfung« von und weder Ambiguität noch Ironie. Bei aber und das ist der Knoten, den er dem politischen Denken des Abendlandes als Erbe hinterläßt und der ihn gewissermaßen zum ersten großen Denker der Souveränität macht - ist der souveräne nomos dasjenige Prinzip, das Recht und Gewalt, indem es sie verbindet, in die Ununterscheidbarkeit drängt. In diesem Sinn enthält Pindars Fragment über den nomos basileus das verborgene Paradigma, das alle folgen-
den Definitionen der Souveränität lenkt: Der Souverän ist der Punkt der Ununterschiedenheit zwischen Gewalt und Recht, die Schwelle, auf der Gewalt in Recht und Recht in Gewalt übergeht.
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Der Text ist umstritten. Vers 274 - 280.
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In Fr ie dr ic h Hölderlins kommentierter Übertragung von Pindars Fragmenten (von Friedrich Beißner auf 1803 datiert) lautet das besagte Fragment wie folgt (Hölderlin hatte aller Wahrscheinlichkeit nach einen im Sinne von Platons Gorgias, 484 b, 1- IO, emendierten Text vorlie»das Gerechteste erzwingend« oder: »dem Gegen: rechtesten Gewalt antuend«): D AS H Ö C H S T E
Das Gesetz, Von allen der König, Sterblichen und Unsterblichen; das führt eben Darum gewaltig Das gerechteste Recht mit allerhöchster Hand. Schmitt kritisiert Hölderlins Interpretation des Fragments im Namen seiner Theorie von der konstitutiven Superiorität des über das Gesetz (im Sinne einer konventionellen Setzung). »Aber auch Hölderlin«, schreibt er, »verwirrt seine Deutung der Pindar-Stelle (Hellingrath V 277) dadurch, daß er das Wort Nomos im Deutschen mit >Gesetz< wiedergibt und auf den Irrweg dieses Unglückswortes lenkt, obwohl er weiß, da ß das Gesetz die strenge Mittelbarkeit ist. Der Nomos im ursprünglichen Sinne aber ist grade die volle Unmittelbarkeit einer nicht durch Gesetze vermittelten Rechtskraft; er ist ein konstituierendes geschichtliches Ereignis, ein Akt der Legitimität, der die Legalität des bloßen Gesetzes überhaupt erst sinnvoll macht.« (Schmitt 2, S. 42) Schmitt mißver steht hier die Absicht des Dichters völlig, die gerade gegen jedes unmittelbare Prinzip gerichtet ist. In seinem Kommentar bestimmt Hölderlin den (den er vom Recht abgrenzt) als »strenge Mittelbarkeit«: »Das Unmittelbare, streng genommen«, so schreibt er, »ist für die Sterblichen unmöglich, wie für die Unsterblichen; der Gott muß verschiedene Welten unterscheiden, seiner Natur gemäß, weil himmlische Güte, ihret selber wegen, heilig seyn muß, unvermischet. Der Mensch, als Erkennendes, muß auch verschiedene Welten unterscheiden, weil Erkentniß nur durch Entgegensezung möglich ist.« (Hölderlin, ein S. 285) Wenn Hölderlin (wie Schmitt) einerseits im Prinzip sieht, das höher steht als das einfache Recht, präzisiert er andererseits sorgfältig, da ß der Ausdruck »König« sich hier nicht auf eine »höchste Macht« bezieht, sondern auf den »höchsten Erkenntnißgrund« (ebd.). Mit einer für seine letzten Übersetzungen so charakteristischen Korrektur verschiebt Hölderlin ein politisch-juridisches Problem (die Souveränität des Gesetzes als Ununterscheidbarkeit von Recht und Gewalt) in die Sphäre der Erkenntnistheorie (die Mittelbarkeit als Macht der Unterscheidung). Ursprünglicher und stärker als das Recht ist nicht (wie bei Schmitt) der als souveränes Prinzip, sondern die Mittelbarkeit, welche die Erkenntnis begründet. 43
sich im Verlauf des vierten Jahrhunderts immer mehr erhitzt) kann man als notwendige Prämisse für die Opposition von Naturzustand und betrachten, die Hobbes seiner Konzeption der Souveränität zugrunde legt. Wenn für die Sophisten die Vorgängigkeit letztendlich die Macht des Stärkeren rechtfertigt, ist es für Hobbes gerade diese Identität von Naturzustand und Gewalt (homo homini der die absolute Macht des Souveräns rechtfertigt. In beiden Fällen, auch wenn in scheinbar entgegengesetztem Sinn, bildet die Antinomie physis/nomos die Voraussetzung, die das Souveränitätsprinzip, die Ununterscheidbarkeit von Recht und Gewalt legitimiert (beim starken Mann der Sophisten wie bei Hobbes’ Souverän). Wichtig ist zu bemerken, da ß bei Hobbes der Naturzustand in der Person des Souveräns überlebt, der als einziger sein natürliches ius contra omnes bewahrt. Die Souveränität stellt sich somit wie eine Einverleibung des Naturzustandes der Gesellschaft dar oder, wenn man will, wie ein Schwelle der Ununterschiedenheit zwischen Natur und Kultur, zwischen Gewalt und Gesetz, und genau in dieser Ununterscheidbarkeit liegt das Spezifische der souveränen Gewalt. Deshalb befindet sich der Naturzustand nicht wirklich außerhalb des sondern enthält ihn virtuell, Er ist (sicher in der Neuzeit, aber wahrscheinlich schon zur Zeit der Sophistik) das In-Potenz-Sein des Rechts, seine Selbstvoraussetzung als »natürliches Recht«. Im übrigen war sich Hobbes, wie Strauss hervorhebt, völlig bewußt, der Naturzustand nicht unbedingt als reale Epoche angesehen werden muß, sondern eher als ein dem Staat innewohnendes Prinzip, das sich in dem Moment offenbart, in dem man ihn betrachtet, »wie wenn er aufgelöst wäre« tanquam dissoluta id est, qualis sit natura humana . recte Hobbes 1, S. Die Äußerlichkeit das Naturrecht und das Prinzip der Erhaltung des eigenen Lebens ist in Wahrheit der innerste Kern des politischen Systems; dieses lebt von ihm in demselben Sinn, in dem nach Schmitt die Regel von der Ausnahme lebt. Von hier aus gesehen wundert es nicht, Schmitt seine Theorie von der Ursprünglichkeit des »Nomos der Erde« gerade auf das Pindar-Fragment gründet und dennoch keine Anspielung auf seine These von der Souveränität als Entscheidung 46
über den Ausnahmezustand macht. Was er hier um jeden Preis sichern will, ist die Vorrangigkeit des souveränen als konstitutives Ereignis des Rechts gegenüber jeder positivistischen Konzeption des Gesetzes als einfache Setzung und Übereinkunft. Deswegen muß Schmitt, auch wenn vom »Nomos als Herrscher« die Rede ist, die Wesensnähe von und Ausnahmezustand im dunkeln lassen. Eine aufmerksamere Lektüre stellt diese Nähe jedoch klar heraus: Wenig später, im Kapitel über die »ersten globalen Linien«, zeigt Schmitt nämlich, wie der Nexus von Ortung und Ordnung, in dem der Nomos der Erde besteht, immer eine aus dem Recht ausgeschlossene Zone impliziert; sie bildet einen »freien, d. h. rechtsleeren Raum«, in dem die souveräne Macht die vom nomos als Ortung festgelegten Grenzen nicht mehr kennt. In der klassischen Epoche des Jus Publicum Europaeum entspricht diese Zone der Neuen Welt, die mit dem Naturzustand identifiziert wird (John Locke: »In the beginning all the world was America«). Schmitt bringt diese Zone beyond the line selbst mit dem Ausnahmezustand zusammen, dem »in offensichtlich analoger Weise die Vorstellung eines ausgegrenzten, freien und leeren Raumes zu Grunde« »liegt«, verstanden als »ein zeitlich und räumlich bestimmter Bereich der Suspendierung allen Rechts«. »Zeitlich ist es durch Verkündung des Kriegsrechts am Anfang und durch einen Indemnitätsakt am Schluß von dem Zeitraum der normalen Rechtsordnung abgegrenzt; räumlich durch eine genaue Angabe des Geltungsbezirks; innerhalb dieses örtlichen und zeitlichen Bereichs kann alles geschehen, was nach Lage der Sache faktisch notwendig erscheint. Es gibt für diesen Vorgang ein anschauliches antikes Symbol, auf das auch Montesquieu hingewiesen hat: die Statue der Freiheit oder die der Gerechtigkeit wird für eine bestimmte Zeit verhüllt.« (Schmitt S. 66f.)
In seiner Souveränität ist der nomos notwendig sowohl mit dem Naturzustand als auch mit dem Ausnahmezustand verknüpft. Der letztere (samt der notwendigen Ununterscheidbarkeit zwischen Bia und Dike) ist ihm nicht einfach äußerlich; obwohl klar abgegrenzt, ist er vielmehr als in jedem Sinn fundamentales Moment darin einbezogen. Der Ordnung-Ortung-Nexus enthält also in seinem Innern immer schon den eigenen virtuellen Bruch in der Form einer »Suspendierung allen Rechts«. Was dann eintritt (an dem Punkt, wo man die Gesellschaft tanquam dissoluta 47
betrachtet), ist in Tat und Wahrheit nicht der Naturzustand (als früheres Stadium, in das die Menschen zurückfielen), sondern der Ausnahmezustand. Naturzustand und Ausnahmezustand sind lediglich die zwei Seiten des einen topologischen Prozesses, wo das, was als Außen vorausgesetzt worden ist (der Naturzustand), nun im Innern (als Ausnahmezustand) wiedererscheint, wie bei einem Möbius-Band oder einer Leidener Flasche; und die souveräne Macht ist genau diese Unmöglichkeit, Außen und Innen, Natur und und nomos auseinanderzuhalten. Der Ausnahmezustand ist demnach nicht so sehr eine raumzeitliche Aufhebung als vielmehr eine komplexe topologische Figur, in der nicht nur Ausnahme und Regel, sondern auch Naturzustand und Recht, das Draußen und das Drinnen ineinander übergehen. Genau auf diese topologische Zone der Ununterscheidbarkeit, die dem Auge der Gerechtigkeit verborgen bleiben sollte, müssen wir hingegen den Blick zu heften versuchen. Der Prozeß (den Schmitt minutiös beschrieben hat und den wir heute noch erleben), der - seit dem Ersten Weltkrieg in klar erkennbarer Weise - den konstitutiven Nexus zwischen Ortung und Ordnung des antiken nomos zersetzt und das ganze System der gegenseitigen Abgrenzungen und der Regeln des Jus Publicum Europaeum ruiniert, hat in der souveränen Ausnahme sein verborgenes Fundament. Es ist das, was geschehen ist und weiterhin vor unseren Augen geschieht: Der »rechtsleere Raum« des Ausnahmezustandes (wo das Gesetz in der Figur und etymologisch heißt das in der Fiktion - seiner Auflösung in Kraft ist und daher all das geschehen konnte, was der Souverän faktisch für notwendig hielt) hat seine raumzeitlichen Grenzen durchbrochen und, indem er sich über sie hinaus ergießt, droht er nunmehr überall mit der normalen Ordnung zusammenzufallen, in der von neuem alles möglich wird. Wollte man das Verhältnis zwischen Naturzustand und Rechtszustand, so wie es sich im Ausnahmezustand gestaltet, schematisch darstellen, so könnte man sich zwei Kreise vorstellen, die anfangs voneinander getrennt erscheinen (Fig. dann aber im Ausnahmezustand zeigen, daß in Wirklichkeit der eine sich im Innern des anderen befindet (Fig. 2). Wenn die Ausnahme dazu tendiert, zur Regel zu werden, fallen die beiden Kreise absolut ununterscheidbar zusammen (Fig. 3):
Fig.
I
Fig. 2
Fig. 3
In dieser Perspektive muß das, was sich in Ex-Jugoslawien abspielt, und ganz allgemein die Auflösung der traditionellen staatlichen Organismen in Osteuropa nicht als eine Wiederkehr des Kampfes aller gegen alle im Naturzustand betrachtet werden, der das Vorspiel zu neuen sozialen Verträgen und neuen nationalstaatlichen Ortungen wäre; vielmehr ist es das Zutagetreten des Ausnahmezustandes als permanente Struktur der juridisch-politischen Ent-Ortung und Verschiebung. Es handelt sich also nicht um einen Rückfall der politischen Organisation in überwundene Formen, sondern um vorwarnende Ereignisse, die wie blutige Boten den neuen nomos der Erde ankündigen, der (wenn das Prinzip, auf dem er gründet, nicht erneut in Frage gestellt wird) dazu tendiert, sich über den ganzen Planeten auszubreiten.
3.
Potenz1 und Recht
3. . Das Paradox der Souveränität zeigt sich wohl nirgendwo in so klarem Licht wie beim Problem der konstituierenden Gewalt und ihrem Verhältnis zur konstituierten Gewalt.2 Theorie wie positive Gesetzgebung haben bei der Formulierung und der Wahrung dieser Unterscheidung in ihrer ganzen Tragweite stets Schwierigkeiten bekundet. In einem politikwissenschaftlichen Traktat liest man darüber folgendes: I
»Die Erklärung dafür legt Wert darauf, daß man die konstituierende Gewalt und die konstituierte Gewalt auf verschiedenen Ebenen ansiedeln muß, will man der Unterscheidung [. . .] ihren wirklichen Sinn verleihen. Konstituierte Gewalten existierten nur im Staat; sie sind von einer vorgängigen statutarischen Ordnung nicht zu trennen und bedürfen des staatlichen Rahmens, dem ihr Vorhandensein Realität verleiht. Die konstituierende Gewalt befindet sich dagegen außerhalb des Staates; sie schuldet ihm nichts und existiert ohne ihn, sie ist die Quelle, die dadurch, daß man aus ihrem Fluß schöpft, niemals ausgeschöpft wird.« (Burdeau, S. 183f.)
Daher rührt die Unmöglichkeit, die Beziehung zwischen den beiden Gewalten harmonisch einzurichten. Sie macht sich nicht nur besonders bemerkbar, wenn es darum geht, die rechtliche Natur der Diktatur oder des Ausnahmezustandes zu verstehen, sondern auch, wenn der Verfassungstext selbst, wie das oft der Fall ist, die Revisionsbefugnis vorsieht. Gegen die Auffassung vom originären und irreduziblen Wesen der konstituierenden Gewalt, die in keiner Weise von einer bestimmten Rechtsordnung bedingt und gebeugt werden kann und sich notwendigerItalienisch »potenza« und »atto« werden, auch wenn sich inzwischen deutsche Begriffe, etwa »Vermögen« und »Verwirklichung«, eingebürgert haben, in der Folge meistens mit »Potenz« und »Akt« wiedergegeben, in einigen Fällen, die angemerkt werden, mit »Fähigkeit« oder »Vermögen« (bzw. »un-/vermögend« für »im-/potente«). 2 Für konstituierende Gewalt steht im deutschen juristischen Sprachgebrauch gewöhnlich verfassunggebende Gewalt, während für die konstituierte Gewalt meistens die Verfassung selbst steht; um der Klarheit und um der Besonderheit der Argumentation willen wird die Unterscheidung zwischen »potere costituente« und »potere costituito« auch terminologisch beibehalten. I
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weise außerhalb jeglicher konstituierten Gewalt hält, stimmt man heute (ganz nach der allgemeinen zeitgenössischen Tendenz, alles mittels Normen zu regeln) zunehmend in der Auffassung überein, die konstituierende Gewalt auf die in der Verfassung vorgesehene Revisionsbefugnis zu beschränken und die Gewalt, der die Verfassung entsprungen ist, als vorrechtlich oder rein faktisch beiseite zu schieben. Mit Worten, die seitdem nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben, hat Benjamin diese Tendenz bereits kurz nach dem Ersten Weltkrieg kritisiert, indem er das Verhältnis zwischen konstituierender Gewalt und konstituierter Gewalt als dasjenige zwischen rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt [violenza] darlegt: »Schwindet das Bewußtsein von der latenten Anwesenheit der Gewalt
in einem Rechtsinstitut, so verfällt es. Dafür bilden in dieser Zeit die Parlamente ein Beispiel. Sie bieten das bekannte jammervolle Schauspiel, weil sie sich der revolutionären Kräfte, denen sie ihr Dasein verdanken, nicht bewußt geblieben sind. [. . .] Ihnen fehlt der Sinn für die rechtsetzende Gewalt, die in ihnen repräsentiert ist; kein Wunder, daß sie zu Beschlüssen, welche dieser Gewalt würdig wären, nicht gelangen, sondern im Kompromiß eine vermeintlich gewaltlose Behandlungsweise politischer Angelegenheiten pflegen.« (Benjamin 1, s.
Aber die andere Auffassung (jene der demokratisch-revolutionären Tradition), welche die konstituierende Gewalt gegenüber jeder konstituierten Gewalt in ihrer souveränen Transzendenz bewahren will, läuft ebenfalls Gefahr, in dem Paradox gefangen zu bleiben, das wir hier zu beschreiben versuchen. Denn wenn die konstituierende Gewalt als Gewalt, die das Recht setzt, gewi ß edler ist als die rechtserhaltende Gewalt, so gibt es in ihr selbst doch nichts, wodurch sie ihre Verschiedenheit legitimieren kann, sie unterhält sogar ein zweideutiges und unauflösbares Verhältnis zur konstituierten Gewalt. In dieser Perspektive ist die berühmte These von Emmanuel Joseph Sieyes, da ß die Verfassung (constitution) vor allem eine konstituierende Gewalt voraussetzt, nicht einfach eine Binsenwahrheit, sie muß eher in dem Sinn verstanden werden, daß die Konstitution sich selbst als konstituierende Gewalt voraussetzt,
und druckt in dieser Form das Paradox der Souveränität am prägnantesten aus. So wie sich die souveräne Macht als Natur51
zustand voraussetzt, der auf diese Weise mit dem Rechtszustand in der Bann-Beziehung verbunden bleibt, so teilt sich die souveräne Macht in eine konstituierende und eine konstituierte Gewalt und bleibt mit beiden in Verbindung, indem sie sich am Punkt ihrer Ununterschiedenheit aufhält. Sieyes selbst war sich dieser Implikation so weit bewußt, da ß er die (mit der Nation identifizierte) konstituierende Gewalt in einen Naturzustand außerhalb des sozialen Bandes verlegt hat: »Man muß die Nationen der Erde«, so schreibt er, »als Individuen ohne gesellschaftliche Bindung [, . .] im Naturzustand betrachten« (Sieyes 1, 3.2. Hannah Arendt, die diesen Abschnitt in ihrem Buch über die Revolution zitiert, beschreibt, wie in den Revolutionsvorgängen das Bedürfnis nach einer Souveränitätsinstanz auftauchte, die als absolutes Prinzip den legislativen Akt der konstituierenden Gewalt zu begründen imstande war. Und sie zeigt deutlich, wie dieses (auch in der Idee vom »Höchsten Wesen« bei Robespierre vorhandene) Bedürfnis letztlich in einen Teufelskreis mündete. Doch was Robespierre brauchte, so schreibt sie, »war gar kein Höchstes Wesen . ein Begriff, der nicht von ihm stammt sondern vielmehr, wie er selbst es nannte, einen Unsterblichen Gesetzgeber< und das, was er in einem anderen Kontext auch als einen Appell an die Gerechtigkeit< bezeichnete. Er bedufte, in den Begriffen der Französischen Revolution gesprochen, einer immer gegenwärtigen transzendenten Quelle der Autorität jenseits des politischen Raumes, die nicht mit dem Allgemeinwillen der Nation oder der Revolution zusammenfiel; so sollte eine ,absolute Souveränität< Blackstones ,despotische -der Nation Souveränität verleihen und eine absolute Immortalität der Republik, wenn nicht die Unsterblichkeit, so doch wenigstens eine gewisse Dauerhaftigkeit und Stabilität . .].« (Arendt 1, S.
Das fundamentale Problem besteht hier nicht so sehr darin, eine konstituierende Gewalt zu konzipieren, die sich nie in der konstituierten Gewalt erschöpft (was nicht leicht ist, aber immerhin theoretisch möglich); sehr viel schwieriger ist es, die konstituierende Gewalt klar von der souveränen Macht zu unterscheiden. Gewiß fehlt es in unserer Zeit nicht an Versuchen, die Erhaltung der konstituierenden Gewalt zu denken, und sie sind durch den
trotzkistischen Begriff der »permanenten Revolutionen« oder den maoistischen der »ununterbrochenen Revolution* bekannt geworden. Auch die Macht der Räte (die als stabile zu konzipieren nichts hindert, selbst wenn die revolutionären konstituierten Gewalten dann in Wirklichkeit alles getan haben, sie zu eliminieren) kann aus dieser Perspektive als ein Fortleben der konstituierenden Gewalt in der konstituierten betrachtet werden. Doch selbst die beiden großen Liquidatoren spontaner Räte in unserer Zeit, die leninistische und die nazistische Partei, präsentieren sich in bestimmter Weise als Bewahrer einer konstituierenden Instanz neben der konstituierten Gewalt. Die charakteristische »duale« Struktur der großen totalitären Staaten unseres Jahrhunderts (der Sowjetunion und Nazi-Deutschlands), die den Historikern des öffentlichen Rechts so zu schaffen gemacht hat, weil dort die Staatspartei das Duplikat der staatlichen Organisation ist, erscheint von da aus gesehen wie eine interessante, wenn auch paradoxe technisch-juridische Lösung des Problems der Bewahrung der konstituierenden Gewalt. Es ist jedoch ebenso gewiß, da ß sich diese Gewalt in beiden Fallen als Ausdruck einer souveränen Macht darstellt oder sich jedenfalls nicht so leicht von dieser trennen läßt. Die Analogie zwischen der Sowjetunion und Nazi-Deutschland ist um so triftiger, als in beiden Fällen die Frage »wo?« in dem Moment wesentlich wird, wo weder die konstituierenden Instanzen noch der Souverän ganz innerhalb oder ganz außerhalb der konstituierten Ordnung situiert werden können. Schmitt betrachtet die konstituierende Gewalt als einen »politischen Willen, dessen Macht oder Autorität imstande ist, die konkrete Gesamtentscheidung Art und Form der eigenen politischen Existenz zu treffen. . Die Entscheidungen [dieses Willens] als solche sind von den auf ihrer Grundlage normierten verfassungsgesetzlichen Normierungen qualitativ verschieden.« »Neben und über der Verfassung bleibt dieser Wille er ist nicht auf die Ebene der Rechtsnormen zurückführbar und theoretisch von der souveränen Macht verschieden (Schmitt -77). Aber wenn die konstituierende Gewalt, wie das bereits (so Schmitt selbst) seit Sieyes geschieht, mit dem konstituierenden Willendes Volkes oder der Nation zusammenfällt, dann ist das Kriterium, das sie von der Volks- oder nationalen Souveränität zu unterscheiden erlaubt, unklar, und das konstituierende Subjekt und das souveräne Subjekt be-
ginnen verwechselbar zu werden. Schmitt kritisiert den liberalen Versuch, »die gesamte Ausübung aller staatlichen Gewalt restlos in geschrie-
benen Gesetzen erfassen und umgrenzen zu können«, und behauptet dagegen die Souveränität der Verfassung oder der fundamentalen charte: Die für die Verfassungsrevision zuständigen Instanzen »werden infolge dieser Zuständigkeit nicht etwa souverän [. . .]. Sie werden ebensowenig Subjekt oder Träger der verfassunggebenden Gewalt«, und das unvermeidliche Ergebnis ist dann die Produktion »a pokrypher Souveränitätsakte« (Schmitt 4, S. 107f.). Konstituierende Gewalt und souveräne Macht überschreiten unter diesem Blickwinkel beide die Ebene der Rechtsnorm (sogar diejenige der fundamentalen Norm), doch die Symmetrie dieser Überschreitung zeugt auch von einer bis zur Deckungsgleichheit reichenden Nähe. Toni Negri hat in einem jüngeren Buch zu zeigen versucht, daß die konstituierende Gewalt (definiert als »Praxis eines konstitutiven Akts, in Freiheit erneuert und in der Fortführung einer freien Praxis organisiert«) sich auf keinerlei Form der konstituierten Ordnung reduzieren läßt; zugleich bestreitet er, daß sie auf das Souveränitätsprinzip zurückzuführen ist. »Die Wahrheit der konstituierenden Gewalt«, so schreibt er, »ist nicht diejenige, die (auf welche Weise auch immer) ihr von der Idee der Souveränität her zugeschrieben werden kann. Sie ist es deshalb nicht, weil sie nicht nur (ganz offensichtlich) keine Emanation der konstituierten Gewalt ist, sondern auch nicht die Institution der konstituierten Gewalt: Sie ist der Akt der Wahl, die punktuelle Bestimmung, die einen Horizont eröffnet, das radikale Dispositiv von etwas, das noch nicht existiert und dessen Existenzbedingungen dafür sorgen, da ß der schöpferische Akt in der Schöpfung nicht seine Eigenheit verliert. Wenn die konstituierende Gewalt den konstituierenden Prozeß in Gang setzt, ist und bleibt jegliche Bestimmung frei. Die Souveränität dagegen tritt als Festlegung der konstituierenden Gewalt auf, folglich als ihr Ende, als Erschöpfung der Freiheit, deren Träger die konstituierende Gewalt ist.« (Negri, S. 3 I) Das Problem der Unterscheidung von konstituierender Gewalt und souveräner Macht ist sicher wesentlich; aber der Umstand, daß die konstituierende Gewalt zum einen weder aus der konstituierten Ordnung emaniert noch sich auf ihre Einsetzung beschränkt und zum anderen freie Praxis sein soll, sagt noch nichts über ihre Verschiedenheit von der souveränen Macht aus. Wenn unsere Analyse der ursprünglichen Struktur der Souveränität als Bann und Verlassenheit [bando e abbandono] zutrifft, dann kommen diese Merkmale tatsächlich auch der Souveränität zu, und Negri kann nirgendwo in seiner breitangelegten Analyse der historischen Phänomenologie der konstituierenden Gewalt das Kriterium finden, das die konstituierende Gewalt von der souveränen Macht zu scheiden erlaubte. Das Interesse von Negris Buch gilt aber eher der zum Schluß eröffneten Perspektive, die zeigt, wie die konstituierende Gewalt, wird sie erst in ihrer Radikalität gedacht, aufhört, ein politischer Begriff im engeren Sinn zu sein, und sich zwangsläufig als eine Kategorie der Ontologie heraus-
stellt. Das Problem der konstituierenden Gewalt wird somit zum Problem der »Konstitution der Potenz« (ebd., S. 38 3), und die ungelöste Dialektik von konstituierender und konstituierter Gewalt macht einer neuen Form der Beziehung zwischen Potenz und Akt Platz, was nicht weniger erfordert, als die ontologischen Kategorien der Modalität in ihrer Gesamtheit neu zu denken. Auf diese Weise verschiebt sich das Problem von der politischen Philosophie zur Prima Philosophia (oder, wenn man so will, die Politik wird wieder in ihren ontologische Rang gehoben). Nur eine völlig neue Konjugation von Möglichkeit und Wirklichkeit, von Zufall und Notwendigkeit und der anderen pathe wird den Knoten zu zerschneiden vermögen, den Souveränität und konstituierende Gewalt aneinander bindet; und nur wenn es gelingt, die Beziehung von Potenz und Akt anders zu denken, ja sogar jenseits von ihr zu denken, wird es auch möglich sein, eine konstituierende Gewalt zu denken, die vom souveränen Bann gänzlich losgelöst ist. Solange nicht eine neue und kohärente Ontologie der Potenz (jenseits der Schritte, die Spinoza, Schelling, Nietzsche und Heidegger in diese Richtung unternommen haben) die auf dem Primat des Akts und seiner Beziehung zur Potenz gegründete Ontologie ersetzt hat, bleibt eine politische Theorie, die sich den Aporien der Souveränität entziehen könnte, undenkbar.
3.3. Die Beziehung zwischen konstituierender Gewalt und konstituierter Gewalt ist ebenso komplex wie jene, die Aristoteles zwischen Potenz und Akt, zwischen und enérgeia herstellt, und letztendlich hängt sie (wie vielleicht jedes echte Verständnis des Souveränitätsproblems) davon ab, wie man die Existenz und die Autonomie der Potenz denkt. Bei Aristoteles geht einerseits die Potenz dem Akt voraus und bedingt ihn, andererseits scheint sie ihm aber wesentlich untergeordnet zu bleiben. Gegen die Megariker, die (wie heute diejenigen Politiker, welche die ganze konstituierende Gewalt auf die konstituierte Gewalt reduzieren wollen) behaupten, die Potenz existiere nur im Akt befleißigt sich Aristoteles jedesmal, die Autonomie der Potenz hervorzuheben, so die für ihn evidente Tatsache, daß der Kitharaspieler seine Fähigkeit zu spielen behält, auch wenn er nicht spielt, und der Baumeister seine Fähigkeit zu bauen, auch wenn er nicht baut. Was er im Buch Theta der Metaphysik zu denken versucht, ist mit anderen Worten nicht die Potenz als reine logische Möglichkeit, sondern es sind die effektiven Modi ihrer Existenz. Deswegen - das heißt, weil sie sich nicht jedesmal unmittelbar in der Handlung verflüchtigt, sondern einen eigenen Bestand hat - mu ß die
Potenz auch nicht zum Akt übergehen können; sie mu ß konstitutiv auch Potenz nicht zu (tun oder sein) sein oder, wie Aristoteles sagt, adynamia. Aristoteles äußert dieses Prinzip, das in gewisser Weise die Angel ist, um die sich die ganze dynamisTheorie dreht, mit Entschiedenheit in einer lapidaren Formel: »Jedes Vermögen [potenza] ist auch ein Unvermögen [impokai tenza] desselben und in bezug auf dasselbe« adynamia; Met. Oder sogar noch deutlicher: »Was vermögend [potente] ist, kann sowohl sein als auch nicht sein, dasselbe ist also vermögend zu sein und nicht zu sein« Met. kai kai IO ).
Die Potenz, die existiert, ist genau diejenige, die nicht zum Akt übergehen kann (Avicenna, der darin der Absicht von Aristoteles treu ist, nennt sie »vollkommene Potenz« und führt als Beispiel die Figur eines Schreibers an, der momentan nicht schreibt). Sie erhält die Beziehung mit dem Akt in Form ihrer Aufhebung aufrecht, sie vermag den Akt, indem sie vermag, ihn nicht zu verwirklichen, sie vermag die eigene Impotenz souverän. Aber wie ist in dieser Perspektive der Übergang zum Akt zu denken? Wenn jede Potenz zu (sein oder tun) ursprünglich auch Potenz nicht zu (sein oder tun) ist, wie wird dann die Verwirklichung eines Akts möglich sein? Aristoteles’ Antwort ist in einer Definition enthalten, die eine der scharfsinnigsten Leistungen seines philosophischen Genies darstellt und als solche auch oft mißverstanden worden ist: *Vermögend ist das, für das nichts Unvermögendes eintreten wird, wenn die Verwirklichung dessen, wovon man sagt, da ß es über Vermögen verfüge, eintritt.« (Met. 1047 a, 24- 26) Die letzten drei Worte der Definition bedeuten nicht das, was die gewöhnliche Lesart meint: »es wird nichts Unmögliches geben« (das heißt: möglich ist das, was nicht unmöglich ist); vielmehr bekräftigen sie die Bedingung, unter der sich die Potenz, die ebenso sein wie nicht sein kann, verwirklichen kann. Das Vermögende kann erst dann zum Akt übergehen, wenn es die Potenz, nicht zu sein (seine adynamia), ablegt. Dieses Ablegen der Impotenz bedeutet nicht ihre Zerstörung, sondern im Gegenteil ihre Erfüllung; die Potenz wendet sich auf sich selbst zurück, um sich sich selbst zu geben. In einem Abschnitt von De anima, wo Aristoteles das Wesen der vollkom-
menen Potenz auch am vollkommensten ausdrückt, beschreibt er den übergang zum Akt (anhand der und der menschlichen Fertigkeiten, die auch im Zentrum des Buchs Theta der Metaphysik stehen) nicht als Veränderung oder Zerstörung der Potenz im Akt, sondern als eine Selbstbewahrung der Potenz und »Gabe ihrer selbst an sich selbst«: »Auch das Erleiden ist nicht von einfacher Bedeutung, sondern in der einen Bedeutung ist es der Untergang durch das Entgegengesetzte, in der anderen ist es eher die Bewahrung Rettung] dessen, was in Potenz ist, durch das, was im Akt ist und sich ebenso verhält . denn das, was die Wissenschaft [in Potenz] besitzt, wird ein Betrachtendes im Akt, was entweder keine Veränderung ist (da es ja eine Gabe an sich selbst und an den Akt ist (oder eine andere Gattung von Veränderung.« (De an. 2-16)
Während er das authentische Wesen der Potenz beschrieb, hat Aristoteles in Wirklichkeit der abendländischen Philosophie das Paradigma der Souveränität gestiftet. Denn der Struktur der Potenz, die genau über ihr Nicht-sein-Können, mit dem Akt in Beziehung bleibt, entspricht jene des souveränen Banns, der sich auf die Ausnahme anwendet, indem er sich abwendet. Die Potenz (in ihrem doppelten Aspekt von Potenz zu und Potenz nicht zu) ist die Weise, auf die sich das Sein souverän gründet, das heißt ohne d a ß ihm etwas vorausgeht oder es bestimmt (su periorem non recognoscens), außer das eigene Nicht-sein-Können. Und souverän ist jener Akt, der sich einfach dadurch verwirklicht, daß er die eigene Potenz, nicht zu sein, wegnimmt, sich sein läßt, sich sich selbst hingibt. Daher rührt die konstitutive Ambivalenz der aristotelischen Theorie der d ynamis/en ergeia: Wenn einem Leser, der das Buch Theta der Metaphysik mit einem von den Vorurteilen der Tradition befreiten Blick liest, nie klar wird, ob der Primat nun tatsächlich dem Akt oder nicht doch der Potenz zukommt, so geschieht das nicht aufgrund einer Unentschiedenheit oder, schlimmer noch, eines Widerspruchs im Denken des Philosophen, sondern weil Potenz und Akt nur die beiden Aspekte des Prozesses der souveränen Selbstbegründung des Seins sind. Die Souveränität ist immer doppelt, weil das Sein sich selbst aufhebt, indem es als Potenz mit sich selbst in der Beziehung des Banns [bando] (oder der Verlassenheit [abbandono]) verbunden bleibt, 57
um sich dann als absoluter Akt zu verwirklichen (der mithin nichts weiter voraussetzt als die eigene Potenz). Die reine Potenz und der reine Akt sind letztlich nicht auseinanderzuhalten, und genau diese Zone der Ununterscheidbarkeit ist der Souverän (in Aristoteles’ Metaphysik entspricht das dem »Denken des Denkens«, das heißt einem Denken, dessen Denkakt nur im Denken der eigenen Potenz zu denken besteht; Met. 1074 b, I
Deswegen ist es so schwierig, eine »Konstitution der Potenz« zu denken, die völlig losgelöst wäre vom Souveränitätsprinzip, und eine konstituierende Gewalt, die den Bann, der sie an die konstituierte Gewalt bindet, endgültig gebrochen hätte. Es genügt nämlich nicht, daß die konstituierende Gewalt sich nie in der konstituierten Gewalt erschöpft; auch die souveräne Macht kann als solche in der Unbestimmtheit verharren, ohne je zum Akt überzugehen (der Provokateur ist genau derjenige, der versucht, sie zur Umsetzung in die Tat zu zwingen). Statt dessen müßte die Existenz der Potenz ohne jede Beziehung zum Akt-Sein gedacht werden, nicht einmal in der extremen Form des Banns oder der Potenz, und der Akt nicht mehr als Erfüllung und Manifestation der Potenz, nicht einmal in Form der Gabe seiner Selbst und des Seinlassens. Das aber würde nicht weniger bedeuten, als die Ontologie und die Politik jenseits aller Figuren der Beziehung zu denken, selbst jenseits jener Grenzbeziehung, die der souveräne Bann ist; doch gerade das ist es, wozu heute viele um keinen Preis bereit sind. Es ist bereits bemerkt worden, daß jeder Definition der Souveränität ein Gewaltprinzip [principio di potenza] ist. In diesem Sinn hat Gerard Mairet dargelegt, der souveräne sich auf einer »Ideologie der Gewalt« gründet; sie besteht darin, »die zwei Elemente einer jeden Macht, das Prinzip der Gewalt und die Form ihrer Ausübung, auf eine Einheit zurückzuführen« (Mairet, S. Der zentrale Gedanke ist hier der, daß die Gewalt schon vor ihrer Ausübung existiert und daß der Gehorsam den Institutionen, die ihn bedingen, vorausgeht. Daß diese Ideologie in Wahrheit einen mythologischen Charakter hat, sagt der Verfasser selbst.: »Es handelt sich um einen eigentlichen Mythos, dessen Geheimnisse wir bis heute noch nicht durchdrungen haben, der aber womöglich das Geheimnis jeder Macht birgt.« Es ist die Struktur dieses Arkanums, die wir mit der Bann-Beziehung als Beziehung der Verlassenheit [abbandono] und der »Potenz nicht zu « ans Licht bringen wollten. Doch was uns hier entgegentritt, ist weniger ein Mythologem als viel-
mehr die ontologische Wurzel jeglicher politischen Macht (Potenz und Akt sind für Aristoteles vor allem Kategorien der Ontologie, zwei Modi, denen das Sein gesagt wird«). Es gibt im modernen Denken wenige, dafür bedeutsame Versuche, das Sein jenseits des Souveränitätsprinzips zu denken. So denkt Schelling in seiner Philosophie der Offenbarung ein absolut Seiendes, das keinerlei Potenz voraussetzt und nie per transitum de potentia ad actum existiert. Beim späten Nietzsche steht die Ewige Wiederkunft des Gleichen für die Unmöglichkeit, zwischen Potenz und Akt, so wie der Amor fati für die Unmöglichkeit, zwischen Kontingenz und Notwendigkeit zu unterscheiden. Ebenso scheint in Heideggers Verlassenheit [abbandono] und im Ereignis’ das Sein aller Souveränität ledig zu sein. Georges Bataille, der gleichwohl ein Denker der Souveränität bleibt, hat in der né gativit é sans und im eine Grenzdimension erreicht, in der die »Potenz nicht nicht mehr unter die Struktur des souveränen Banns fällt. Der stärkste Einwand gegen das Prinzip der Souveränität steckt in Herman Melvilles Bartleby, dem Schreiber, der mit seinem »ich möchte lieber jeder Entscheidungsmöglichkeit zwischen Potenz z u und Potenz nicht zu widersteht. Diese Figuren treiben die Aporie der Souveränität an die Grenze, doch gelingt es ihnen dennoch nicht, sich vollends aus ihrem Bann zu lösen. Sie zeigen, da ß die Auflösung des Banns wie jene des gordischen Knotens nicht so sehr der Lösung einer logischen oder mathematischen Aufgabe gleicht, sondern vielmehr der eines Rätsels. Hier zeigt die metaphysische Aporie ihr politisches Wesen.
Im Original deutsch. So in der französischen Quelle; Agamben übersetzt »negatività senza impiego«; etwa »Negativität ohne Verwendung« oder »ohne Anstellung«; die schwierig zu übersetzende französische Originalwendung steht hier auch in Entsprechung zum nachfolgenden 3 Französisch im Original; »Untätigkeit, Müßiggang«; auch im Sinn von »Werklosigkeit« als Modus des Seins, der kein Werk hervorbringt. 4 Im amerikanischen Original: »I would prefer not to.« I
2
4.
Rechtsform
4.1. In der Legende Vor dem Gesetz hat Franz Kafka die Struktur des souveränen Banns in einem beispielhaften Abriß dargestellt. Nichts - und bestimmt nicht das Verbot des Türhüters - hindert den Mann vom Lande daran, durch die Tür des Gesetzes einzutreten, außer dem Umstand, daß diese Türe schon immer offensteht und das Gesetz nichts vorschreibt. Auf diesen Punkt haben zwei jüngere Interpretationen der Legende von Jacques Derrida und von Massimo Cacciari, wenn auch in unterschiedlicher Weise, nachdrücklich hingewiesen. Das Gesetz »hütet sich, ohne sich zu hüten, gehütet von einem Türhüter, der nichts hütet, die offenbleibende Tür öffnet sich auf nichts« (Derrida 1, S. 3 56). Und Cacciari unterstreicht noch entschiedener, d a ß die Macht des Gesetzes’ genau in der Unmöglichkeit liegt, in das bereits Offene einzutreten, an den Ort zu gelangen, an dem man bereits ist: »Wie können wir zu >öffnen< hoffen, wenn die Tür schon offensteht? Wie können wir hoffen, ins Offene einzutreten? Das Offene ist der Ort, wo man ist, wo die Dinge gegeben sind, man kann da nicht eintreten [. . .] Wir können nur dort eintreten, wo wir öffnen können. Das Schon-Offene macht unbeweglich [. . .]. Der M ann vom Lande kann deshalb nicht eintreten, weil es ontologisch unmöglich ist, ins schon Offene einzutreten.« (Cacciari, S. 69) Aus dieser Perspektive betrachtet offenbart Kafkas Legende die reine Form des Gesetzes, in der es sich gerade an dem Punkt am stärksten erweist, wo es nichts mehr vorschreibt, das heißt reiner Bann ist. Der Mann vom Lande ist der Potenz des Gesetzes ausgeliefert, weil es nichts von ihm fordert, ihm nichts anderes auferlegt als das eigene Offensein. Nach dem Schema der souveränen Ausnahme wendet sich das Gesetz auf ihn an, indem es sich abwendet, es hält ihn in seinem Bann, indem es ihn, außerhalb seiner selbst, verläßt [abbandonandolo]. Die offene Tür, die nur für ihn bestimmt ist, schließt ihn ein, indem sie ihn ausschließt, und schließt ihn aus, indem sie ihn einschließt. Und I
Mit Majuskel (»Legge«).
60
dies ist genau die Spitze und die Wurzel jedes Gesetzes. Wenn der Geistliche im Prozeß das Wesen des Gerichts auf die Formel bringt: »Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entläßt dich, wenn du gehst«, dann ist es die ursprüngliche Struktur des nomos, die er mit diesen Worten ausspricht. In analoger Weise hält auch die Sprache den Menschen in ihrem Bann, weil er als Sprechender immer schon in sie eingetreten ist, ohne sich dessen bewußt werden zu können. Alles was man der Sprache vorausschickt (in Form von etwas Nichtsprachlichem, Unaussprechlichem etc.), ist nichts weiter als etwas von der Sprache Vorausgesetztes, das mit der Sprache gerade dadurch die Beziehung aufrechterhält, daß es daraus
ausgeschlossen wird. Stephane
hat diese selbstvoraussetzende
Natur der Sprache mit einer hegelianischen Formel ausgedrückt, wenn er schreibt, daß »das Wort’ ein Prinzip ist, das sich durch die Negation jeglichen Prinzips vollzieht Als reine Form der Beziehung setzt die Sprache (wie der souveräne Bann) immer schon sich selbst in der Figur von etwas Beziehungslosem voraus, und es ist nicht möglich, mit etwas in Beziehung zu treten, noch aus etwas auszutreten, das zur Form selbst der Beziehung gehört. Das bedeutet nicht, daß dem sprechenden Menschen das Nichtsprachliche verschlossen bliebe, er vermag es nur nie in Form einer nichtbezogenen oder unaussprechlichen Voraussetzung zu erreichen, sondern vielmehr nur in der Sprache selbst (Benjamin zufolge kann nur die »kristallreine Elimination des Unsagbaren in der Sprache« »auf das dem Wort versagte« hinführen [Benjamin 2, S. 127] 127]). «.
4.2. Doch erschöpft diese Interpretation die Kafkasche Inten-
tion wirklich? In einem Brief an Benjamin vom 20. September 1934 definiert Gershom Scholem die in Kafkas Prozeß beschriebene Beziehung mit dem Gesetz als »Nichts der Offenbarung«; unter diesem Ausdruck versteht er »einen Stand, [. . .] in dem sie zwar noch sich behauptet, indem sie gilt, aber nicht bedeutet. Wo der Reichtum der Bedeutung wegfällt und das Erscheinende, wie auf einen Nullpunkt eigenen Gehalts reduziert, dennoch nicht verschwindet (und die Offenbarung ist etwas Erscheinendes), da tritt sein Nichts hervor.« (Benjamin und Scholem, S. 175) Ein Gesetz unter solchen Bedingungen ist Scholem zufolge nicht einfach abwesend, vielmehr erscheint es in Form seiner »Unv »Un voll ol lziehbarkeit«. »Nicht so sehr Schüler, denen die Schrift abhanden gekommen ist«, hält er seinem Freund I
Im französischen Original »Verbe«. 61
entgegen, »als Schüler, die sie nicht enträtseln können, sind jene Studenten, von denen Du am Ende sprichst.« (Ebd., S. 58) Geltung ohne Bedeutung:* Es gibt keine bessere Definition des Banns, mit dem unsere Zeit nicht zu Rande kommt, als diese Formel, mit der Scholem den Status des Gesetzes in Kafkas Roman erfaßt. Welches ist denn die Struktur des souveränen Banns, wenn nicht die eines Gesetzes, das gilt, aber nicht bedeutet? Überall auf der Erde leben die Menschen heute im Bann eines Gesetzes und einer Tradition, die sich einzig als »Nullpunkt« ihres Gehalts erhalten und die die Menschen in eine reine Beziehung der Verlassenheit [abbandono] einschließen. Alle Gesellschaften und alle Kulturen (gleichviel ob demokratisch oder totalitär, konservativ oder progressiv) sind heute in eine Krise der Legitimität geraten, in der das Gesetz (damit ist hier der ganze Text der Tradition unter seinem regulativen Aspekt gemeint, sei das nun die jüdische Thora oder die islamische Scharia, das christliche Dogma oder der profane nomos) als reines »Nichts der Offenbarung« gilt. Doch das ist gerade die ursprüngliche Struktur der souveränen Beziehung, und in dieser Perspektive ist der Nihilismus, in dem wir leben, nichts anderes als das Auftauchen dieser Beziehung als solcher. I
Die reine Form des Gesetzes als »Geltung ohne Bedeutung<< erscheint in der Moderne das erste Mal bei Immanuel Kant. Was er in der Kritik der praktischen Vernunft »bloße Form des Gesetzes« nennt (Kant I, S. 38), ist in der Tat ein auf den Nullpunkt seines Gehalts reduziertes Gesetz, das gleichwohl als solches gilt. »Nun bleibt von einem Gesetze«, so Kant, »wenn man alle Materie, d. i. jeden Gegenstand des Willens (als Bestimmungsgrund) davon absondert, nichts übrig, als die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung.« (Ebd., S. 13 5 f.). Ein reiner Wille, der also nur mittels einer solchen Form des Gesetzes bestimmt, ist »weder frei noch unfrei« (Kant 2, S. 3 32), genau wie derjenige von Kafkas Mann vom Lande. Die Grenze, aber zugleich auch der Reichtum der Kantschen Ethik liegt gerade darin, die Form des Gesetzes als leeres Prinzip gelten zu lassen, Dieser Geltung ohne Bedeutung in der Sphäre der Ethik entspricht in der Sphäre der Erkenntnis das transzen-
4.3.
I
I
Im Original deutsch beigefügt.
62
dentale Objekt. Das transzendentale Objekt ist nämlich kein reales Objekt, sondern »bloß eine Vorstellung der Verhältnisse«, die nur das Im-Verhältnis-Sein des Denkens zu einem absolut unbestimmten Gedanken ausdrückt (Kant 3, S. 671). Aber was ist eine solche »Gesetzesform«? Und wie vor allem soll man sich ihr gegenüber verhalten, wenn doch der Wille hier von keinem besonderen Gehalt bestimmt ist? Welches ist mithin die der Gesetzesform entsprechende Lebensform? Wird dergestalt das moralische Gesetz nicht zu einem »unerforschlichen Vermögen« (Kant 1, S. 162) ? »Achtung« nennt Kant die Verfassung dessen, der unter einem Gesetz zu leben hat, das gilt, ohne zu bedeuten, das heißt, ohne ein bestimmtes Ziel vorzuschreiben oder zu verbieten: »Die Triebfeder, welche der Mensch vorher haben kann, ehe ihm ein Ziel (Zweck) vorgesteckt wird, kann doch offenbar nichts anderes sein als das Gesetz selbst, durch die Achtung, die es (unbestimmt, welche Zwecke man haben und durch dessen Befolgung erreichen mag) einflößt. Denn das Gesetz in Ansehung des Formalen der Willkür ist ja das einzige, was übrig bleibt, wann ich die Materie der Willkür [. . .] aus dem Spiel gelassen habe.« (Kant 4, S. 1) Es ist erstaunlich, wie Kant damit fast zwei Jahrhunderte im voraus und unter dem Titel eines erhabenen »moralischen Ge fühls« (Kant I, S. 195) eine Verfassung beschrieben hat, die vom Ersten Weltkrieg an in der Massengesellschaft und in den großen totalitären Staaten vertraut sein wird. Denn das Leben unter einem Gesetz, das gilt, ohne zu bedeuten, gleicht dem Leben im Ausnahmezustand, in dem die unschuldigste Geste und die kleinste Vergeßlichkeit die extremsten Konsequenzen haben können. Und es ist genau ein Leben dieser Art, wie es Kafka beschreibt, in dem das Gesetz um so durchdringender ist, je mehr es ihm an jeglichem Gehalt mangelt, und ein zerstreutes Klopfen an ein Tor unkontrollierbare Prozesse in Gang setzen kann. So wie für Kant der rein formale Charakter des moralischen Gesetzes den allgemeinen Anspruch begründet, so gilt im Kafkaschen Dorf die leere Potenz des Gesetzes dermaßen, daß sie vom Leben ununterscheidbar wird. Die Existenz und selbst der Körper von Josef K. fallen am Ende mit dem Prozeß zusammen, sie sind der Prozeß. Das erkennt Benjamin klar, wenn er gegen Scholems Vorstellung einer Geltung ohne Bedeutung einwendet, da ß ein Gesetz, das seinen Gehalt verloren habe, als solches zu existieI
63
ren aufhöre und sich nicht mehr vom Leben unterscheide: »Ob sie [die Schrift] den Schülern abhanden gekommen ist oder ob sie sie nicht enträtseln können, kommt darum auf das gleiche hinaus, weil die Schrift ohne den zu ihr gehörigen Schlüssel eben nicht Schrift ist sondern Leben. Leben wie es im Dorf am Schloßberg geführt wird.« (Benjamin und Scholem, S. 167) Um so entschlossener entgegnet wiederum Scholem (der nicht merkt, da ß sein Freund den Unterschied sehr genau erfaßt hat), er könne die »Meinung, daß es eines sei, ob die den Schülern abhanden gekommen ist oder ob sie sie nicht enträtseln können, [. . .] gar nicht teilen« und sehe »darin mit den größten Irrtum, der Dir begegnen konnte. Eben die Differenz dieser beiden Stände ist es, die ich mit meiner Äußerung vom Nichts der Offenbarung treffen will.« (Ebd., S. 175) Wenn unseren vorangehenden Analysen zufolge der wesentliche Zug des Ausnahmezustandes in der Unmöglichkeit liegt, das Gesetz vom Leben zu unterscheiden - das heißt. in dem Leben, wie es im Dorf am Schloßberg geführt wird -, dann stehen sich hier zwei verschiedene Interpretationen dieses Zustandes gegenüber: auf der einen Seite diejenige Scholems, die darin eine Geltung ohne Bedeutung sieht, eine Erhaltung der reinen Form des Gesetzes jenseits seines Gehaltes; auf der anderen Seite Ben jamins Sichtweise, für die der zur Regel gewordene Ausnahmezustand anzeigt, daß das Gesetz dabei ist, sich aufzuzehren und mit dem Leben, das es regulieren sollte, zu verschwimmen. Einem unvollkommenen Nihilismus, der das Nichts in Form einer Geltung ohne Bedeutung unbestimmt bestehen läßt, steht Benjamins messianischer Nihilismus gegenüber, der auch das Nichts für nichtig erklärt und die Form des Gesetzes jenseits ihres Gehaltes nicht gelten läßt. Wie auch immer es um die genaue Bedeutung dieser beiden Auffassungen und ihr Zutreffen auf die Interpretation von Kafkas Text stehen mag, sicher ist, daß heute jede Forschung über das Verhältnis zwischen Leben und Recht auf sie zurückkommen und sich mit ihnen auseinandersetzen muß. Die Erfahrung der Geltung ohne Bedeutung liegt einer nicht unerheblichen Strömung des zeitgenössischen Denkens zugrunde. Das Verdienst der Dekonstruktion besteht heute nämlich genau darin, daß sie den ganzen Text der Tradition als Geltung ohne Bedeutung auffaßt, die im wesentlichen auf der Unentscheidbarkeit beruht, und auch gezeigt hat, 64
da ß eine solche Geltung, wie die Tür des Gesetzes in Kafkas Parabel, absolut unüberwindbar ist. Doch gerade über den Sinn dieser Geltung (und den Ausnahmezustand, den sie eröffnet) gehen die Meinungen auseinander. Unsere Zeit steht in der Tat vor der Sprache wie in der Parabel der Mann vom Lande vor der Tür des Gesetzes.’ Das Denken riskiert hier, sich zu unendlichen und unlösbaren Verhandlungen mit dem Türhüter verdammt zu sehen oder, schlimmer noch, zuletzt selbst den Posten des Türhüters einzunehmen, der, ohne das Eintreten wirklich zu verhindern, das Nichts bewacht, auf das sich die Tür öffnet. Die Mahnung des Evangeliums, die Origenes in bezug auf die Auslegung der Schrift zitiert, lautet: ,Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, [. . .] die ihr das Himmelreich zuschließt vor den Menschen! Ihr geht nicht hinein, und die hinein wollen, laßt ihr nicht hineingehen.« Sie müßte wie folgt reformuliert werden: »Wehe euch, die ihr nicht in die Tür des Gesetzes eintreten wolltet und auch nicht erlaubtet, daß sie geschlossen würde.« 4.4. Aus dieser Perspektive muß sowohl die eigenartige »Um-
kehr« gelesen werden, die Benjamin in seinem Kafka-Essay der Geltung ohne Bedeutung entgegensetzt, wie auch die rätselhafte Anspielung auf einen »wirklichen« Ausnahmezustand in der der Geschichte. Einer Thora, zu achten These über den Begriff der welcher der Schlüssel verlorengegangen ist und die deshalb vom Leben ununterscheidbar zu werden droht, läßt Benjamin ein Leben entsprechen, das sich vollständig in Schrift auflöst: »In dem Versuch der Verwandlung des Lebens in Schrift sehe ich den Sinn der >Umkehr<, auf welche zahlreiche Gleichnisse Kafkas [. . .] hindrängen.« (Benjamin und Scholem, S. 167) In einer analogen Bewegung setzt die achte These dem Ausnahmezustand, in dem wir leben, einen »wirklichen«2 Ausnahmezustand entgegen, den herbeizuführen uns auferlegt sei: »Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der >Ausnahmezustand<, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff von Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes vor Augen stehen.« (Benjamin 3, S. 697) Wir haben gesehen, inwiefern das Gesetz, das reine Gesetzesform, schiere Geltung ohne Bedeutung geworden ist, mit dem Leben zusammenzufallen droht. Doch insofern das Gesetz im virtuellen Ausnahmezustand sich noch als bloße Form erhält, I
Mit Majuskel (“Legge«).
2 Im Original deutsch beigefügt.
65
läßt es vor sich das nackte Leben bestehen (das Leben von Josef K. oder wie es im Dorf am Schloßberg geführt wird). Im wirklichen Ausnahmezustand tritt dem Gesetz, das sich im Unbestimmten des Leben verliert, jedoch ein Leben entgegen, das sich in einer symmetrischen, aber umgekehrten Bewegung vollständig in Gesetz verwandelt. Der Undurchdringbarkeit einer Schrift, die unentzifferbar geworden ist und sich als Leben darbietet, antwortet die absolute Intelligibilität eines in Schrift aufgelösten Lebens. Erst an diesem Punkt heben die beiden Glieder, welche die Bann-Beziehung unterschied und zusammenhielt (das nackte Leben und die Gesetzesform), einander auf und treten in eine neue Dimension ein. 4.5. Es ist bezeichnend, daß die meisten Interpreten die Legende letztendlich als Lehrfabel einer Niederlage lesen, eines nicht wiedergutzurnachenden Scheiterns des Mannes vom Lande vor der unmöglichen Aufgabe, die das Gesetz ihm auferlegte. Mit Recht kann man aber fragen, ob Kafkas Text nicht auch eine andere Leseweise erlaubt. Die Interpreten scheinen nämlich die Worte zu vergessen, mit denen die Geschichte endet: »Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt, Ich gehe jetzt und schließe ihn.« Wenn es wahr ist, daß, wie wir gesehen haben, gerade das Offenstehen die unbezwingbare Macht des Gesetzes, seine spezifische »Kraft<< bildet, dann können wir uns auch vorstellen, daß das ganze Verhalten des Mannes vom Lande nichts anderes ist als eine komplizierte und geduldige Strategie, die Schließung zu erreichen, um die Geltung zu unterbrechen. Und am Ende gelingt dem Mann vom Lande sein Vorhaben ja tatsächlich, er erreicht, da ß die Tür des Gesetzes (die schließlich »nur für ihn« offengestanden hat) geschlossen wird -wenn vielleicht auch um den Preis des Lebens (doch die Geschichte sagt nicht, ob er wirklich tot ist, es heißt lediglich, daß er »schon am Ende« ist). Kurt Weinberg hat in seiner Interpretation vorgeschlagen, im schüchternen, aber hartnäckigen Mann vom Lande eine »verhinderte« christliche »Messiasfigur« zu sehen (Weinberg, S. I 32). Der Vorschlag kann nur dann angenommen werden, wenn man nicht vergißt, daß der Messias die Figur ist, durch welche die großen monotheistischen Religionen versucht haben, mit dem Problem des Gesetzes fertig zu werden, und d a ß 66
seine Ankunft, im Judentum wie im Christentum oder im schiitischen Islam, die Erfüllung und die vollständige Aufzehrung des Gesetzes bedeutet. Im Monotheismus ist der Messianismus mithin nicht einfach eine Kategorie der religiösen Erfahrung unter anderen, sondern die Grenzvorstellung dieser Erfahrung, der Punkt, an dem sie sich selbst überwindet und als Gesetz in Frage stellt (daher die messianischen Aporien des Gesetzes, von denen sowohl der Römerbrief des Paulus als auch die Sabbathianische Lehre zeugen, der zufolge die Erfüllung der Thora ihre Überschreitung ist). Doch wenn das wahr ist, was soll dann ein Messias tun, der sich wie der Mann vom Lande vor einem Gesetz im Zustand der Geltung ohne Bedeutung befindet? Er kann gewiß nicht ein Gesetz erfüllen, das schon im Zustand der unbestimmten Aufhebung ist, und noch weniger es einfach durch ein anderes ersetzen (die Erfüllung eines Gesetzes ist nicht ein neues Gesetz). Eine Miniatur in einer Handschrift des 5. Jahrhunderts mit Haggadoth über »Den der kommt« zeigt die Ankunft des Messias in Jerusalem. Der Messias erscheint zu Pferd (in anderen Illustrationen ist das Reittier ein Esel) vor dem weit aufgesperrten Tor der Heiligen Stadt, hinter dem ein Fenster eine Gestalt zu sehen gibt, die ein Torwächter sein könnte. Vor dem Messias steht aufrecht ein Junge einen Schritt vor dem Tor und zeigt darauf. Wer immer diese Gestalt auch sei (es könnte sich um den Propheten Elia handeln), es ist jedenfalls möglich, sie zum Vergleich neben Kafkas Mann vom Lande zu stellen. Ihre Aufgabe scheint darin zu bestehen, den Eintritt des Messias vorzubereiten und zu erleichtern - eine paradoxe Aufgabe, wo doch das Tor weit offensteht. Wenn man jene Strategie, welche die Potenz des Gesetzes dazu zwingt, sich in einen Akt umzusetzen, Provokation nennt, dann ist diese eine paradoxe Form der Provokation, die einzige, die einem Gesetz, das gilt, ohne zu bedeuten, und einer Tür, die einen nicht eintreten läßt, weil sie zu weit offensteht, angemessen ist. Die messianische Aufgabe des Mannes vom Lande (und des Jungen, der in der Miniatur vor dem Tor steht) könnte genau darin bestehen, den virtuellen Ausnahmezustand wirklich werden zu lassen, den Türhüter zum Schließen der Tür des Gesetzes zu zwingen (das Tor von Jerusalem). Denn der Messias wird erst eintreten können, nachdem man das Tor geschlossen hat, das heißt, nachdem die Geltung ohne Bedeutung aufgehört I
67
haben wird. Das ist der Sinn des rätselhaften Satzes in Kafkas Oktavheften: Der Messias wird erst kommen, wenn er nicht mehr nötig sein wird, er wird erst einen Tag nach seiner Ankunft »
kommen, er wird nicht am letzten Tag kommen, sondern am allerletzten.« Der letzte Sinn der Legende ist nicht, wie Derrida schreibt, »ein Ereignis, das erreicht, sich nicht zu ereignen« (»un événement qui arrive à ne pas arriver«; Derrida 1, S. 3 59). Ganz im Gegenteil, die Geschichte berichtet, daß tatsächlich etwas geschehen ist, was nicht zu geschehen scheint; und die messianischen A p o r i e n d e s M a n n e s v o m L a n d e d r ü c k e n g e n a u d i e Schwierigkeiten aus, auf die unsere Zeit beim Versuch, mit dem souveränen Bann fertig zu werden, trifft. Eines der Paradoxe des Ausnahmezustandes besteht darin, da ß in ihm die Überschreitung des Gesetzes und seine Ausübung nicht unterschieden werden können, so daß das, was der Norm entspricht und das, was sie verletzt, in ihm restlos zusammenfallen (wer während einer Ausgangssperre spazierengeht, überschreitet das Gesetz nicht mehr als der Soldat, der ihn gegebenenfalls, in Ausübung des Gesetzes, tötet). Das ist exakt die Situation, die in der jüdischen Tradition (und eigentlich in jeder genuinen messianischen Tradition) bei der Ankunft des Messias eintritt. Die erste Konsequenz dieser Ankunft ist die Erfüllung und Aufzehrung des Gesetzes (den Kabbalisten zufolge jenes Gesetzes der Thora von Beria, das heißt des Gesetzes, das von der Erschaffung des Menschen bis in die Tage des Messias gilt). Diese Erfüllung bedeutet jedoch nicht, da ß das alte Gesetz einfach durch ein neues ersetzt wird, das dem vorangehenden homolog ist, aber einfach andere Vorschriften und andere Verbote enthält (die Thora von Azilut, das ursprüngliche Gesetz, das nach den Kabbalisten der Messias wiederherstellen muß, enthält keine Vorschriften und Untersagungen, sondern lediglich eine ungeordnete Ansammlung von Briefen). Hier ist vielmehr gemeint, daß die Erfüllung der Thora nun mit der Überschreitung zusammenfällt. Das ist es, was die radikalen messianischen Bewegungen ohne Umschweife behaupten, wie diejenige von Sabbathai Zwi (dessen Motto lautete: »Die Erfüllung der Thora ist ihre Überschreitung*). Vom politisch-juridischen Standpunkt aus betrachtet ist der Messianismus folglich eine Theorie des Ausnahmezustandes; nur wird ihn eben nicht die geltende Autorität ausrufen, sondern der Messias, der ihre Macht subvertiert. Eine besondere Eigenschaft der Kafkaschen Allegorien liegt darin, d a ß gerade ihr Ausgang die Möglichkeit birgt, die Bedeutung völlig umzukehren. Die Hartnäckigkeit des Mannes vom Lande weist Analo68
gien zu Odysseus’ List auf, mit dem Gesang der Sirenen fertig zu werden. So wie das Gesetz in der Parabel unüberwindbar ist, weil es nichts vorschreibt, so ist auch hier die schrecklichste Waffe der Sirenen nicht der Gesang, sondern das Schweigen (es »ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, da ß sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiß nicht«); und der geradezu übermenschliche Verstand von Odysseus besteht genau darin, bemerkt zu haben, daß die Sirenen schweigen, und ihnen seine Komödie *nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten« zu haben, genauso wie der Mann vom Lande gegenüber dem Hüter des Gesetzes. Und wie die »Tore Indiens« in De r ueue Advokat kann auch die Tür des Gesetzes als Symbol jener mythischen Kräfte betrachtet werden, mit denen der Mensch wie das Pferd Bucephalus um jeden Preis fertig werden muß.
Jean-Luc Nancy ist der Philosoph, der die Erfahrung des Gesetzes,’ welche die Geltung ohne Bedeutung mit sich bringt, am strengsten gedacht hat. In einem extrem dichten Text bestimmt er deren ontologische Struktur als Verlassenheit [abbandono] und versucht konsequenterweise nicht nur unsere Zeit, sondern die ganze abendländische Geschichte als »Epoche der Verlassenheit« zu denken. Die von ihm beschriebene Struktur bleibt dennoch innerhalb der Gesetzesform, und die Verlassenheit wird als überlassensein [abbandono] an den souveränen Bann [Gando] gedacht, ohne daß sich ein Weg darüber hinaus auftäte: 4.6.
»Verlassen [abandonner] bedeutet, einer [. . .] souveränen Macht zu überlassen, anzuvertrauen oder auszuliefern, ihrem Bann, das heißt ihrer Ausrufung, ihrer Einberufung und ihrem Urteil zu überlassen, anzuvertrauen oder auszuliefern. Man verläßt stets in bezug auf ein Gesetz. Die Beraubung des verlassenen Seins mißt sich an der grenzenlosen Strenge des Gesetzes, dem es sich ausgesetzt findet. Die Verlassenheit ist nicht eine Vorladung, vor diesem oder jenem Gerichtsherrn zu erscheinen. Es ist ein Zwang, absolut unter dem Gesetz zu erscheinen, dem Gesetz als solchem und in seiner Totalität. Desgleichen - es ist die gleiche Sache - heißt verbannt sein nicht, unter einer bestimmten Gesetzesdisposition zu laufen, sondern unter dem Gesetz schlechthin. Dem Absoluten des Gesetzes ausgeliefert, ist der Verbannte außerhalb jeder Rechtssprechung gelassen. [. . .] Die Verlassenheit kann nicht umhin, das Gesetz zu achten.* (Nancy, s. 149f.) I
Mit Majuskel (»Lege«). 69
Was unsere Zeit dem Denken aufgibt, kann nicht allein in der Erkenntnis der äußersten und unüberwindbaren Form des Gesetzes als Geltung ohne Bedeutung bestehen. Jedes Denken, das sich darauf beschränkt, wiederholt b l o ß die ontologische Struktur, die wir als Paradox der Souveränität (oder als souveränen Bann) definiert haben. Die Souveränität ist nämlich genau dieses »Gesetz jenseits des Gesetzes, dem wir überlassen sind«, das heißt die sich selbst voraussetzende Macht des nomos, und nur, wenn es gelingt, das Sein der Verlassenheit jenseits jeder Idee von Gesetz (auch in der leeren Form einer Geltung ohne Bedeutung) zu denken, werden wir aus dem Paradox der Souveränität hinaustreten in Richtung einer von jeglichem Bann losgelösten Politik. Eine reine Gesetzesform ist lediglich die leere Form der Beziehung; doch die leere Form der Beziehung ist kein Gesetz mehr, sondern eine Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen Gesetz und Leben, ein Ausnahmezustand. Das Problem ist hier dasselbe wie dasjenige, das sich Heidegger in den Beiträgen zur Philosophie unter der Rubrik der Seinsverlassenheit’ vornimmt, das heißt nicht weniger als das Problem der Einheit/Differenz von Sein und Seiendem im Zeitalter der Erfüllung der Metaphysik. Das Problem, das mit dieser Verlassenheit ansteht, ist nicht, da ß etwas (das Sein) etwas anderes (das Seiende) gehen läßt, entläßt. Im Gegenteil: Das Sein ist hier nichts anderes als die Seinsverlassenheit und das Sich-selbstüberlassen-sein des Seienden, das Sein ist nichts anderes als der Bann des Seienden: » W a s ist wovon verlassen? Das Seiende von dem ihm und nur ihm zugehörigen Seyn. Das Seiende erscheint dann so, es erscheint sich als Gegenstand und Vorhandenes, als ob Seyn nicht weste.« (Heidegger
»Dann zeigt sich: daß das Sein das Seiende verläßt, besagt: das Seyn werbirgt sich in der Offenbarkeit des Seienden. Und das Seyn wird
selbst wesentlich als dieses Sichentziehende Verbergen bestimmt.« (Ebd., S. »Seinsverlassenheit: daß das Seyn das Seiende verläßt, dieses ihm selbst sich überläßt und es so zum Gegenstand der Machenschaft werden läßt. Dies alles ist nicht einfach >Verfall‹, sondern ist die Geschichte des Seyns selbst [. . (Ebd., S. I I 1) I I
I
Im Original deutsch und anschließend mit »abbandono dell’ente da parte
dell’essere« (Verlassenheit des Seienden durch das Sein) übersetzt. 70
Wenn das Sein in diesem Sinn nichts anderes als das Im-BannSein des Seienden [l’essere a bandono dell’ente] ist, dann zeigt sich das Paradox der ontologischen Struktur der Souveränität hier unverhüllt. Die Beziehung der Verlassenheit muß nun neu gedacht werden. Die Beziehung als Geltung ohne Bedeutung, das heißt als überlassensein an und Verlassensein von einem Gesetz, das nichts außer sich selbst vorschreibt, zu lesen, bedeutet, innerhalb des Nihilismus zu verharren und nicht bis zur äußersten Erfahrung der Verlassenheit vorzustoßen. Nur dort, wo sie sich von jeder Idee des Gesetzes oder des Geschicks loslöst (die Kantsche Gesetzesform und die Geltung ohne Bedeutung einbegriffen), wird die Verlassenheit auch wirklich als solche erfahren. Deswegen muß man sich der Idee öffnen, daß die Beziehung der Verlassenheit gar keine Beziehung ist, daß das Zusammensein des Seins und des Seienden nicht die Form einer Beziehung hat. Das heißt nicht, d aß jetzt jedes für sich selbst herumtreibt; vielmehr bestehen sie nun miteinander ohne Beziehung. Dies erfordert aber nicht weniger als den Versuch, das politisch-sozialefactum nicht mehr in Form einer Beziehung zu denken. Alexandre Kojèves Thesen vom Ende der Geschichte und der daraus folgenden Einrichtung eines homogenen Universalstaates bieten viele Analogien mit der epochalen Situation, die wir mit der Geltung ohne Bedeutung umschrieben haben (das erklärt die derzeitigen Versuche, Kojève liberal-kapitalistisch zu aktualisieren). Was ist ein Staat, der die Geschichte überlebt, eine staatliche Souveränität, die sich über das Erreichen des historischen Telos hinaus erhält, wenn nicht ein Gesetz, das gilt, ohne zu bedeuten.? Eine Erfüllung der Geschichte, in der die leere Form der Souveränität fortbesteht, ist ebenso unmöglich zu denken wie die Auslöschung des Staates ohne Erfüllung seiner historischen Formen, denn die leere Form des Staates neigt dazu, epochale Inhalte zu erzeugen, die ihrerseits einer unmöglich gewordene Staatsform zustreben (das geschieht in der Ex-Sowjetunion und in Ex-Jugoslawien). Auf der Höhe der Aufgabe würde sich heute nur ein Denken bewegen, das zugleich das Ende des Staates und das Ende der Geschichte zu denken und das eine gegen das andere zu mobilisieren vermöchte. In diese Richtung scheint sich auch - wiewohl in ungenügender Weise - der späte Heidegger mit der Idee eines Ereignisses als einer letzten Aneignung’ zu bewegen. Was angeeignet wird, ist das Sein selbst, das I
»Ereignis« im Original deutsch beigefügt, um auf die Heideggersche Ableitung der Aneignung vom Ereignis hinzuweisen 71
heißt das Prinzip, das bisher das Seiende in seinen verschiedenen Epochen und historischen Gestalten bestimmt hat. Das bedeutet, daß mit dem Ereignis’ (wie mit Hegels Absolutem in der Lesart von Kojève) die »Seinsgeschichte zu Ende« ist (Heidegger 2, S. 44), und folglich findet die Beziehung zwischen Sein und Seiendem ihre »Absolution«. Deshalb kann Heidegger schreiben, daß er im Ereignis »das Sein ohne Rücksicht auf das Seiende« zu denken versuche, was nichts anderes meint als den Versuch, die ontologische Differenz nicht mehr als Beziehung, Sein und Seiendes jenseits jedes möglichen Verhältnisses zu denken. Das ist die Perspektive, in der die Debatte zwischen Bataille und Ko jève betrachtet werden muß, in der genau die Figur der Souveränität im Zeitalter der Erfüllung der Menschheitsgeschichte auf dem Spiel steht. Hier sind mehrere Szenarien möglich. In der Vorbemerkung zur zweiten Auflage seiner Introduction l a lecture de Hegel von 1947 nimmt Kojève Abstand von der in der ersten Auflage vorgebrachten These, wonach das Ende der Geschichte einfach mit dem Rückschreiten des Menschen zum Tier, mit seinem Verschwinden als Mensch im eigentlichen Sinn zusammenfällt (das heißt als Subjekt der negierenden Tätigkeit). Auf einer Japan-Reise im Jahr 1959 hat er die Möglichkeit einer posthistorischen Kultur behauptet, in der die Menschen, obwohl sie die negierende Tätigkeit im engen Sinn aufgegeben hätten, fortfahren würden, die Formen von ihren Inhalten zu trennen, nicht um letztere aktiv zu verändern, sondern um eine Art von »Snobismus im Reinzustand« zu pflegen (die Teezeremonien etc.). In seiner Rezension der Romane von Raymond Queneau sieht er andererseits in den Personen von Dimanche de vie und die Figur des zufriedenen Weisen am besonders im voyou Ende der Geschichte verwirklicht (Kojève, S. 391). Hegels zufriedenem, selbstbewußtem Weisen und dem voyou (den Kojève abschätzig homo quenellensis genannt hat) setzt Bataille seinerseits die Figur der im Augenblick aufgezehrten Souveränität entgegen (»la seule innocence possible, celle de l’instant«3), die mit den »Formen, in denen der Mensch sich sich selbst gibt: [. . .] dem Lachen, der Erotik, dem Kampf, der Verausgabung«, zusammenfällt. Das Thema des als Figur der Fülle des Menschen am Ende der Geschichte, das zum ersten Mal in Kojèves Rezension von Queneau auftaucht, ist von Blanchot und Nancy wiederaufgenommen worden; letzterer hat es ins Zentrum seines Buches La gestellt. Hier hängt alles davon ab, was man unter ment versteht. Es kann weder die einfache Absenz des Werks vre] sein noch (wie bei Bataille) eine souveräne und untätige [senza im1
Form der Negativität. Die einzige kohärente Auffassung von wäre die einer unbestimmten Existenz der Potenz, die sich nicht (wie die individuelle Tätigkeit oder die kollektive Handlung, die als Summe der individuellen Tätigkeiten begriffen wird) in einem transitus de potenti a in act um erschöpft.
,
Im Original deutsch.
2 »Untätiger Stro1ch.« 3
72
»Die einzig mögliche Unschuld, die des Augenblicks«.
I
»Ohne Einsatz« oder Bohne Anstellung«; siehe auch oben Anm. 2 auf S. 59.
Schwelle Die vorbehaltlose Bloßlegung der irreduziblen Verknüpfung von Gewalt [violenza] und Recht macht Benjamins Kritik der Gewalt zur - heute noch immer unerreichten - notwendigen Vorbedingung jeder Untersuchung über die Souveränität. In Benjamins Analyse stellt sich diese Verknüpfung zunächst als ein »dialektisches Auf und Ab« zwischen rechtsetzender Gewalt und rechtserhaltender Gewalt [violenza] dar. Daher die Notwendigkeit einer dritten Figur, welche dieses zirkuläre Auf und Ab zwischen diesen beiden Formen der Gewalt sprengt: »Dessen Schwankungsgesetz beruht darauf, daß jede rechtserhaltende Gewalt in ihrer Dauer die rechtsetzende, welche in ihr repräsentiert ist, durch die Unterdrückung der feindlichen Gegengewalten indirekt selbst schwächt. [. . .] Dies währt so lange, bis entweder neue Gewalten oder die früher unterdrückten über die bisher rechtsetzende Gewalt und damit ein neues Recht zu neuem Verfall begründen. Auf die Durchbrechung dieses Umlaufs im Banne der mythischen Rechtsformen, auf der Entsetzung des Rechts samt den Gewalten, auf die es angewiesen ist wie sie auf jenes, zuletzt also der Staatsgewalt, begründet sich ein neues geschichtliches Zeitalter.* (Benjamin 1, S. 202)
Die Definition dieser dritten Figur, die Benjamin die göttliche Gewalt nennt, ist das zentrale Problem jeder Interpretation des Essays. Denn Benjamin liefert kein positives Bestimmungskriterium und verneint sogar, daß es auch nur möglich sei, sie im konkreten Fall zu erkennen. Gewiß ist nur, da ß sie das Recht weder setzt noch erhält, sondern entsetzt. Deswegen ist sie auch den gefährlichsten Mißverständnissen ausgeliefert (davon zeugen die Skrupel, mit denen Derrida in seiner Interpretation des Essays vor ihr warnt, indem er sie, mit bemerkenswerter Verkennung, der nazistischen »Endlösung« annähert; Derrida 2, s.
120-125).
Als Benjamin 1920 an Kritik der Gewalt arbeitete, kannte er aller Wahrscheinlichkeit nach Schmitts Politische Theologie nicht, deren Definition der Souveränität er fünf Jahre später in seinem Buch über das barocke Trauerspiel zitierte. Deshalb kommen die souveräne Gewalt und der Ausnahmezustand, welche die Politische Theologie begründet, in der Kritik nicht vor, und es ist nicht leicht zu sagen, welche Stellung diese zur recht74
setzenden und rechtserhaltenden Gewalt einnehmen wurden. Die Wurzel der Doppeldeutigkeit der göttlichen Gewalt muß vielleicht gerade in diesem Mangel gesucht werden. Denn ganz offensichtlich wirkt die im Ausnahmezustand ausgeübte Gewalt weder rechtserhaltend noch einfach rechtsetzend, sondern sie erhält das Recht, indem sie es aufhebt, und setzt es, indem sie sich davon ausnimmt. In diesem Sinn läßt sich die souveräne Gewalt ebensowenig wie die göttliche Gewalt ganz auf eine jener beiden Formen reduzieren, deren Dialektik der Essay zu definieren beabsichtigt. Doch bedeutet das wiederum nicht, daß die souveräne Gewalt mit der göttlichen Gewalt verwechselt werden darf. Die Definition der göttlichen Gewalt fallt sogar leichter, wenn man sie in Beziehung zum Ausnahmezustand setzt. Denn die souveräne Gewalt öffnet eine Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen Gesetz und Natur, Außen und Innen, Gewalt und Recht; trotzdem ist der Souverän genau derjenige, der die Möglichkeit offenhält, zwischen ihnen zu entscheiden, und zwar im selben Maß, wie er sie vermischt. Solange der Ausnahmezustand sich vom Normalfall unterscheidet, wird die Dialektik zwischen rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt nicht wirklich aufgebrochen, und die souveräne Entscheidung erscheint sogar bloß als Medium, in dem sich der übergang vom einen zum anderen vollzieht (in diesem Sinn kann man sagen, daß die souveräne Gewalt das Recht setzt, da sie die Zulässigkeit einer sonst unzulässigen Handlung behauptet, und es zugleich erhält, da der Inhalt des neuen Rechts nur in der Bewahrung des alten besteht). Auf jeden Fall bleibt die Verbindung zwischen Gewalt und Recht auch in ihrer Ununterscheidbarkeit erhalten. Die Gewalt, die Benjamin als göttliche bestimmt, ist indes in einer Zone angesiedelt, wo es nicht mehr möglich ist, zwischen Ausnahme und Regel zu unterscheiden. Sie steht zur souveränen Gewalt in derselben Beziehung wie in der achten These der wirkliche Ausnahmezustand zum virtuellen. Deswegen (das heißt insofern sie nicht eine Art von Gewalt unter anderen ist, sondern nur die Auflösung der Verknüpfung von Gewalt und Recht) kann Benjamin sagen, daß die göttliche Gewalt das Recht weder setzt noch erhält, sondern entsetzt. Sie offenbart die Verknüpfung zwischen den beiden Gewalten - und um so mehr zwischen Gewalt und Recht - als einzigen realen Inhalt des 75
Rechts. »Die Funktion der Gewalt in der Rechtsetzung«, schreibt Benjamin am einzigen Punkt, an dem sich der Essay so etwas wie einer Definition der souveränen Gewalt nähert, »ist nämlich zwiefach in dem Sinne, daß die Rechtsetzung zwar das jenige, was als Recht eingesetzt wird, als ihren Zweck mit der Gewalt als Mittel erstrebt, im Augenblick der Einsetzung des Bezweckten als Recht aber die Gewalt nicht abdankt, sondern sie nun erst im strengsten Sinne und zwar unmittelbar zur rechtsetzenden macht, indem sie nicht einen von Gewalt freien und unabhängigen, sondern notwendig und innig an sie gebundenen Zweck als Recht unter dem Namen der Macht einsetzt.« (Ben jamin 1, S. 198f.) Es ist darum kein Zufall, wenn sich Benjamin, anstatt die göttliche Gewalt zu definieren, in einer scheinbar brüsken Bewegung dem Träger der Verknüpfung von Gewalt und Recht zuwendet, den er »bloßes Leben« nennt. Die Analyse dieser Figur, deren entscheidende Funktion in der Ökonomie des Essays bislang ungedacht geblieben ist, stellt eine wesentliche Verknüpfung zwischen dem bloßen Leben und der rechtlichen Gewalt her. Nicht nur ist die »Herrschaft des Rechtes über den Lebendigen« dem bloßen Leben koextensiv und hört mit diesem auf, sondern auch die »Auslösung der Rechtsgewalt«, was in gewissem Sinn das Ziel des Essays ist, »geht [. . .] auf die Verschuldung des bloßen natürlichen Lebens zurück, welche den Lebenden unschuldig und unglücklich der Sühne überantwortet, die seine Verschuldung >sühnt< - und auch wohl den Schuldigen entsühnt, nicht aber von einer Schuld, sondern vom Recht.«* (Benjamin 1, S. 199f.) Auf den folgenden Seiten werden wir versuchen, diese Hinweise zu entwickeln und die Beziehung zu analysieren, die dieses bloße oder nackte Leben und die souveräne Macht aneinander bindet. Benjamin zufolge trägt das Prinzip der Heiligkeit des Lebens, das unsere Zeit dem menschlichen Leben und sogar dem tierischen Leben überhaupt zuschreibt, zur Klärung dieser Beziehung wie auch zu jedem Versuch, die Herrschaft des Rechts über das Lebende in Frage zu stellen, nichts bei. Für ihn ist es verdächtig, d a ß das, was hier heiliggesprochen wird, genau das ist, was dem mythischen Denken nach »der gezeichnete Träger der Verschuldung ist: das bloße Leben«, wie wenn es zwiI Im
76
Original »sühnt« und -entsühnt« deutsch beigefügt.
schen der Heiligkeit des Lebens und der Macht des Rechts eine geheime Komplizenschaft gäbe. »Dem Ursprung des Dogmas von der Heiligkeit des Lebens nachzuforschen möchte sich verlohnen. Vielleicht, ja wahrscheinlich ist es jung, als die letzte Verirrung der geschwächten abendländischen Tradition, den Heiligen, den sie verlor, im kosmologisch Undurchdringlichen zu suchen.« (Benjamin 1, S. 202) Genau an diesem Ursprung werden wir mit unserer Untersuchung beginnen. Das Prinzip der Heiligkeit des Lebens ist uns so vertraut geworden, daß wir zu vergessen scheinen, daß das alte Griechenland, dem wir den Großteil unserer ethisch-politischen Konzepte verdanken, nicht nur dieses Prinzip nicht kannte, sondern auch kein Wort, um die ganze Komplexität der semantischen Sphäre auszudrücken, die wir mit dem einzigen Wort »Leben« bezeichnen. Die Opposition von und bios, von und (das heißt von Leben im allgemeinen und der qualifizierten, den Menschen eigenen Lebensart), die doch so entscheidend ist für die Anfänge der abendländischen Politik, enthält nichts, was an ein Vorrecht oder eine Heiligkeit des Lebens als solchen denken ließe; das homerische Griechisch verfugt nicht einmal über ein Wort für den lebenden Körper. Das Wort das in späteren Epochen zu einem guten Aquivalent für unseren »Körper« wird, bedeutet ursprünglich bloß »Kadaver«, wie wenn das Leben an sich, das sich für die Griechen in eine Vielzahl von Aspekten und Elementen auflöst, erst nach dem Tod eine Einheit darstellte. Im übrigen wurde in Gesellschaften, die wie das alte Griechenland Opfer feierten und gelegentlich auch Menschenleben darbrachten, das Leben an sich nicht als heilig betrachtet; heilig wurde es nur mittels einer Reihe von Ritualen, deren Zweck gerade darin bestand, es aus seinem profanen Kontext herauszulösen. Damit das Opfer heilig wird, mu ß es, wie Benveniste erklärt, »aus der Welt der Lebenden ausgeschlossen werden und [. . .] die Schwelle überschreiten, die die beiden Welten trennt: dies ist der Zweck der Tötung« (Benveniste, Wenn das zutrifft, wann und auf welche Weise ist dann ein menschliches Leben zum ersten Mal für sich selbst als heilig betrachtet worden? Bislang haben wir uns mit dem Aufzeigen der logischen und topologischen Struktur der Souveränität beschäftigt; was aber wird von ihr ausgenommen und zugleich in sie 77
hineingenommen, wer ist der Träger des souveränen Banns? Benjamin wie Schmitt weisen das Leben (das »bloße Leben« bei Benjamin, bei Schmitt das »wirkliche Leben«, das »die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik« »durchbricht«) als Element aus, das in der Ausnahme mit dem Souverän in engster Beziehung steht. Und diese Beziehung gilt es nun zu klären.
Zweiter Teil Homo
sacer
I.
Homo sacer
. . Der Traktat Über die Bedeutung der Wörter von Sextus Pompeius Festus bewahrt uns unter dem Lemma sacer mons das I
I
Gedächtnis einer Figur des archaischen römischen Rechts, in der sich die Heiligkeit zum ersten Mal mit einem menschlichen Leben als solchem verbunden findet. Der Definition des Hei-
ligen Berges, den die Plebs im Augenblick ihrer Sezession Jupiter weihte, fügt Festus unmittelbar an: At homo sacer is est, quem populus iudicavit ob maleficium; neque fas est eum immolari, sed qui occidit, parricidi non damnatur; nam lege tribunicia prima cavetur »si quis eum, qui eo plebei scito sacer sit, occiderit, parricida ne sit«. Ex quo quivis homo malus atque improbus sacer appellari (De sign. verb.) Der Sinn dieser rätselhaften Figur, in der manche »die frühste
Strafe des römischen Strafrechts« (Bennett, S. 5) sehen wollten, ist viel diskutiert worden; doch ihre Interpretation wird dadurch kompliziert, da ß sie auf den ersten Blick widersprüchliche Züge trägt. Schon Harold Bennett bemerkte 1930 in einer Studie, da ß die Definition von Festus »die Sache selbst, die das Wort impliziert, zu negieren scheint« (ebd., S. 7); während sie die Heiligkeit einer Person verkündet, autorisiert sie (oder genauer: sie erklärt für nicht strafbar) deren Tötung (welcher Etymologie des Begriffs parricidium man auch immer folgt, dieser bezeichnet ursprünglich einen Mord an einem freien Mann). Der Widerspruch wird noch durch den Umstand verstärkt, da ß derjenige, den jeder straflos töten konnte, nicht durch die vom Ritus vorgegebenen Formen zu Tode gebracht werden durfte (neque fas est e u m immolari; immolari bezeichnet das Bestreuen des Opfers mit der mola salsa vor der Tötung).
I
»Sacer aber ist derjenige, den das Volk wegen eines Delikts angeklagt hat; und es ist nicht erlaubt, ihn zu opfern; wer ihn jedoch umbringt, wird nicht wegen Mordes verurteilt; denn im ersten tribunizischen Gesetz ist festgelegt: >Wenn einer denjenigen umbringt, der aufgrund eines Plebiszits sacer ist, dann wird er nicht als Mörder betrachtet<. Daher pflegt man einen schlechten und unreinen Menschen sacer zu nennen.«
Worin besteht also die Heiligkeit des homo sacer [uomo sacro] ? Was bedeutet der Ausdruck sacer esto,l der mehrmals in den königlichen Gesetzen vorkommt und schon in der archaischen Inschrift auf dem rechteckigen des Forums auftaucht, wenn er zugleich das impune und den Ausschluß vom Opfer formuliert? Da ß dieser Ausdruck auch den Römern dunkel erschien, belegt zweifelsfrei ein Abschnitt der Saturna- 8), wo Macrobius, nachdem er das als sacrum defilien niert hat, was für die Götter bestimmt ist, hinzufügt: »An diesem Punkt ist es nicht fehl am Platz, von den Verhältnissen jener Menschen zu handeln, die das Gesetz zu bestimmten Göttern Geweihten [sacros] erklärt, denn ich weiß wohl, daß es manchen sonderbar erscheint [mirum videri], daß, während es ansonsten verboten ist, heilige Dinge zu verletzen, es doch erlaubt sei, den homo sacer zu töten.« Was immer auch das Gewicht dieser Interpretation sein mag, die Macrobius an diesem Punkt schuldig zu sein glaubt, sicher ist, daß die Heiligkeit in seinen Augen problematisch genug war, um einer Erklärung zu bedürfen. Der Perplexität der antiqui autores antwortet die Divergenz der modernen Interpretationen. Auf der einen Seite finden sich diejenigen (wie Theodor Mommsen, Ludwig Lange, Harold Bennett, James Leigh Strachan-Davidson), die in der sacratio das abgeschwächte und säkularisierte Residuum einer archaischen Phase sehen, in der das religiöse Recht und das Strafrecht noch nicht unterschieden wurden und man das Todesurteil als Opfer an die Gottheit verstand; auf der anderen Seite diejenigen (wie Karl Kerényi und W. Warde Fowler), die darin eine archetypische Figur des Heiligen erblicken, die Weihung für die unterweltlichen Götter, analog zum Doppelsinn des ethnologischen Tabubegriffs: erhaben und verflucht, verehrungswürdig und schreckenerregend. Ersteren gelingt es zwar, das impune occidi zu begründen (wie das zum Beispiel Mommsen in Begriffen einer Popolaren oder stellvertetenden Vollstreckung eines Todesurteils tut), sie haben jedoch keine überzeugende Erklärung für das Opferverbot. Umgekehrt wird in der Perspektive der 1.2.
Er soll sacer sein. 2 Grabsäule. 3 Straflos getötet werden. I
82
letzteren zwar das neque fas est eum immolari verständlich (der homo sacer, so Kerenyi, kann nicht mehr Gegenstand eines sacri ficium, einer »Handlung, die das Geopferte zum sacer macht«, werden, weil er »schon den Besitz der unterirdischen Götter [bildet]; sie nehmen ihn nicht als Geschenk, als Opfer an«; Kerényi, S. 61); man begreift jedoch überhaupt nicht, warum dann jeder den homo sacer umbringen kann, ohne ein Sakrileg zu begehen (von daher rührt die nicht schlüssige Erklärung von Macrobius, wonach man die Seelen der homines sacri deshalb auf schnellstem Weg in den Himmel befördern wollte, weil sie diis waren). Keine der beide Positionen vermag den beiden Merkmalen, deren Juxtaposition nach Festus gerade das Spezifische des homo sacer ausmacht, auf ökonomische Weise gleichzeitig Recht zu verschaffen: der Straflosigkeit seiner Tötung und dem Verbot der Opferung. Im Innern dessen, was wir von der juridischen und religiösen Ordnung (sowohl vom ius divinum wie vom ius humanum) wissen, scheinen die beiden Wesenszüge in der Tat schwerlich vereinbar zu sein: Wenn der homo sacer unrein (Fowler: tabu) oder im Besitz der Götter war, wie konnte ihn dann jedermann umbringen, ohne sich zu beflecken oder ein Sakrileg zu begehen? Und wenn er andererseits wirklich Opfer eines archaischen sacrificium oder eines Todesurteils war, warum war es dann nicht fas, ihn in vorgeschriebener Form zu Tode zu bringen? Was ist mithin das Leben des homo sacer, wenn es am Kreuzpunkt der zulässigen Tötung und der verbotenen Opferung angesiedelt ist, außerhalb des menschlichen wie des göttlichen Rechts? Alles deutet darauf hin, daß wir es hier mit einem Grenzbegriff der römischen Gesellschaftsordnung zu tun haben, der als solcher schwerlich eine befriedigende Erklärung findet, solange man im Innern des ius divinum und des ius humanum verbleibt; aber vielleicht erlaubt er, Licht auf ihre gegenseitigen Grenzen zu werfen. Anstatt das Spezifikum des homo sacer in einer behaupteten ursprünglichen Ambiguität des Heiligen nach dem Muster des ethnologischen Tabubegriffs aufzulösen, wie das allzu oft geschehen ist, werden wir vielmehr versuchen, die sacratio als autonome Figur zu interpretieren; und wir werden I
Den Göttern geweiht/verfallen. 83
uns fragen, ob sie nicht zufällig Licht auf eine originäre politische Struktur wirft, die sich in einer Zone befindet, die der Unterscheidung zwischen Heiligem und Profanem, Religiösem und Politischem vorausliegt. Doch um uns dieser Zone anzunähern, müssen wir zuerst ein Mißverständnis ausräumen.
2.
Die Ambivalenz des Heiligen
Auf den Interpretationen sozialer Phänomene und ins besondere des Problems vom Ursprung der Souveränität lastet noch immer ein wissenschaftlicher Mythos, der am Ende des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entstanden ist und die humanwissenschaftlichen Forschungen auf einem besonders heiklen Gebiet nachhaltig auf den Holzweg gebracht hat. Dieses Mythologem, das wir hier vorläufig »Theorie der Ambivalenz des Heiligen« titulieren können, bildet sich anfänglich in der spätviktorianischen Anthropologie heraus und überträgt sich unmittelbar danach auf die französische Soziologie. Aber sein Einfluß auf die Zeit und seine Übertragung auf die anderen Disziplinen sind dermaßen hartnäckig gewesen, da ß es nach der Kompromittierung von Batailles Untersuchungen über die Souveränität auch noch in jenem linguistischen Meisterwerk des 20. Jahrhunderts von Benveniste, Indoeuropäische Institutionen, gegenwärtig ist. Daß es zum ersten Mal 1889 in den Lectures on the Religion of the Semites von William Robertson Smith formuliert wurde - es handelt sich um jenes Buch, das einen so maßgeblichen Einfluß auf Sigmund Freuds Totem und Tabu haben wird (»man liest es«, sagte dieser, »als gleite man in einer Gondel dahin«) -, überrascht nicht, wenn man daran denkt, daß die Lectures zu einem Zeitpunkt erschienen sind, da eine Gesellschaft, die jeden Bezug zu ihrer religiösen Tradition verloren hatte, ihr eigenes Unbehagen zu beklagen begann. In diesem Buch tritt der ethnographische Begriff erstmals aus dem Bereich der primitiven Kulturen heraus und dringt ungehindert ins Innere der Forschung der biblischen Religion, um mit seiner Ambiguität die abendländische Erfahrung des Heiligen unwiderruflich zu prägen. In der vierten Lektion heißt es: 2.1.
,
*Neben diesen Formen des Tabu, die genau den Regeln der Heiligkeit entsprechen, indem sie die Unverletzlichkeit der Götterbilder und Heiligtümer, der Priester und Häuptlinge und überhaupt aller Personen und Dinge, die zu den Göttern und ihrem Cultus in Beziehung stehen, finden wir noch eine andere Form des Tabu, die bei den Semiten ihre Parallele in den Gesetzen über die Unreinheit hat. Frauen nach der Geburt eines Kindes, Personen, die mit einem toten Körper in Be,
85
rührung gekommen sind, sind für eine gewisse Zeit Tabu und von der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen, wie auch in der semitischen Religion solche Personen als unrein gelten. Die dem Tabu unterworfene Person wird in solchen Fällen nicht als heilig betrachtet [. . ,]. Bei den meisten wilden Völkern scheinen die beiden eben bezeichneten Arten des Tabu nicht scharf unterschieden zu werden. Selbst in höher entwickelten Völkern berühren sich vielfach die Begriffe der Heiligkeit und der Unreinheit.« (Robertson Smith, S. I 1)
In einer der zweiten Ausgabe der Lectures hinzugefügten Anmerkung mit der Überschrift »Heiligkeit, Unreinheit und Tabu« zählt Robertson Smith eine neue Reihe von Beispielen der Doppeldeutigkeit auf (darunter das Verbot des Schweinefleischs, das »in den höher stehenden Religionen der Semiten eine schwankende Stellung zwischen dem Bereich des Heiligen und Unreinen« einnimmt; ebd., S. I 14), um sodann zu behaupten, da ß es »unmöglich ist, die semitische Auffassung der Heiligkeit und der Unreinheit von dem System des Tabu zu sondern« (ebd., S. I 17). Bedeutsam ist, daß Robertson Smith zu den Zeugnissen dieses doppeldeutigen Vermögens auch den Bann zählt: »Ein anderer hebräischer Brauch, der hier erwähnt werden kann, ist der Bann (hérem), durch den böswillige Sünder und Feinde der Gemeinschaft und ihres Gottes der gänzlichen Vernichtung geweiht werden. Der Bann ist eine Form der Weihung für die Gottheit: das Verbum für >bannen< wird zuweilen mit >weihen< wiedergegeben (Micha 4,13), zuweilen bedeutet es ,geloben< (Lev. 27, 28f.). In der ältesten Zeit der Hebräer bezeichnet es jedoch die völlige Vernichtung, nicht nur der vom Bann betroffenen Person, sondern auch die seines Eigentums; nur Metalle wurden, nachdem sie durch Feuer gereinigt waren, dem Schatz des Heiligtums beigefügt (Jos. 6, 24; 7,24; 1 Sam. I 5). Auch das Vieh wurde nicht geopfert, sondern einfach getötet, und die gebannte Stadt durfte nicht wieder aufgebaut werden (Deut. I 3,16; Jos. Ein solcher Bann ist ein Tabu, das durch die Furcht vor übernatürlichen Strafen veranlasst ist (1 Kön. 16, 34). Die von ihm ausgehende Gefahr ist ebenso wie beim Tabu übertragbar (Deut. 7, 26; Jos. 7). Wer ein gebanntes Ding in sein Haus bringt, verfallt selbst dem Banne.« (Ebd., s.
Die Untersuchung des - dem Tabu angeglichenen - Banns ist von Anfang an maßgebend für die Genese der Lehre von der Doppeldeutigkeit des Heiligen: Die Doppeldeutigkeit des erste86
ren, das ausschließt, indem es einschließt, impliziert die Doppeldeutigkeit des letzteren. War die Theorie von der Ambivalenz des Heiligen erst einmal formuliert, breitete sie sich, ohne auf Widerstand zu stoßen, in allen Bereichen der Humanwissenschaften aus -wie wenn die europäische Kultur das Phänomen zum ersten Mal entdeckt hätte. Zehn Jahre nach den Lectures eröffnen Henri Hubert und Marcel Mauss ihren zum Klassiker der französischen Anthropologie gewordenen Essai sur l a nature et Ia fonction du sacrifice (1 899) ausgerechnet mit der Beschwörung der »Doppeldeutigkeit der heiligen Dinge, die R. Smith so bewundernswert ans Licht gebracht hat« (Hubert und Mauss, S. 195). Sieben Jahre später druckt der Tabubegriff im zweiten Band von Wilhelm Wundts Völkerpsychologie über Mythus und Religion gerade die ursprüngliche Ununterschiedenheit von heilig und unrein aus, welche die archaischste Phase der Menschheitsgeschichte kennzeichneten, jene Mischung von Ehrfurcht und Abscheu, die in der Formel »heilige Scheu« Karriere machen wird. Erst in einer späteren Phase, als die ältesten dämonischen Mächte den Göttern wichen, trat Wundt zufolge auch der Gegensatz von heilig und unrein an die Stelle der ursprüngliche Ambivalenz. 1912 veröffentlicht der Onkel von Mauss, Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, worin der »Zweideutigkeit des Begriffs des Heiligen« ein ganzes Kapitel gewidmet ist. Hier unterteilt er die »religiösen Kräfte« in zwei gegensätzliche Kategorien, die »heilbringenden« und die »unheilbringenden«: 2.2.
»Zweifellos sind die Gefühle, die die beiden erwecken, nicht identisch: Respekt ist eine Sache, Abscheu und das Grausen eine andere. Damit aber die Gesten in beiden Fällen die gleichen sind, dürfen die ausgedruckten Gefühle ihrer Natur nach nicht verschieden sein. In der Tat gibt es Grausen im religiösen Respekt, besonders wenn er sehr groß ist, und die Furcht, die die bösen Mächte erwecken, hat im allgemeinen auch achtungsgebietende Züge. [. . .] Das Reine und das Unreine sind also nicht zwei getrennte Arten, sondern zwei Varianten ein und derselben Art, die alle heiligen Dinge umfaßt. Es gibt iwei Arten des Heiligen, die heilbringenden [faste] und die unheilbringenden [nefaste]. Und zwischen diesen beiden entgegengesetzten Formen gibt es nicht nur keinen Bruch; ein und dasselbe Objekt kann sich vielmehr von 87
sich aus in die andere verwandeln, ohne seine Natur zu verändern. Aus dem Reinen kann man Unreines machen; und umgekehrt. In der Möglichkeit dieser Umwandlungen besteht die Zweideutigkeit des Heiligen.« (Durkheim, S. 548 - 5 5 1)
Hier ist bereits jener Prozeß der, Psychologisierung von religiöser Erfahrung am Werk (der »Abscheu« und das »Grausen«, worin das europäische Bildungsbürgertum sein Unbehagen gegenüber religiösen Tatsachen verrät), der ein paar Jahre später im Umkreis der Marburger Theologie mit dem Buch von Rudolf Otto über Das Heilige (1917) seinen Abschluß fand. Hier feiern eine Theologie, der jeglicher Sinn für das offenbarte Wort abhanden gekommen ist, und eine Philosophie, die angesichts des Gefühls alle Nüchternheit verlassen hat, ihre Vereinigung in einer Vorstellung des Heiligen, die nunmehr eins ist mit dem Dunklen und Undurchdringlichen. Daß das Religiöse vollständig in die Sphäre der psychologischen Emotion falle und daß es ganz wesentlich mit dem Schauder und der Gänsehaut zu tun habe, das ist die Trivialität, welcher der Neologismus »numinos« den Anstrich von Wissenschaftlichkeit verpassen soll. Als Freud Totem und Tubu verfaßt, ist der Boden schon genügend bereitet. Dennoch tritt erst mit diesem Buch eine eigentliche allgemeine Theorie der Ambivalenz ans Licht, die nicht nur auf der Anthropologie und Psychologie, sondern auch auf der Linguistik basiert. Freud hat 1910 den Aufsatz über den Ge gensinn der Urworte des heute diskreditierten Linguisten Karl Abel gelesen und in einem Artikel rezensiert, wo er ihm mit seiner Theorie über das Fehlen des Widerspruchsprinzips in den Träumen verband. Unter den Worten des Gegensinns, die Abel im Anhang auflistete, findet sich auch, wie Freud nicht versäumt hervorzuheben, der lateinische Begriff sacer, »heilig und verflucht« (Freud, S. 219). Seltsamerweise erwähnten die Anthropologen, die als erste die Theorie von der Ambivalenz des Heiligen entwickelten, die römische sacratio nicht. 191 1 ist jedoch Fowlers Aufsatz »The Original Meaning of the Word Sacer« erschienen, in dessen Zentrum eine Interpretation des homo sacer steht, die bei den Religionswissenschaftlern sofort Widerhall fand. Hier ist es die in der Definition von Festus implizite Doppeldeutigkeit des Heiligen, die es Fowler (eine Anregung von Robert Marett aufnehmend) erlaubt, das lateinische sacer mit 88
’
der Kategorie des Tabu zu verkoppeln (» sacer esto ist tatsächlich ein Fluch; und der homo sacer , auf den dieser Fluch fällt, ist ein Ausgestoßener, ein Verbannter, tabuisiert, gefährlich. [. , .] Ursprünglich kann das Wort einfach tabu bedeutet haben, i. e. aus dem Bereich des profanum gewiesen, ohne besonderen Bezug auf eine Gottheit, aber je nach den Umständen ›heilig< oder verflucht*; Fowler, S. 1 7- 23). Huguette Fugier hat in einer gut dokumentierten Studie gezeigt, auf welche Weise die Lehre von der Doppeldeutigkeit in den Bereich der Sprachwissenschaft eindringt und dort schließlich ihre Hochburg findet (Fugier, S. 238 -240). In diesem Prozeß spielt gerade der homo sacer eine entscheidende Rolle. Während die zweite Auflage des Lateinischen etymolo gischen Wörterbuchs (1910) von Alois Walde noch keine Spur der Ambivalenzdoktrin aufweist, sanktioniert der Dictionnaire ét ymol ogique de Ia l angue latine von Alfred Ernout und Antoine Meillet die »doppelte Bedeutung« mit einem Verweis auf den homo sacer: »Sacer bezeichnet denjenigen oder dasjenige, was man nicht berühren kann, ohne verunreinigt zu werden oder zu verunreinigen; von daher der Doppelsinn von >heilig< oder >verflucht< (ungefähr). Ein Schuldiger, den man den unterweltlichen Göttern weiht, ist heilig (sacer esto: vgl. gr. ha gios)«. Es ist interessant, in der Arbeit von Huguette Fugier die Geschichte des Austauschs zwischen Anthropologie, Linguistik und Soziologie in der Sache des Heiligen zu verfolgen. Zwischen der zweiten Auflage des Wörterbuchs von Walde und der ersten Auflage desjenigen von Ernout und Meillet war im Pauly-Wissowa der von Richard Ganschinietz gezeichnete Lexikonartikel Sacer erschienen, der explizit auf die Theorie der Ambivalenz von Durkheim eingeht (so wie das bereits Fowler mit Robertson Smith getan hatte). Was Meillet betrifft, so erinnert Huguette Fugier an die engen Beziehungen, die der Linguist zu den Pariser Soziologen unterhielt (besonders mit Mauss und Durkheim). Als Roger Caillois 1939 L’homme et le sacré veröffentlicht, kann er direkt von einer scheinbar nun gesichterten lexikalischen Gegebenheit ausgehen: »In Rom bezeichnet das Wort sacer nach der Definition von ErnoutMeillet: oder was nicht berührt werden kann, ohne verunreinigt zu werden oder zu verunreinigen.<* (Caillois, S. 42).
2.3. Eine rätselhafte Figur des archaischen römischen Rechts, die in sich widersprüchliche Züge zu vereinen scheint und deswegen selbst erklärungsbedürftig war, findet auf diese Weise 89
Widerhall in der religiösen Kategorie des Heiligen, und zwar in einem Moment, da diese selbst eine unwiderrufliche Desemantisierung erfährt, die sie entgegengesetzte Bedeutungen annehmen läßt. Und in Verbindung mit dem ethnologischen Begriff des Tabu wird die Doppeldeutigkeit ihrerseits herangezogen, um - in einem vollendeten Zirkel - die Figur des homo sacer zu erklären. Im Leben der Begriffe gibt es einen Moment, in dem sie ihre unmittelbare Intelligibilität verlieren und wie jedes leere Wort sich mit widersprüchlichen Bedeutungen aufladen können. Bei den religiösen Phänomenen fällt dieser Moment mit der Geburt der modernen Anthropologie, für die nicht zufällig doppelsinnige Begriffe wie mana, tabu und sacer im Zentrum stehen, am Ende des letzten Jahrhunderts zusammen. Levi-Strauss hat aufgezeigt, wie der Begriff mana als überschreitender Signifikant funktioniert, der keinen anderen Sinn hat, als das Übermaß der signifikanten Funktion über die Signifikate zu bezeichnen (Levi-Strauss, S. 32 -41). In gewisser Weise analoge Betrachtungen könnte man über den Gebrauch und die Funktion des Tabu und des Heiligen im Diskurs der Humanwissenschaften zwischen 1890 und 1940 anstellen. Es ist nicht eine angebliche Ambivalenz der allgemeinen religiösen Kategorie des Heiligen, die das politisch-juridische Phänomen erklären kann, auf das sich die älteste Bedeutung von sacer bezieht; im Gegenteil, nur eine jeweils sorgfältige Abgrenzung der Sphären des Politischen und des Religiösen erlaubt es, die Geschichte ihrer Verflechtung und ihrer komplexen Beziehungen zu begreifen. Auf jeden Fall aber ist es wichtig, daß die ursprüngliche juridischpolitische Dimension, die der homo sacer verkörpert, nicht von einem wissenschaftlichen Mythologem verdeckt wird, das für sich nicht nur nichts erklärt, sondern selbst erklärungsbedürftig ist.
3. Das heilige Leben 3.1. Die Struktur der sacratio ist sowohl nach den Quellen wie nach der übereinstimmenden Meinung der Forscher das Resultat der Vereinigung zweier Wesenszüge: der Straflosigkeit der Tötung und der Ausschließung vom Opfer. Vor allem das im pune occidi stellt eine Ausnahme vom ius humanum dar, insofern es die Anwendung des Numa Pompilius zugeschriebenen Gesetzes über den Mord aufhebt (si quis hominem liberum dolo sciens morti duit, parricida Dieselbe von Festus wiedergegebene Formel (qui occidit, parricidi non damnatur) bildet sogar in gewisser Weise eine eigentliche exceptio in dem technischen Sinn, d a ß der vor Gericht gestellte Totschläger sich gegen die Anklage auf die Heiligkeit des Opfers berufen kann. Aber auch das neque fas est eum immolari stellt genaugenommen eine Ausnahme dar, diesmal jedoch vom ius divinum und von jeder Form der rituellen Tötung. Die ältesten uns bekannten Formen der Vollstreckung der Todesstrafe (die schrecklichepoena cullei, bei welcher der Verurteilte, den Kopf mit einem Wolfsfell bedeckt, zusammen mit Schlangen, einem Hund und einem Hahn in einen Sack gesteckt und ins Wasser geworfen wurde, oder der Sturz vom Tarpeischen Felsen) sind in Wirklichkeit eher Reinigungsriten als Todesstrafen im modernen Sinn: Demnach wurde das neque fas est eum immolari gerade dazu dienen, die Tötung des homo sacer von den rituellen Reinigungen zu unterscheiden und die sacratio entschieden aus dem im eigentlichen Sinn religiösen Bereich auszuschließen. Es ist bemerkt worden, daß die consecratio üblicherweise einen Gegenstand vom ius humanum ins ius divinum, vom Profanen ins Heilige, übergehen läßt (Fowler, S. im Fall des homo sacer dagegen eine Person lediglich außerhalb der menschlichen Rechtsprechung gesetzt wird, ohne in die göttliche überzugehen. Das Verbot der Opferung schließt nicht nur jede Angleichung zwischen dem homo sacer und einem geweihten Opfer aus, sondern, wie Macrobius mit einem Zitat von Trebatius sagt, I
I
»Wenn jemand absichtlich einen freien Mann tötet, kann er als Mörder betrachtet werden.« 91
die Zulässigkeit der Tötung implizierte, daß die ihm zugefügte Gewalt kein Sakrileg war, wie das bei den res sacrae der Fall ist (cum cetera sacra violari nefas sit, hominem sacrum ius fuerit Wenn das stimmt, dann bildet die sacratio eine doppelte Ausnahme, sowohl vom ius humanum als auch vom ius diuinum, sowohl vom religiösen wie vom profanen Bereich. Die topologische Struktur, die diese doppelte Ausnahme aufweist, ist die eines doppelten Ausschlusses und einer doppelten Einnahme, die mehr als eine einfache Analogie mit der Struktur der souveränen Ausnahme darstellt (daher die Stichhaltigkeit der These derjenigen Forscher, die wie Giuliano Crifo die sacratio in substantieller Kontinuität mit dem Ausschluß aus der Gemeinschaft interpretieren; Crifo 1, S. 460-465). Denn so wie bei der souveränen Ausnahme das Gesetz sich auf den Ausnahmefall anwendet, indem es sich abwendet und zurückzieht, so ist der homo sacer der Gottheit in Form des Nichtopferbaren übereignet und in Form des Tötbaren in der Gemeinschaft eingeschlossen. Das Leben, das nicht geopfert werden kann und dennoch getötet werden darf, ist das heilige Leben. 3.2. Was die Verfassung des homo sacer bestimmt, ist also nicht so sehr die vermeintlich ursprüngliche Doppeldeutigkeit der Heiligkeit als vielmehr die Eigentümlichkeit der doppelten Einschließung, in die er sich von der Gewalt, der er ausgesetzt ist, versetzt findet. Diese Gewalt - die nicht sanktionierbare Tötung, die jeder ihm gegenüber verüben kann - ist weder als Opfer noch als Mord noch als Vollstreckung eines Urteils noch als Sakrileg einzustufen. Wenn sie sich den sanktionierten Formen des menschlichen und des göttlichen Rechts entzieht, öffnet sie eine Sphäre des menschlichen Handelns, die weder in diejenige des sacrum facere noch in die der profanen Handlungen gehört; und diese Sphäre müssen wir hier zu begreifen versuchen. Wir sind bereits auf einen Grenzbereich des menschlichen Handelns gestoßen, der nur in einer Ausnahmebeziehung besteht. Dies ist der Bereich der souveränen Entscheidung, die das Recht im Ausnahmezustand aufhebt und so das nackte Leben in I
92
»Während es verboten ist, die übrigen heiligen Dinge zulässig, den homo sacer ZU töten.«
ZU
verletzen, ist es
ihn einbindet. Wir müssen uns also fragen, ob die Struktur der Souveränität und die Struktur der sacratio nicht irgendwie verknüpft sind und sich dadurch wechselseitig beleuchten können. Wir können sogar eine erste Hypothese dazu aufstellen: Rückt man den homo sacer an seinen eigentlichen Ort jenseits des Strafrechts wie des Opfers, so stellt er die ursprüngliche Figur des in Bann genommenen Lebens dar und bewahrt das Gedächtnis der ursprünglichen Ausschließung, mittels deren sich die politische Dimension konstituiert hat. Der politische Raum der Souveränität hätte sich demnach durch eine doppelte Ausnahme als Exkreszenz des Profanen im Religiösen und des Religiösen im Profanen konstituiert, die eine Zone der Ununterschiedenheit zwischen Opfer und Mord bildet. Souverän ist die Sphäre, in der man töten ka nn, ohne einen Mord zu begehen und ohne ein Opfer zu zelebrieren, und heilig, das beißt tötbar, aber nicht Opferbar, ist das Leben, das in diese Sphäre eingeschlossen ist. Nun kann man auch eine erste Antwort geben auf die Frage, die wir uns beim Aufzeigen der formalen Struktur der Ausnahme gestellt haben: Was unter den souveränen Bann fällt, ist ein menschliches Leben, das getötet, aber nicht geopfert werden kann: der homo sacer. Wenn wir nacktes oder heiliges Leben das jenige Leben nennen, das den ersten Inhalt der souveränen Macht bildet, dann verfügen wir auch über eine grundlegende Antwort auf die Benjaminsche Frage nach dem »Ursprung des Dogmas von der Heiligkeit des Lebens«. Heilig, das heißt tötbar und nicht Opferbar, ist ursprünglich das Leben im souveränen Bann, und die Produktion des nackten Lebens ist in diesem Sinn die ursprüngliche Leistung der Souveränität. Die Heiligkeit des Lebens, die man heute gegen die souveräne Macht als Menschenrecht in jedem fundamentalen Sinn geltend machen möchte, meint ursprünglich gerade die Unterwerfung des Lebens unter eine Macht des Todes, seine unwiderrufliche Aussetzung in der Beziehung der Verlassenheit [abbandono]. Die Verknüpfung zwischen der Verfassung einer politischen Ge-
walt und der sacratio belegt auch diepotestus sacrosancta, die in Rom den plebejischen Tribunen zusteht. Die Unantastbarkeit des Tribuns gründet allein auf der Tatsache, da ß die Plebejer anläßlich der ersten Sezession geschworen haben, die Vergehen an ihren Vertretern dadurch zu rächen, daß sie den Schuldigen als homo sacer betrachteten. Der Begriff lex sacrata, der fälschlicherweise (die Plebiszite wurden ehedem klar von den 93
leges unterschieden) das bezeichnete, was eigentlich bloß eine »geschwo-
rene Charta< der revoltierenden Plebs war (Magdelain, S. 57), hatte ursprünglich keinen anderen Sinn als die Bestimmung eines tötbaren Lebens; aber sie bildete dennoch eine politische Macht, die in gewissem Sinn ein Gegengewicht zur souveränen Macht war. Deshalb bezeichnet nichts das Ende der alten republikanischen Verfassung so klar wie der Augenblick, in dem Augustus die potestas tribunicia übernimmt und also sacro sanctus wird (Sacrosanctus in perpetuum ut essem, et quoad viverem tribunicia potestas mihi heißt es in den Res gestae).
3.3. Hier entfaltet die strukturelle Analogie zwischen souveräner Ausnahme und sacratio ihre volle Bedeutung. An den beiden äußersten Grenzen der Ordnung stellen der Souverän und der homo sacer zwei symmetrische Figuren dar, die dieselbe Struktur haben und korreliert sind: Souverän ist derjenige, dem gegenüber alle Menschen potentiell homines sacri sind, und homo sacer ist derjenige, dem gegenüber alle Menschen als Souveräne handeln. Beide sind in der Figur eines Handelns verbunden, das, indem es sich sowohl vom menschlichen Recht wie vom göttlichen Recht, vom nomos wie von der physis ausnimmt, in einem bestimmten Sinn den ersten eigentlichen politischen Raum absteckt, der sowohl vom religiösen wie vom profanen Bereich, von der natürlichen Ordnung wie von der normalen Rechtsordnung abgegrenzt ist. Diese Symmetrie zwischen sacratio und Souveränität wirft eine neues Licht auf die Kategorie des Heiligen, dessen Doppeldeutigkeit nicht nur die moderne Forschung der religiösen Phänomenologie so hartnäckig geleitet hat, sondern auch noch die jüngsten Untersuchungen über die Souveränität. Die Nähe zwischen der Sphäre der Souveränität und der Sphäre des Heiligen, die mehrmals festgestellt und unterschiedlich motiviert worden ist, ist nicht einfach das säkularisierte Residuum des ursprünglich religiösen Charakters jeder politischen Macht noch der bloße Versuch, dieser das Prestige einer theologischen Sanktion zu sichern; ebensowenig ist sie aber die Konsequenz eines »heiligen«, das heißt zugleich erhabenen und verfluchten Charakters, der dem Leben als solchem auf unerklärliche Weise inneI
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»So soll ich auf ewig sakrosankt sein, und die tribunizische Macht soll mir zugestanden werden, solange ich lebe.«
wohnen würde. Wenn unsere Hypothese richtig ist, dann ist die Heiligkeit vielmehr die ursprüngliche Form der Einbeziehung des nackten Lebens in die juridisch-politische Ordnung, und das Syntagma homo sacer benennt etwas wie die ursprüngliche »politische« Beziehung, das heißt das Leben, insofern es in der einschließenden Ausschließung der souveränen Ausnahme als Bezugsgröße dient. Heilig ist das Leben nur, insofern es in der souveränen Ausnahme erfaßt wird; und die Verwechslung eines juridisch-politischen Phänomens (die nicht opferbare Tötbarkeit des homo sacer) mit einem genuin religiösen Phänomen ist die Wurzel der Mißverständnisse, die in unserer Zeit sowohl die Studien über das Heilige wie über die Souveränität geprägt haben. Sacer esto ist keine religiöse Fluchformel, die das Unheimliche,’ zugleich Erhabene und Entsetzliche, einer Sache sanktionieren würde; sie ist statt dessen die ursprüngliche politische Formulierung, die das souveräne Band auferlegt. Die Vergehen, die den Quellen zufolge die sacratio nach sich ziehen (wie terminum exarare: Tilgung der Grenzen; Verberatio parentis: Gewalt des Sohnes gegenüber den Eltern; oder der Betrug des Patrons gegenüber einem Klienten), hätten demnach nicht den Charakter einer Normübertretung, auf welche die entsprechende Sanktion folgt; vielmehr sind sie die ursprüngliche Ausnahme, in der das menschliche Leben, das einer bedingungslosen Tötbarkeit ausgesetzt ist, in die politische Ordnung eingeschlossen wird. Nicht der Akt der Grenzziehung, sondern ihre Tilgung oder Negierung (wie das übrigens der Gründungsmythos von Rom auf seine Weise, aber in aller Klarheit sagt) ist der Gründungsakt der Staates. Das Gesetz von Numa über den Mord (parricida esto) bildet mit der Tötbarkeit des homo sacer (parricidi non damnatur) ein System und kann nicht davon abgelöst werden. So komplex ist die originäre Struktur, auf der die souveräne Macht gründet. Betrachten wir das Bedeutungsfeld des Begriffs sacer, das unsere Analyse aufgespannt hat: Es enthält weder eine widersprüchliche Bedeutung im Sinne von Abel noch eine allgemeine Doppeldeutigkeit im Sinne von Durkheim; vielmehr bezeichnet es ein absolut tötbares Leben, das Objekt einer Gewalt, die sowohl die Sphäre des Rechts als auch jene des Opfers überschreitet. Diese doppelte Entziehung öffnet zwischen dem I
Im Original deutsch. 95
Profanen und dem Religiösen eine Zone der Ununterscheidbarkeit, deren Bedeutung wir eben zu-bestimmen versucht haben. In dieser Perspektive lösen sich viele der scheinbaren Widerspruche des Begriffs *heilig« auf. So nannten die Römer die Ferkel, die sie zehn Tage nach der Geburt für da ß Opferbar hielten, rein. Dagegen bezeugt Varro (De re rustica in der Antike die opferbaren Schweine sacres genannt wurden. Weit entfernt von einem Widerspruch mit dem Opferverbot des homo sacer deutet der Begriff hier auf eine ursprüngliche Zone der Ununterscheidbarkeit hin, wo sacer einfach ein tötbares Leben meint (vor dem Opfer war das Ferkel noch nicht »heilig« im Sinne von »den Göttern geweiht«, sondern bloß tötbar). Wenn die römischen Dichter die Liebenden als sacri bezeichnen (sacros qui ledat Prop. quisque amore teneatur, eat tutusque dann nicht deshalb, weil sie den Göt1, tern geweiht oder-verflucht waren, sondern weil sie sich von den übrigen Menschen abgesondert und in eine Sphäre jenseits des göttlichen wie des menschlichen Rechts begeben haben. Es war ursprünglich jene Sphäre, die der doppelten Ausnahme entsprang, der das heilige Leben ausgesetzt war.
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»Wer immer die heiligen Liebenden verletzt.«
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»Wer verliebt ist, soll geschützt und heilig sein.«
4. Vitae necisque potestas
4. I. »Eines der charakteristischsten Privilegien der souveränen
Macht war lange Zeit das Recht über Leben und Tod.« (Foucault I, S. 161) Diese Behauptung Foucaults am Ende von Der Wille zum Wissen klingt völlig trivial. Auf die Wendung »Recht über Leben und Tod« stoßen wir jedoch in der Rechtsgeschichte das erste Mal in der Formel vitae necisque potestas, die in keiner Weise die souveräne Macht bezeichnet, sondern die bedingungslose Gewalt des pater über die Söhne. Im römischen Recht ist vita kein juridischer Begriff, er bezeichnet wie im gewöhnlichen lateinischen Gebrauch die einfache Tatsache zu leben oder eine besondere Lebensweise (das Lateinische vereinigt die Signifikate von und bios in einem Begriff ). Der einzige Fall, in dem das Wort vita einen spezifisch juridischen Sinn annimmt, der es. zu einem eigentlichen terminus technicus macht, ist eben die Wendung vitae necisque potestas. Yan Thomas hat in einer exemplarischen Studie gezeigt, daß in dieser Formel que keinen disjunktiven Wert hat und vita bloß ein Zusatz zu nex, der Macht zu töten, ist (Thomas, S. 508f.). Demnach erscheint das Leben im römischen Recht nur als Gegenstück einer Macht, die mit dem Tod droht (genauer mit dem Tod ohne Blutvergießen, denn das bedeutet eigentlich necare im Gegensatz zu mactare). Diese Macht ist absolut, sie ist weder als Sanktion einer Schuld noch als Ausdruck der allgemeinsten Macht, die dem pater als Oberhaupt der domus (des Hauses) zukommt, gedacht: Sie entspringt unmittelbar und allein der Vater-Sohn-Beziehung (im Augenblick, da der Vater den Sohn anerkennt, indem er ihn vom Boden hochhebt, erwirbt er über ihn die Macht über Leben und Tod); deswegen darf sie nicht mit dem Recht zu töten verwechselt werden, das dem Gatten oder dem Vater über die Gattin oder die Tochter zusteht, wenn sie beim Ehebruch in flagranti ertappt werden, und noch weniger mit der Gewalt des dominus über seine Diener. Während letztere beiden Gewalten die häusliche Rechtsprechung durch das Familienoberhaupt betreffen und so gewissermaßen im Bereich der domus bleiben, kommt die vitae necisque potestas jedem freien männlichen Bürger bei seiner Geburt zu und scheint so das Modell der politischen 97
Macht im allgemeinen zu liefern. Nicht das einfache natürliche Leben, sondern das dem Tod awsgesetzte Leben (das nackte oder heilige Leben) ist das ursprüngliche politische Element.
Tatsächlich empfanden die Römer eine so wesentliche Verwandtschaft zwischen der vitae necique potestas que potestas des Vaters und dem imperium des Magistraten, daß die Register des ius patrium ius patrium und der souveränen Macht schließlich eng verflochten waren. Das Thema des pater imperiosus, der wie Brutus oder Manlius Torquatus die Eigenschaft des Vaters und das Amt des Magistraten auf sich vereinigt und nicht zögert, den des Verrats schuldigen Sohn dem Tode zu überantworten, spielt eine wichtige Rolle in der Anekdotik und in der Mythologie der souveränen Macht. Doch ebenso entscheidend ist die umgekehrte Figur, das heißt der Vater, der seine vitae necisque potestas gegenüber einem Sohn, der Magistrat ist, ausübt wie im Fall des Konsuls Spurius Cassius und des Tribuns Caius Flaminius. Valerius Maximus berichtet, wie letzterer, während er sich über die Macht des Senats hinwegzusetzen versuchte, von seinem Vater von der Rostra heruntergeschleift wurde, und definiert die potestas des Vaters bezeichnenderweise als imperium privatum. Yan Thomas hat aufgrund seiner Analysen dieser Episoden schreiben können, daß die patria potestas in Rom als eine Art von öffentlichem Amt und in gewisser Weise wie ein nirreduzibler Rest der Souveränität« (ebd., S. 528) empfunden wurde. Wenn wir schließlich in einer späten Quelle lesen, daß Brutus, als er seine Söhne dem Tode überantwortete, »an ihrer Stelle das römische Volk adoptierte« (ebd,, S. 5 3 1), so ist es ein und dieselbe Macht über den Tod, die sich mittels des Bildes von der Adoption nun auf das gesamte römische Volk überträgt; so bekommt das hagiographische Epitheton »Vater des Vaterlandes« (ebd., S. 53 1 f.), das zu allen Zeiten den mit der souveränen Macht ausgestatteten Oberhäuptern vorbehalten war, wieder seine ursprüngliche, finstere Bedeutung. Die Quelle liefert uns also eine Art genealogischen Mythos der souveränen Macht: Das imperium des Magistraten ist nur die Ausweitung der vitae necisque potestas des Vaters auf die gesamte Bürgerschaft. Es könnte nicht klarer gesagt werden, daß das erste Fundament der politischen Macht ein absolut tötbares Leben ist, das durch seine Tötbarkeit selbst politisiert wird. 98
4.2. Aus dieser Perspektive wird der Sinn des alten römischen Brauchs, von dem Valerius Maximus berichtet, wonach nur der noch nicht geschlechtsreife Sohn sich zwischen dem mit dem imperium ausgestatteten Magistraten und dem Liktor, der vor ihm hergeht, plazieren durfte. Die physische Nähe zwischen dem Magistraten und seinen Liktor-en, die ihn stets begleiten und die schrecklichen Insignien der Macht tragen (die fasces formidulosi und die saeves secures) druckt die Untrennbarkeit des imperiums von einer Macht über den Tod förmlich aus. Der Sohn kann sich deshalb zwischen den Magistraten und den Liktor stellen, weil er in bezug auf den Vater bereits ursprünglich und unmittelbar einer Macht über Leben und Tod unterstellt ist. Der puer Sohn sanktioniert auf symbolischem Weg genau diese Konsubstantialität der vitae necisque potestas zur souveränen Macht. An dem Punkt, wo sie zusammenzufallen scheinen, tritt der besondere - das heißt an dieser Stelle eigentlich nicht mehr so besondere - Umstand zutage, daß jeder freie männliche Bürger (der als solcher am öffentlichen Leben teilnehmen kann) sich unmittelbar in einer Verfassung der virtuellen Tötbarkeit befindet und in bezug auf den Vater gewissermaßen sacer ist. Die Römer waren sich des aporetischen Charakters dieser Macht vollkommen bewußt; sie machte eine auffallende Ausnahme gegenüber dem Prinzip des Zwölftafelgesetzes, wonach kein Bürger ohne Urteilsspruch (indemnatus) zu Tode gebracht werden durfte, und bildete gleichsam eine unbegrenzten Autorisierung zu töten (lex indemnatorum interficiendum). Und auch das andere Merkmal, welches das heilige Leben als Ausnahme kennzeichnet, das heißt die Unmöglichkeit, in den sanktionierten Formen des Ritus zu Tode gebracht zu werden, findet sich in der vitae necisque potestas necisque potestas wieder. Yan Thomas zitiert den von Calpurnius Flaccus als rhetorische Übung vorgeschlagenen Fall eines Vaters, der kraft seiner potestus den Sohn dem Henker übereignet, damit ihn dieser zu Tode bringe; der Sohn widersetzt sich und verlangt zu Recht, daß ihm der Vater den Tod geben müsse (vult manu patri interfici; ebd., S. 540). Die vitae necisque potestas erfaßt das nackte Leben des Sohnes unmittelbar, und das impune occidi, das sich davon ableitet, kann in keiner Weise der rituellen Tötung bei der Vollstreckung eines Todesurteils angenähert werden. 99
4.3. An einem bestimmten Punkt seiner Untersuchung der vitae necisque potestas fragt Yan Thomas: »Welches ist dieses unvergleichliche Band, für welches das römische Recht keinen anderen technischen Ausdruck zu finden vermag als den Tod?« (Ebd., S. 5 IO) Die einzige mögliche Antwort ist die, daß das jenige, wovon in diesem »unvergleichlichen Band« gehandelt wird, die Einbeziehung des nackten Lebens in die juridischpolitische Ordnung ist. Es verhält sich, wie wenn die männlichen Bürger für ihre Teilnahme am politischen Leben mit einer bedingungslosen Unterwerfung unter eine Macht über den Tod bezahlen müßten und das Leben nur in der doppelten Ausnahme der Tötbarkeit und der Opferbarkeit in das Gemeinwesen eintreten könnte. Deswegen kommt die patria potestas sowohl an der Grenze der dom us wie des Staates zu liegen: Wenn die antike Politik der Trennung dieser beiden Sphären entspringt, dann ist das tötbare und nicht opferbare Leben das Scharnier, das sie verbindet, und die Schwelle, auf der sie kommunizieren, indem sie sich ins Unbestimmte auflösen, Das heilige Leben, weder politischer bios noch natürliche ist die Zone der Ununterscheidbarkeit, in der und sich wechselseitig einbeziehen und ausschließen und sich gerade dadurch konstituieren. Es ist sehr richtig erkannt worden, daß der Staat nicht in einer sozialen Bindung gründet, deren Ausdruck er wäre, sondern in der Auflösung (de-liaison), die er untersagt (Badiou, S. 25). Wir können nun diese These um eine weitere Bedeutung erweitern. Die déliaison darf nicht als Auflösung eines bereits vorher bestehenden Bandes verstanden werden (das die Form eines Pakts oder Vertrags haben könnte). Vielmehr hat das Band selbst ursprünglich die Form einer Auflösung oder einer Ausnahme, in der das, was eingebunden wird, zugleich ausge stoßen stoß en wird; und das menschliche Leben politisiert sich nur durch das Überlassensein [abbandono] an eine unbedingte Macht über den Tod. Ursprünglicher als die Bindung einer positiven Norm oder eines sozialen Pakts ist das souveräne Band, das aber in Wahrheit nur eine Auflösung ist; und das, was diese Auflösung impliziert und produziert - das nackte Leben, das im Niemandsland zwischen dem Haus und dem Staat wohnt -, ist von der Warte der Souveränität aus gesehen das ursprüngliche politische Element.
5.
Souveräner Körper und heiliger Körper
5. . Als Ernst Kantorowicz Ende der fünfziger Jahre in den Vereinigten Staaten Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters veröffentlichte, wurde das Buch nicht nur von Mediävisten, sondern auch und vor allem von Historikern der Neuzeit sowie Politikwissenschaftlern und Staatstheoretikern vorbehaltlos begrüßt. Es war in seiner Gattung zweifellos ein Meisterwerk, und die Vorstellung eines »mystischen Körpers« und eines »politischen Körpers des Königs«, die es ans Licht brachte, bildete gewiß (wie Jahre später Kantorowicz’ brillantester Schüler, Ralph E. Giesey, festhielt) eine »wichtige Etappe in der Entwicklungsgeschichte des modernen Staates« (Giesey 1, S. 9); doch solch eine ungeteilte Gunst auf einem so heiklen Gebiet verdient einige Überlegungen. Kantorowicz weist im Vorwort selbst darauf hin, d a ß das Buch, das aus einer Studie über mittelalterliche Vorläufer des Rechtssatzes von den zwei Körpern des Königs hervorgegangen war, weit über die ursprüngliche Absicht hinausging. Der Verfasser, der Anfang der zwanziger Jahre die politischen Wechselfälle in Deutschland mit intensiver Teilnahme erlebt hatte, als er in den Reihendes nationalistischen Freikorps den Spartakusaufstand in Berlin und die Münchner Räterepublik bekämpfte, konnte die Anspielung Anspielung auf die »politis che Theologie«, Theologie«, unter deren Fahne Schmitt 1922 seine Souveränitätslehre gestellt hatte, nicht bedacht haben. Fünfunddreigig Jahre später, nachdem der Nationalsozialismus seinem Leben als assimilierter Jude einen unheilbaren Bruch zugefügt hatte, befragte er jenen »Mythus des Staates«, den er in jungen Jahren so feurig geteilt hatte, aus einer ganz anderen Perspektive. Das Vorwort macht darauf aufmerksam und bestreitet zugleich vielsagend, daß es »zu weit [ginge], wollte man annehmen, der Verfasser habe sich der Erforschung der Ursprünge einiger Idole moderner politischer Religionen nur aufgrund der furchtbaren Erlebnisse unserer Zeit zugewandt, in der ganze Völker, die größten wie die kleinsten, den unsinnigsten Dogmen zum Opfer fielen und politische Theologismen zu regelrechten Besessenheiten« wurden. Und mit derselben beredten Bescheidenheit weist der Verfasser den I
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Anspruch zurück, Problem des sogenannten des Staates< (Cassirer) vollständig erfaßt zu haben« (Kantorowicz, s. 22 f.).
In diesem Sinn hat man das Buch nicht grundlos als einen der
großen kritischen Texte unserer Zeit über den Konsens gegen-
über dem Staat und über die Techniken der Macht lesen können. Wer jedoch die geduldige Analysearbeit verfolgt hat, die ausgehend von den Reports Edmund Plowdens und der makabren Ironie in Richard II zur Rekonstruktion der Entstehung der Lehre von den zwei Körpern des Königs in der mittelalterlichen Jurisprudenz und Theologie gelangt, der kann sich nicht nicht fragen, ob das Buch allein als Demystifizierung der politischen Theologie gelesen werden kann. Tatsache ist, daß im Gegenzug zu der von Schmitt beschworenen politischen Theologie, die wesentlich den absoluten Charakter der souveränen Macht ins Auge faßte, Die zwei Körper des Königs sich ausschließlich mit dem anderen, harmloseren Aspekt beschäftigt, der nach der Definition Jean Bodins die Souveränität charakterisiert (puissance absolue nämlich ihre ewige Natur, aufgrund deren die königliche dignitas die physische ihres Trägers überlebt (Ze ne Die ,christliche politische Theologie& war hier einzig darauf ausgerichtet, durch die Analogie mit dem mythischen Körper Christi die Kontinuität jenes corpus morale et politicum des Staates zu sichern, ohne den keine stabile politische Organisation denkbar ist. Und in diesem Sinn kann man sagen, d a ß »ungeachtet einiger Ähnlichkeit mit zusammenhanglosen heidnischen Begriffen [. . ,] die >zwei Körper des Königs< ein Produkt christlichen theologischen Denkens [sind] und [. . .] folglich einen Markstein christlicher politischer Theologie [bilden]« (ebd., S. 496). 5.2. Mit der Entschiedenheit dieser Schlußthese hebt Kantorowicz das Element hervor (um es gleich wieder beiseite zu schieben), das die Genealogie der Lehre von den zwei Körpern in eine weniger beruhigende Richtung gelenkt hätte, wenn er es nämlich mit dem zweiten und obskureren Arkanum der souveränen Macht in Verbindung gebracht hätte: Zu puissance absolue. Das
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*Absolute und ewige Macht«. *Der König stirbt nie.*
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VII. Kapitel beschreibt das eigentümliche Bestattungszeremoniell der französischen Könige, bei dem die effigie cerea eine wichtige Rolle spielte und das wächserne Abbild, aufgebahrt auf einem lit d’honneur, ganz wie die lebende Person des Königs behandelt wurde. Als möglichen Ursprung nennt Kantorowicz die römische Kaiserapotheose; auch hier wurde, nachdem der Souverän gestorben war, seine imago aus Wachs »wie ein kranker Mensch behandelt und lag auf einem Bett. Senatoren und Krankenpflegerinnen standen zu beiden Seiten, Ärzte markierten Pulsfühlen und medizinische Behandlung, bis nach sieben Tagen die Figur >starb <.« (Ebd., S. 422f.) Kantorowicz zufolge hatte das heidnische Vorbild trotz aller Ähnlichkeit das französische Bestattungsritual nicht direkt beeinflußt; auf jeden Fall sei es sicher, d a ß das Vorhandensein des Abbildes noch einmal mit der »nie sterbenden* legalistischen Dignität des Königs in Beziehung zu setzen sei. Daß die Ausklammerung des römischen Vorbilds nicht einer Vernachlässigung oder Unterbewertung entsprang, zeigt die Beachtung, die ihm Giesey mit der vollen Zustimmung seines Lehrers in seinem Buch The Royal Funeral Ceremony in Renaissance France (1960) geschenkt hat, das als eine angemessene Ergänzung der Zwei Körper des Königs betrachtet werden kann, Giesey konnte nicht übergehen, daß namhafte Gelehrte wie Julius Schlosser und weniger bekannte wie Elias Bickermann einen genetischen Zusammenhang zwischen der kaiserlichen consecratio der Römer und dem französischen Ritus hergestellt hatten; seltsamerweise setzt er sein Urteil über die Sache aus (»was mich betrifft«, schreibt er, »so »so ziehe ich es vor, keine der beiden Lösungen zu wählen «; Giesey S. 128), um die Kantorowiczsche Interpretation der Verbindung zwischen dem Abbild und dem Fortbestand der Souveränität resolut zu bekräftigen. Es gab für diese Wahl einen offensichtlichen Grund: Wenn die Hypothese von der heidnischen Ableitung des Abbildzeremoniells zugelassen worden wäre, dann wäre Kantorowicz’ These von der »christlichen politischen Theologie« zwangsläufig umgestürzt oder hätte zumindest noch einmal vorsichtiger reformuliert werden müssen. Doch es gab auch noch einen zweiten - und heimlicheren - Grund: d a ß eigentlich nichts an der römischen consecratio es erlaubte, das Abbild des Kaisers mit dem leuchtendsten Wesenszug der Souveränität, der ihre 103 103
Puppe des Septimius Severus sieben Tage vordem im Palaste als Kranker behandelt wurde, mit Ärztebesuchen, Gesundheitsbulletins und Todesfeststellung. An Deutlichkeit lassen all diese Nachrichten nichts zu wünschen übrig. Das Wachsbild, dem Toten >in allem ähnlich<, mit seinen Kleidern umhüllt, auf seinem Paradebett liegend - das ist der Kaiser selbst, dessen Leben durch diese oder vielleicht noch andere magische Handlungen in die Wachspuppe überführt ist.« (Bickermann 1, S. 4-6)
Ewigkeit ist, in Verbindung zu bringen; der makabre und groteske Ritus, bei dem ein Abbild zuerst wie eine lebende Person behandelt und danach feierlich verbrannt wurde, weist in eine dunklere und ungewissere Zone, die wir nun zu erkunden versuchen. Dort nämlich schien der politische Körper des Königs sich dem tötbaren und nicht opferbaren Körper des homo sacer anzunähern, um beinah mit ihm zu verschmelzen. Ein junger Antikeforscher, Elias Bickermann, veröffentlichte 1929 im Archiv für Religionswissenschaft eine Studie über die »römische Kaiserapotheose«, die in einem kurzen, aber detaillierten Anhang das heidnische Bildzeremoniell (funus ima ginarium) ausdrücklich zu den Bestattungsriten der englischen und französischen Souveräne in Beziehung setzt. Kantorowicz und Giesey zitieren beide diese Studie; Giesey erklärt sogar ohne Umschweife, da ß die Lektüre des Textes am Ursprung seiner Arbeit gestanden hat, doch beide umgehen dennoch stillschweigend den zentralen Punkt von Bickermanns Analyse. Bei seiner sorgfältigen Rekonstruktion des Ritus der Konsekration aufgrund der schriftlichen Quellen und der Münzen spürt Bickermann, wenn auch ohne alle Konsequenzen zu ziehen, die spezifische Aporie auf, die in dieser Wachsbild-Bestattung liegt: 5.3,
*Jeder gewöhnliche Mensch wird nur einmal begraben, wie er nur einmal stirbt. Der in der Antoninenzeit konsekrierte römische Kaiser wurde aber zweimal auf dem Scheiterhaufen verbrannt, und zwar einmal in corpore, dann in effigie. [. . .] Die Leiche des Kaisers wird zwar prunkhaft, aber nicht von amtswegen verbrannt und die überteste im Mausoleum beigesetzt. Im allgemeinen pflegt die öffentliche Trauer in diesem Augenblicke zu schließen [. . .]. Bei der Bestattung des Antoninus Pius wird aber alles dem üblichen Brauch entgegen ausgeführt. Das iustitium [die öffentliche Trauer] beginnt hier erst nach der Beerdigung, und der staatliche Leichenzug setzte sich in Bewegung, als die Leichenreste schon im Grabmal ruhten! Und zwar gilt dieses funus publicum, wie wir aus Dios und Herodians Berichten von den späteren Konsekrationen erfahren, der dem Verstorbenen nachgebildeten Wuchspuppe. [. . .] D ieses Scheinbild wird [. . .] als wirklicher Menschenkörper angesehen und behandelt. Der Augenzeuge Dio erzählt, daß ein Sklave mit seinem Wedel Fliegen vom Gesicht der Wachspuppe des Pertinax abwehrte. Septimius Severus gab ihr dann auf dem Scheiterhaufen den Abschiedskuß. Herodian fügt sogar hinzu, daß die 104
Entscheidend für das Verständnis des ganzen Rituals ist jedoch die Funktion und das Wesen des Bildes. Hier unternimmt Bickermann eine wertvolle Annäherung, die das Zeremoniell in eine neue Perspektive zu rucken erlaubt: »Die Parallelen für derartigen Bilderzauber sind zahlreich und in der ganzen Welt zu treffen. Hier genüge nur ein italisches Beispiel vom Jahre 136. Ein Vierteljahrhundert vor der Bestattung des Antoninus Pius schreibt die collegii cultorum Dianae et vor: quisquis ex hoc collegio servus defunctus fuerit et corpus eius a domino iniquo sepulturae datum non [. . fuerit . ei imaginarium Die Satzung gebraucht dabei denselben Ausdruckfunus imaginarium, welchen die um die von Dio gesehene Bestattung des Pertinax-Wachsbildes zu bezeichnen, verwendet. Nach der wie in allen sonstigen Parallelen dient aber das Bild, um den fehlenden Körper zu vertreten; im Kaiserzeremoniell tritt es dagegen neben ihn, verdoppelt die Leiche und ersetzt sie (Ebd., S.
Als Bickermann mehr als vierzig Jahre später auf das Problem zurückkommt, bringt er die kaiserliche Bildbestattung mit dem Ritus in Zusammenhang, der an demjenigen vollführt werden muß, der sich vor einer Schlacht feierlich den Manen geweiht hat und im Kampf nicht gefallen ist (Bickermann 2, S. 22). Und hier ist es, wo der Körper des Souveräns und der Körper des homo sacer in eine Zone der Ununterscheidbarkeit gelangen, in der sie sich zu vermischen scheinen. Der Figur des homo sacer haben die Forscher schon seit langem die des devotus an die Seite gestellt, der sein eigenes Leben den Göttern der Unterwelt weiht, um die Stadt vor einem 5.4.
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»Wenn ein Sklave dieses Kollegiums stirbt und von seinem ungerechten Herrn nicht begraben wird, so soll eine Bild-Bestattung ausgeführt werden.« 105
schweren Unheil zu bewahren. Livius hat uns eine lebhafte und minutiöse Schilderung einer devotio überliefert, die sich 340 v. Chr. während der Schlacht von Veseris zugetragen hat. Das römische Heer stand vor der Niederlage, als der Konsul Publius Decius Mus, der zusammen mit seinem Kollegen Titus Manlius Torquatus die Legionen befahl, den Pontifex um Beistand beim Vollzug des Ritus bat: »Der Pontifex forderte ihn auf, die purpurverbrämte Toga anzulegen und mit verhülltem Haupt, eine Hand unter der Toga zum Kinn emporgestreckt, auf einem Speer stehend, den man unter seine Füße gelegt hatte, also zu sprechen: Jupiter, Vater Mars, Quirinus, Bellona, ihr Laren, ihr neu aufgenommenen Götter, ihr alteingesessenen Götter, ihr Götter, die ihr die Macht habt über uns und die Feinde, und ihr vergöttlichten Geister der Toten, euch bete und flehe ich an und bitte euch inständig um die Gnade, daß ihr dem römischen Volk der Quiriten Macht und Sieg verleiht und den Feinden des römischen Volkes der Quiriten Furcht, Schrecken und Tod bringt. Wie ich es mit meinen Worten ankündige, so weihe ich für den Staat des römischen Volkes der Quiriten, für das Heer, die Legionen und die Hilfstruppen des römischen Volkes der Quiriten die Legionen und Hilfstruppen der Feinde mit mir den vergöttlichten Geistern der Toten und der . Er . gürtete sich auf gabinische Art, schwang sich bewaffnet auf sein Pferd und stürzte sich mitten unter die Feinde, beiden Heeren sichtbar, viel hehrer als eine menschliche Erscheinung, wie vom Himmel gesandt als ein Sühneopfer für allen Zorn der Götter.« (VIII 9,4-10)
Die Analogie zwischen devotus und homo sacer scheint hier nicht über den Umstand hinauszugehen, da ß beide irgendwie den Göttern geweiht sind und den Göttern gehören, auch wenn (trotz des Vergleichs von Livius) nicht in der technischen Form des Opfers. Livius erwägt jedoch eine Hypothese, die ein besonderes Licht auf diese Einrichtung wirft und einen engeren Vergleich der beiden Lebendes devotus und des homo sacer erlaubt: »Ich glaube noch hinzufügen zu müssen, da8 es dem Konsul und dem Diktator sowie dem Prätor erlaubt ist, wenn er die Legionen der Feinde dem Untergang weiht, nicht unbedingt sich selbst, sondern jeden beliebigen Bürger aus einer ausgehobenen römischen Legion dem Tod zu weihen. Fällt der Mann, der dem Tod geweiht worden ist, dann hat die Sache offensichtlich einen richtigen Verlauf genommen; fällt er nicht, dann muß man ein mindestens sieben Fuß hohes Bildnis in der Erde vergraben und zur Sühne ein Opfertier schlachten. 106
Wo dieses Bildnis vergraben ist, dort darf ein römischer Magistrat nicht hintreten. Wenn er aber sich selbst dem Tod weihen will, wie Decius sich dem Tod geweiht hat, und wenn er dann nicht fällt, kann er weder für sich noch für den Staat eine Kulthandlung gültig vollziehen, ob er es mit einem Opfertier oder sonstwie tun möchte.« (VIII IO , 11-13)
Warum bildet das Überleben eines Todgeweihten für die Gemeinschaft eine solch heikle Angelegenheit, daß sie sich zur Ausführung eines komplexen Rituals, dessen Sinn es gerade zu verstehen gilt, gezwungen sieht? Welches ist der Status dieses lebendigen Körpers, der nicht mehr zur Welt der Lebenden zu gehören scheint? Wenn der überlebende Geweihte, wie Robert Schilling in einer exemplarischen Studie festgestellt hat, sowohl aus der profanen Welt als auch aus der heiligen Welt ausgeschlossen wird, geschieht dies deshalb, »weil dieser Mann sacer ist. Er könnte auf keinem Weg wieder der profanen Welt zurückgegeben werden, da dank seiner >Weihung< ja die ganze Gemeinschaft der ira deum entrinnen konnte.« (Schilling, S. 9 56) Aus dieser Perspektive müssen wir die Funktion der Statue betrachten, der wir bereits im funus imaginarium des Kaisers begegnet sind und die den Körper des Souveräns und des Geweihten in einer Konstellation zu vereinigen scheint. Wir wissen, daß das sieben Fuß hohe signum, von dem Livius spricht, nichts anderes als der »Koloß« des Geweihten ist, das heißt sein Doppel, das den Platz des fehlenden Leichnams in einer Bestattungper imaginem einnimmt, oder genauer in stellvertretender Ausführung des nicht erfüllten Gelöbnisses. JeanPierre Vernant und Benveniste haben die Funktion des Kolosses im allgemeinen aufgezeigt: Indem er ein Doppel auf sich zieht und festhält, das sich in anormalen Umständen befindet, »erlaubt er es, zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten wieder korrekte Verhältnisse herzustellen« (Vernant, S. 337). Denn die erste Folge des Todes ist die Freisetzung eines vagen und bedrohlichen Wesens (die lateinische larva; die psyoder das der Griechen), das mit dem che, das Aussehen des Verstorbenen dessen gewohnte Orte heimsucht und weder der Welt der Toten noch der Welt der Lebenden angehört. Der Zweck der Bestattungsriten besteht darin, die Verwandlung dieses unbequemen und ungewissen Wesens in einen wohlmeinenden und mächtigen Vorfahren zu garantieren, der
dann endgültig zur Totenwelt gehört und mit dem man rituell definierte Verbindungen pflegt. Das Fehlen des Leichnams (oder in manchen Fällen seine Verstümmelung) können jedoch die ordentliche Ausführung des Bestattungsritus verhindern; in diesen Fällen kann unter bestimmten Bedingungen ein Koloß an die Stelle des Leichnams treten und die Durchführung einer stellvertretenden Bestattung ermöglichen. Was geschieht mit dem Geweihten, der überlebt hat? Wo es keinen Toten gibt, kann man nicht im eigentlichen Sinn vom Fehlen eines Leichnams sprechen. Trotzdem besagt eine in Kyrene gefundene Inschrift, da ß ein Koloß auch zu Lebzeiten dessen, den er vertreten soll, angefertigt werden kann. Die Inschrift gibt den Text des Eides wieder, den in Thera (Santorin) die Kolonisten bei ihrer Abfahrt nach Afrika und die in der Heimat bleibenden Bürger auf die wechselseitigen Verpflichtungen zu leisten hatten. Während der Eid gesprochen wurde, warf man aus Wachs gefertigte Feuer und sprach: »Der diesem Schwur untreu wird, der wird sich auflösen und verschwinden, er, sein Stamm und seine Güter.« (Ebd., 329) Der Koloß ist folglich kein einfacher Stellvertreter des Leichnams. Im komplexen System, das in der Antike die Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten regelt, stellt er analog zum Leichnam, aber unmittelbarer und allgemeiner, jenen Teil der lebenden Person dar, der dem Tod geschuldet ist und, weil er die Schwelle zwischen den zwei Welten unheilvoll besetzt, vom normalen Umfeld der Lebenden abgetrennt werden muß. Diese Trennung wird gewöhnlich im Moment des Todes durch die Bestattungsriten vollzogen, welche die richtige, durch den Hinschied gestörte Verbindung zwischen Lebenden und Toten wiederherstellen. In bestimmten Fällen ist es gleichwohl nicht der Tod, der diese Ordnung stört, sondern sein Ausbleiben, und zur Wiederherstellung der Ordnung ist die Fertigung des Kolosses notwendig. Solange dieser Ritus nicht vollzogen ist (der, wie Hendrik S. Versnel gezeigt hat, nicht so sehr eine stellvertretende Bestattung, sondern eine Ersatzerfüllung des Gelöbnisses ist; Versnel, S. ist der Geweihte ein paradoxes Wesen, das zwar ein normales Leben weiterzuführen scheint, sich in Wirklichkeit aber auf einer Schwelle bewegt, die weder zur Welt der Lebenden noch zur Welt der Toten gehört: Er ist ein lebender Toter oder 108
toter Lebender, er ist in Wahrheit eine larva, und der Koloß repräsentiert genau jenes geweihte Leben, das sich virtuell bereits im Augenblick des Gelöbnisses von ihm abgesondert hat. Wenn wir nun aus dieser Perspektive das Leben des homo sacer erneut betrachten, so können wir seine Lage mit derjenigen
eines überlebenden Geweihten vergleichen, für den eine Ersatzsühnung oder eine Stellvertretung durch einen Koloß nicht mehr möglich ist. Der Körper des homo sacer selbst ist in seiner Eigenschaft, tötbar und nicht Opferbar zu sein, das lebende Pfand seiner Unterwerfung unter eine Macht über den Tod; diese Unterwerfung ist jedoch nicht die Erfüllung des Gelöbnisses, sondern die absolute und bedingungslose Unterwerfung. Das heilige Leben ist ohne Opfermöglichkeit und jenseits jeglicher Erfüllung geweiht. Es ist mithin kein Zufall, wenn Macrobius in einem Text (Sat. III7,6), der den Interpreten lange dunkel und korrupt schien, den homo sacer mit den Statuen vergleicht, die samt dem Ertrag aus den Bußen, die den eidbrüchigen Athleten auferlegt wurden, Zeus geweiht wurden; sie waren nichts anderes als die Kolosse derer, die den Eid gebrochen hatten und sich durch einen Stellvertreter der göttlichen Gerechtigkeit übergaben (animas sacratorum hornintim, quos zanas Graeci vocant ).l Insofern seine Person die Elemente verkörpert, die gewöhnlich mit dem Tod verbunden sind, ist der homo sacer sozusagen eine lebende Statue, das Doppel oder der Koloß seiner selbst. Sowohl beim Körper des Geweihten als auch, und hier noch bedingungsloser, bei dem des homo sacer stößt die antike Welt zum ersten Mal auf ein Leben, das, indem es sich in einer doppelten Ausschließung vom realen Kontext der profanen wie der religiösen Lebensformen ausnimmt, allein durch sein Eintreten in eine engste Symbiose mit dem Tod definiert wird, ohne aber bereits der Welt der Verstorbenen anzugehören. Und in der Figur dieses »heiligen Lebens« tauchte in der abendländischen Welt so etwas wie ein nacktes Leben auf. Entscheidend ist jedoch, daß dieses heilige Leben von Beginn an einen eminent politischen Charakter besitzt und eine wesentliche Bindung mit dem Boden offenbart, auf dem sich die souveräne Macht gründet. I
»Die Seelen der geweihten Männer, welche die Griechen zanas nannten«. 109
In diesem Licht müssen wir den Abbildritus in der römischen Kaiserapotheose sehen. Wenn der Koloß im dargelegten Sinn stets ein todgeweihtes Leben vertritt, so bedeutet dies, daß der Tod des Kaisers (obwohl sein Leichnam, dessen Überreste rituell begraben werden, vorhanden ist) einen Überschuß an heiligem Leben freisetzt, der wie im Fall des Geweihten, der überlebt hat, mittels eines Kolosses neutralisiert werden muß. Allem Anschein nach hat also der Kaiser nicht zwei Körper in sich, sondern zwei Leben in einem einzigen Körper, ein natürliches Leben und ein heiliges Leben; das letztere überlebt das erstere trotz des ordnungsgemäßen Bestattungsritus und kann erst nach dem funus imaginarium in den Himmel aufgenommen und vergöttlicht werden. Was den überlebenden Geweihten, den homo sacer und den Souverän zu einem einzigen Paradigma vereint, ist der Umstand, daß wir uns jedesmal vor einem nackten Leben befinden, das aus seinem Kontext herausgelöst worden und, weil es sozusagen den Tod überlebt hat, mit der menschlichen Welt unvereinbar geworden ist. Das heilige Leben kann in keinem Fall im Gemeinwesen der Menschen wohnen: Beim Geweihten, der überlebt hat, fungiert die Bildbestattung als Ersatzerfüllung des Gelöbnisses, die das Individuum dem normalen Leben zurückerstattet; beim Kaiser erlaubt das doppelte Begräbnis die Fixierung des heiligen Lebens, das in der Apotheose eingeholt und vergöttlicht werden muß; beim homo sacer schließlich stehen wir vor einem irreduziblen Rest an Leben, der ausgeschlossen und dem Tod als solchem ausgesetzt werden muß, ohne daß irgend ein Ritus oder ein Opfer es wieder einlösen kann. In allen drei Fällen ist das Leben in gewisser Weise an eine politische Funktion gebunden. Im Fall der höchsten Macht - sie ist, wie wir gesehen haben, immer vitae necisque potestas und gründet sich stets auf die Absonderung eines Lebens, das getötet, aber nicht geopfert werden darf - verhält es sich, wie wenn sie aufgrund einer eigentümlichen Symmetrie die Aufnahme des heiligen Lebens in die Person selbst, welche die Macht innehat, implizierte. Und wenn es beim überlebenden Geweihten der verpaßte Tod ist, der dieses heilige Leben freisetzt, so ist es beim Souverän hingegen der Tod, der diesen Überschuß offenbart; er scheint als solcher der höchsten Macht innezuwohnen, wie wenn diese letztlich nichts anderes wäre als die Fähigkeit, sich 5.6.
11 0
und die anderen als tötbares und nicht opferbares Leben zu konstituieren.
Verglichen mit der Interpretation von Kantorowicz und Giesey erscheint die Lehre von den zwei Körpern des Königs nun in einem anderen und weniger harmlosen Licht. Wenn die Verbindung mit der heidnischen Kaiserkonsekration nicht mehr ausgeklammert werden kann, dann ändert sich die Theorie selbst von Grund auf. Der politische Körper des Königs (»den man«, mit den Worten Plowdens »nicht sehen oder anfassen kann«, der »völlig frei von Kindheit und Alter« ist und der den sterblichen Körper, mit dem er sich verbindet, verherrlicht; Kantorowicz, S. 3 33) stammt letztlich vom Koloß des Kaisers ab; und genau deswegen kann er nicht einfach (wie Kantorowicz und Giesey meinen) die Beständigkeit der souveränen Macht repräsentieren, sondern vor allem den Überschuß des heiligen Lebens des Kaisers, der durch das Bild, im Fall des römischen Ritus, abgesondert und in den Himmel aufgenommen oder, im Fall des englischen oder französischen Ritus, auf den Nachfolger übertragen wird. Aber damit ändert sich der Sinn der Metapher vom politischen Körper, und aus dem Symbol der Ewigkeit der dignitas wird die Chiffre des absoluten und nichtmenschlichen Wesens der Souveränität. Die Formeln le mort saisit l e und ne müßten viel buchstäblicher verstanden werden, als man zu denken pflegt: Beim Tod des Souveräns ist es das heilige Leben, auf das sich die souveräne Macht gründet, mit der die Person des Nachfolgers bekleidet wird. Die beiden Formeln sprechen nur in dem Maß von der Kontinuität der souveränen Macht, wie sie mittels der dunklen Bindung an ein tötbares und nicht opferbares Leben deren Absolutheit ausdrücken. Deshalb kann Bodin, der scharfsinnigste Theoretiker der modernen Souveränität, die Maxime, die nach Kantorowicz die Ewigkeit der politischen Macht ausdrückt, in bezug auf ihre absolute Natur interpretieren: »Daher kommt es«, schreibt er im sechsten Buch seiner Republique, »daß man hierzulande sagt, der König stirbt nie, ein altes Sprichwort, das klar beweist, daß unser Königtum zu keiner Zeit ein Wahlkönigtum gewesen ist un d der König sein Zepter weder vom Papst, noch vom ErzI
»Der Tote ergreift den Lebenden.«
bischof von Reims, noch vom Volk, sondern allein von Gott empfängt.« (Bodin, S. 436) 5.7. Wenn die Symmetrie zwischen dem Körper des Souveräns
und dem des homo sacer, wie wir sie bis hier aufzuzeigen versucht haben, richtig ist, müßten wir eigentlich auch Analogien und Entsprechungen im juridisch-politischen Status dieser scheinbar so weit voneinander entfernten Körper finden. Eine erste und unmittelbare Übereinstimmung liefert die Sanktion, welche die Tötung des Souveräns trifft. Wir wissen, daß die Tötung des homo sacer nicht als Mord gilt (parricidi non damnatur). Nun gibt es eben auch keine Rechtsordnung (auch nicht unter denjenigen, die Mord durchweg mit der Todesstrafe vergelten), in der die Tötung des Souveräns einfach als Mord rubriziert würde. Sie stellt ein besonderes Delikt dar, das (nachdem man von Augustus an den Begriff maiestas immer enger mit der Person des Kaisers verbindet) als crimen lesae maiestatis definiert wird. Von unserem Gesichtspunkt aus spielt es keine Rolle, daß die Tötung des homo sacer für weniger und die Tötung des Souveräns für mehr als einen Mord gehalten werden kann; wichtig ist, daß in beiden Fällen die Tötung nicht den Tatbestand eines Mordes erfüllt. Wenn wir noch in der Satzung Karl Alberts von Savoyen lesen können, daß »die Person des Souveräns heilig und unantastbar ist«, dann mu ß man noch in diesen merkwürdigen Adjektiven den Widerhall jener Heiligkeit des tötbaren Lebens vernehmen, das der homo sacer verkörpert. Aber auch das zweite Merkmal, welches das Leben des homo sacer definiert, das heißt die Unmöglichkeit, in den vom Ritus oder vom Gesetz vorgesehenen Formen geopfert zu werden, findet seine genaue Entsprechung im Vergleich mit der Person des Souveräns. Michael Walzer hat dargelegt, da ß in den Augen der Zeitgenossen die Ungeheuerlichkeit des Bruchs, den die Enthauptung Ludwig XVI. am 2 . Januar 793 bedeutete, nicht so sehr darin bestand, daß ein Monarch getötet wurde, sondern darin, d a ß er einem Prozeß unterworfen und in Vollstreckung eines Todesurteils hingerichtet wurde (Walzer, S. Noch in den modernen Verfassungen überlebt eine säkularisierte Spur der Unmöglichkeit, das Lebens des Souveräns zu opfern, und zwar im Prinzip, wonach das Staatsoberhaupt nicht einem gewöhnlichen Gerichtsverfahren unterzogen werden kann. In der I
112
I
amerikanischen Verfassung zum Beispiel verlangt das impeachment ein besonderes Urteil des vom Chief justice präsidierten Senats, das nur für »high crimes and misdemeanors« gesprochen werden kann und lediglich Amtsenthebung und keine gerichtliche Strafe nach sich zieht. In den Debatten i m Konventvon 1792 waren die Jakobiner dafür, da ß der König ohne Prozeß einfach nur umgebracht wurde; wohl ohne sich dessen bewußt zu sein, trieben sie das Prinzip der Nichtopferbarkeit des heiligen Lebens, das jeder erschlagen kann, ohne einen Mord zu begehen, und das nicht den sanktionierte n Exekutionsformen unterzogen werden kann, ins Extrem.
6. Der Bann
und der Wolf
6. I. »Der ganze Zuschnitt der Sazertät weist darauf hin, daß sie
nicht auf dem Boden eines geordneten Rechtszustandes gewachsen ist, sondern in die Periode des vorstaatlichen Lebens hinaufreicht. Sie ist ein Stück aus der Urzeit der indogermanischen Völker. [. . .] das altgermanische und altnordische Altherturn bietet uns in dem Friedlosen und Waldgänger (dem wargus, vargr, dem Wolf, auch mit religiöser Betonung: Wolf im Heiligthum vargr i veum) den unzweifelhaften Bruder des römischen homo sacer. [. . .] das, was man für das römische Alterthum als eine Unmöglichkeit betrachtet: die Erschlagung des Geächteten ohne Urtheil und Recht, [ist] für das germanische Alterthum eine zweifellose Wirklichkeit gewesen [. . .].« (Jhering, S. 281 f.) Rudolf von Jhering war der erste, der mit diesen Ausführungen die Figur des homo sacer mit dem wargus, dem Wolfsmenschen, und dem Friedlosen’ des altgermanischen Rechts zusammenbrachte. Er rückte damit die sacratio vor den Hintergrund der Lehre von der Friedlosigkeit,2 wie sie der Germanist Wilhelm Eduard Wilda um die Mitte des 19. Jahrhunderts entwikkelt hatte. Demnach gründete das altgermanische Recht auf dem Begriff des Friedens und auf der entsprechenden Ausschließung des Übeltäters, der somit wurde und von jedem ohne Mord erschlagen werden konnte. Auch der mittelalterliche Bann weist ähnliche Merkmale auf: Der Verbannte konnte umgebracht werden (bannire idem est quod dicere quilibet possit eum offendere;4 Cavalca, S. 42) oder wurde sogar bereits als Toter betrachtet (exbannitus ad mortem de sua civitate debet haberi pro mortuo;5 ebd., S. Germanische und angelsächsische Quellen unterstreichen die Grenzverfassung des Verbannten, wenn sie ihn als Wolfsmenschen bezeichnen (Werwolf: wargus, lateinisch garulphus, davon abgeleitet französisch loup garou, Im Original deutsch. Im Original deutsch. 3 Im Original deutsch. 4 »Jemanden zu verbannen heißt, daß ihm jeder Gewalt antun kann.* 5 »Wer auf die Strafe des Todes aus der Stadt verbannt ist, muß wie ein Toter behandelt werden.« I
2
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italienisch l up o mannaro); so gebrauchen das Salische und das Ripuarische Gesetz die Formel wargus sit, hoc est expulsa in einem Sinn, der an das sacer esto erinnert, das die Tötbarkeit des homo sacer [uomo sacro] sanktionierte, und die Gesetze Eduard des Bekenners (I 30-1 I 3 5) definieren den Verbannten als wul fesheud (wörtlich: Wolfskopf) und setzen ihn mit dem Werwolf gleich (lupinum enim gerit caput a die utlagationis suae, quod ab anglis wulfesheud vocatur).l Der Werwolf, der sich im kollektiven Unbewußten als hybrides Monster, das, halb Mensch, halb Tier, halb in der Stadt und halb in der Wildnis lebt, niederschlagen sollte, ist also ursprünglich die Figur dessen, der aus der Gemeinschaft verbannt worden ist. Da ß er als Wolfsmensch und nicht einfach als Wolf bestimmt wird (die Wendung caput l upinum hat die Form eines rechtlichen Statuts), ist hier entscheidend: Das Leben des Verbannten ist - wie dasjenige des homo sacer [uomo sacro] - kein Stück wilder Natur ohne jede Beziehung zum Recht und zum Staat; es ist die Schwelle der Ununterschiedenheit und des Übergangs zwischen ‘Tier und Mensch, zwischen physis und nomos, Ausschließung und Einschließung. Es ist das Leben des l ou p garou, des Werwolfs, der weder Mensch noch Bestie ist, einer Kreatur, die paradoxerweise in beiden Welten wohnt, ohne der einen oder der anderen anzugehören. I
6.2. Nur in diesem Licht tritt der eigentliche Sinn des Hobbesschen Mythologems vom Naturzustand hervor. Wie wir gesehen haben, ist der Naturzustand keine reale Epoche, die der Gründung des Staates2 chronologisch vorausliegt, sondern ein ihm innewohnendes Prinzip, das sich in dem Moment offenbart, in dem man den Staat tanquam dissoluta (mithin als eine Art von Ausnahmezustand) betrachtet, So müssen wir auch beim Verweis auf den homo homini lupus, mittels dessen Hobbes die Souveränität begründet, im Wolf ein Echo des wargus und des caput l upinum aus den Gesetzen von Eduard dem Bekenner zu vernehmen wissen: Er ist nicht einfach fera bestia und natürliches Leben, sondern vielmehr eine Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen dem Menschlichen und dem Tierischen, Werwolf I
2
»Er trägt einen Wolfskopf vom Tag seiner Ausstoßung an, was die Engländer wulfesheud nennen.« Mit Majuskel (»Città«). 115
eben, Mensch, der sich in einen Wolf verwandelt, und Wolf, der zu einem Menschen wird: Er ist ein Verbannter, homo sacer. Hobbes’ Naturzustand ist kein vorrechtlicher, dem Recht des Staates gleichgültiger Zustand, sondern die Ausnahme und Schwelle, die ihn konstituiert und bewohnt; er ist nicht so sehr Krieg aller gegen alle als vielmehr eine Lage, in der jeder für den anderen nacktes Leben und homo sacer ist, das heißt wargus, gerit caput lupinum. Und die Verwolfung des Menschen und Vermenschlichung des Wolfs ist in jedem Augenblick des Ausnahmezustands, der dissolutio civitatis, möglich. Nur diese Schwelle, die weder das einfache natürliche Leben noch das soziale Leben ist, sondern das nackte oder heilige Leben, ist die stets gegenwärtige und tätige Voraussetzung der Souveränität. Im Gegensatz zu dem, was wir Modernen uns als politischen Raum in Begriffen der Bürgerrechte, des freien Willens und des Gesellschaftsvertrags vorzustellen gewohnt sind, ist vom Standpunkt der Souveränität aus gesehen allein das nackte Leben in authentischer Weise politisch. Deswegen muß bei Hobbes das Fundament der souveränen Macht nicht in der freiwilligen Abtretung des Naturrechts von seiten der Untertanen gesucht werden, sondern darin, d aß der Souverän sein Naturrecht bewahrt, gegenüber jedem alles zu tun, was sich dann als Recht zu strafen darstellt. »Und dies« schreibt Hobbes, »ist der Grund des in jedem Staat ausgeübten Strafrechts. Denn die Untertanen gaben dem Staat dieses Recht nicht; nur durch die Aufgabe ihres Rechtes räumten sie ihm die Macht ein, sein eigenes Recht nach seinem Gutdünken zum Schutz aller anzuwenden. So wurde es allein ihm überlassen - nicht übertragen* und zwar (die ihm durch das natürliche Gesetz gezogenen Grenzen ausgenommen) so vollständig wie im reinen Zustand der Natur und des Kriegs eines jeden gegen seinen Nachbarn.« (Hobbes 2, S. 237) Diesem besonderen Status des ius puniendi, in dem der Naturzustand als Herzstück des Staates überlebt, entspricht das Vermögen der Untertanen, wenn nicht den Gehorsam zu verweigern, so doch der Gewalt gegen die eigene Person Widerstand zu leisten, denn es »kann von niemandem angenommen werden, daß er vertraglich verpflichtet sei, der Gewalt keinen Widerstand zu leisten, und folglich kann man auch nicht sagen, I
Hervorhebungen von G. A.
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er habe einem anderen das Recht gegeben, ihm Gewalt anzutun« (ebd.). Die souveräne Gewalt gründet in Wahrheit nicht auf einem Vertrag, sie gründet in der ausschließenden Einschließung des nackten Lebens in den Staat. Und so wie jenes tötbare und nicht opferbare Leben, dessen Paradigma der homo sacer bildet, in diesem Sinn die erste und unmittelbare Referenz der souveränen Macht ist, bewohnt der Werwolf, der Wolfsmensch des Menschen, in der Person des Souveräns dauerhaft den Staat. Im Bisclavret, einem der schönsten Lais der Marie de France, kommen das eigentümliche Wesen des Werwolfs als Schwelle und Übergang zwischen Natur und Politik, tierischer und menschlicher Welt sowie die enge Bindung zwischen ihm und dem Souverän, mit außerordentlicher Lebhaftigkeit zum Ausdruck. Das Lai erzählt von einem Baron, der seinem König besonders nahesteht (de sun seinur esteit privez; v. 19), sich aber jede Woche, nachdem er seine Kleider unter einem Stein versteckt hat, für drei Tage in einen Werwolf (bisclavret) vewandelt und im Wald von Beute und Raub lebt de la s’i vif de preie e de Seiner Frau, die etwas ahnt, gelingt es, ihm das Bekenntnis seines geheimen Lebens zu entlocken, und er läßt sich überreden, ihr das Kleiderversteck zu verraten, obwohl er weiß, daß er, würde er die Kleider verlieren oder im Augenblick des Ankleidens überrascht werden, für immer si jes eüsse e de ceo ein Wolf bleiben müßte v. -75). Mit Hilfe eines Komplizen, der dann ihr Liebhaber wird, entwendet die Frau die Kleider aus dem Versteck, und der Baron bleibt auf ewig ein Werwolf. Bedeutsam ist hier das bereits bei Plinius in der Sage von einem Mann aus dem Geschlecht eines Anthus (Nat. Hist. VIII belegte Detail, daß die Metamorphose vorübergehend ist, gebunden an die Möglichkeit, die menschliche Kleidung unbeobachtet abzulegen und wieder anzuziehen. Die Verwandlung in einen Werwolf entspricht exakt dem Ausnahmezustand, während dessen (notwendig begrenzter) Dauer das Gemeinwesen aufgelöst ist und die Menschen in eine Zone der Ununterscheidbarkeit mit den Tieren geraten. Darüber hinaus stößt man in der Geschichte auf die Notwendigkeit von bestimmten Formalitäten, die den Eintritt in die - oder den Austritt aus der - Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen dem Tierischen und dem Menschlichen markieren (das entspricht der klaren Ausrufung des von der Norm formal unterschiedenen Ausnahmezustandes). Auch in der zeitgenössischen Folklore wird diese Notwendigkeit etwa von den drei Schlägen bezeugt, mit denen sich der Werwolf, der sich in den Menschen zurückverwandelt, an der Tür zu erkennen geben muß, bevor sie ihm geöffnet wird: »Wenn sie das erste Mal an die Haustür klopfen, darf die Frau nicht aufmachen. Wenn sie öffnete, wurde sie den Mann noch ganz als Wolf erblicken, er wurde sie verschlin117
gen und für immer in den Wald flüchten. Wenn sie zum zweiten Male klopfen, darf die Frau noch immer nicht aufmachen; sie würde ihren Mann bereits in einem menschlichen Körper, aber noch mit einem Wolfskopf sehen. Erst beim dritten Klopfen kann man öffnen: dann sind sie schon ganz verwandelt, der Wolf ist verschwunden, und der Mensch ist wieder zum Vorschein gekommen.« (Levi, S. Auch die besondere Nähe zwischen dem Werwolf und dem Souverän belegt die Geschichte von Bisclavret: Eines Tages, so erzählt der Lai, jagt der König in dem Wald, wo Bisclavret lebt, und die losgelassenen Hunde spüren den Wolfsmenschen bald auf. Sobald Bisclavret den König erblickt hat, läuft er auf ihn zu, klammert sich an den Steigbügel und küßt ihm die Beine und Füße, als flehte er um Gnade. Der König ist erstaunt über die Menschlichkeit des wilden Tieres (*dieses Tier hat Menschenverstand / [. . .] / ich werde dem Tier meinen Frieden geben / denn heute werde ich nicht mehr jagen«; v. 154-160) und nimmt es zu sich an den Hof, wo sie unzertrennlich werden. Es folgt die unvermeidliche Begegnung mit der Exfrau und ihre Bestrafung. Doch wichtig ist, daß die endliche Zurückverwandlung Bisclavrets in einen Menschen auf dem Bett des Souveräns stattfindet. Die Nähe zwischen Tyrann und Wolfsmensch trifft man auch in Platons Politeia an (565d-e), wo die Verwandlung des Volksvorstehers in einen Tyrannen mit dem arkadischen Mythos vom Lykäischen Zeus verglichen
wird: »Welches ist also der Anfang dieser Umwandlung aus einem
Volksvorsteher in einen Tyrannen? Ereignet sie sich nicht offenbar dann, wenn der Vorsteher angefangen hat, dasselbe zu tun, wie jener in der Fabel, die von dem Arkadischen Tempel des Lykäischen Zeus erzählt wird? [. . .] Daß wer menschliches Eingeweide gekostet hat, wenn dergleichen von anderen Opfertieren mit hineingeschnitten ist, notwendig zum Wolfe wird. [. . .] Ist es nun nicht ebenso, wenn ein Volksvorsteher, der die Menge sehr lenksam findet, sich einheimischen Blutes nicht enthält [. . .], daß dann einem solchen von da an bestimmt ist, entweder durch seine
Feinde unterzugehen oder ein Tyrann und also aus einem Menschen ein Wolf zu werden?«
6.3. Nun ist es also an der Zeit, den Mythos von der Gründung des modernen Staates von Hobbes bis Rousseau noch einmal von vorn zu lesen. Der Naturzustand ist in Wahrheit ein Ausnahmezustand, in dem der Staat für einen Augenblick (der zugleich ein chronologisches Intervall und ein atemporales Moment ist) tanquam dissoluta erscheint. Die Gründung ist mithin kein ein für allemal in illo tempore geschehenes Ereignis, sondern bleibt im bürgerlichen Staat in Form der souveränen Entscheidung fortwährend wirksam. Andererseits bezieht sich die 11 8
souveräne Entscheidung ihrerseits unmittelbar auf das Leben (und nicht auf den freien Willen) der Bürger, das somit das originäre politische Element, das Urphänomen1 der Politik darstellt: Doch dieses Leben ist nicht einfach das natürliche reproduktive Leben, die der Griechen, auch nicht der als qualifizierte Lebensform; es ist vielmehr das nackte Leben des homo sacer und des wargus, Zone der Ununterschiedenheit und des Übergangs zwischen Mensch und Tier, zwischen Natur und Kultur. Deshalb ist die am Ende des ersten Teils auf der logisch-formalen Ebene aufgestellte These, daß die originäre juridisch-politische Beziehung der Bann ist, nicht nur eine These über die formale Struktur der Souveränität, sondern hat substantiellen Charakter, weil das, was der Bann zusammenbindet, das nackte Leben und die souveräne Macht sind. Sämtliche Vorstellungen vom originären politischen Akt als Vertrag oder Übereinkunft, der den Wechsel von der Natur zum Staat2 eindeutig und endgültig markieren wurde, sind rückhaltlos zu verabschieden. Statt dessen gibt es hier eine weitaus komplexere Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen physis und nomos, in der das staatliche Band in der Form des Banns immer schon Nichtstaatlichkeit und Pseudonatur ist und die Natur immer schon als und Ausnahmezustand erscheint. Diese Mißdeutung des Hobbesschen Mythologems in Begriffen des Vertrags anstatt des Banns hat die Demokratie jedesmal, wenn es sich dem Problem der souveränen Macht zu ste llen galt, zur Ohnmacht verdammt und sie zugleich konstitutiv unfähig gemacht, eine nichtstaatliche Politik der Moderne wirklich zu denken. Doch die Beziehung des Banns und der Verlassenheit [abbandono] ist in der Tat dermaßen doppeldeutig, daß nichts schwieriger ist, als sich von ihr zu lösen. Der Bann ist wesentlich die Macht, etwas sich selbst zu überlassen, das heißt die Macht, die Beziehung mit einem vorausgesetzten Beziehungslosen aufrechtzuerhalten, Dasjenige, was unter Bann gestellt wird, ist der eigenen Abgesondertheit überlassen und zugleich dem ausgeliefert, der es verbannt und verläßt, zugleich ausgeschlossen und eingeschlossen, entlassen und gleichzeitig festgesetzt. Die alte nomos
I
Im Original deutsch.
2 Mit Majuskel
119
,
Diskussion in der Rechtsgeschichte zwischen denen, die das Exil als Strafe auffassen und denen, die es dagegen als Recht und Schutz betrachten (schon am Ende der Republik dachte Cicero das Exil in Gegenüberstellung mit der Strafe: exilium enim non supplicium est, sedperfugiumportusque supplicii;1 Pro Caec. 34), hat ihre Wurzeln in dieser Doppeldeutigkeit des souveränen Banns. Sowohl in Griechenland als auch in Rom belegen die ältesten Zeugnisse, d a ß die »weder als Ausübung eines Rechts 2, S. noch als Strafsituation qualifizierbare« Lage des jenigen, der aufgrund eines begangenen Mordes ins Exil geht oder seine Bürgerschaft verliert, weil er Bürger einer das ius exili i genießenden civitas foederata wird, ursprünglicher ist als die Opposition zwischen Recht und Strafe. Diese Zone der Ununterschiedenheit, in der das Leben des Exilierten oder des aqua et igni an das tötbare und nicht opferbare Leben des homo sacer grenzt, markiert die originäre politische Beziehung, die ursprünglicher ist als die Schmittsche Opposition zwischen Freund und Feind, Mitbürger und Fremdem. Die Extrariet ät dessen, der im souveränen Bann steht, ist innerlicher und primärer als die Extraneität des Fremden [straniero] (wenn es erlaubt ist, die von Festus aufgestellte Opposition zwischen dem extrarius, das heißt qui extra focum sacramentum iusque sit, und dem extraneus,3 der ex alter a terra, quasi exterraneus ist, auf die Weise zu verwenden). Auf diese Weise wird die bereits erwähnte semantische Doppeldeutigkeit verständlich, aufgrund deren im Italienischen »in bando, a bandono« ursprünglich »der Gnade überlassen, ausgeliefert [alla di]« sowie »aus freien Stücken, freiwillig [a proprio talento, liberamente]« heißt; und »bandito« meint sowohl »ausgeschlossen, verbannte als auch »für alle offen, frei«, etwa in den Wendungen »mensa bandita«, »öffentlicher, reich gedeckter Tisch«, und »a redina bandita«, »mit losen Zügeln«. Der Bann ist im strengen Sinn die zugleich anziehende und abstoßende Kraft, welche die beiden Pole der souveränen Ausnahme verbindet: das nackte Leben und die Macht, den homo I
»Das Exil ist nämlich keine Strafe, sondern eine Zuflucht und ein Hafen vor ihr.« 2 »Der dem Feuer und dem Wasser untersagte«. 3 »Der außerhalb des Herdes, des Opfers und des Rechts steht«; »der aus einem anderen Land stammt und gleichsam ein Ausländer ist«. I
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sacer und den Souverän. Nur deswegen kann der Bann sowohl das Banner der Souveränität (»Bandus [. . .], quod postea [. . .] appellatus fuit [. . ,] Standardum, Guntfanonum, Italice ConfaZone«; Muratori, S. 442) als auch den Ausschluß aus der Gemein-
schaft bedeuten. Diese Struktur des Banns müssen wir in den politischen Beziehungen und den öffentlichen Räumen, in denen wir auch heute noch leben, zu erkennen lernen. Die Bannung des heiligen
Lebens ist im Staat innerlicher als jede Interiorität und äußerlicher als alle Extraneität. Sie ist der souveräne nomos, der jede
weitere Norm bedingt, die ursprüngliche Verräumlichung, die jegliche Lokalisierung und Territorialisierung ermöglicht und lenkt. Und wenn das Leben in der Moderne immer deutlicher ins Zentrum der staatlichen Politik rückt (die, mit Foucaults Begriff, Biopolitik geworden ist), wenn in unserer Zeit in einem besonderen, aber sehr realen Sinn alle Bürger als homines sacri erscheinen, dann ist das nur deshalb möglich, weil die Bannbeziehung von Anfang an die der souveränen Macht eigene Struktur bildete.
Schwelle Wenn das originäre politische Element das nackte Leben ist, dann wird verständlich, wie Bataille die vollendete Figur der Souveränität in einem Leben hat suchen können, das in der extremen Dimension des Todes, der Erotik, des Heiligen und des Luxus erfahrbar wird, und gleichzeitig das wesentliche Band dieser Figur mit der souveränen Macht hat ungedacht lassen können (die »Souveränität, von der ich rede«, schreibt er im gleichnamigen, als dritte Abteilung von Der ver fem te Teil geplanten Buch, »hat wenig mit jener der Staaten zu tun«; Bataille 1, S. 247). Was Bataille zu denken versucht, ist ganz offensichtlich jenes nackte (oder heilige) Leben selbst, das in der Bannbeziehung die unmittelbare Referenz der Souveränität bildet; und die Tatsache, daß er dessen Erfahrung eingeklagt hat, macht seinen Versuch trotz allem einzigartig. Indem er damit, ohne sich dessen bewußt zu sein, dem Impuls folgte, der in der Moderne das Leben als solches zum Einsatz der politischen Kämpfe macht, versuchte er das nackte Leben selbst zur Figur der Souveränität zu erheben. Doch anstatt den eminent politischen (gar biopolitischen) Charakter zu erkennen, schreibt er die Erfahrung des nackten Lebens zum einen der Sphäre des Heiligen ein, welche die maßgebenden, von seinem Freund Caillois aufgenommenen Schemen der zeitgenössischen Anthropologie als ursprünglich doppelsinnig, rein und schmutzig, abstoßend und faszinierend, mißdeuten, zum anderen dem Innern des Subjekts, dem sie sich jedesmal in privilegierten und mysteriösen Augenblicken schenkt. In beiden Fällen, beim rituellen Opfer wie beim individuellen Exzeß, definiert sich das souveräne Leben für ihn durch die augenblickliche Überschreitung des Tötungsverbots. Auf diese Weise verwechselt Bataille unvermittelt den absolut tötbaren und absolut nicht opferbaren politischen Körper des homo sacer [uomo sacro], der in die Logik der Ausnahme eingeschrieben ist, mit dem Prestige des Opferkörpers, der statt dessen von der Logik der Überschreitung bestimmt wird. Wenn es Batailles -wenn auch unwissentliches -Verdienst ist, den Nexus zwischen nacktem Leben und Souveränität ans Licht gebracht zu haben, so bleibt das Leben da doch gänzlich im doppeldeutigen Zauberkreis des Heiligen gefangen. Auf diesem Weg war lediglich eine Wiederholung des souveränen Banns möglich, sei es 12 2
real oder als Farce, und man versteht, daß Benjamin (nach dem Zeugnis Pierre Klossowskis) die Forschungen der Gruppe mit der kategorischen Formel stigmatisieren konnte: Vous travailler pour le fascisme.l Nicht d a ß Bataille die Unzulänglichkeit des Opfers und sein Wesen, das letztlich komödiantischen Charakters ist, nicht sieht (»beim Opfer identifiziert sich der Opfernde mit dem totgeschlagenen Tier. So stirbt er, indem er sich sterben sieht, und irgendwie sogar durch seinen eigenen Willen, mit der Opferwaffe versöhnt. Aber es ist eine Komödie!« Bataille 2, S. 336); doch womit er nicht zu Rande kommt, ist genau (wie das die Faszination zeigt, welche die Bilder des gemarterten Chinesenjungen auf ihn ausübten, die er in Die Tränen des Eros ausführlich kommentiert) das nackte Leben des homo sacer, das der Begriffsapparat des Opfers und des Eros nicht auszuloten vermögen. Es ist das Verdienst von Jean-Luc Nancy, die Doppeldeutigkeit von Batailles Opferdenken aufgedeckt und den Begriff einer »nicht opferbaren Existenz« mit Nachdruck und gegen jede Opferversuchung formuliert zu haben. Doch wenn unsere Analyse wirklich ins Schwarze trifft und Batailles Definition der Souveränität durch die Überschreitung dem tötbaren Leben im souveränen Bann unangemessen bleibt, dann genügt der Begriff der »Nichtopferbarkeit« ebensowenig, um mit der Frage der Gewalt in der modernen Biopolitik fertig zu werden. Denn der homo sacer ist eben nicht Opferbar und darf dennoch von jedem getötet werden. Die Dimension des nackten Lebens, das die Referenz der souveränen Gewalt bildet, ist ursprünglicher als die Opposition »tötbar/nicht opferbar« und verweist auf eine Idee der Heiligkeit, die nicht mehr vollständig definierbar ist durch das (für Gesellschaften, die das Opfer kannten, keineswegs obskure) Begriffspaar »Tauglichkeit zum Opfer/Opferung nach den rituell vorgeschriebenen Formen«. In der Moderne hat sich das Prinzip der Heiligkeit des Lebens vollständig von der Opferideologie emanzipiert, und in unserer Kultur setzt die Bedeutung des Wortes »heilig« die semantische Geschichte des homo sacer und nicht die des Opfers fort (weshalb die trotzdem richtigen Demystifikationen der Opferideologie, die heute von mehreren Seiten unternommen werden, nicht genügen können). I
»Sie arbeiten für den Faschismus.« 123
Denn was wir heute vor unseren Augen haben, ist ein Leben, das als solches einer nie dagewesenen Gewalt ausgesetzt ist, die doch gerade in den banalsten und profansten Formen auftritt. Unser Zeitalter ist dasjenige, in dem ein Ausflugswochenende auf den europäischen Autobahnen mehr Tote produziert als eine Kriegsaktion; in dieser Hinsicht von einer »Sakralität der Leitplanke« zu sprechen, ist ganz offensichtlich bloß eine antiphrastische Definition (La Cecla, S. Von diesem Standpunkt aus gesehen ist die Absicht, der Vernichtung der Juden mit dem Begriff »Holocaust« eine Aura des Opfers zu verleihen, von einer unverantwortlichen historiographischen Blindheit. Unter dem Nazismus ist der Jude die privilegierte Negativreferenz der neuen biopolitischen Souveränität und als solcher ein flagranter Fall von homo sacer, im Sinn eines tötbaren und nicht opferbaren Lebens. Deswegen stellt seine Tötung, wie wir sehen werden, weder den Vollzug eines Todesurteils noch eines Opfers dar, sondern die Verwirklichung einer schieren »Tötbarkeit«, die der Bedingung des Juden als solcher inhärent ist, Die für die Opfer selbst schwer zu akzeptierende Wahrheit, die nicht mit Opferschleiern zu verhüllen wir gleichwohl den Mut haben müssen, ist, daß die Juden nicht im Verlauf eines wahnsinnigen und gigantischen Holocaust, sondern buchstäblich, ganz Hitlers Ankündigung gemäß, »wie Läuse«, das heißt als nacktes Leben vernichtet worden sind. Die Dimension, in der die Vernichtung stattgefunden hat, ist weder die Religion noch das Recht, sondern die Biopolitik. Wenn es wahr ist, daß die Figur, die uns unsere Zeit vorsetzt, die eines nicht opferbaren Lebens ist, das dennoch in einem unerhörten Maß tötbar geworden ist, dann betrifft uns das Leben des homo sacer in besonderer Weise. Die Heiligkeit ist eine noch immer präsente Fluchtlinie in der gegenwärtigen Politik; als solche bewegt sie sich in zunehmend vagere und dunklere Zonen, um schließlich mit dem biologischen Leben der Bürger selbst zusammenzufallen. Wenn es heute keine vorbestimmbare Figur des homo sacer [uomo sacro] mehr gibt, so vielleicht deshalb, weil wir alle virtuell homines sacri sind. I I
Dritter Teil
Das Lager als biopolitisches Paradigma der Moderne
I.
Die Politisierung des Lebens
In den letzten Jahren seines Lebens, während er an der GeI schichte der Sexualität arbeitete und auch in diesem Bereich die Dispositive der Macht aufdeckte, trieb Michel Foucault seine Forschungen mit zunehmendem Nachdruck in Richtung dessen, was er Bio-Politik nannte, das heißt die wachsende Einbeziehung des natürlichen Lebens des Menschen in die Mechanismen und das Kalkül der Macht. Am Schluß von Der Wille zum Wissen faßt er, wie wir gesehen haben, den Prozeß, in dem auf der Schwelle zum modernen Zeitalter das Leben zum Einsatz der Politik wird, in einer exemplarischen Formel zusammen: »Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblieben, was er für Aristoteles war: ein lebendes Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.« Trotzdem fuhr Foucault bis zuletzt hartnäckig fort, die ,Prozesse der Subjektivierung« zu erforschen, die im Übergang von der alten zur modernen Welt den einzelnen dahin bringen, das eigene Selbst zu objektivieren und sich als Subjekt zu konstituieren, indem er sich gleichzeitig an eine äußerliche Kontrollmacht bindet. Er verlagerte sein Arbeitsfeld nicht, wie man es auch hätte erwarten können, auf jenes Gebiet, das als Ort der modernen Biopolitik schlechthin gelten konnte: die Politik der großen totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts. Die Forschung, die mit der Rekonstruktion des grand renfer mement in den Hospitälern und in den Gefängnissen begonnen hatte, schloß nicht mit einer Analyse des Konzentrationslagers. Auf der anderen Seite haben die tiefgehenden Untersuchungen, die Hannah Arendt in der Nachkriegszeit der Struktur der totalitären Staaten gewidmet hat, ihre Grenzen genau im Mangel jeglicher biopolitischen Perspektive. Hannah Arendt erkennt die Verknüpfung zwischen der totalitären Herrschaft und jener besonderen Lebensbedingung, die das Lager ist, ganz klar: »Das oberste Ziel aller totalitären Regierungen«, schreibt sie 1950 in einem sozialwissenschaftlichen Projekt zur Erforschung der Konzentrationslager, »ist nicht nur das langfristige Streben nach globaler Lenkung, dem freiwillig nachgegeben wird, sondern 127
der nie erlaubte und sofort umgesetzte Versuch der totalen Herrschaft über den Menschen. Die Konzentrationslager sind die Laboratorien für das Experiment der totalen Herrschaft; denn dieses Ziel kann, da die menschliche Natur das ist, was sie ist, nur unter den extremen Bedingungen einer menschengemachten Hölle erreicht werden.« (Arendt 2, S. 240) Aber es entgeht ihr, daß der Prozeß gewissermaßen umgekehrt verläuft und daß es gerade die radikale Transformation der Politik in einen Raum des nackten Lebens (das heißt in ein Lager) ist, welche die totale Herrschaft legitimiert und notwendig gemacht hat. Nur weil die Politik in unserer Zeit vollständig Biopolitik geworden ist, hat sie sich in bis anhin nicht gekanntem Ma ß als totalitäre Politik konstituieren können. Daß es Hannah Arendt und Foucault, die das politische Problem unserer Zeit wohl am schärfsten gedacht haben, nicht gelungen ist, ihre beiden Perspektiven zu kreuzen, deutet auf die Schwierigkeit dieses Problems hin. Wir werden versuchen, diese beiden Perspektiven im Fokus des Begriffs vom »nackten« oder »heiligen Leben« konvergieren zu lassen. Darin sind Politik und Leben dermaßen eng verflochten, da ß seine Analyse nicht leicht ist. Dem nackten Leben und seinen avataren der Moderne (dem biologischen Leben, der Sexualität etc.) eignet eine Opazität, die man unmöglich durchdringen kann, wenn man ihren politischen Charakter nicht wahrnimmt; umgekehrt verliert die moderne Politik, ist sie erst einmal symbiotisch mit dem nackten Leben verwoben, die Intelligibilität, die für uns noch das juridisch-politische Gefüge der klassischen Politik zu kennzeichnen scheint. I .2. Karl Löwith war der erste, der den fundamentalen Charakter der Politik der totalitären Staaten als »Politisierung des Lebens« definiert und von diesem Gesichtspunkt aus zugleich den Berührungspunkt von Demokratie und Totalitarismus bemerkt hat:
»Diese Neutralisierung der politisch maßgebenden Unterschiede und das Hinausschieben ihrer Entscheidung hat sich seit der Emanzipation des dritten Standes und der Ausbildung der bürgerlichen Demokratie und ihrer Weiterbildung zur industriellen Massendemokratie bis zu dem entscheidenden Punkt entwickelt, wo sie nun in ihr Gegenteil umschlägt: in eine totale Politisierung aller, auch der scheinbar neutral128
sten Lebensgebiete. So entstand im marxistischen Rußland ein Arbeiterstaat, mehr und intensiver staatlich ist als jemals ein Staat der absoluten Fürsten [Schmitt], im faschistischen Italien ein korporativer Staat, der außer der nationalen Arbeit auch den Dopolavoro und das gesamte geistige Leben normiert, und im nationalsozialistischen Deutschland ein völlig durchorganisierter Staat, der auch noch das bisher privat gewesene Leben durch Rassengesetze u. dgl. politisiert.« (Löwith, S. 3 3)
Der Berührungspunkt von Massendemokratie und totalitären Staaten hat gleichwohl nicht (wie Löwith hier auf Schmitts Spuren zu denken scheint) die Form eines plötzlichen Umschlags: Bevor der Strom der Biopolitik, der das Leben des homo sacer mit sich trägt, so ungestüm ans Licht unseres Jahrhunderts tritt, hat er bereits unterirdisch, aber beharrlich seinen Lauf genommen. Es ist gleichsam, wie wenn von einem bestimmten Zeitpunkt an jedes entscheidende politische Ereignis ein doppeltes Gesicht angenommen hätte: Die Räume, die Freiheiten, die Rechte, welche die Individuen in ihren Konflikten mit den zentralen Mächten erlangen, bahnen jedesmal zugleich eine stille, aber wachsende Einschreibung ihres Lebens in die staatliche Ordnung an und liefern so der souveränen Macht, von der sie sich eigentlich freizumachen gedachten, ein neues und noch furchterregenderes Fundament. »Das >Recht< auf das Lebens, auf den Körper, auf die Gesundheit, auf das Glück, auf die Befriedigung der Bedürfnisse<, schreibt Foucault, um die Bedeutung zu erklären, welche die Sexualität als Thema der politischen Auseinandersetzungen gewonnen hat, »das >Recht< auf die Wiedergewinnung alles dessen, was man ist oder sein kann - jenseits aller Unterdrückungen und >Entfremdungen -, dieses für das klassische Rechtssystem so unverständliche >Recht< war die politische Antwort auf all die neuen Machtprozeduren, die ihrerseits auch nicht mehr auf dem traditionellen Recht der Souveränität beruhen.« (Foucault 1, S. 173) Die Sache ist die, daß ein und dieselbe Einforderung des nackten Lebens in den bürgerlichen Demokratien zu einem Vorrang des Privaten gegenüber dem Öffentlichen und der individuellen Freiheiten gegenüber den kollektiven Pflichten führt, in den totalitären Staaten dagegen zum entscheidenden politischen Kriterium und zum Ort souveräner Entscheidungen schlechthin wird. Und nur weil das biologische Leben mit seinen Bedürfnissen überall zum politisch 129
entscheidenden Faktum geworden ist, besteht überhaupt die Möglichkeit, die sonst unerklärliche Geschwindigkeit zu begreifen, mit der in unserem Jahrhundert die parlamentarischen Demokratien in totalitäre Saaten haben umstürzen und die totalitären Staaten sich beinah ohne Übergangslösung in parlamentarische Demokratien haben umwandeln können. In beiden Fällen vollzogen sich die Umbrüche in einem Umfeld, wo die Politik sich schon seit längerem in Biopolitik verwandelt hatte und wo der Einsatz nunmehr bloß darin bestand, zu bestimmen, welche Organisationsform sich für die Pflege, die Kontrolle und den Genuß des nackten Lebens am wirksamsten erweisen wurde. Wenn das nackte Leben zur fundamentalen Referenz geworden ist, verlieren die traditionellen politischen Unterscheidungen (wie jene zwischen rechts und links, Liberalismus und Totalitarismus, privat und öffentlich) ihre Klarheit und Intelligibilität und treten in eine Zone der Unbestimmtheit. Auch das plötzliche Abdriften der herrschenden Klassen des Exkommunismus in den extremsten Rassismus (wie in Serbien mit den Programmen der »ethnischen Säuberung«) und die Wiedergeburt des Faschismus in neuen Formen in Europa haben hier ihre Wurzeln. Tatsächlich kann man beobachten, wie sich im Gleichschritt mit der Durchsetzung der Biopolitik auch die Entscheidung über das nackte Leben, in der die Souveränität bestand, verschiebt und über die Grenzen des Ausnahmezustands hinaus ausbreitet. Wenn es in jedem modernen Staat eine Linie gibt, die den Punkt bezeichnet, an dem die Entscheidung über das Leben zur Entscheidung über den Tod und die Biopolitik somit zur Thanatopolitik wird, dann erweist sich diese Linie heute nicht mehr als feste Grenze, die zwei klar unterschiedene Bereiche trennt. Sie ist beweglich und verschiebt sich in immer weitere Bereiche des sozialen Lebens, wo der Souverän immer mehr nicht nur mit dem Juristen, sondern auch mit dem Arzt, dem Wissenschaftler, dem Experten und dem Priester symbiotisiert. Auf den folgenden Seiten werden wir aufzuzeigen versuchen, d a ß einige der fundamentalen Ereignisse in der politischen Geschichte der Moderne (wie die Erklärung der Menschenrechte) und andere, die eine unverständliche Einmischung biologischwissenschaftlicher Prinzipien in die politische Ordnung darzustellen scheinen (wie die nationalsozialistische Eugenik mit ih130
rer Vernichtung des »lebensunwerten Lebens« oder die aktuelle Debatte um die normative Festlegung der Kriterien des Todes), ihre wahre Bedeutung nur dann entfalten, wenn sie wieder in den gemeinsamen biopolitischen (oder thanatopolitischen) Zusammenhang gestellt werden, dem sie auch entstammen. In dieser Perspektive wird das Lager, dieser reine, absolute und unübertroffene biopolitische Raum (insofern er einzig im Ausnahmezustand gründet), als verborgenes Paradigma des politischen Raumes der Moderne erscheinen, dessen Metamorphosen und Maskierungen zu erkennen wir lernen müssen. 1.3. Die erste Registrierung des nackten Lebens als neues politisches Subjekt findet sich implizit schon in jenem Dokument, das man gemeinhin der modernen Demokratie zugrunde legt: dem wr it des Habeas corpus von 679. Welches auch immer der Ursprung der Formel sein mag - man trifft sie bereits im 13. Jahrhundert an, als sie die physische Präsenz einer Person vor Gericht sicherte -, bemerkenswert ist, daß im Zentrum der Habeas-Corpus-Akte weder das alte Subjekt der feudalen Beziehungen und Freiheiten noch der künftige citoyen steht, sondern schlicht und einfach das corpus. Als 2 Johann ohne Land mit der Magna Charta seinen Untertanen Freiheitsrechte einräumte, wandte er sich an die »Erzbischöfe, Bischöfe, Äbte, Grafen, Barone, Vicomtes, Vögte, Beamten und an die Gerichtsdiener«, »an die Städte, Burgen und Dörfer« und allgemeiner noch »an die freien Menschen unseres Königreichs«, daß sie »ihre alten Freiheiten und freien Bräuche« und diejenigen, die er nun besonders anerkennt, genießen sollten. Artikel 29, der die physische Freiheit der Untertanen garantieren soll, lautet: »Kein freier Mensch [homo liber] darf; verhaftet, eingesperrt, seiner Güter beraubt noch außerhalb des Gesetzes gestoßen noch irgendwie belästigt werden; wir werden nicht die Hand auf ihn halten noch halten lassen super ibimus, super eum wenn nicht aufgrund eines rechtmäßigen Urteils von seinesgleichen und nach dem Gesetz des Landes.« Analog dazu trägt ein alter welcher der pus-Akte vorausgeht und die Anwesenheit des Angeklagten beim Prozeß sichern sollte, die Rubrik de homine replegiando (oder repigliando). Man betrachte dagegen die Formel des writ, welche die Akte I
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von 1679 verallgemeinert und in ein Gesetz verwandelt: Praeci pimus tibi quod Corpus X, in custodia vestra detentum, ut dici-
tur, una cum causa captionis et detentionis, quodcumque nomine idem X censeatur in eadem, habeas coram nobis, apud WestminEs gibt nichts, was den Unterschied zwischen der antiken und mittelalterlichen Freiheit und derjenigen, die der modernen Demokratie zugrunde liegt, besser ermessen ließe als die Formel: Nicht der freie Mensch mit seinen Eigenschaften und seinen Statuten, und nicht einmal schlicht homo, sondern corpus ist das neue Subjekt der Politik, und die Geburt der modernen Demokratie ist genau diese Einforderung und Ausstellung dieses »Körpers«: habeas corpus ad subjiciendum, du mußt einen Körper vorzuzeigen haben. Daß von den verschiedenen gerichtlichen Verfahren zur Wahrung der individuellen Freiheit ausgerechnet dieses Habeas corpus die Form eines Gesetzes erhielt und damit von der Geschichte der abendländischen Demokratie nicht mehr abzulösen sein wurde, ist sicher zufälligen Umständen geschuldet; doch ebenso gewiß ist, da ß auf diese Weise die im Entstehen begriffene europäische Demokratie nicht das qualifizierte Leben des Bürgers, ins Zentrum ihres Kampfes gegen den Absolutismus stellt, sondern das nackte Leben in seiner Namenlosigkeit, das als solches in den souveränen Bann genommen wird (so auch noch in den modernen Formulierungen des writ: the body of being takten by [. . whatsoever name he may ster, ad subjiciendum. .
be called there in). Was da aus dem Verlies ans Licht tritt, um apud Westminster ausgestellt zu werden, ist einmal mehr der Körper des homo sacer und einmal mehr das nackte Leben. Das ist die Stärke und zugleich der innerste Widerspruch der modernen Demokratie: Sie schafft das heilige Leben nicht ab, sondern zersplittert es, verstreut es in jedem einzelnen Körper, um es zum Einsatz in den politischen Konflikten zu machen. Und hier liegt die Wurzel ihrer geheimen biopolitischen Bestimmung: Derjenige, der sich später als Träger der Menschenrechte und mit einem merkI
»Wir befehlen dir, daß der Körper X, der sich, wie es heißt, in eurer Verwahrung befindet, hier vor uns in Westminster gezeigt wird, ebenso der Grund der Verhaftung und der Verwahrung, wie immer sein Name darin lauten mag.*
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würdigen Oxymoron als das neue souveräne Subjekt (subiectus superaneus, das was zugleich unten und am höchsten ist) präsentieren wird, kann sich als solches nur dadurch konstituieren, daß er die souveräne Ausnahme wiederholt und in sich selbst corpus, das nackte Leben, isoliert. Wenn es stimmt, da ß das Gesetz für seine Geltung eines Körpers bedarf, wenn man in diesem Sinn von einem »Verlangen des Gesetzes nach einem Körper« sprechen kann, dann antwortet die Demokratie auf dieses Verlangen damit, daß sie das Gesetz verpflichtet, sich dieses Körpers anzunehmen. Die Tatsache, daß die Habeas-Corpus-Formel ursprünglich die Anwesenheit des Angeklagten beim Prozeß verbürgen und folglich verhindern sollte, daß er sich dem Urteil entzieht, während sie doch in der neuen und definitiven Form umgekehrt den Sheriff verpflichtet, den Körper des Angeklagten vorzuführen und dessen Haft zu begründen, läßt die Ambivalenz (oder Polarität) der Demokratie um so klarer hervortreten. Corpus ist ein doppelgesichtiges Wesen, das sowohl Träger der Unterwerfung unter die souveräne Macht als auch der indi-
viduellen Freiheit ist. Diese neue Zentralität des *Körpers« im Bereich der politisch-juridischen Terminologie ist mithin innerhalb des allgemeineren Prozesses anzusiedeln, der dem corpus in der Philosophie und Wissenschaft des Barock, von Descartes zu Newton und von Leibniz zu Spinoza, eine derart privilegierte Position zuweist. Doch in der politischen Reflexion behält corpus auch dann, wenn es im Leviathan und im Contract social zur zentralen Metapher der politischen Gemeinschaft wird, einen engen Bezug zum nackten Leben. Diesbezüglich lehrreich ist der Gebrauch, den Hobbes davon macht. Wenn es richtig ist, da ß De homine im Menschen einen natürlichen und einen politischen Körper unterscheidet (homo enim non modo corpus naturale est, sed etiam civitatis, id est [ut ita loquar] corporis politici Hobbes 3, S. I), so ist es in De cive gerade die Tötbarkeit des Körpers, die sowohl die natürliche Gleichheit der Menschen wie die Notwendigkeit des Commonwealth begründet:
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»Der Mensch ist nicht nur ein natürlicher Körper, sondern auch ein Körper des Staates, das heißt sozusagen Teil des Politischen.« 133
»Denn betrachtet man die erwachsenen Menschen und sieht man, wie gebrechlich der Bau des menschlichen Körpers ist (mit dessen Verfall auch alle Kraft, Stärke und Weisheit des Menschen vergeht), wie leicht es selbst dem Schwächsten ist, den Stärksten zu töten: so versteht man nicht, daß irgend jemand im Vertrauen auf seine Kraft sich anderen von Natur überlegen dünken kann. Die einander Gleiches tun können, sind gleich. Aber die, die das Größte vermögen, nämlich zu töten, können Gleiches tun.« (Hobbes I, S. 93)
Die großartige Metapher des Leviathan, dessen Körper aus sämtlichen Körpern der einzelnen geformt ist, muß in diesem Licht gelesen werden. Es sind die absolut tötbaren Körper der Untertanen, die den neuen politischen Körper des Abendlandes bilden.
2.
Die Menschenrechte und die Biopolitik
2.1. In ihrem Totalitarismus-Buch hat Hannah Arendt das fünfte, dem Flüchtlingsproblem gewidmete Kapitel des zweiten, vom Imperialismus handelnden Teils mit »Der Niedergang des Nationalstaates und das Ende der Menschenrechte« überschrieben. Diese bemerkenswerte Formel, die das Geschick der Menschenrechte an das des Nationalstaats bindet, scheint die Idee einer inneren und notwendigen Verknüpfung zu implizieren, welche die Verfasserin jedoch unerläutert läßt. Das Paradox, von dem sie hier ausgeht, besteht darin, d a ß die Figur - der Flüchtling -, die den Menschen der Menschenrechte schlechthin hätte verkörpern sollen, statt dessen die radikale Krise dieser Konzeption bezeichnet. »Der Begriff der Menschenrechte, der auf einer angenommenen Existenz des Menschen als solchen basiert, brach in dem Augenblick zusammen, als diejenigen, die sich zum Glauben daran bekannten, zum ersten Mal mit Leuten konfrontiert waren, die wirklich alle ihre anderen Eigenschaften und spezifischen Beziehungen verloren hatten - außer d a ß sie immer noch Menschen waren.« (Arendt 3, S. 295). Im System des Nationalstaates erweisen sich die sogenannten heiligen und unveräußerlichen Menschenrechte, sobald sie nicht als Rechte eines Staatsbürgers zu handhaben sind, als bar allen Schutzes und aller Realität. Denkt man genauer darüber nach, so ist dies bereits in der Ambiguität des Titels der Erklärung von 1789 angelegt: Declaration des droits de l’homme et du citoyen. Hier ist unklar, ob die beiden Glieder zwei autonome Realitäten benennen oder ein einheitliches System bilden, in dem das erste immer schon im zweiten enthalten und verborgen ist; und, im letzteren Fall, welcher Typ von Beziehung zwischen den beiden besteht. Edmund Burkes boutade, wonach er den unveräußerlichen Menschenrechten seine »rights of an Englishman« bei weitem vorziehe, gewinnt aus dieser Perspektive eine ungeahnte Tiefe. Hannah Arendts Ausführungen zur Verknüpfung von Menschenrechten und Nationalstaat reichen nicht über wenige, wesentliche Punkte hinaus, und so sind ihre Hinweise nicht weiterverfolgt worden. In der Nachkriegszeit haben die instrumentelle Emphase der Menschenrechte und die Vervielfältigung der
Erklärungen und Konventionen übernationaler Organisationen schließlich dazu geführt, daß ein wirkliches Verständnis der historischen Bedeutung des Phänomens ausgeblieben ist. Nun ist es an der Zeit, damit aufzuhören, die Erklärungen der Menschenrechte als wohlfeile Proklamationen von ewigen metajuridischen Werten anzuschauen, die (in Wirklichkeit ohne viel Erfolg) den Gesetzgeber zu Respekt vor ewigen ethischen Prinzipien verpflichten sollen, um ihre reale historische Funktion bei der Herausbildung des modernen Nationalstaates zu betrachten. Die Erklärung der Menschenrechte stellt die originäre Figur der Einschreibung des natürlichen Lebens in die juridisch-politische Ordnung des Nationalstaates dar. Jenes natürliche nackte Leben, das im Ancien regime politisch belanglos war und als kreatürliches Leben Gott gehörte und das in der antiken Welt (wenigstens dem Anschein nach) als klar vom politischen Leben (bios) abgegrenzt war, wird nun erstrangig in der Struktur des Staates und bildet sogar das irdische Fundament der staatlichen Legitimität und der Souveränität. Schon eine einfache Untersuchung des Textes der Erklärung von 1789 zeigt, daß es genau das natürliche nackte Leben, das heißt das reine Faktum der Geburt ist, das sich als Quelle und Träger des Rechts präsentiert. »Les hommes«, so lautet der erste Artikel, »naissent et demeurent libres et en droits«l (die strengste aller Formulierungen ist unter diesem Gesichtspunkt diejenige des Entwurfs von La Fayette: »tout homme nait avec des droits inalienables et Gleichzeitig verschwindet das natürliche Leben, das mit der Eröffnung der modernen Biopolitik die Basis der Rechtsordnung stiftet, gleich wieder in der Figur des Bürgers, in dem sich die Rechte »bewahrt« finden (Artikel 2: »le but de toute association politique est la conservation des droits naturels et imprescriptibles de l’homme«3). Und weil die Erklärung das native Element ins Herz der politischen Gemeinschaft selbst eingeschrieben hat, kann sie an diesem Punkt die Souveränität auch der »Nation« zuschreiben (Artikel 3: »le principe de toute souverainete »Die Menschen werden gleich an Rechten geboren und bleiben es.« »Jeder Mensch wird mit unveräußerlichen und unantastbaren Rechten geb oren.« 3 »Der Endzweck aller politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unantastbaren Rechte.« I
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essentiellement dans la So schließt die Nation, die etymologisch von nascere abstammt, den Kreis, den die Geburt [nascita; frz. naissance] des Menschen geöffnet hat. Die Erklärung der Menschenrechte muß mithin als Ort angesehen werden, an dem sich der übergang von der königlichen Souveränität göttlichen Ursprungs zur nationalen Souveränität vollzieht. Sie sichert die exceptio des Lebens in der neuen staatlichen Ordnung, die auf den Zusammenbruch des Ancien regime folgt. Daß sich dadurch der »Untertan«, wie bemerkt worden ist, in einen »Bürger« verwandelt, bedeutet, daß die Geburt - das heißt, das natürliche nackte Leben als solches - zum ersten Mal (mittels einer Transformation, deren biopolitische Folgen wir heute erst zu ermessen beginnen) zum unmittelbaren Träger der Souveränität wird. Das Prinzip der Nativität und das Prinzip der Souveränität, die im Ancien regime (wo die Geburt bloß das Vorhandensein des sujet, des Untertans, markierte) getrennt waren, vereinigen sich nun unwiderruflich im Körper des »souveränen Subjekts*, um das Fundament des neuen Nationalstaats zu bilden, Es ist nicht möglich, die »nationale« und biopolitische Entwicklung und Bestimmung des modernen Staats des 19. und 20. Jahrhunderts zu verstehen, wenn man vergißt, daß ihm nicht der Mensch als freies und bewußtes politisches Subjekt zugrunde liegt, sondern vor allem sein nacktes Leben, die einfache Geburt, die als solche im Übergang vom Untertan zum Bürger vom Prinzip der Souveränität eingesetzt wird. Die implizite Fiktion besteht darin, daß die Nativität unmittelbar Nation wird, so da ß es zwischen den beiden Begriffen keinen Abstand geben kann. Die Menschenrechte werden dem Menschen zugeschrieben (oder entspringen ihm) nur in dem Maß, als er das unmittelbarwieder verschwindende (oder vielmehr gar nie als solches ans Licht tretende) Fundament des Bürgers abgibt. Nur wenn man diese wesentliche historische Funktion der Erklärung der Menschenrechte versteht, ist es auch möglich, ihre Entwicklung und ihre Metamorphosen in unserem Jahrhundert zu erfassen. Wenn nach der Erschütterung der geopolitischen Ordnung in der Folge des Ersten Weltkriegs der verdrängte Abstand zwischen Nativität und Nation als solcher 2.2.
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»Das Prinzip der Souveränität liegt seinem Wesen nach beim Volk.« ‘37
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zutage tritt und der Nationalstaat in eine dauerhafte Krise gerät, tauchen mit dem Faschismus und dem Nazismus zwei im eigentlichen Sinn biopolitische Bewegungen auf, die das natürliche Leben zum Ort der biopolitischen Entscheidung schlechthin machen. Wir sind daran gewöhnt, im Syntagma »Blut und das Wesen der nationalsozialistischen Ideologie zusammenzufassen. Als Alfred Rosenberg die Weltanschauung seiner Partei auf eine Formel bringen will, ist es auch tatsächlich dieses Hendiadyoin, auf das er verfällt. »Die nationalsozialistische Weltanschauung ging aus von der Überzeugung, daß Blut und Boden das Wesentlichste des Deutschtums ausmachten, da ß von diesen beiden Gegebenheiten aus Kultur- und Staatspolitik getrieben werden müßten.« (Rosenberg, S. 242) Doch man hat nur allzuoft vergessen, daß diese politisch so eindeutig geprägte Formel in Wahrheit einen harmlosen Rechtsursprung hat. Sie ist nichts weiter als der gedrängte Ausdruck der beiden Kriterien, die seit dem römischen Recht dazu dienten, die Bürgerschaft festzustellen (das heißt die primäre Einschreibung des Lebens in die staatliche Ordnung): ius soli (die Geburt in einem bestimmten Territorium) und ius sanguinis (die Geburt von Bürgereltern). Diese beiden traditionellen juridischen Kriterien, die im Ancien keine wesentliche politische Bedeutung hatten, weil sie lediglich ein Untertanenverhältnis ausdrückten, gewinnen schon mit der Französischen Revolution eine neue und entscheidende Bedeutung. Die Bürgerschaft bedeutet nun nicht mehr einfach nur eine allgemeine Unterwerfung unter die königliche Autorität oder ein bestimmtes System von Gesetzen noch verkörpert sie einfach (wie Chalier meint, als er am 23. September 1792 im Konvent verlangt, da ß die traditionelle Anrede monsieur oder sieur in jedem öffentlichen Akt durch die des Bürgers ersetzt werde) das neue egalitäre Prinzip: Sie steht für den neuen Status des Lebens als Ursprung und Fundament der Souveränität und bezeichnet somit buchstäblich, mit Lan juinais’ Worten im Konvent, les membres du souverain. Daher rührt die Zentralität (und die Ambiguität) des Begriffs der »Bürgerschaft« im politischen Denken der Moderne, die Rousseau zur Äußerung veranlaßt, daß »kein Autor in Frankreich [. , .] den wahren Sinn des Wortes >Bürger< verstandene habe; daher I
Im Original deutsch beigefügt.
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rührt aber auch die bereits im Verlauf der Revolution einsetzende Vervielfältigung der normativen Anordnungen, die präzisieren sollten, welcher Mensch nun Bürger sei und welcher nicht, und welche die Kreise des ius soli und des ius sanguinis verdeutlichen und schrittweise einschränken sollten. Was bis dahin kein politisches Problem dargestellt hatte (die Fragen: »Was ist ein Franzose? Was ist ein Deutscher?«), sondern bloß eines unter anderen Themen war, die in den philosophischen Anthropologien diskutiert wurden, beginnt nun, eine wesentliche politische Frage zu werden; sie unterliegt als solche einer fortwährenden Arbeit der Redefinition, bis im Nationalsozialismus die Antwort auf die Frage: »Wer oder was ist ein Deutscher?« (und folglich auch: »Wer oder was ist es nicht?«) unmittelbar mit der höchsten politischen Aufgabe zusammenfällt. Faschismus und Nazismus sind vor allem eine Redefinition des Verhältnisses zwischen Mensch und Bürger und werden, so paradox das erscheinen mag, nur vor dem biopolitischen Hintergrund, den die nationale Souveränität und Menschenrechte eröffnet haben, ganz verstehbar. Nur diese Verbindung zwischen den Menschenrechten und der neuen biopolitischen Bestimmung der Souveränität erlaubt es, das eigenartige, von den Historikern der Französischen Revolution mehrfach bemerkte Phänomen richtig zu deuten, daß im unmittelbaren Zusammenhang mit der Erklärung der angeborenen, unveräußerlichen und unabdingbaren Rechte die Menschenrechte im allgemeinen in aktive und passive unterteilt wurden. Schon Sieyes unterscheidet in seinen de la Constitution klar, »daß die natürlichen und gesellschaftlichen Rechte diejenigen sind, zu deren Wahrung und Entwicklung die Gesellschaft gegründet worden ist, die politische Rechte dagegen diejenigen, durch die sich die Gesellschaft bildet. Es ist um der Klarheit des Ausdrucks willen besser, die erste Art passive, die zweite aktive Rechte zu nennen. [. . .] Alle Einwohner des Landes müssen in ihm die Rechtepassiver Bürger besitzen [. . ,]; aber [. . .] nicht alle sind Aktiv-Bürger. Die Frauen, zumindest im jetzigen Stadium, die Kinder, die Ausländer und auch diejenigen, die nichts zu den öffentlichen Einrichtungen beitragen, dürfen keinen aktiven Einfluß auf das Gemeinwesen nehmen.« (Sieyes 2, S. 2 1) Und Lanjuinais fährt nach der oben zitierten Wendung, welche die membres du souverain definiert, mit folgenden Wor139
ten fort: »Demnach wurden die Kinder, die Verrückten, die Minderjährigen, die Frauen, die zu Leibesstrafe oder Infamie Verurteilten [. , .] keine Bürger sein.« (Sewell, S. Anstatt in diesen Unterscheidungen eine einfache Einschränkung des demokratischen und egalitären Prinzips zu sehen, die in schreiendem Widerspruch mit Geist und Buchstaben der Erklärung steht, muß man vielmehr die Kohärenz der biopolitischen Bedeutung zu erfassen wissen. Einer der wesentlichen Züge der modernen Biopolitik (der in unserem Jahrhundert rasen wird) ist die Notwendigkeit, im Leben laufend die Schwelle neu zu ziehen, die das, was drinnen, und das, was draußen ist, verbindet und trennt. Wenn das unpolitische natürliche Leben, das zum Fundament der Souveränität geworden ist, einmal aus den Mauern des heraustritt und immer tiefer in die vordringt, so verwandelt es sich gleichzeitig in eine Linie, die sich in Bewegung befindet und unablässig neu gezogen werden muß. In der welche die Erklärung politisiert hat, müssen die Verbindungen und Schwellen neu bestimmt werden, die es ermöglichen werden, ein heiliges Leben abzusondern. Und wenn, wie das heute nunmehr geschehen ist, das natürliche Leben vollständig in die einbezogen ist, verschieben sich diese Schwellen, wie wir sehen werden, über die dunklen Grenzen, die das Leben vom Tod trennen, hinaus, um einen neuen lebenden Toten zu bezeichnen, einen neuen homo [uomo sacro]. 2.3. Wenn die Flüchtlinge (deren Zahl in unserem Jahrhundert nie aufgehört hat zu wachsen, bis sie schließlich einen nicht zu vernachlässigenden Teil der Menschheit ausmachten) in der Ordnung des modernen Nationalstaates ein derart beunruhigendes Element darstellen, dann vor allem deshalb, weil sie die Kontinuität zwischen Mensch und Bürger, zwischen Nativität und Nationalität, Geburt und Volk, aufbrechen und damit die Ursprungsfiktion der modernen Souveränität in eine Krise stürzen. Der Flüchtling, der den Abstand zwischen Geburt und Nation zur Schau stellt, bringt auf der politischen Bühne für einen Augenblick jenes nackte Leben zum Vorschein, das deren geheime Voraussetzung ist. In diesem Sinn ist er tatsächlich, wie Hannah Arendt meint, »der Mensch der Menschenrechte«, desim Sinn von »Gemeinwesen«, 140
»Staat<.
sen erste und einzige reale Erscheinung diesseits der Maske des Bürgers, die ihn ständig verdeckt. Doch genau darum ist es so schwierig, seine Figur politisch zu bestimmen. Denn vom Ersten Weltkrieg an ist der Nexus Geburt-Volk nicht mehr imstande, seine legitimierende Funktion im Innern des Nationalstaates auszuüben, und die beiden Glieder beginnen zu zeigen, daß sie sich unwiederbringlich voneinander abgekoppelt haben, Die Überflutung Europas durch Flüchtlinge und Staatenlose (in einer kurzen Zeitspanne verlassen ooo Weißrussen, ooo Armenier, ooo Bulgaren, ooo ooo Griechen und Hunderttausende Deutsche, Ungarn und Rumänen ihr Ursprungsland) ist zusammen mit den gleichzeitig in vielen europäischen Staaten eingeführten Normen, welche die massenhafte Entnaturalisierung und Entnationalisierung der eigenen Bürger erlauben, das hervorstechendste Phänomen. Das Beispiel gab 1915 Frankreich gegenüber den naturalisierten Bürgern »feindlicher« Herkunft; diesem folgte 1922 Belgien, wo die Naturalisation von Bürgern wiederrufen wurde, die während des Krieges »antinationale Straftaten« begangen hatten; 1926 erließ das faschistische Regime ein analoges Gesetz gegen Bürger, die sich »der italienischen Staatsbürgerschaft unwürdig« gezeigt hatten; war die Reihe an Österreich, und so ging es weiter, bis die Nürnberger Gesetze über die »Reichsbürger« und zum »Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« diese Entwicklung ins Extrem trieben, indem sie die deutschen Staatsangehörigen in vollwertige Bürger und Bürger zweiter Klasse unterteilten und zum Prinzip erhoben, daß die Bürgerschaft etwas war, dessen man sich würdig erweisen mußte, und die daher jederzeit in Frage gestellt werden konnte. Und eine der wenigen Regeln, an die sich die Nazis im Verlauf der »Endlösung« dauerhaft hielten, war die, da ß die Juden erst nach der vollständigen Entnationalisierung (also auch der Restbürgerschaft, die ihnen nach den Nürnberger Gesetzen zukam) in die Vernichtungslager geschickt werden konnten. Diese beiden - übrigens eng verknüpften - Phänomene zeigen, daß der Nexus Nativität-Nationalität, auf den die Erklärung der Menschenrechte von 789 die neue nationale Souveränität gegründet hatte, nicht mehr von selbst funktionierte und seine Macht der Selbstregulation verloren hatte. Auf der einen Seite betreiben die Nationalstaaten eine massive Neueinsetzung I
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des natürlichen Lebens, indem sie in dessen Innerem ein sozusagen authentisches Leben und ein nacktes Leben ohne jeden politischen Wert unterscheiden (der Rassismus und die nazistische Eugenik werden nur verständlich, wenn man sie in diesen Kontext zurückstellt); auf der anderen Seite werden die Menschenrechte zunehmend von den Bürgerrechten, als deren Voraussetzung sie allein Sinn ergaben, abgetrennt und außerhalb des Kontextes der Bürgerschaft verwendet, mit dem angeblichen Zweck, ein nacktes Leben zu repräsentieren und zu schützen, das in Wachsendern Maß an den Rändern der Nationalstaaten anfällt, um dann wieder in einer neuen nationalen Identität rekodifiziert zu werden. Die Widersprüchlichkeit dieser Prozesse gehört bestimmt zu den Gründen, die zum Scheitern der Anstrengungen der diversen Komitees und Organisationen geführt haben, mittels deren die Staaten, der Völkerbund und später die Vereinten Nationen versucht haben, dem Problem der Flüchtlinge und der Wahrung der Menschenrechte zu begegnen, vom Bureau Nansen (1922) bis zum noch bestehenden Hohen Kommissariat für Flüchtlingsfragen (195 1), dessen Engagement gemäß den Statuten nicht politisch, sondern nausschließlich humanitär und sozial« sein kann. Wesentlich ist, daß jedesmal, wenn die Flüchtlinge nicht mehr individuelle Fälle, sondern, wie es mittlerweile immer häufiger geschieht, ein Massenphänomen darstellen, diese Organisationen wie die einzelnen Staaten trotz ihrer feierlichen Anrufungen der »heiligen und unveräußerlichen« Menschenrechte sich nicht nur als gänzlich unfähig erwiesen haben, das Problem zu lösen, sondern überhaupt in angemessener Weise mit ihm umzugehen. 2.4. Die Trennung zwischen Humanitärem und Politischem, die wir heute erleben, ist die extreme Phase der Entfernung zwischen den Menschenrechten und den Bürgerrechten. Letztlich können die humanitären Organisationen, die heute mehr und mehr zu den übernationalen Organen aufrücken, das menschliche Leben jedoch nur in der Figur des nackten Lebens oder des heiligen Lebens erfassen und unterhalten deshalb gegen ihre Absicht eine geheime Solidarität mit den Kräften, die sie bekämpfen sollten. Ein Blick auf die jüngsten Werbekampagnen zur Spendensammlung für Ruanda genügt, um sich klarzumachen, daß hier das menschliche Leben (und dafür gibt es gewiß 142
Grunde) ausschließlich als heiliges Leben betrachtet wird, das heißt insofern es tötbar und nicht Opferbar ist, und nur als solches zum Objekt der Hilfe und des Schutzes wird. Die »flehenden A u g e n « des ruandischen Kindes, mit dessen Fotografie man Geld sammeln möchte, das man aber »jetzt schwerlich noch lebend antreffen wird«, sind die vielleicht prägnanteste Chiffre des nackten Lebens in unserer Zeit, deren die humanitären Organisationen in einem exakt symmetrischen Verhältnis zur staatlichen Macht bedürfen. Der vom Politischen abgetrennte Humanitarismus kann die Absonderung des nackten Lebens, auf der die Souveränität gründet, lediglich wiederholen, und das Lager, das heißt, der reine Raum der Ausnahme, ist das biopolitische Paradigma, mit dem er nicht zu Rande kommt. Man muß den Begriff des Flüchtlings (und die Figur des Lebens, die er repräsentiert) entschlossen von dem der Menschenrechte ablösen und Hannah Arendts These ernst nehmen, welche die Geschicke der Menschenrechte an die des Nationalstaates bindet, so d aß der Untergang und die Krise des letzteren notwendig auch die ersteren obsolet werden läßt. Der Flüchtling muß als das angesehen werden, was er ist, nämlich nicht weniger als ein Grenzbegriff, der die fundamentalen Kategorien des Nationalstaates, vom Nexus Nativität-Nationalität zu dem jenigen von Mensch-Bürger, in eine radikale Krise stürzt: So wird es möglich. das Feld für eine nunmehr unaufschiebbare kategoriale Erneuerung zu räumen, im Hinblick auf eine Politik, die das nackte Leben nicht mehr in der staatlichen Ordnung absondert und ausstößt, auch nicht mittels der Figur der Menschenrechte. Das Pamphlet
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das Sade in der Philosophie dans boudoir den Libertin Dolman& lesen läßt, ist das erste und vielleicht radikalste Manifest der Moderne. Just in dem Moment, da die Revolution die Geburt das heißt das nackte Leben zum Fundament der Souveränität und der Menschenrechte macht, inszeniert Sade (in seinem ganzen Werk, insbevingt de Sodome) das sondere aber in Les cum als Theater des nackten Lebens, in dem, mittels der Sexualität, das physiologische Leben der Körper selbst sich pures politisches Ele-
ment präsentiert. Doch in keinem anderen Werk ist die Einforderung des Politischen seines Projekts so explizit wie in diesem Pamphlet; hier wer»Franzosen, noch eine Anstrengung, wenn ihr Republikaner sein wollt«. 143
den die maisons, wo jeder Bürger jeden anderen Bürger öffentlich aufrufen und ihn zur Befriedigung seiner eigenen Begierden zwingen kann, zum politischen Ort schlechthin. Nicht nur die Philosophie (Lefort, S. oof.), sondern auch und vor allem die Politik hat das Sieb des boudoir passiert; mehr noch, im Projekt von Dolman& hat das boudoir die vollständig ersetzt, und zwar in dem Öffentliches und Privates, nacktes Leben und politische Existenz die Plätze tauschen. Die wachsende Bedeutung des Sadomasochismus in der Moderne hat ihre Wurzeln in diesem Tausch; denn der Sadomasochismus ist genau die jenige Technik der Sexualität, die das nackte Leben des Partners zutage fördert. Und nicht nur die Analogie mit der souveränen Macht wird von Sade bewußt gezogen schreibt er, »qui ne veuille despote quand il auch die Symmetrie zwischen homo und Souverän findet sich hier in der Komplizität, die den Masochisten an den Sadisten und das Opfer an den Henker bindet. Die Aktualität von Sade besteht nicht darin, daß er die unpolitische Vorherrschaft der Sexualität in unserer unpolitischen Zeit angekündigt hat; im Gegenteil, seine Modernität besteht in der unvergleichlichen Zurschaustellung der absolut politischen (das heißt »biopolitischen«) Bedeutung der Sexualität und des physiologischen Lebens selbst. Ebenso wie in den Konzentrationslagern unseres Jahrhunderts hat der Totalitarismus der Organisation des Lebens im Schloß Silling mit seiner minutiösen Reglementierung, die keinen Aspekt des physiologischen Lebens (nicht einmal die obsessiv kodifizierte und ausgestellte Verdauungsfunktion) außer acht läßt, seine Wurzeln in der Tatsache, daß hier zum ersten Mal eine normale und kollektive (mithin politische) Organisation des menschlichen Lebens gedacht worden ist, die einzig und allein auf dem nackten Leben gründet.
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gibt keinen Mann, der nicht Despot sein will, wenn er geil ist.«
3. Lebensunwertes Leben 3.1. Im Jahr 1920 veröffentlichte Felix Meiner, schon damals einer der Seriösesten deutschen Verleger der Geisteswissenschaften, eine blaugraue die den Titel trug: Die Die Autoren waren der Vernichtung lebensunwerten Karl Binding, ein angesehener Strafrechtsspezialist (eine im letzten Moment hinter dem Titelblatt eingeklebte Einlage informiert die Leser darüber, daß der »Geh. Rat« und »Prof. Dr. jur. et phil.« K. B. während des Druckes verstorben ist und diese »Abhandlung« also der letzte Akt seiner »tiefen Menschenliebe« gewesen sei), und Alfred Hoche, ein Professor der Medizin, der sich mit Fragen der Ethik seines Berufs beschäftigte. Das Buch interessiert uns hier aus zwei Gründen. Der erste besteht darin, daß Binding, um die Straflosigkeit des Selbstmordes zu erklären, sich dazu veranlaßt sieht, diesen als Ausdruck einer Souveränität des lebenden Menschen über seine eigene Existenz zu begreifen, Da der Selbstmord, so argumentiert er, einerseits nicht als Delikt (wie beispielsweise die Verletzung einer Pflicht gegenüber sich selbst), andererseits aber auch nicht als juristisch indifferente Handlung begriffen werden kann, »bleibt eben dem Rechte nichts übrig, als den lebenden Menschen als betrachten « (Binding, S. 14). Souverän über sein Dasein . Die Souveränität des Lebenden über sich selbst bildet, wie die souveräne Entscheidung über den Ausnahmezustand, eine Schwelle der Ununterscheidbarkeit zwischen Exteriorität und Interiorität, welche die Rechtsordnung daher weder aus- noch einschließen, weder verbieten noch erlauben kann (die »Rechtsordnung«, schreibt Binding, »nimmt die Handlung trotz ihrer vielleicht empfindlichen Wirkungen auf sie selbst ruhig hin. Sie glaubt sie dem Täter nicht verbieten zu dürfen«; ebd., S. I 3). Von dieser besonderen Souveränität des Menschen über die eigene Existenz leitet Binding jedoch - und das ist der zweite und dringendere Grund unseres Interesses - die Notwendigkeit ab, die »Vernichtung des lebensunwerten Lebens« zu autorisieren. Der Umstand, daß er mit diesem beunruhigenden Aus-
Im Original deutsch.
mit dem wertvollsten, vom stärksten Lebenswillen und der größten Lebenskraft erfüllten und von ihm getragenen Leben’ umgehen, und welch Maß von oft ganz nutzlos vergeudeter Arbeitskraft, Geduld, Vermögensaufwendung wir nur darauf verwenden, um lebensunwerte Leben so lange zu erhalten, bis die Natur - oft so mitleidlos spät - sie der letzten Möglichkeit der Fortdauer beraubt. Denkt man sich gleichzeitig ein Schlachtfeld bedeckt mit Tausenden toter Jugend, oder ein Bergwerk, worin schlagende Wetter Hunderte fleißiger Arbeiter verschüttet haben, und stellt man in Gedanken unsere Idioteninstitute mit ihrer Sorgfalt für ihre lebenden Insassen daneben-und man ist auf das tiefste erschüttert von diesem grellen Mißklang zwischen der Opferung des teuersten Gutes der Menschheit im größten Maßstabe auf der einen und der größten Pflege nicht nur absolut wertloser, sondern negativ zu Wertender Existenzen auf der anderen Seite.« (Ebd., S. 27)
druck lediglich das Problem der Zulässigkeit der Euthanasie benennt, soll nicht dazu führen, die Neuheit und die entscheidende Wichtigkeit dieses Begriffs, der auf diese Weise zum ersten Mal auf der juridischen Bühne erscheint, zu unterschätzen: das »lebensunwerte Leben« (das Leben, das nicht wert ist, gelebt zu werden, oder auch, der buchstäblich möglichen Bedeutung, zu leben), zusammen mit seinem impliziten und vertrauteren Korrelat, dem lebenswerten Leben. Die fundamentale biopolitische Struktur der Moderne - die Entscheidung über den Wert (oder den Unwert) des Lebens als solches - findet mithin seine erste juristische Formulierung in einem gutgemeinten Pamphlet zugunsten der Euthanasie. Es erstaunt nicht, daß der Aufsatz von Binding die Aufmerksamkeit von Schmitt geweckt hat, der ihn in seiner Theorie des Partisanen im Kontext einer Kritik an der Einführung des Begriffs des Wertes ins Recht zitiert. »Der Wertsetzer«, schreibt er, »setzt mit seinem Wert eo ipso immer einen Unwert; der Sinn der Unwertsetzung ist die Vernichtung des Unwertes.« Bindings Theorien vom lebensunwerten Leben stellt er die These von Heinrich Rickert an die Seite, wonach *der Bezug zur Negation [. . .] das Kriterium dafür [ist], daß etwas zum Gebiet der Werte gehört« und »die Verneinung [, , ,] der eigentlich Akt der Wertung« ist (Schmitt 6, S. 80f.). Schmitt scheint hier nicht zu bemerken, wie die Logik
des Wertes, die er kritisiert, seiner Theorie der Souveränität gleicht, nach der das wahre Leben der Regel die Ausnahme ist.
3.2. Der Begriff des *lebensunwerten Lebens« ist für Binding deshalb wesentlich, weil er ihm erlaubt, eine Antwort auf die juristische Frage zu finden, die er zu stellen gedenkt: die unverbotene Lebensvernichtung, wie nach heutigem Rechte - vom Notstand abgesehen -, auf die Selbsttötung des Menschen beschränkt bleiben, oder soll sie eine gesetzliche Erweiterung auf Tötungen von Nebenmenschen erfahren?« (Ebd., S. 5) Die Lösung des Problems hängt in der Tat ab von der Antwort auf die Frage: »Gibt es Menschenleben, die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes eingebüßt haben, daß ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren hat?«
Der Begriff des »wertlosen« (oder »lebensunwerten«) Lebens kommt-vor allem bei Individuen zur Anwendung, die infolge von Krankheit oder Verletzung als »unrettbar Verlorene« betrachtet werden müssen und die, vollen Verständnis ihrer Lage den dringenden Wunsch nach Erlösung besitzen und ihn in irgendeiner Weise zu erkennen gegeben haben.« (Ebd., S. Problematischer ist die Lage der zweiten Gruppe; sie »besteht aus den unheilbar Blödsinnigen - einerlei ob die so geboren oder etwa wie die Paralytiker im letzten Stadium ihres Leidens so geworden sind«. Diese Menschen, schreibt Binding, »haben weder den Willen zu leben, noch zu sterben. So gibt es ihrerseits keine beachtliche Einwilligung in die Tötung, andererseits stößt diese auf keinen Lebenswillen, der gebrochen werden müßte. Ihr Leben ist absolut zwecklos, aber sie empfinden es nicht als unerträg1ich.« Auch in diesem Fall erkennt Binding »weder vom rechtlichen, noch vom sozialen, noch vom sittlichen, noch vom religiösen Standpunkt aus schlechterdings keinen Grund, die Tötung dieser Menschen, die das furchtbare echter Menschen bilden . . freizugeben.« (Ebd., S. 3 f.) Was das Problem der Entscheidungsgewalt über die Freigabe der Vernichtung angeht, so schlägt Binding vor, daß die Initiative des AnI
Bei Agamben »wertvollstes Leben« deutsch beigefügt. »Liberazione«; in Klammern folgt die sich für die deutsche Leserschaft erübrigende Erläuterung: »Binding bedient sich des Wortes das zum religiösen Vokabular gehört und unter anderem bedeutet.« 3 Im Original deutsch beigefügt. I
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»Man braucht sie nur zu stellen«, fährt Binding fort, ein beklommenes Gefühl regt sich in jedem, der sich gewöhnt hat, den Wert des einzelnen Lebens für den Lebensträger und für die Gesamtheit auszuschätzen. Er nimmt mit Schmerzen wahr, wie verschwenderisch wir 146
trags stets vom Kranken selbst ausgehen (falls er dazu in der Lage ist), oder dann von einem Arzt oder einem nahen Verwandten, und daß die letzte Entscheidung bei einer staatlichen Kommission liegt, bestehend aus einem Arzt, einem Psychiater und einem Juristen. 3.3. Es ist nicht unsere Absicht, hier zum schwierigen ethischen Problem der Euthanasie, über das noch heute die Meinungen auseinandergehen und das in den Mediendebatten beträchtlichen Raum beansprucht, Stellung zu beziehen; auch die Radikalität, mit der Binding zugunsten einer verallgemeinerten Zulässigkeit der Euthanasie Stellung bezieht, interessiert uns hier nicht. Interessanter ist aus unserer Perspektive die Tatsache, daß die Souveränität des lebenden Menschen über sein Leben unmittelbar mit der Festlegung einer Schwelle zusammentrifft, jenseits deren das Leben keinen rechtlichen Wert mehr besitzt und daher getötet werden kann, ohne daß ein Mord begangen wird. Die neue Kategorie eines »wertlosen« oder »lebensunwerten Lebens« entspricht exakt, wenngleich in einer wenigstens dem Anschein nach anderen Richtung, dem nackten Leben des homo und kann leicht über die von Binding vorgestellten Grenzen hinaus erweitert werden. Es scheint so, als ginge jede Wertung und jede »Politisierung« (wie sie der Souveränität des einzelnen über seine eigene Existenz letztlich implizit ist) zwangsläufig mit einer erneuten Entscheidung über die Schwelle einher, jenseits deren das politisch relevante Leben aufhört, um nur mehr »heiliges Leben« zu sein und als solches straflos eliminiert werden zu können. Jede Gesellschaft legt diese Grenze fest, jede Gesellschaft auch die modernste entscheidet darüber, welches ihre sacri mini sacri] sind. Es ist sogar möglich, daß diese Grenze, von der die Politisierung und die exceptio des natürlichen Lebens in der staatlichen Rechtsordnung abhängt, sich in der abendländischen Geschichte immer nur ausgedehnt hat und heute im neuen biopolitischen Horizont der Staaten mit nationaler Souveränität - notwendigerweise durch das Innere jedes menschlichen Lebens und jedes Bürgers geht. Das nackte Leben ist nicht mehr an einem besonderen Ort oder in einer definierten Kategorie eingegrenzt, sondern bewohnt den biologischen Körper jedes Lebewesens. 148
3.4. Während des Nürnberger Ärzteprozesses berichtete ein Zeuge, Dr. Fritz Mennecke, er habe bei einer vertraulichen Versammlung in Berlin im Februar 1940 die Doktoren Hefelmann, Bohne und Brack mitteilen hören, da ß die Reichsregierung soeben Vorkehrungen zur Autorisierung der »Vernichtung lebensunwerten Lebens«, mit besonderem Bezug auf die unheilbaren Geisteskranken, getroffen habe. Die Information war nicht ganz richtig, denn Hitler hat es vorgezogen, seinem Euthanasie-Programm keine eigentliche Rechtsform zu verleihen; fest steht jedoch, daß das Wiederauftauchen der von Binding geprägten Formel zur rechtlichen Einbürgerung des »Gnadentods« (so der unter den Gesundheitsfunktionären des Regimes gängige Euphemismus) mit einer entscheidenden Wende in der Biopolitik des Nationalsozialismus zusammenfällt. Es gibt keinen Anlaß, daran zu zweifeln, daß die »humanitären« Erwägungen, die Hitler und Himmler dazu brachten, sofort nach der Machtergreifung ein Euthanasie-Programm auszuarbeiten, in gutem Glauben angestellt wurden, wie ja auch Binding und Hoche von ihrem Gesichtspunkt aus den Begriff des »lebensunwerten Lebens« bestimmt in gutem Glauben vortrugen. Aus verschiedenen Gründen, darunter der zu erwartende Widerstand der kirchlichen Kreise, wurde von dem Programm wenig in die Tat umgesetzt, und erst Anfang 1940 beschloß Hitler, keine Verzögerung mehr zu dulden. So erfolgte die Durchführung des »Euthanasie-Programms für unheilbare Kranke«1 unter Bedingungen - wie der Kriegswirtschaft und der Vervielfachung der Konzentrationslager für Juden und andere Unerwünschte -, die Irrtümer und Mißbräuche begünstigen konnten; doch hing die Verwandlung (im Verlauf der fünfzehn Monate, die es dauerte, bis Hitler im August 1941 wegen wachsender Proteste der Bischöfe und Familienangehöriger die Beendigung anordnete) eines theoretisch humanitären Programms in eine Operation der Massenvernichtung keineswegs nur von den Umständen ab. Der Name von Grafeneck, der Kleinstadt in Württemberg, wo eines der Hauptzentren operierte, ist mit dieser tristen Sache verbunden geblieben; aber ähnliche Anstalten gab es auch in Hadamar (Hessen), Hartheim (bei Linz) und an anderen Orten des Reiches. Die Aussagen, I
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welche die Angeklagten und Zeugen im Nürnberger Prozeß gemacht haben, geben uns mit ausreichender Genauigkeit Auskunft über die Organisation des Programms von Grafeneck. Die Anstalt erhielt jeden Tag etwa siebzig Personen (im Alter zwischen 6 und 93 Jahren), die unter den unheilbaren Geisteskranken der verschiedenen deutschen Irrenhäuser ausgewählt wurden. Die Doktoren Schumann und Baumhardt, die für das Programm in Grafeneck verantwortlich waren, unterzogen die Kranken einer oberflächlichen Untersuchung und entschieden, ob sie die vom Programm verlangten Voraussetzungen erfüllten. Größtenteils wurden die Kranken innerhalb von 24 Stunden nach der Ankunft in Grafeneck getötet; zuerst wurde ihnen eine Dosis von ml Morphium-Scopolamin verabreicht, und dann wurden sie in eine Gaskammer gesteckt. In anderen Anstalten (zum Beispiel in Hadamar) brachte man sie mit einer starken Dosis Luminal, Veronal und Morphium um. Man rechnet, daß auf diese Weise etwa 60000 Personen vernichtet worden sind.
Man hat versucht, die Hartnäckigkeit, mit der Hitler die Verwirklichung seines unter nicht sehr günstigen Umständen verfolgte, mit den eugenischen Prinzipien der nationalsozialistischen Biopolitik zu erklären. Doch unter einem strikt eugenischen Gesichtspunkt bestand für die Euthanasie gar keine besondere Notwendigkeit: Abgesehen davon, daß schon die Gesetze zur *Verhütung erbkranken Nachwuchses« und zum »Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes« genügend Schutz boten, waren die dem Programm unterworfenen unheilbaren Kranken Kinder und Alte, die ohnehin nicht in der Lage waren, sich fortzupflanzen (vom eugenischen Gesichtspunkt aus zählt ja ganz offensichtlich nicht die Vernichtung des Phänotyps, sondern nur des genetischen Erbgutes). Darüber hinaus gibt es keinerlei Hinweise, daß das Programm an wirtschaftliche Erwägungen geknüpft war; im Gegenteil, es erforderte einen nicht unerheblichen organisatorischen Aufwand zu einem Zeitpunkt, da die staatliche Maschinerie voll vom kriegerischen Kraftakt beansprucht wurde. Warum also wollte Hitler, obwohl er sich der Unpopularität des ProI
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gramms völlig bewußt war, es um jeden Preis in die Tat umsetzen? Es bleibt keine andere Erklärung als jene, wonach es unter dem Deckmantel eines humanitären Problems eigentlich - im Horizont der neuen biopolitischen Bestimmung des nationalsozialistischen Staates -um eine Einübung der souveränen Macht in die Entscheidungsgewalt über das nackte Leben ging. Daß das »lebensunwerte Leben« kein ethischer Begriff ist, der die Erwartungen und legitimen Wünsche des einzelnen betrifft, liegt klar auf der Hand; es ist vielmehr ein politischer Begriff, der die extreme Metamorphose des tötbaren und nicht opferbaren Lebens betrifft, das der homo sacer verkörpert und auf dem sich die souveräne Macht gründet. Wenn die Euthanasie sich für diese Verwechslung anbietet, dann deswegen, weil hier ein Mensch in der Situation befindet, in einem anderen Menschen die vom zu trennen und so etwas wie ein nacktes, tötbares Leben abzusondern. Aber aus der Perspektive der modernen Biopolitik steht die Euthanasie an der Kreuzung zwischen der souveränen Entscheidung über das tötbare Leben und der Übernahme der Sorge um den biopolitischen Volkskörper und markiert den Punkt, an dem die Biopolitik zwangsläufig in Thanatopolitik umkippt. Hier sieht man, wie der Versuch von Binding, die Euthanasie in einen juridisch-politischen Begriff zu verwandeln (das »lebensunwerte Leben«), eine fundamentale Frage erfaßte. Wenn es dem Souverän, insofern er über den Ausnahmezustand entscheidet, zu allen Zeiten zukommt, darüber zu entscheiden, welches Leben getötet werden kann, ohne daß ein Mord begangen wird, dann tendiert diese Macht im Zeitalter der Biopolitik dazu, sich vom Ausnahmezustand zu emanzipieren, um sich in die Macht über die Entscheidung zu transformieren, an welchem Punkt das Leben aufhört, politisch relevant zu sein. Wenn das Leben zum höchsten politischen Wert wird, dann stellt sich nicht nur, wie Schmitt meint, von selbst die Frage nach dem Unwert des Lebens, sondern es scheint, als stünde in dieser Entscheidung der letzte Bestand der souveränen Macht auf dem Spiel. In der modernen Biopolitik ist derjenige souverän, der über den Wert oder Unwert des Lebens als solches entscheidet. Das Leben, das mit der Erklärung der Menschenrechte als solches zum Prinzip der Souveränität erhoben worden ist, wird 151
nun selbst zum Ort einer souveränen Entscheidung. Der »Führepräsentiert das Leben selbst, insofern er über den eigenen biopolitischen Bestand entscheidet. Darum ist auch sein Wort -gemäß einer den Nazijuristen teuren Theorie, auf die wir zuruckkommen werden - unmittelbar Gesetz. Darum ist das Problem der Euthanasie auch ein spezifisch modernes Problem, dessen sich der Nazismus als erster radikal biopolitischer Staat nicht nicht annehmen konnte; und darum lassen sich gewisse scheinbar verruckte und widersprüchliche Züge des Euthanasie-Programms2 nur im biopolitischen Kontext, in dem es auch angesiedelt ist, erklären. Die Ärzte Karl Brand und Viktor Brack, die als Verantwortliche des Programms in Nürnberg zum Tod verurteilt worden sind, haben nach dem Urteil erklärt, da ß sie sich nicht schuldig fühlen, weil sich das Problem der Euthanasie von neuem stellen wurde. Ihre Voraussicht war unbestritten; interessanter ist jedoch die Frage, warum es damals, als das Programm von den , Bischöfen an die Öffentlichkeit gebracht wurde, seitens der medizinischen Organisationen keine Proteste gab. Nicht nur widerspricht das Euthanasie-Programm dem Passus des Hippokratischen Eides: »Ich werde niemandem, auch nicht auf seine Bitte hin, ein tödliches Gift verabreichen oder auch nur dazu raten«; die daran beteiligten Ärzte konnten auch, da keine gesetzlichen Vorkehrungen getroffen wurden, die Straflosigkeit zusicherten, in eine heikle Rechtssituation geraten (dieser Umstand gab denn auch Anlaß zu Protesten seitens der Juristen und Anwälte). Tatsache ist, daß das nationalsozialistische Reich den Zeitpunkt markiert, an dem die gegenseitige Integration von Medizin und Politik, die einen der wesentlichen Züge der modernen Biopolitik darstellt, ihre vollendete Form anzunehmen beginnt. Das bedeutet, daß sich die souveräne Entscheidung über das nackte Leben verschiebt; sie bewegt sich weg von streng politischen Motivationen und Bereichen und begibt sich auf ein ambivalentes Terrain, wo der Souverän und der Arzt die Rollen zu tauschen scheinen.
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Im Original, auch an folgenden Stellen, deutsch. Im Original deutsch.
4. »Politik, d. h. die Gestaltung des Lebens der Völker«
. 1942 beschloß das Institut Allemand in Paris, eine Publikation zu verbreiten, mit dem Zweck, die französischen Freunde und Verbündeten über das Wesen und die Verdienste der nationalsozialistischen Politik in Sachen Gesundheit und Eugenik zu informieren. Das Buch, das Beiträge der maßgebenden deutschen Fachleute (wie Eugen Fischer und Otmar von Verschuer) und der Hauptverantwortlichen der Gesundheitspolitik des Reiches (wie Leonardo Conti und Hans Reiter) versammelt, trägt den vielsagenden Titel Etat et sant é . 1 Von den offiziellen und halboffiziellen Publikationen des Regimes ist diese vielleicht diejenige, in der die Politisierung (oder der politische Wert) des biologischen Lebens und damit die Verwandlung des gesamten politischen Horizonts am deutlichsten thematisiert wird; so schreibt Reiter:
4.
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»In den Jahrhunderten, die dem unseren vorangegangen sind, wurden die großen Konflikte zwischen Völkern mehr oder minder durch die Notwendigkeit verursacht, die Besitztümer des Staates zu sichern wobei das Wort ›Besitztum< nicht nur die Oberfläche des Landes, sondern zugleich den materiellen Inhalt meint. Bisweilen war auch die Furcht, den Nachbarstaat territorial anwachsen zu sehen, Ursache dieser Konflikte, in denen keine Rücksicht auf die Individuen genommen wurde, die sozusagen bloß als Mittel zur Erreichung der verfolgten Ziele dienten. Erst zu Beginn unseres Jahrhunderts ist man auf der Grundlage von Lehren, die deutlich vom Liberalismus geprägt sind, in Deutschland darauf gekommen, auch den Wert des Menschen in Betracht zu ziehen und zu definieren - Definitionen, die sich damals wohlverstanden nur auf die liberalen Formen und Prinzipien stützen konnten, welche die Ökonomie beherrschten. [. . .] Helferich hat den nationalen Reichtum in Deutschland auf ungefähr 310 Milliarden Mark geschätzt. [. . .] Auch Zahn nimmt als Grundlage seiner Spekulation die Summe von 310 Milliarden Mark, bemerkt aber, daß es im Gegenzug zu diesem materiellen Reichtum einen lebendigen Reichtum gebe, den er auf 1061 Milliarden Mark schätze.« (Verschuer 1, S. 3 1) 1
»Staat und Gesundheit«.
Die große Neuerung des Nationalsozialismus besteht nach Reiter darin, daß es eben diese lebenden Schätze sind, die nun für die Interessen und Kalküle des Reiches erstrangig werden und die Basis für eine neue Politik schaffen, die mit der Aufstellung der »Bilanz der lebenden Werte eines Volkes« (ebd., S. 34) beginnt und zur Pflege des »biologischen Körpers der Nation« (ebd., S. 5 1) schreitet: . .] wir nähern uns immer mehr einer logischen Synthese der Biologie und der Ökonomie an. [. . .] die Politik wird imstande sein müssen, diese Synthese immer enger zu führen; sie steht heute noch am Anfang, erlaubt jedoch bereits, die gegenseitige Abhängigkeit dieser beiden Kräfte als unabwendbare Tatsache zu erkennen.« (Ebd., S. 48)
Daher rührt die radikale Transformation der Bedeutung und der Aufgaben der Medizin, die sich zunehmend tiefer in die Funktionen und Organe des Staates integriert: »So wie der Ökonom und der Kaufmann für die Ökonomie der materiellen Werte verantwortlich sind, so ist der Arzt für die Ökonomie der menschlichen Werte verantwortlich. [. . .] Es ist unerläßlich, d aß der Arzt an der rationalisierten menschlichen Ökonomie mitarbeitet und im Standard der Volksgesundheit die Bedingung des ökonomischen Ertrags erblickt [. . .]. Die Oszillationen der biologischen Substanz und der materiellen Bilanz eines Staates verlaufen im allgemeinen parallel.* (Ebd., S. 40f.)
Die Grundsätze dieser neuen Biopolitik werden von der Eugenik diktiert, verstanden als Wissenschaft der genetischen Vererbung eines Volkes. Foucault hat die wachsende Bedeutung untersucht, die vom 18. Jahrhundert an der Polizeiwissenschaft zukommt; mit Nicolas Delamare, Johann Peter Frank und Johann Heinrich Gottlob von Justi macht sie sich die Sorge um die Bevölkerung in all ihren Belangen zum ausdrücklichen Ziel (Foucault 3, S. I 59 -161).Vom Ende des 19. Jahrhunderts an liefert das Werk von Francis Galton den theoretischen Rahmen, in dem die nunmehr Biopolitik gewordene Polizeiwissenschaft ihre Wirkung entfalten soll. Es ist wichtig zu sehen, daß im Gegensatz zu einem verbreiteten Vorurteil der Nazismus sich nicht einfach darauf beschränkte, die wissenschaftlichen Konzepte, die er brauchte, zu verwenden und für die eigenen politischen Zwecke zu verformen; die Beziehung zwischen der nationalso154
zialistischen Ideologie und der Entwicklung der Sozial- und Lebenswissenschaften jener Zeit, besonders jener der Genetik, ist enger und komplexer, und zugleich beunruhigender. Ein Blick auf die Beiträge von Verschuer (der, so sehr es überraschen mag, auch nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches weiterhin Genetik und Anthropologie an der Universität Münster lehrte) undvon Fischer (Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie in Berlin) zeigt jenseits aller Zweifel, d a ß es gerade die genetische Forschung dieser Zeit mit der frisch entdeckten Lokalisierung der Gene in den Chromosomen ist (jene »Gene«, die, so Fischer, »auf den Chromosomen wie Perlen auf der Schnur aufgereiht sind«; Verschuer 1, S. 86), die der nationalsozialistischen Biopolitik als konzeptuelle und strukturelle Referenz dient. »Die Rasse«, schreibt Fischer, »ist nicht durch die Zusammenstellung dieser oder jener Eigenschaften bestimmt, die man zum Beispiel mit Hilfe einer Farbenskala messen könnte. [. . .] Die Rasse ist Vererbung und nichts als Vererbung.« (Ebd., S. 84) E s erstaunt folglich nicht, da ß die Forschungen, auf die sich Fischer wie Verschuer beziehen, die Experimente von Thomas H. Morgan und John B. S. Haldane über die Drosophila sind und allgemeiner jene Arbeiten der angelsächsischen Genetik, die in ebendiesen Jahren zur Aufstellung einer ersten Karte des X-Chromosoms im Menschen und zum ersten sicheren Nachweis von pathologischen Erbveranlagungen führten. Das Neue daran ist indes, daß diese Begriffe nicht wie äußerliche (wenn auch bindende) Kriterien einer politischen Entscheidung gehandhabt werden; sie sind vielmehr als solche unmittelbar politisch. So wird der Begriff der Rasse in Übereinstimmung mit den genetischen Theorien der Zeit als »eine Gruppe von menschlichen Wesen, die eine bestimmte Kombination von homozygoten Genen aufweisen, die anderen Gruppen fehlen«, de-
finiert (ebd., S. 92). Sowohl Fischer als Verschuer wissen jedoch, daß es praktisch unmöglich ist, eine nach dieser Definition reine Rasse zu bestimmen (insbesondere bilden weder die Juden noch die Deutschen in diesem eigentlichen Sinn eine Rasse -dessen ist sich Hitler, während er Mein Kampf schreibt, ebenso bewußt wie dann, als er die Endlösung beschließt). Das Wort »Rassismus« (wenn man Rasse streng biologisch versteht) ist deshalb nicht die korrekteste Charakterisierung für die Biopolitik des Dritten Reiches; sie bewegt sich vielmehr in einem Horizont, wo sich die
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»Sorge um das Leben«, das Erbe der Polizeiwissenschaft des 8. Jahrhunderts, ins Absolute steigert, indem sie mit eigentlich eugenischen Bestrebungen verschmilzt. In seiner Unterscheidung zwischen »Politik« und »Polizei« weist von Justi ersterer eine rein negative Aufgabe zu (die Bekämpfung der inneren und äußeren Feinde des Staates), letzterer eine positive (die Pflege und das Wachstum des Lebens der Bürger). Man kann die nationalsozialistische Biopolitik (und mit ihr einen guten Teil der modernen Politik auch außerhalb des Dritten Reiches) nicht verstehen, wenn man nicht sieht, da ß sie das Schwinden der Unterscheidung zwischen den beiden Gliedern impliziert: Die Polizei wird nun Politik, und die Sorge um das Leben fällt mit dem Kampf gegen den Feind zusammen. »Die nationalsozialistische Revolution«, liest man in der Einleitung zu Etat et »appelliert an die Kräfte, welche die Ausschließung der Faktoren biologischer Entartung und den Erhalt der Erbgesundheit des Volkes fördern. Sie strebt also danach, die Gesundheit der Gesamtheit der Bevölkerung zu stärken und jene Einflüsse zu vernichten, die dem biologischen Erblühen der Nation schaden. Die in diesen Vorträgen behandelten Probleme betreffen nicht nur ein einzelnes Volk; sie werfen Fragen auf, die für die ganze europäische Zivilisation von vitaler Bedeutung sind.« (Verschuer 1, S. 7) Einzig in dieser Perspektive nimmt die Vernichtung der Juden, in der Polizei und Politik, eugenische und ideologische Motive, die Sorge um das Leben und der Kampf gegen den Feind gänzlich ununterscheidbar werden, ihre volle Bedeutung an. I
4.2. Ein paar Jahre zuvor hat Verschuer eine Broschüre veröffentlich, in der die nationalsozialistische Ideologie vielleicht ihre rigoroseste biopolitische Formulierung findet. »>Der neue Staat kann keine andere Aufgabe kennen als die sinngemäße Erfüllung der zur Forterhaltung des Volkes notwendigen Bedingungen.< Dieses Wort des Führers bringt zum Ausdruck, da ß alle Politik des nationalsozialistischen Staates dem Leben des Volkes dient.
[, . ,] Wir wissen heute: Das Leben eines Volkes ist nur garantiert, wenn rassische Eigenart und Erbgesundheit des Volkskörpers erhalten bleiben.« (Verschuer 2, S.
Die Verbindung, die diese Worte zwischen Politik und Leben herstellen, beruht nicht (wie eine verbreitete, aber völlig unan156
gemessene Interpretation des Rassismus meint) auf einer rein instrumentellen Beziehung, wie wenn die Rasse eine einfache natürliche Gegebenheit wäre, die es nur zu schützen gälte. Die Neuerung der modernen Biopolitik besteht darin, da ß die biolo gische Gegebenheit unmittelbar politisch wird und umgekehrt. »Politik«, schreibt Verschuer, »d. h. [. . .] die Gestaltung des Lebens der Völker« (Verschuer 2, S. 9). Das Leben, das mit der Erklärung der Menschenrechte zum Fundament der Souveränität geworden ist, wird nun das Subjekt-Objekt der staatlichen Politik (die sich deswegen auch zunehmend als »Polizei« verhält); aber erst ein Staat, der im Innersten auf dem Leben selbst des Volkes gründet, konnte die Gestaltung und Pflege des »Volkskörpers« zu seiner vorrangigen Bestimmung erheben. Daher rührt der scheinbare Widerspruch, da ß eine natürliche Gegebenheit sich unmittelbar als politische Aufgabe darzustellen sucht. »Erbanlage ist wohl Schicksal«, so fährt Verschuer fort, »zeigen wir uns aber als Meister dieses Schicksals, indem wir Erbanlage als uns gestellte Aufgabe ansehen, die wir zu erfüllen haben. « (Ebd., S. Nichts druckt das Paradox der nazistischen Biopolitik und die Notwendigkeit, in der sie sich befindet, das Leben selbst einer unablässigen Mobilisierung zu unterwerfen, besser aus als diese Verwandlung der natürlichen Vererbung als solcher in Politik. Das Fundament des Totalitarismus unseres Jahrhunderts Liegt in dieser dynamischen Identität von Leben und Politik, ohne die er unverstanden bleibt. Wenn der Nazismus uns immer noch als Rätsei erscheint und wenn seine Verwandtschaft mit dem Stalinismus (worauf Hannah Arendt so bestanden hat) noch unerklärt bleibt, dann deshalb, weil wir es unterlassen haben, das Phänomen des Totalitarismus in seiner Gesamtheit im Horizont der Biopolitik zu situieren. Wenn Leben und Politik, die ursprünglich voneinander getrennt und durch das Niemandsland des Ausnahmezustands miteinander verbunden waren, dazu tendieren, identisch zu werden, dann wird alles Leben heilig und alle Politik Ausnahme: I
4.3. Nur in dieser Perspektive begreift man, warum die ersten Gesetze, die das nationalsozialistische Regime erlassen hat, gerade diejenigen sind, welche die Eugenik betreffen. Am 14. Juli wenige Wochen nach Hitlers Aufstieg zur Macht, wird das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« 157
verabschiedet, das festlegt: »Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden.« Am 18. Oktober folgt das »Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes«, das die eugenische Gesetzgebung auf die Ehe erweitert; es verfügt, daß eine »Ehe nicht geschlossen werden [darf], / a) wenn einer der Verlobten an einer mit Ansteckungsgefahr verbundenen Krankheit leidet, die eine erhebliche Schädigung der Gesundheit des anderen Teiles oder der Nachkommen befürchten läßt, / b) wenn einer der Verlobten entmündigt ist oder unter vorläufiger Vormundschaft steht, / c) wenn einer der Verlobten, ohne entmündigt zu sein, an einer geistigen Störung leidet, die die Ehe für die Volksgemeinschaft unerwünscht erscheinen läßt, / d) wenn einer der Verlobten an einer Erbkrankheit im Sinne des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses leidet.« Die Bedeutung dieser Gesetze und die Geschwindigkeit, mit der sie erlassen wurden, versteht man nicht, wenn man sie auf
den Bereich Eugenik einschränkt. Entscheidend ist, daß sie für die Nazis unmittelbar politischen Charakter hatten. Als solche sind sie nicht zu trennen von den Nürnberger Gesetzen, dem »Reichsbürgergesetz« und dem »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre«, mit denen das Regime die Juden in Bürger zweiter Klasse verwandelte; verboten wurde unter anderem die Eheschließung zwischen Juden und vollberechtigten Staatsangehörigen, und im übrigen wurde festgelegt, daß auch Staatsangehörige deutschen Blutes sich der deutschen Ehre als würdig erweisen müssen (womit implizit über jedem die Möglichkeit der Entnationalisierung schwebte). Die Gesetze zur Diskriminierung der Juden haben die Aufmerksamkeit der Forscher der Rassenpolitik des Dritten Reiches fast durchgängig monopolisiert; und doch ist ein volles Verständnis nur möglich, wenn man sie in den allgemeinen Zusammenhang der biopolitischen Gesetzgebung und Praxis des Nationalsozialismus zurückstellt. Diese lassen sich weder auf die Nürnberger Gesetze noch auf die Deportation in die Konzentrationslager und auch nicht auf die Endlösung beschränken: Diese entscheidenden Ereignisse unseres Jahrhunderts haben ihr Fundament in 158
der bedingungslosen Annahme einer biopolitischen Aufgabe, in
der Leben und Politik identisch sind (»Politik, d. h. [. . .] die Gestaltung des Lebens der Völker«); und nur wenn man sie in ihren »humanitären« Zusammenhang stellt, ist es möglich, ihre Unmenschlichkeit zu ermessen. Bis zu welchem Punkt das Nazireich gegenüber sämtlichen Bürgern zu gehen bereit war, als sein biopolitisches Programm
sein thanatopolitisches Gesicht zeigte, beweist ein von Hitler vorgeschlagenes Projekt der letzten Kriegsjahre. Nach einer nationalen radiologischen Untersuchung sollte der Führer eine Liste aller kranken Personen erhalten, insbesondere derjenigen mit Nieren- und Herzfunktionsstörungen. Auf der Grundlage
eines neuen Reichsgesundheitsgesetzes hätten die Familien dieser Personen nicht mehr am öffentlichen Leben teilnehmen
können und ihnen wäre die Fortpflanzung untersagt gewesen. Was mit ihnen geschehen sollte, sollte Sache weiterer Entscheidungen seitens des Führers sein (vgl. Arendt 3, S. 395 f.).
Genau diese unmittelbare Einheit von Politik und Leben erlaubt es, Licht auf den Skandal der Philosophie des Jahrhunderts zu werfen: die Beziehung zwischen Heidegger und dem Nazismus. Nur wenn man sie in der Perspektive der modernen Biopolitik betrachtet (was sowohl die Ankläger wie die Apologeten unterlassen haben), gewinnt diese Beziehung ihre eigentliche Bedeutung. Denn die große Neuerung des Heideggerschen Denkens (was in Davos den aufmerksameren Beobachtern wie 20.
Franz Rosenzweig und Emmanuel Lévinas nicht entging) war seine radikale Verwurzelung im Faktischen. Wie die Veröffentlichung der Vorle-
sungen der frühen zwanziger Jahre nun gezeigt hat, stellt sich die Ontologie bei Heideggervon Anfang an als Hermeneutik des faktischen Lebens dar. Die Zirkelstruktur des für das in seinen Seinsweisen sein Sein selbst auf dem Spiel steht, ist bloß eine Formalisierung der
wesentlichen Erfahrung des faktischen Lebens, in der es unmöglich ist, zwischen Leben und seiner wirklichen Situation, zwischen dem Sein und seinen Seinsweisen zu unterscheiden, und in der sämtliche Unterscheidungen der traditionellen Anthropologie (wie die zwischen Geist und Körper, Empfindung und Bewußtsein, Ich und Welt, Subjekt und Eigenschaft) schwinden. Die zentrale Kategorie der Faktizität ist für Heidegger nicht (wie noch für Edmund Husserl) die Zufälligkeit,* aufgrund deren etwas in einer bestimmten Weise und an einem bestimmten Ort ist, aber I
Im Original deutsch.
2 Im Original deutsch,
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auch anderswo und anders sein könnte, sondern die Verfallenheit,’ die ein Sein charakterisiert, das nichts anderes ist und zu sein hat als seine Seinsweisen selbst. Die Faktizität bedeutet nicht einfach nur, zufällig in einer bestimmten Weise und in einer bestimmten Situation zu sein, sondern die entschiedene Annahme dieser Situation, in der das, was Hingabe war, in Aufgabe verwandelt werden muß. Das Dasein, das Sein, das sein Da ist, kommt so in eine Zone der Ununterscheidbarkeit gegenüber allen traditionellen Bestimmungen des Menschen zu liegen und markiert dessen endgültigen Untergang. In einem Text von 1934 (»Q uelques reflexions sur Ia philosophie de l’Hitléisme«), der vielleicht noch heute den wertvollsten Beitrag zum Verständnis des Nationalsozialismus darstellt, hat Levinas als erster den Akzent auf die Analogien zwischen dieser neuen ontologischen Bestimmung des Menschen und einigen Zügen der dem Hitlerismus impliziten Philosophie gesetzt. Während sich das jüdisch-christliche und das liberale Denken durch die asketische Befreiung des Geistes aus den Fängen der sinnlichen und historisch-sozialen Situation auszeichnen, in die er von Mal zu Mal gerät, und damit im Menschen und in seiner Welt ein vom Körper, der ihm irreduzibel fremd bleibt, getrenntes Reich der Vernunft unterscheiden, setzt nach Levinas die Philosophie des Hitlerismus (darin dem Marxismus ähnlich) auf die bedingungs- und vorbehaltlose Annahme der historischen, physischen und materiellen Situation, die als unlösbare Einheit von Geist und Körper, Natur und Kultur betrachtet wird. »Der Körper ist nicht bloß ein unglücklicher oder glücklicher Zwischenfall, der uns mit der unerbittlichen Welt der Materie in Beziehung setzt seine Adhärenz zum Ich erfolgt aus ihm selbst. Es ist eine Adhärenz, der man nicht entkommt, und keine Metapher wurde es schaffen, da ß man sie mit der Gegenwart eines äußeren Objekts verwechselt; nichts vermag dieser Einheit den tragischen Geschmack der Endgültigkeit zu nehmen. Dieses Gefühl der Identität zwischen dem Ich und dem Körper [. . .] wird denen, die von ihm ausgehen wollen, nie erlauben, auf dem Grund dieser Einheit die Dualität eines freien Geistes wiederzufinden, der sich gegen den Körper auflehnt, an den er gekettet worden wäre. Für sie besteht im Gegenteil das Wesen des Geistes gerade in dieser Ankettung. Ihn von den konkreten Formen zu trennen, an die er ehedem gebunden ist, bedeutet Verrat an der Ursprünglichkeit des Gefühls selbst, von dem richtigerweise auszugehen ist. Die Wichtigkeit, welche diesem Gefühl des Körpers, mit dem sich der abendländische Geist nie hat begnügen wollen, zugeschrieben wird, ist die Basis einer neuen Konzeption des Menschen. Das Biologische samt allem, was es an Fatalität mit sich bringt, wird mehr als ein Obiekt des geistigen Lebens, es wird zu dessen Herz. Die mysteriösen Stimmen des Blutes, die Anrufungen der Vererbung und der VergangenI
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heit, denen der Körper als rätselhaftes Vehikel dient, verlieren ihre Eigenschaft als Probleme, die einem souveränen und freien Ich zur Lösung vorliegen. Das Ich trägt dazu nur die Unbekannten dieser Probleme selbst bei. Es wird von ihnen konstituiert. [. , .] Das Wesen des Menschen liegt nicht mehr in seiner Freiheit, sondern in einer Art von Gebundenheit. [. . .] An seinen Körper gekettet verweigert sich der Mensch der Macht, sich selbst zu entkommen. Die Wahrheit ist für ihn nicht mehr die Anschauung eines fremden Schauspiels - sie besteht in einem Drama, in dem der Mensch selbst der Schauspieler ist. Der Mensch gibt sein Ja und sein Nein unter dem Gewicht seiner ganzen Existenz, die Tatsachen enthält, mit denen kein Umgang mehr gefunden werden kann.« (Levinas 1, S. 205 -207) Im ganzen Text, der doch in einem Augenblick geschrieben wurde, als der Beitritt seines Freiburger Lehrers zum Nazismus noch heiß war, wird der Name Heidegger nicht erwähnt. Hingegen läßt eine 1991, anläßlich der Wiederveröffentlichung in den Cahiers de I’Herne, hinzugefügte Anmerkung keinen Zweifel an der These, die ein aufmerksamer Leser gleichwohl zwischen den Zeilen hätte lesen sollen, daß nämlich der Nazismus als *elementares Übel« seine Bedingung der Möglichkeit in der abendländischen Philosophie selbst, insbesondere in der Heideggerschen Ontologie hat: »eine Möglichkeit, die sich in die Ontologie des ums Sein besorgten Seins einschreibt - des Seins, ›dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst (Levinas 2, S. I 59). Man kann es nicht klarer sagen, daß der Nazismus in derselben Erfahrung der Faktizität wurzelt, von der aus das Denken Heideggers sich bewegt und das er in seiner »Rektoratsrede* in die Formel gedrängt hat: »Das eigene Dasein wollen oder nicht wollen«. Nur durch diese ursprüngliche Nähe wird verständlich, wie Heidegger in der Vorlesung Eindiese enthüllenden Worte hat schrei führung in die Metaphysik von ben können: »Was heute vollends als Philosophie des Nationalsozialismus herumgeboten wird, aber mit der inneren Wahrheit und Größe dieser Bewegung (nämlich mit der Begegnung der planetarisch bestimmten Technik und des neuzeitlichen Menschen) nicht das Geringste zu tun hat, das macht seine Fischzüge in diesen trüben Gewässern der ›Werte< und der ›Ganzheiten<.« (Heidegger 3, S. I 52 ) Der Irrtum des Nationalsozialismus, der seine ›innere Wahrheit< verraten hat, bestünde aus der Sicht Heideggers darin, die Erfahrung der Faktizität in einen biologischen »Wert« verwandelt zu haben (daher die Verachtung, mit der sich Heidegger mehrmals auf den Biologismus Rosenbergs bezieht). Während die eigenste Leistung von Heideggers philosophischem Genius darin bestand, die begrifflichen Kategorien erarbeitet zu haben, welche die Faktizität daran hinderten, sich als Faktum auszugeben, hat der Nazismus das faktische Leben in einer objektiven RassenI
Zitat im Zitat deutsch. 161
besti mmung eingekerkert und somit seine ursprüngliche Inspiration auf-
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schrieb Dr. Sigmund Rascher, der seit lan5. . Am 5. Mai gem Forschungen über die Rettung in großen Höhen anstellte, an Himmler, mit der Bitte, ob man ihm - in Anbetracht der Bedeutung, die seinen Experimenten für das Leben der deutschen Piloten zukomme, und des tödlichen Risikos, welche die Experimente für die VP (Versuchspersonen)’ mit sich brächten, und da die Experimente nicht nutzbringend mit Tieren durchgeführt werden könnten - nicht »zwei oder drei Berufsverbrecher« zur Verf ügung stellen könne, damit die Experimente fortgesetzt I
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werden könnten. Der Luftkrieg war mittlerweile in die Phase der Flüge in großer Höhe getreten, und wenn die unter Druck
stehende Kabine in diesen Verhältnissen beschädigt wurde oder der Pilot mit dem Fallschirm abspringen mußte, war das Todesrisiko erhöht. Das Endergebnis des Briefwechsels zwischen Rascher und Himmler (der vollständig erhalten ist) bestand in der Installation einer Druckkammer in Dachau, damit die Experimente an einem Ort fortgesetzt werden konnten, an dem die VP besonders einfach zu beschaffen waren. Wir besitzen ein (mit 94 Fotografien ausgestattetes) Protokoll des Experiments, das mit einem 37jährigen Juden als VP »in gutem Allgemeinzustand« unter einem Druck, der einer Höhe von 12 ooo Metern entspricht, angestellt worden ist: »Bei 4 Minuten*, so lesen wir, *begann VP zu schwitzen und mit dem Kopf zu wackeln. Bei 5 Minuten traten Krämpfe auf, zwischen 6 und Minuten wurde die Atmung schneller, VP bewußtlos, von Minuten bis 30 Minuten verlangsamte sich die Atmung bis 3 Atemzüge pro Minute, um dann ganz aufzuhören. Zwischendurch trat stärkste Cyanose auf, außerdem Schaum vor dem Mund.« Es folgt der Bericht der Sektion zur Feststellung allfälliger organischer Verletzungen. Im Nürnberger Prozeß wurden die von den deutschen Ärzten und Forschern in den Konzentrationslagern angestellten Experimente von aller Welt als eines der infamsten Kapitel in der Geschichte des nationalsozialistischen Regimes betrachtet. NeIO
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Gegenstück des Souveräns war, in eine Existenz, auf welche die Macht keinerlei Zugriff mehr zu haben scheint.
sacer, der das
Im Original deutsch. und »Da-sein« im Original deutsch. 3 Im Original deutsch. I
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1
Im Original deutsch, mit nachfolgender Übersetzung. 163
ben denjenigen zur Rettung in großen Höhen wurden in Dachau auch Experimente (auch diese sollten die Rettung von ins Meer gefallenen Matrosen und Piloten ermöglichen) im Hinblick auf die Überlebenschance in eisigem Wasser und die Trinkbarkeit von Meerwasser angestellt. Im ersten Fall hielt man die VP bis zur Bewußtlosigkeit in Wannen mit kaltem Wasser getaucht, während die Forscher sorgfältig die Schwankungen der Körpertemperatur und die Möglichkeiten der Wiederbelebung untersuchten (besonders grotesk nimmt sich darunter die sogenannte Wiederbelebung »durch tierische Wärme« aus, bei der die VP auf eine Liege zwischen zwei nackte Frauen gelegt wurden, auch sie jüdische Häftlinge aus den Lagern; es ist belegt, da ß in einem Fall die VP zu sexuellem Verkehr fähig war, was den Erholungsprozeß erleichterte). Die Experimente zur »Trinkbarmachung« des Meerwassers wurden dagegen an Häftlingen mit schwarzem Dreieck (das heißt Zigeuner - es ist richtig, neben dem gelben Stern auch dieses Symbol des Genozids an einem wehrlosen Volk in Erinnerung zu rufen) vorgenommen. Sie wurden in drei Gruppen aufgeteilt; die eine mußte sich einfach des Trinkens enthalten, eine andere trank nur Meerwasser, und die dritte Meerwasser mit »Berkazusatz«,l einer chemische Substanz, von der die Forscher eine Minderung der Schäden durch das Meerwasser erwarteten. Ein anderer wichtiger Versuchssektor war die Einimpfung von Fleckfieberbakterien und Viren der Hepatitis endemica, in der Absicht, Impfstoffe gegen diese beiden Krankheiten zu entwickeln, die an der Front, wo die Lebensbedingungen am härtesten waren, insbesondere die Gesundheit der Reichssoldaten bedrohten. Massenhaft und für die Patienten äußerst schmerzhaft waren die Versuche zur nichtchirurgischen Sterilisation mittels chemischer Substanzen oder Bestrahlung, die der eugenischen Politik des Regimes dienen sollten; eher gelegentlich stellte man Experimente zur Nierentransplantation, zu zellularen Entzündungen etc. an. 5.2. Die Lektüre der Zeugnisse der überlebenden VP, der Zeugenaussagen der Angeklagten und in einigen Fällen der Protokolle ist eine dermaßen entsetzliche Erfahrung, da ß die Versu-
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chung sehr groß ist, diese Experimente einzig als sadistischkriminelle Taten zu betrachten, die nichts mit wissenschaftlicher Forschung zu tun haben. Das ist leider nicht möglich. Zunächst einmal waren einige (gewiß nicht alle) der Ärzte, welche die Experimente angestellt hatten, in der Wissenschaft ziemlich bekannte Forscher: Prof. Carl Clauberg zum Beispiel, der Verantwortliche des Sterilisationsprogramms, war unter anderem der Erfinder des nach ihm benannten »Tests« zur Wirkungsweise von Progesteron, der bis vor wenigen Jahren in der Gynäkologie noch in ständigem Gebrauch war. Die Professoren Oskar Schröder, Hermann Becker-Freyseng und Wilhelm Beiglböck, welche die Experimente zur Trinkbarmachung von Meerwasser leiteten, genossen eine so gute wissenschaftliche Reputation, daß 1948, nach dem Urteil, eine Gruppe von Wissenschaftlern bei einem internationalen Kongreß eine Petition einreichte, damit jene nicht verwechselt wurden mit anderen kriminellen Ärzten, die in Nürnberg verurteilt wurden. Und während des Prozesses bezeugte Franz Volhard, Professor für medizinische Chemie an der Universität Frankfurt und der Sympathie mit dem Nazi-Regime unverdächtig, vor Gericht, daß vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen die Vorbereitung dieser Experimente tadellos gewesen sei; eine sonderbare Aussage, wenn man bedenkt, daß im Verlauf des Experiments die VP einen solchen Prostrationsgrad erreichten, da ß sie zweimal versuchten, Süßwasser aus einem Bodenlappen zu saugen. Entschieden beschämender ist dann der Umstand (das geht unmißverständlich aus der wissenschaftlichen Literatur hervor, die von der Verteidigung beigebracht und von den Sachverständigen des Gerichts beglaubigt worden ist), da ß in unserem Jahrhundert Experimente mit Häftlingen und zum Tod Verurteilten mehrfach und in großem Maßstab durchgeführt worden sind, besonders in den Vereinigten Staaten (in dem Land also, aus dem der Großteil der Richter des Nürnberger Prozesses stammte). So sind in den zwanziger Jahren 800 Häftlinge in den Gefängnissen der Vereinigten Staaten mit dem Plasmodium der Malaria infiziert worden, in der Absicht, ein Mittel gegen das Sumpffieber zu finden. Für exemplarisch galten in der Fachliteratur über Pellagra die Experimente, die Joseph Goldberger mit zwölf zum Tod verurteilten US-amerikanischen Häftlingen angestellt hat, denen man, sollten sie überleben, Straferlaß versprochen hatte. 165
Außerhalb der USA hat Richard Pearson Strong Forschungen über die Beri-Beri-Krankheit und über die Pestbakterien mit zum Tod Verurteilten in Manila durchgeführt (die Protokolle der Experimente erwähnen nicht, ob es sich um Freiwillige handelte oder nicht). Im weiteren zitierte die Verteidigung den Fall des zum Tod verurteilten Keanu (Hawaii), der auf das Versprechen der Begnadigung hin mit Lepra infiziert worden ist und in der Folge des Experiments verstorben ist. Angesichts der Deutlichkeit dieser Dokumente mußten die Richter der Festlegung von Kriterien, aufgrund deren wissenschaftliche Experimente mit menschlichen Versuchsobjekten zugelassen werden konnten, endlose Diskussionen widmen. Das äußerste Kriterium, in dem man allgemein übereinstimmte, war die Notwendigkeit einer freiwilligen Zustimmung seitens des Subjekts, das dem Experiment unterzogen werden sollte. Tatsächlich war es in den USA die allgemeine Praxis (wie aus einem im Staat Illinois verwendeten Formular hervorgeht, das den Richtern vorgelegt wurde), da ß der Verurteile eine Erklärung unterzeichnen mußte, in der es unter anderem hieß: *Ich übernehme hiermit alle Gefahren dieser Experimente, und für meine Erben, meine persönlichen Vertreter und Bevollmächtigten entbinde ich hiermit die Universität von Chicago [. . .] und alle Techniker und Assistenten, die an obengenannten Untersuchungen teilnehmen; ferner die Regierung der Vereinigten Staaten Amerikas des Staates Illinois; [. . .] den Direktor des staatlichen Zuchthauses [. . .] und alle Angestellten [. . .] von aller Verantwortung. Ich verzichte folglich auf alle Ansprüche und Prozesse oder Gewohnheitsrechte [equity] für alle Verletzungen oder Krankheiten, tödliche oder sonstige, die durch diese Experimente verursacht sein mögen.«
Angesichts der offenkundigen Heuchelei solcher Dokumente kann man nur perplex sein. Im Fall eines zum Tod Verurteilten oder eines Häftlings, der eine schwere Strafe verbüßt, von freiem Willen und Zustimmung zu sprechen, ist zumindest problematisch; und sicher ist, daß man, wären derartige von Häftlingen unterzeichnete Erklärungen in den gefunden worden, die Experimente deswegen nicht als ethisch annehmbar hätte betrachten müssen. Diese rechtschaffene Emphase des freien Willens weigert sich zu sehen, da ß der Begriff »freiwillige I
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Zustimmung« für einen in Dachau Internierten, dem man auch
nur die Verbesserung seiner Lebensbedingungen vorgegaukelt hätte, schlicht eines Sinns entbehrte und daß unter diesem Gesichtspunkt die Unmenschlichkeit der Experimente in beiden Fällen substantiell gleich war. Es ist ebensowenig möglich, die Verschiedenheit der Zwecke in Anschlag zu bringen, um die unterschiedlichen und spezifischen Verantwortlichkeiten in den fraglichen Fällen abzuwägen. Als Zeugnis dafür, wie schmerzlich es war, einzugestehen, da ß die Experimente der Lager nicht ohne Vorläufer in der medizinisch-wissenschaftlichen Praxis waren, kann man eine Überlegung von Alexander Mitscherlich zitieren, dem Arzt, der zusammen mit Fred Mielke 1948 den ersten Bericht des Nürnberger Ärzteprozesses publiziert und kommentiert hat. Prof. Gerhard Rose, der wegen der Experimente zur Fleckfieberimpfung angeklagt war (die zum Tod von 97 von 392 VP geführt hatten) verteidigte sich, indem er die analogen Experimente ins Feld führte, die Strong in Manila mit zum Tod Verurteilten angestellt hatte, und verglich die deutschen Soldaten, die an Fleckfieber starben, mit den Pest- und Beri-Beri-Kranken, um deren Behandlung es Strong mit seinen Forschungen zu tun war. Mitscherlich, der sich auch durch die Nüchternheit seiner Kommentare auszeichnet, wendet an diesem Punkt ein: »Wo Strong gegen Elend und Tod von der Art einer Naturkatastrophe zu schützen suchte, operierten Forscher wie der Angeklagte Rose im Dickicht der unmenschlichen Methoden einer Diktatur für die Aufrechterhaltung ihrer Sinn1osigkeit.« (Mitscherlich, S. I 2) Als historisch-politisches Urteil ist diese Sichtweise richtig; es ist hingegen klar, d a ß die ethisch-juridische Zulässigkeit der Experimente in keiner Weise von der Nationalität der Personen, für die der Impfstoff bestimmt war, noch von den Umständen, unter denen sie sich die Krankheit zugezogen hatten, abhängen konnte. Die einzige ethisch korrekte Position wäre gewesen, die von der Verteidigung beigebrachten Präzedenzfälle als rechtlich relevant anzuerkennen und dagegenzuhalten, daß sie die Verantwortlichkeit der Angeklagten um nichts verringerten. Das hätte jedoch bedeutet, einen finsteren Schatten auf die gängigen Praktiken der modernen medizinischen Forschung zu werfen (seitdem sind noch viel aufsehenerregendere Massenexperimente 167
mit ahnungslosen amerikanischen Bürgern nachgewiesen wor-
den, zum Beispiel zur Erforschung der Wirkungen nuklearer Strahlung). Wenn es denn, theoretisch betrachtet, verständlich ist, daß derartige Experimente bei den Forschern und Funktionären im Innern eines totalitären Regimes, das sich erklärtermaße n in einem biopolitischen Horizont bewegte, keine ethischen Probleme aufwarfen, wie war es dann möglich, daß in einem gewissen Maß ähnliche Experimente in einem demokratischen Land angestellt werden konnten? Die einzige mögliche Antwort ist, daß in beiden Fällen die besondere Bedingung der VP entscheidend gewesen ist (zum Tod Verurteilte oder Häftlinge in einem Lager, in das einzutreten den endgültigen Ausschluß aus der politischen Gemeinschaft bedeutete). Genau darum, weil sie aller Rechte und aller Erwartungen, die wir gewöhnlich mit der menschlichen Existenz verbinden, beraubt und dennoch biologisch noch am Leben sind, halten sie sich in einer Grenzzone zwischen Leben und Tod, zwischen Innen und Außen auf, wo sie nichts weiter mehr waren als nacktes Leben. Mithin werden die zum Tod Verurteilten und die Lagerbewohner in gewisser Weise unbewußt den homines sacri angenähert, einem Leben, das getötet werden kann, ohne da ß ein Mord begangen wird. Der Zeitraum zwischen dem Todesurteil und der Vollstreckung und das eingezäunte Gebiet des Lagers’ errichten eine extratemporale und extraterritoriale Schwelle, wo der menschliche Körper von seinem normalen politischen Status losgelöst ist und so in einem Ausnahmezustand den extremsten Wechselfällen überlassen wird abbandonato]; das Experiment kann ihn wie ein Sühneritual dem Leben zurückerstatten (Begnadigung oder Straferlaß sind, daran muß man erinnern, Manifestationen der souveränen Macht über Leben und Tod) oder endgültig dem Tod übereignen, dem er bereits gehört. Hier interessiert uns im speziellen aber, da ß im biopolitischen Horizont, der die Moderne kennzeichnet, der Arzt und der Wissenschaftler sich in einem Niemandsland bewegen, in das einst nur der Souverän vorstoßen konnte.
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Im Original deutsch.
6. Politisierung des Todes
6.1. Im Jahr 1959 haben zwei französische Neurophysiologen, Pierre Mollaret und Maurice Goulon, eine kurze Studie veröffentlicht, in der sie zur bis dahin bekannten Phänomenologie des Kornas eine neue und extreme Figur hinzufügten, das sie als coma definierten (was man auch mit Ultrakoma übersetzen könnte). Neben dem klassischen Koma, das durch den Verlust der relationalen Lebensfunktionen (Bewußtsein, Mobilität, Sensibilität, Reflexe) und durch den Fortbestand des vegetativen Lebens (Atmung, Kreislauf, Thermoregulation) charakterisiert wird, unterschied die medizinische Literatur jener Zeit auch ein coma vigile (Wachkoma), in dem der Verlust der Relationsfunktionen nicht vollständig ist, und ein coma carus mit einer schweren Störung der vegetativen Lebensfunktionen. »Diese drei traditionellen Grade des Kornas«, schreiben Mollaret und Goulon provokativ, »schlagen wir vor, um einen vierten zu ergänzen, denjenigen des coma . in dem zur totalen Aufhebung der relafonalen Lebensfunktionen eine ebenso totale Aufhebung der vegetativen Lebensfunktionen kommt.« (Mollaret und Goulon, S. 4) Die gewollt paradoxe Formulierung (ein Stadium des Leben jenseits des Aussetzens aller Lebensfunktionen) gibt zu verstehen, da ß das Ultrakoma gänzlich die Frucht (die Autoren nennen es was »Lösegeld« oder den überzogenen Preis für eine Sache bedeutet) der neuen Technologien der Reanimation war (künstliche Beatmung, Kontrolle des Kreislaufs durch ständige intravenöse Perfusion mit Noradrenalin, Techniken zur Kontrolle der Körpertemperatur etc.). Denn das Überleben des Ultrakomatösen hörte mit der Unterbrechung der Reanimationsmaßnahmen automatisch auf: Auf das vollständige Ausbleiben von Reaktionen auf äußere Reize, welches das tiefe Koma definierte, folgten nun der unverzügliche kardiovaskuläre Kollaps und das Aufhören jeglicher Atembewegung. Wurde die Reanimationsbehandlung trotzdem fortgesetzt, so konnte das Überleben sich so lange hinziehen, als das nunmehr von jeder Nervenzuleitung unabhängige Myocardium noch fähig war, sich mit einem Rhythmus und einer Energie zusammenzuzie169
die auch für die Vaskularisation der anderen inneren Organe ausreichten (in der Regel nicht länger als ein paar Tage). Aber handelte es sich tatsächlich um ein »überleben«? Was war jene Zone des Lebens, die jenseits des Kornas lag? Wer oder was war der Ultrakomatöse? »Vor diesen Unglücklichen«, so schreiben die Autoren, »welche diese Zustände, die wir unter dem Begriff >coma gefaßt haben, verkörpern, wenn ihr Herz Tag für Tag weiterschlägt, ohne daß sich das leiseste Erwachen bemerkbar macht, bezwingt Hoffnungslosigkeit schließlich das Mitleid, und die Versuchung des befreienden Knopfdrucks wird zum stechenden Schmerz.« (Ebd., S. 14) hen,
Mollaret und Goulon waren sich sofort bewußt, daß die Bedeutung des coma weit über das technisch-wissenschaftliche Problem der Reanimation hinausgeht: Es stand nicht weniger als die Neudefinition des Todes auf dem Spiel. Bis dahin war die Diagnose des Todes dem Arzt anvertraut, der ihn anhand von traditionellen Kriterien feststellte, die seit Jahrhunderten im wesentlichen die gleichen waren: Aufhören des Herzschlags und Stillstand der Atmung. Das Ultrakoma verabschiedete gerade diese beiden uralten Kriterien zur Feststellung des Todes und machte, indem es zwischen dem Koma und dem Tod ein Niemandsland öffnete, die Bestimmung neuer Kriterien und Aufstellung neuer Definitionen notwendig, Wie die beiden Neurophysiologen schreiben, dehnt sich das Problem aus »bis zur Diskussion der letzten Grenzen des Lebens und weiter noch bis zur Vorstellung eines Rechts auf Festlegung des Zeitpunktes des legalen Todes« (ebd. S. 4). Die Frage wurde noch dringender und verwickelter durch die Tatsache, daß-aufgrund einer jener historischen Koinzidenzen, von denen man nicht sagen kann, ob sie zufällig zustande kommen oder nicht - sich die Fortschritte der Reanimationstechniken, die das coma zum Vorschein gebracht hatten, gleichzeitig mit der Entwicklung und Verfeinerung der Transplantationstechnologien vollzogen. Der Zustand der Ultrakomatösen war die ideale Bedingung für die Organentnahme, doch das bedeutete, daß der Zeitpunkt des Todes mit Sicherheit festgelegt werden mußte, damit der Arzt, der die Transplantation vornahm, nicht des Mordes angeklagt werden konnte. 1968 legte der Bericht einer Sonderkommission der Universität von 6.2.
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Harvard Ad Hoc Committee of the Harvard Medical School ) die neuen Kriterien des Todes fest und prägte jenen Begriff des »Hirntodes« (brain death), der sich von da an in der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft zunehmend durchsetzte (wenn auch nicht ohne lebhafte Polemiken) und Eingang fand in die Gesetzgebung vieler amerikanischer und europäischer Staaten. Die dunkle Zone jenseits des Kornas, die Mollaret und Goulon unbestimmt zwischen dem Leben und dem Tod schwanken ließen, liefert nun genau das neue Todeskriterium (»Unser erstes Ziel ist es«, so beginnt der Harvard Re port, »das irreversible Koma als ein neues Kriterium des Todes zu definieren«; S. 3 37). Hatten geeignete medizinische tests erst einmal den Tod des gesamten Gehirns (nicht nur des Neocortex, sondern auch des brain s te m ) nachgewiesen, mußte der Patient als tot betrachtet werden, auch wenn er dank der Reanimationstechniken weiter atmete. 6.3. Es ist selbstverständlich nicht unsere Absicht, auf die Streitpunkte der wissenschaftlichen Debatte über den Hirntod einzugehen, ob er ein notwendiges und hinreichendes Kriterium für die Todesfeststellung bildet oder nicht, oder ob das letzte Wort den traditionellen Kriterien überlassen werden soll. Man kann sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, daß die ganze Diskussion in unlösbare logische Widersprüche verwickelt ist und daß der Begriff »Tod«, weit entfernt davon, exakter zu werden, in größter Unbestimmtheit von einem Pol zum anderen oszilliert und dabei einen geradezu mustergültigen Teufelskreis beschreibt. Denn auf der einen Seite ersetzt der Hirntod als einziges rigoroses Kriterium den für ungenügend gehaltenen systemischen oder somatischen Tod; auf der anderen Seite ist es wiederum dieser letztere, der in mehr oder weniger bewußter Weise aufgerufen ist, das entscheidende Kriterium abzugeben. So überrascht es, daß die Verfechter des Hirntodes gutgläubig schreiben können, da ß der »Hirntod« »unvermeidlich in kurzer Zeit zum Tod führt« (Walton, S. 5 1) oder (wie im Bericht des finnischen Gesundheitsamtes): »Diese Patienten«, an denen Hirntod diagnostiziert worden war und die mithin schon tot waren, »starben innerhalb eines Tages.« (Lamb, S. 56) David Lamb, ein vorbehaltloser Fürsprecher des Hirntodes, der diese Widersprüche dennoch bemerkt hat, schreibt seinerseits, nachdem er 171
eine Reihe von Studien zitiert hat, die zeigen, daß der Herzstillstand wenige Tage auf die Diagnose des Hirntodes folgt: »In den meisten dieser Studien gab es kleinere Variationen bei den klinischen Tests, trotzdem bewiesen sie alle die Unvermeidlichkeit des somatischen Todes als Folge des Hirntodes.« (Ebd., 5.63) Mit einer augenfälligen logischen Inkonsequenz taucht der Herzstillstand - der eben noch als gültiges Kriterium zurückgewiesen worden ist -wieder auf, um die Richtigkeit des Kriteriums zu beweisen, das ihn hätte ersetzen sollen. Dieses Schwanken des Todes in der Dunkelzone jenseits des Kornas spiegelt sich auch in einer analogen Oszillation zwischen Medizin und Recht, zwischen medizinischer und legaler Entscheidung wider. Der Verteidiger von Andrew D. Lyons, der 1974 von einem kalifornischen Gericht angeklagt wurde, einen Mann mit einem Pistolenschuf3 getötet zu haben, wandte ein, daß der Grund des Todes nicht das abgefeuerte Projektil seines Klienten gewesen sei, sondern die Entfernung des Herzens im Zustand des Hirntodes durch den Chirurgen Norman Shumway, der eine Transplantation vornahm. Dr. Shumway wurde nicht angeklagt; doch man kann die Erklärung, mit der er das Gericht von seiner eigenen Unschuld überzeugte, nicht ohne Unbehagen lesen: »Ich sage, daß jemand, dessen Hirn tot ist, tot ist. Das ist das einzige Kriterium, das universell anwendbar wäre, weil das Gehirn das einzige Organ ist, das nicht transplantiert werden kann.* (Lamb, S. 75) Jeder vernünftigen Logik zufolge müßte das implizieren, daß, da der Herztod seit der Entdeckung der Reanimations- und Transplantationstechnologien kein gültiges Kriterium mehr darstellt, hypothetisch gesehen auch der Hirntod von dem Tag an kein solches mehr wäre, an dem die erste Hirnverpflanzung gelänge. Auf diese Weise wird der Tod zu einem Epiphänomen der Transplantationstechnologien. Ein perfektes Beispiel für dieses Schwanken des Todes ist der Fall von Karen Quinlan, einem amerikanischen Mädchen, das in tiefes Koma gefallen war und während Jahren mittels künstlicher Beatmung und Ernährung am Leben gehalten wurde. Auf Antrag der Eltern gewährte am Ende ein Gericht, die künstliche Beatmung abzuschalten, da das Mädchen als tot zu betrachten sei. An diesem Punkt fing Karen, obwohl sie im Koma blieb, wieder natürlich zu atmen an und »überlebte« mit künstlicher Ernährung bis 1985, dem Jahr ihres natürlichen »Todes<<. Es ist 172
offensichtlich, d aß Karen Quinlans Körper in Wirklichkeit in eine Zone der Unbestimmtheit getreten war, in der die Wörter »Leben« und »Tod« ihre Bedeutung verloren hatten und die, wenigstens unter diesem Aspekt, dem Ausnahmezustand, in dem das nackte Leben wohnt, nicht unähnlich ist. 6.4. Das bedeutet, daß heute (wie das die Bemerkung von Peter B. Medawar impliziert, daß »die Diskussionen über die Bedeutung der Wörter und ›Tod< in der Biologie ein Indiz für ein Gespräch auf niederem Niveau« ist) Leben und Tod nicht eigentlich wissenschaftliche Konzepte sind, sondern politische, die als solche nur durch eine Entscheidung eine präzise Bedeutung annehmen. Die »beklemmenden, aber unentwegt verschobenen Grenzen«, von denen Mollaret und Goulon sprechen (Mollaret und Goulon, S. 5), sind bewegliche Grenzen, weil es biopolitische Grenzen sind, und die Tatsache, daß heute ein umfassender Prozeß im Gange ist, in dem gerade die Redefinition dieser Grenzen auf dem Spiel steht, deutet darauf hin, daß die Ausübung der souveränen Macht mehr denn je über diese Grenzen abläuft und erneut die medizinischen und biologischen Wissenschaften durchquert. In einem brillanten Artikel hat Willard Gaylin das Gespenst von Körpern - er nennt sie - heraufbeschworen, die den gesetzlichen Status von Leichen haben, aber, im Hinblick auf mögliche Verpflanzungen, ein paar Merkmale des Lebens bewahren könnten: »Sie wären warme, atmende, pulsierende, ausscheidende Körper« (S. 26). In einem Gegenlager ist der Körper, der im Reanimationsraum liegt, von einem Hirntod-Verfechter als faux definiert worden, in den Eingriffe rückhaltlos erlaubt seien (Dagognet, S. 189). Der Reanimationsraum, in dem der neomort, der Ultrakomatöse und der faux vivant zwischen Leben und Tod schwanken, bildet einen Raum der Ausnahme, in dem das nackte Leben im Reinzustand erscheint, zum ersten Mal vollständig vom Menschen und seiner Technologie kontrolliert. Und weil es sich eben nicht um einen natürlichen Körper handelt, sondern um eine extreme Inkarnation des homo sacer (man hat den Komatösen I
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Neutote.
2 Falsche Lebende.
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auch als »Mittelwesen« zwischen Mensch und Tier bezeichnet), steht einmal mehr die Definition eines Lebens auf dem Spiel, das getötet werden kann, ohne daß ein Mord begangen wird (und das wie der homo sacer in dem Sinn »nicht opferbar« ist, daß es ganz offensichtlich nicht durch Vollstreckung einer Todesstrafe zu Tode gebracht werden könnte). Es erstaunt daher nicht, da ß sich unter den hitzigsten Partisanen des Hirntodes und der modernen Biopolitik solche finden, die nach dem Eingreifen des Staates rufen, damit er über den Tod entscheidet und zuläßt, da ß der faux vivant im Reanimationsraum schrankenlos den Eingriffen preisgegeben werden kann. »Man mu ß deshalb die Definition des Endes nach vorne verschieben und sich nicht mehr, wie man es früher tat, passiv auf die Totenstarre und noch weniger auf die Zeichen der Verwesung stützen, sondern sich allein an den Hirntod halten. [. . .] Daraus ergibt sich die Möglichkeit, Eingriffe am faux vivant vorzunehmen. Nur der Staat darf und sollte das tun.« Denn: »Die Organe gehören der öffentlichen Gewalt (man nationalisiert die Körper) (Les organismes appartiennent la puissance publique [on nationalise les corps])« (ebd., S. 189f.): Weder Verschuer noch Reiter sind je so weit gegangen auf dem Weg der Politisierung des nackten Lebens; aber (ein klares Zeichen, daß die Biopolitik eine neue Schwelle passiert hat) in den modernen Demokratien ist es möglich, öffentlich zu sagen, was die nazistischen Biopolitiker nicht zu sagen wagten.
7. Das Lager als nomos der Moderne
7. . Was in den Lagern geschehen ist, übersteigt den rechtlichen Begriff des Verbrechens dermaßen, daß man es oft einfach unterlassen hat, die spezifische juridisch-politische Struktur zu betrachten, in der diese Ereignisse stattgefunden haben. Das Lager ist schlicht der Ort, an dem sich der höchste Grad der conditio inhumana verwirklicht hat, die es auf Erden je gegeben hat: Das ist es letztlich, was für die Opfer und für die Nachfahren zählt. Wir werden hier entschlossen die umgekehrte Richtung einschlagen. Anstatt die Definition des Lagers aus den dort stattgefunden Ereignissen zu deduzieren, werden wir uns vielmehr Fragen: Was ist ein Lager? Was ist das für eine juridisch-politische Struktur, die solche Ereignisse möglich macht? Das wird dazu führen, das Lager nicht als eine historische Tatsache und als eine Anomalie anzusehen, die (wenngleich unter Umständen immer noch anzutreffen) der Vergangenheit angehört, sondern in gewisser Weise als verborgene Matrix, als nomos des politischen Raumes, in dem wir auch heute noch leben. Die Historiker diskutieren darüber, ob die erste Erscheinung der Lager in den campos de concentraciones zu suchen ist, welche die Spanier 896 in Kuba errichtet haben, um den Aufstand der kolonialen Bevölkerung niederzuschlagen, oder in den concentration c amps, in denen die Engländer zu Beginn des Jahrhunderts die Buren zusammengepfercht haben. Entscheidend ist dabei, daß es sich in beiden Fällen um die Ausweitung eines mit einem Kolonialkrieg verbundenen Ausnahmezustandes auf eine gesamte Zivilbevölkerung handelt. Die Lager gehen also nicht aus dem gewöhnlichen Recht hervor (und noch weniger, wie man hätte vermuten können, aus einer Verwandlung und Entwicklung des Strafvollzugsrechts), sondern aus dem Ausnahmezustand und dem Kriegsrecht. Noch evidenter ist das für die nazistischen Lager, deren Ursprung und Rechtssystem gut dokumentiert ist. Es ist bekannt, daß die rechtliche Grundlage der Internierung nicht das gemeine Recht ist, sondern die »Schutzhaft«,* ein Rechtsinstitut preußischer Herkunft, das die I
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Im Original deutsch.
2 Im Original, auch an späteren Stellen, deutsch.
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Nazijuristen bisweilen als präventive Polizeimaßnahme klassifizierten, insofern es erlaubte, Individuen »in Schutz zu nehmen«, unabhängig von jedem strafrechtlich relevanten Verhalten und einzig mit dem Zweck, eine Gefährdung der Staatssicherheit zu vermeiden. Am Ursprung der Schutzhaft steht indes das preußische Gesetz vom 4. Juni I 8 5 I über den Belagerungszustand, der 1871 auf ganz Deutschland ausgedehnt worden ist (mit Ausnahme von Bayern) und, noch früher, das Gesetz »zum Schutz der persönlichen Freiheit« vom 12. Februar 1850; beide haben während des Ersten Weltkriegs und in den Unruhen, die in Deutschland dem Abschluß des Friedensvertrags folgten, breite Anwendung gefunden. Man tut gut daran, nicht zu vergessen, da ß die ersten Konzentrationslager nicht das Werk des Naziregimes waren, sondern der sozialdemokratischen Regierungen; und sie haben 1923, nach der Ausrufung des Ausnahmezustandes, nicht nur auf der Grundlage der Schutzhaft Tausende militanter Kommunisten interniert, sondern in Cottbus-Sielow auch ein »Konzentrationslager für Ausländer«’ geschaffen, das vor allem geflüchtete Ostjuden aufnahm und somit als erstes Lager für die Juden in unserem Jahrhundert betrachtet werden kann (auch wenn es offensichtlich kein Vernichtungslager war). Das rechtliche Fundament der Schutzhaft war die Ausrufung des Belagerungs- oder des Ausnahmezustandes mit der entsprechenden Aufhebung derjenigen Artikel der deutschen Verfassung, welche die persönlichen Freiheiten garantierten. So lautete der Artikel 48 der Weimarer Verfassung denn auch: »Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zweck darf er vorübergehend die in den Artikeln I 14, I I 5, I 17, I I 8, I 23, I 24 und I 5 3 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.« Von 1919 bis I 924 haben die Weimarer Regierungen mehrere Male den Ausnahmezustand ausgerufen, der sich bis zu fünf Monate hinauszog (zum Beispiel von September 1923 bis Februar 1924). Als die Nazis die Macht ergriffen und am 28. Februar 193 3 die »Verordnung zum Schutz von Volk und I
Im Original deutsch.
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Staat« erließen, die auf unbestimmte Zeit die Artikel aufhob, welche die persönliche Freiheit, die freie Meinungsäußerung, das Versammlungsrecht, die Unverletzlichkeit der Wohnung und das Brief-, Post-, Telegraph- und Fernsprechgeheimnis betrafen, haben sie eigentlich nur eine bereits von den vorangehenden Regierungen gefestigte Praxis weiterverfolgt. Es gab gleichwohl eine wichtige Neuerung. Aus rechtlicher Sicht gründete der Text der Verordnung implizit auf Artikel 48 der noch geltenden Verfassung und kam ohne Zweifel einer Ausrufung des Ausnahmezustandes gleich (»Die Artikel 14, I I 5, I 17, I I 8, 123, I 24 und I 5 3 der Verfassung des Deutschen Reiches«, so lautete der erste Paragraph, »werden bis auf weiteres außer Kraft gesetzt«), er enthielt jedoch in keinem Punkt den Ausdruck »Ausnahmezustand«.’ De facto ist die Verordnung bis zum Ende des Dritten Reiches in Kraft geblieben, das in diesem Sinn treffend eine »zwölf Jahre wahrende [. . .] Bartholomäusnacht« genannt werden kann (Drobisch und Wieland, S. 26). Der Ausnahmezustand ist damit nicht mehr auf eine äußere und vorläufige Situation faktischer Gefahr bezogen und tendiert dazu, mit der Norm selbst verwechselt ZU werden. Die nationalsozialistischen Juristen waren sich der Besonderheit einer solchen Situation so bewußt, d aß sie sie mit einem paradoxen Ausdruck als »einen gewollten Ausnahmezustand« definierten. »Die Verordnung «, schreibt Werner Spohr, »schafft durch die Außerkraftsetzung von Grundrechten einen gewollten Ausnahmezustand zugunsten der Durchführung des nationalsozialistischen Staates.« (Ebd., S. 28) I
7.2. Dieser konstitutive Nexus zwischen Ausnahmezustand und Konzentrationslager kann für ein richtiges Verständnis der Natur des Lagers gar nicht überschätzt werden. Der »Schutz« der Freiheit, der bei der Schutzhaft in Frage steht, ist ironischerweise Schutz gegen jene Aufhebung des Gesetzes, die den Notstand kennzeichnet. Die Neuerung besteht darin, daß nun dieses Institut vom Ausnahmezustand, auf dem es gründete, losgelöst wird und in der normalen Situation Geltung erlangt. Das Lager ist der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt. Im Lager erhält der AusnahmezuI
Im Original deutsch. ‘77
stand, der vom Wesen her eine zeitliche Aufhebung der Rechtsordnung auf der Basis einer faktischen Gefahrensituation war, eine dauerhafte räumliche Einrichtung, die als solche jedoch ständig außerhalb der normalen Ordnung bleibt. Als Himmler im März 1933, gleichzeitig mit den Feierlichkeiten zu Hitler-s Wahl zum Kanzler, beschloß, in Dachau ein »Konzentrationslager für politische Gefangene« zu errichten, ist es sofort der SS anvertraut und mittels der Schutzhaft außerhalb der Regeln des Strafrechts und des Strafvollzugsrechts gesetzt worden, mit denen es weder damals noch in der Folge je etwas zu tun hatte. Trotz der Verbreitung von oft widersprüchlichen Rundschreiben, Anweisungen und Telegrammen, durch die nach der Verordnung vom 28. Februar sowohl die zentralen Autoritäten des Reiches als auch der einzelnen »Länder«’ darauf hinwirkten, die Anwendung der Schutzhaft in der größtmöglichen Unbestimmtheit zu belassen, wurde ihre absolute Unabhängigkeit von jeder gerichtlichen Kontrolle und jedem Bezug zur normalen Rechtsordnung ständig bekräftigt. Gemäß den neuen Auffassungen der nationalsozialistischen Juristen (darunter an Vorderster Front Carl Schmitt), welche die primäre und unmittelbare Quelle des Rechts im Befehl des Führers 2 erkannten, bedurfte die Schutzhaft im übrigen gar keines rechtlichen Fundaments in den vorhandenen Institutionen und geltenden Gesetzen, sondern war eine »unmittelbare Auswirkung der nationalsozialistischen Revolution« (ebd., S. 27). Deshalb, das heißt, weil die Lager ihren Ort in einem solchen eigentümlichen Ausnahmeraum hatten, konnte der Chef der Gestapo, Rudolf Diels, behaupten: »Für die Entstehung der Konzentrationslager gibt es keinen Befehl und keine Weisung; sie wurden nicht gegründet, sie waren eines Tages da.« (Ebd., S. 30) Dachau und die anderen Lager, deren Einrichtung unmittelbar folgte (Sachsenhausen, Buchenwald, Lichtenberg), sind virtuell immer in Betrieb geblieben; was variierte, war der Bestand ihrer Bevölkerung (die sich in gewissen Perioden, vor allem zwischen 1935 und 1937, bevor die Deportation der Juden einsetzte, bis auf 7500 Personen verringerte): Doch das Lager als solches war in Deutschland eine dauerhafte Realität geworden. I
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Im Original deutsch. Im Original, auch an späteren Stellen, deutsch.
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7.3. Man muß den paradoxen Status des Lagers von seiner Eigenschaft als Ausnahmeraum her denken: Es ist ein Stück Land, das außerhalb der normalen Rechtsordnung gesetzt wird, deswegen jedoch nicht einfach Augenraum ist. Was in ihm ausgeschlossen wird, ist nach der etymologischen Bedeutung von exceptio herausgenommen (ex-capere), eingeschlossen mittels seiner eigenen Ausschließung. Was aber auf diese Weise vor allem in die Ordnung hineingenommen wird, ist der Ausnahmezustand selbst. Denn insofern der Ausnahmezustand »gewollt« ist, begründet er ein neues juridisch-politisches Paradigma, in dem die Norm von der Ausnahme ununterscheidbar wird. Das Lager, heißt das, ist die Struktur, in welcher der Ausnahmezustand - die Möglichkeit der Entscheidung, auf die sich die souveräne Macht gründet - normal realisiert wird. Der Souverän beschränkt sich nicht mehr darauf, über die Ausnahme aufgrund der Erkennung einer faktischen Situation (der Gefahr der öffentlichen Sicherheit) zu entscheiden, wie das noch im Sinn der Weimarer Verfassung war: Indem er die innerste Struktur des Banns bloßlegt, die seine Macht kennzeichnet, stellt er nunmehr die faktische Situation als Folge der Entscheidung über die Ausnahme erst her. Deshalb ist im Lager genaugenommen die quae stio iuris überhaupt nicht mehr zu unterscheiden von der quae stio facti, und demnach ist jede Frage nach der Legalität oder Illegalität dessen, was dort geschieht, schlicht sinnlos. Das Lager ist ein Hybrid von Recht und Faktum, in dem die beiden Glieder
ununterscheidbar geworden sind. Hannah Arendt hat einmal bemerkt, daß in den Lagern das Prinzip, das die totalitäre Herrschaft trägt und das der gesunde Menschenverstand anzuerkennen sich hartnäckig weigert, voll ans Licht kommt, nämlich das Prinzip, daß »alles möglich ist«. Nur weil die Lager im hier dargelegten Sinn einen Ausnahmeraum bilden, in dem nicht nur das Gesetz gänzlich aufgehoben ist, sondern überdies Recht und Faktum sich restlos vermischen, ist in ihnen wirklich alles möglich. Wenn man diese besondere juridisch-politische Struktur der Lager nicht versteht, deren Bestimmung es ist, die Ausnahme dauerhaft zu verwirklichen, bleibt das Unglaubliche, das dort geschehen ist, völlig unbegreifbar. Wer das Lager betrat, bewegte sich in einer Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen Außen und Innen, Ausnahme und Regel, Zulässigem und Unzulässigem, in welcher die Be179
griffe selbst von subjektivem Recht und rechtlichem Schutz keinen Sinn mehr hatten; wer zudem Jude war, hatte bereits seit den Nürnberger Gesetzen sein Bürgerrecht verloren und sah sich später, zum Zeitpunkt der »Endlösung«, gänzlich entnationalisiert. Insofern seine Bewohner jedes politischen Status entkleidet und vollständig auf das nackte Leben reduziert worden sind, ist das Lager auch der absoluteste biopolitische Raum, der je in die Realität umgesetzt worden ist, in dem die Macht nur das reine Leben ohne jegliche Vermittlung vor sich hat. Darum ist das Lager das Paradigma des politischen Raumes, und zwar genau in dem Punkt, wo die Politik zur Biopolitik wird und der homo sacer sich virtuell mit dem Bürger vermischt. Vor den in den Lagern begangenen Greueltaten ist die Frage, wie es möglich gewesen ist, solch entsetzliche Verbrechen an menschlichen Wesen zu begehen, heuchlerisch; ehrlicher und vor allem nützlicher wäre es, gewissenhaft zu untersuchen, durch welche juridische Prozeduren und welche politischen Dispositive menschliche Wesen so vollständig ihrer Rechte und Eigenschaften haben beraubt werden können, bis es keine Handlung mehr gab, die an ihnen zu vollziehen noch als Verbrechen erschienen wäre (an diesem Punkt war in der Tat alles möglich). 7.4. Das nackte Leben, in das sie verwandelt worden sind, ist indes kein natürliches extrapolitisches Faktum, welches das Recht nur feststellen oder anerkennen muß; es ist vielmehr im dargelegten Sinn eine Schwelle, auf der das Recht jedesmal ins Faktische und das Faktum ins Rechtliche übergeht und wo die Ebenen dazu tendieren, ununterscheidbar zu werden. Man kann das Spezifische des nationalsozialistischen Rassenbegriffs - samt der eigentümlichen Vagheit und Inkonsistenz, die ihn zugleich kennzeichnen -nicht verstehen, wenn man vergißt, daß der bio politische Körper, der das neue fundamentale politische Subjekt konstituiert, weder eine quaestio f acti (zum Beispiel die Identifizierung eines bestimmten biologischen Körpers) noch eine quaestio iuris ist (die Identifizierung einer bestimmten Anwendungsnorm), sondern die Setzung einer souveränen politischen Entscheidung, die in der absoluten Ununterschiedenheit wirkt. Niemand hat diese besondere Natur der neuen fundamentalen Kategorien der Biopolitik mit größerer Klarheit ausgedruckt als Schmitt, wenn er 1933 in seinem Essay Staat, Bewegung, 180
Volk den Begriff der Rasse, ohne den »der nationalsozialistische Staat nicht bestehen« könnte »und sein Rechtsleben nicht denkbar« wäre, mit den »Generalklauseln und unbestimmten Begrif fen« vergleicht, welche die deutsche und europäische Gesetzgebung des 20. Jahrhunderts immer tiefer durchdrungen hätten. Begriffe wie »Gute Sitten«, »wichtiger Grund«, »unbillige Härte«, »öffentliche Sicherheit und Ordnung«, »Gefährdung« »Notlage«, die nicht an eine Norm, sondern an eine Situation gebunden sind und invasionsartig in die Norm eindringen, hätten, so Schmitt, die Illusion eines Gesetzes, das a priori alle Fälle und Situationen regle und vom Richter nur noch angewandt zu werden brauche, überflüssig gemacht. Unter der Wirkung dieser Klauseln, welche die Sicherheit und Berechenbarkeit aus der Norm hinaustreiben, werden alle rechtlichen Begriffe unbestimmt. »So betrachtet«, schreibt Schmitt, »gibt es heute überhaupt nur noch Rechtsbegriffe. [. . .] So steht die gesamte Gesetzesanwendung zwischen Scylla und Charybdis. Der Weg vorwärts scheint ins Uferlose zu führen und sich immer weiter vom festen Boden der Rechtssicherheit und der Gesetzesgebundenheit, der doch gleichzeitig auch der Boden der richterlichen Unabhängigkeit ist, zu entfernen; der Weg zurück in einen als sinnlos erkannten, geschichtlich längst überwundenen, formalistischen Gesetzesaberglauben kommt ebensowenig in Betracht.« (Schmitt 7, S. 42 -44) Ein Begriff wie jener der nationalsozialistischen Rasse (oder, mit der Schmittschen Wendung, der »Artgleichheit«) funktioniert wie eine Generalklausel (analog zu »Gefährdung« oder »Gute Sitten«), der jedoch nicht auf eine äußere faktische Situation verweist, sondern einen unvermittelten Zusammenfall von Faktum und Recht herbeifuhrt. Der Richter, der Funktionär oder wer immer mit diesem Begriff zu tun hat, orientiert sich nicht mehr an einer Norm oder einer faktischen Situation; durch seine ausschließliche Bindung an die Rassengemeinschaft mit dem deutschen Volk und dem Führer bewegt er sich in einer Zone, in der die Unterscheidung zwischen Leben und Politik, zwischen Tatsächlichem und Rechtlichem buchstäblich keinen Sinn mehr ergibt.
Nur in dieser Perspektive zeigt die nationalsozialistische Theorie, die das Wort des Führers als unmittelbare und in sich 7.5.
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vollkommene Quelle des Gesetzes nimmt, seine volle Bedeutung. Genauso wie das Wort des Führers keine faktische Situation ist, die sich daraufhin in eine Norm verwandelt, so ist der Körper (in der zweifachen Ausführung des jüdischen Körpers und des deutschen Körpers, des lebensunwerten und des vollwertigen Lebens) keine neutrale biologische Voraussetzung, auf welche die Norm verweist, sondern gleichzeitig Norm und Kriterium ihrer Anwendung: Norm, die über das Faktum entschei-
det, das über ihre Anwendung entscheidet. Die radikale Neuheit, die diese Konzeption impliziert, ist von den Rechthistorikern nicht genügend beachtet worden. Nicht nur ist das dem Führer entströmende Gesetz weder als Regel noch als Ausnahme, weder als Recht noch als Faktum definierbar; mehr noch: in ihm (wie das Benjamin begriffen hat, wenn er die Schmittsche Theorie der Souveränität auf den barocken Monarchen projiziert, bei dem die »Geste der Vollstreckung« konstitutiv wird und der in der Unmöglichkeit, eine Entscheidung zu treffen, eine Entscheidung treffen muß; Benjamin 4, S. 249) sind Normgebung und Vollstreckung, Herstellung des Rechts und seine Anwendung in keiner Weise mehr unterscheidbar. Der Führer ist, nach der pythagoreischen Definition des Souveräns, tatsächlich ein ein lebendes Gesetz (Svenbro, S. (Aus diesem Grund verliert hier die Gewaltentrennung, die den demokratischen und liberalen Staat kennzeichnet, ihren Sinn, obwohl sie formal in Kraft bleibt; und daher rührt auch die Schwierigkeit, jene Funktionäre, die wie Adolf Eichmann nichts anderes getan haben, als das Wort des Führers wie ein Gesetz auszuführen, nach normalen rechtlichen Kriterien abzuurteilen.) Dies ist die letzte Bedeutung der Schmittschen These, wonach das Prinzip der »Führung « »ein Begriff unmittelbarer Gegenwart und realer Präsenz« ist (Schmitt 7, S. 42); deswegen kann er ohne Widerspruch behaupten: »Es ist eine grundlegende Erkenntnis der politisch gegenwärtigen deutschen Generation, daß gerade die Entscheidung darüber ob eine Angelegenheit oder ein Sachgebiet unpolitisch ist, in spezischer Weise eine politische Entscheidung darstellt.« (Ebd., S. 17) Die Politik ist nun buchstäblich die Entscheidung über das Unpolitische (das heißt das nackte Leben). Das Lager ist der Ort dieser absoluten Unmöglichkeit, zwi182
schen Faktum und Recht, zwischen Norm und Anwendung, zwischen Ausnahme und Regel zu entscheiden, und es ist der Ort, wo dennoch unablässig darüber entschieden wird. Was der Aufseher oder der Funktionär vor sich hat, ist kein außerrechtliches Faktum (ein Individuum, das biologisch der jüdischen Rasse zugehört), auf die es das discrimen der nationalsozialistischen Norm anzuwenden gilt; im Gegenteil, jede Geste, jeder Vorfall im Lager, vom gewöhnlichsten bis zum außerordentlichsten, setzt die Entscheidung über das nackte Leben ins Werk, die den deutschen biopolitischen Körper verwirklicht. Die Absonderung des jüdischen Körpers ist unmittelbar Produktion des eigentlichen deutschen Körpers, so wie die Anwendung der Norm seine Produktion ist. Wenn dies stimmt, wenn das Wesen des Lagers in der Materialisierung des Ausnahmezustandes besteht und in der daraus erfolgenden Schaffung eines Raumes, in dem das nackte Leben und die Norm in einen Schwellenraum der Ununterschiedenheit treten, dann müssen wir annehmen, da ß jedesmal, wenn eine solche Struktur geschaffen wird, wir uns virtuell in der Gegenwart eines Lagers befinden, unabhängig von der Art der Verbrechen, die da verübt werden, und wie immer es auch genannt und topographisch gestaltet sei. Ein Lager ist dann sowohl das Stadion von Bari, in dem die italienische Polizei vorübergehend die illegalen Einwanderer aus Albanien zusammentrieb, bevor sie sie zurückgeschafft hat, als auch das Velodrome d’Hiver, in dem die Vichy-Behörden die Juden vor der Übergabe an die Deutschen gesammelt haben, sowohl das »Konzentrationslager für Ausländer in Cottbus-Sielow, in das die Weimarer Regierung die ostjüdischen Flüchtlinge gesteckt hat, als auch die zones in den internationalen Flughäfen Frankreichs, wo die Ausländer, welche die Anerkennung des Flüchtlingsstatus verlangen, zurückgehalten werden. In all diesen Fällen grenzt ein scheinbar harmloser Ort (zum Beispiel das Hotel Arcades in Roissy) in Wirklichkeit einen Raum ab, in dem die normale Ordnung de facto aufgehoben ist, in dem es nicht vom Recht abhängt, ob mehr oder weniger Grausamkeiten begangen 7.6.
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Im Original deutsch. Wartezonen. 183
werden, sondern von der Zivilität und dem ethischen Sinn der Polizei, die da vorübergehend als Souverän agiert (beispielsweise in den vier Tagen, während deren die Ausländer bis zur gerichtlichen Einschaltung in der zone d’attente aufgehalten werden können). 7.7. Die Geburt des Lagers in unserer Zeit erscheint aus dieser
Sicht wie ein Ereignis, das den politischen Raum der Moderne als solchen in entscheidender Weise prägt. Es taucht zu einem Zeitpunkt auf, da das politische System des modernen Nationalstaates, das auf dem funktionalen Nexus zwischen einer bestimmten Lokalisierung (dem Territorium) und einer bestimmten Rechtsordnung (dem Staat) gründete und von automatischen Regeln der Einschreibung des Lebens (der Nativität oder Nationalität) gesteuert wurde, in eine fortdauernde Krise gerät und der Staat beschließt, die Sorge um das biologische Leben zu einer seiner direkten Aufgaben zu machen. Wenn der Nationalstaat mithin durch die drei Elemente Land, Ordnung, Geburt definiert wird, dann vollzieht sich der Bruch des alten nomos nicht in den beiden Achsen, die ihn Schmitt zufolge konstituieren (die »Ortung und die »Ordnung«2), sondern an der Stelle, welche die Einschreibung des nackten Lebens in deren Inneres bezeichnet (dem Nativen, das dadurch zum Nationalen wird). Etwas funktioniert nicht mehr an den traditionellen Mechanismen, die diese Einschreibung regelten, und das Lager ist der neue verborgene Regulator der Einschreibung des Lebens in die Ordnung - oder vielmehr das Zeichen der Unmöglichkeit, daß das System funktioniert, ohne sich in eine tödliche Maschine zu verwandeln. Es ist bezeichnend, da ß die Lager zusammen mit den neuen Gesetzen über die Bürgerschaft und die Entnationalisierung auftreten (nicht nur die Nürnberger Gesetze über die Reichsbürgerschaft, sondern auch die Gesetze zur Entnationalisierung der Bürger, die zwischen 1915 und 1933 von fast allen europäischen Staaten erlassen wurden). Der Ausnahmezustand, der im wesentlichen eine zeitliche Aufhebung der Rechtsordnung war, wird nun eine stabile räumliche Einrichtung, in der jenes nackte Leben wohnt, das in Wachsendern Maß I
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Im Original deutsch hinter »localizzazione« beigefügt. Im Original deutsch hinter »ordinamento« beigefügt.
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nicht mehr in die Ordnung eingeschrieben werden kann. Die zunehmende Entkoppelung von Geburt (nacktem Leben) und Nationalstaat ist das neue Faktum der Politik unserer Zeit, und das, was wir Lager nennen, ist dieser Abstand. Einer Ordnung ohne Ortung (der Ausnahmezustand, in dem das Gesetz aufgehoben ist) entspricht nun eine Ortung ohne Ordnung (das Lager als dauerhafter Ausnahmeraum). Das politische System ordnet nicht mehr Lebensformen und Rechtsnormen in einem bestimmten Raum, sondern birgt in seinem Innern eine das System überschreitende entartende Verortung [localizzazione dislocante], von der jede Lebensform und jede Rechtsnorm virtuell erfaßt werden kann. Das Lager als entortende Verortung ist die verborgene Matrix der Politik, in der wir auch heute noch leben und die wir durch alle Metamorphosen hindurch zu erkennen lernen müssen, in den zones d’attente unserer Flughäfen wie in manchen Peripherien unserer Städte. Es ist das vierte unablösbare Element, das zur alten Trinität von Staat, Nation (Geburt) und Territorium hinzugekommen ist und sie aufgesprengt hat. In dieser Perspektive müssen wir das Wiederauftauchen der Lager in einer in gewissem Sinn noch extremeren Form in den Territorien von Ex-Jugoslawien sehen. Was dort geschieht, ist mitnichten, wie interessierte Beobachter zu erklären sich beeilt haben, eine Redefinition des alten politischen Systems nach neuen ethnischen und territorialen Arrangements, das heißt eine einfache Wiederholung der Prozesse, die zur Bildung der europäischen Nationalstaaten geführt haben. Vielmehr handelt es sich um einen unheilbaren Bruch mit dem alten nomos und . eine Verschiebung [dislocazione] der Bevölkerungen und der menschlichen Leben entlang völlig neuer Fluchtlinien. Daher die entscheidende Bedeutung der Lager der ethnischen Vergewaltigung. Wenn die Nazis nie daran gedacht haben, die »Endlösung« durch Schwängerung der jüdischen Frauen in die Tat umzusetzen, dann deshalb, weil das Prinzip der Geburt, das die Einschreibung des Lebens in die nationalstaatliche Ordnung sicherte, noch irgendwie funktionierte. Nun tritt dieses Prinzip in einen Prozeß der Verschiebung und der Abdrift, in dem der Mechanismus in aller Deutlichkeit scheitert und in dessen Fortgang wir nicht nur mit neuen Lagern rechnen müssen, sondern auch mit immer neuen und zunehmend deliranteren normativen Definitionen der Einschreibung des Lebens in 185
den Staat Das Lager, das sich mittlerweile fest in seinem Inneren eingelassen hat, ist der neue biopolitische nomos de s Planeten. Jede Interpretation der politischen Bedeutung des Wortes »Volk« muß von der bemerkenswerten Tatsache ausgehen, daß es in den modernen europäischen Sprachen immer auch die Armen, Enterbten und Ausgeschlossenen bezeichnet. Dasselbe Wort benennt mithin sowohl das konstitutive politische Subjekt als auch die Klasse, die, wenn nicht rechtlich, so doch faktisch, von der Politik ausgeschlossen ist. Das italienische popolo, das französische peuple, das spanische pueblo (sowie die entsprechenden Adjektive »popolare«, »populaire«, »popular« und die spätlateinischen populus und popularis, von denen alle abstammen) bezeichnen in der Gemeinsprache wie im politischen Wortschatz zugleich die Gesamtheit der Bürger als politischer Einheitskörper (wie bei »popolo italiano« und »giudice popolare«1) und die Angehörigen der unteren Klassen (wie bei homme dupeuple, »rione front Auch das englischepeople, dessen Sinn weniger differenziert ist, bewahrt noch die Bedeutung von ordinary people im Gegensatz zu den Reichen und Vornehmen. So heißt es in der amerikanischen Verfassung ohne weitere Unterscheidung: »We people of the United States . . doch wenn Abraham Lincoln in seiner Gettisburgh-Rede ein »Government of the people by the people for the peopleu anruft, so setzt die Wiederholung implizit ein Volk vom anderen Volk ab. Wie wesentlich diese Doppeldeutigkeit auch während der Französischen Revolution war (das heißt genau in dem Moment, da das Prinzip der Volkssouveränität eingefordert wird), bezeugt die entscheidende Rolle, die das Mitleid für das als ausgeschlossene Klasse verstandene Volk dabei spielte. Hannah Arendt erinnert daran, »daß die Definition des Wortes selbst aus dem Mitleiden geboren war und zum Äquivalent für Mißgeschick und Unglück wurde - le peuple, les malheureux m’applaudissent, wie Robespierre zu sagen pflegte, oder: le peuple toujours malheureux, wie selbst Sieyes, einer der weniger sentimentalen und nüchternsten Figuren der Revolution, es ausdrückte« (Arendt 1, S. 70). In einem entgegengesetzten Sinn ist schon bei Bodin, im Kapitel über die als Demokratie oder definierten République, der Begriff ein doppelter: Dem peuple en als Träger der Souveränität steht das menu peuple5 gegenüber, das die Weisheit von der politischen Macht auszuschließen empfiehlt. I
Schöffe, Geschworener; wörtlich »Volksrichter«.
2 Stadtviertel des niederen Volkes.
3 Volksfront. 4 Volk als Ganzes; wörtlich »inkorporiertes Volk«. 5 Die kleinen Leute. 186
Eine dermaßen verbreitete und beständige semantische Ambiguität kann nicht zufällig sein: Sie muß eine der Natur und der Funktion des Begriffs *Volk«, wie er in der abendländischen Politik vorkommt, inhärente Amphibolie widerspiegeln. Wie wenn das, was wir Volk nennen, in Wirklichkeit kein einheitliches Subjekt wäre, sondern eine dialektische Oszillation zwischen zwei entgegengesetzten Polen: auf der einen Seite die Menge »Volk« als integraler politischer Körper, auf der anderen Seite die Untermenge »volk« als fragmentarische Vielfältigkeit von bedürftigen und ausgeschlossenen Körpern; hier eine Einschließung, die keinen Rest duldet, dort eine Ausschließung, die keine Hoffnung kennt; am einen Ende der Gesamtstaat [stato totale] der souveränen und integrierten Bürger, am anderen Ende die Bannmeile2 - Cour des oder Lager der Miserablen, der Unterdruckten und Besiegten. Ein einziger und kompakter Referent des Wortes »Volk« existiert in diesem Sinn nirgendwo: Wie viele fundamentale politische Begriffe (darin sind sie den »Urworten«4 von Abel und Freud oder den hierarchischen Beziehungen von Louis Dumont ähnlich) ist »Volk« ein polarer Begriff, der auf eine doppelte Bewegung und eine komplexe Beziehung zwischen den beiden Extremen hindeutet. Das heißt aber auch, daß die Konstituierung der menschlichen Gattung in einem politischen Körper sich mittels einer fundamentalen Spaltung vollzieht und daß wir im Begriff »Volk« ohne Schwierigkeiten die kategorialen Paare ausmachen können, die für uns die originäre politische Struktur definiert haben: nacktes Leben (volk) und politische Existenz (Volk), Ausschließung und Einschließung, und Das *Volk« trägt also den fundamentalen biopolitischen Bruch immer schon in sich. Es ist das, was nicht ins Ganze, dessen Teil es ist, eingeschlossen werden kann und nicht zur Menge gehören kann, in die sie immer schon eingeschlossen ist. Daher rühren die Widerspruche und Aporien, zu denen es jedesmal Anlaß gibt, wenn es auf der politischen Bühne heraufbeschworen wird. Es ist das, was immer schon ist und sich dennoch verwirklichen muß; es ist die reine Quelle jeder Identität, die sich jedoch fortlaufend mittels der Ausschließung, der Sprache, des Blutes, des Bodens redefinieren und reinigen muß. Oder dann, am Gegenpol, ist das Volk das, was wesentlich an sich selbst mangelt und dessen Verwirklichung deshalb mit der eigenen Abschaffung zusammenfällt; es ist das, was, um zu sein, sich mit seinem Gegenstück negieren muß (daher auch die spezifischen Aporien der Arbeiterbewegung, die sich dem Volk zuwendet und zugleich seine Abschaffung anstrebt). Von Mal zu Mal blutiges Banner der Reaktion oder unsichere Insignie der Revolutionen Zuvor mit Majuskel dann mit Minuskel dasselbe gilt im folgenden für die Unterscheidung von *Volk« und *volk«. 2 Bandita; frz. banlieu. 3 Stadtviertel der Bettler und Diebe, vor allem in Paris. 4 Im Original deutsch beigefügt. I
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oder Volksfronten, birgt das Volk auf jeden Fall eine ursprünglichere Spaltung als jene zwischen Freund und Feind, einen unaufhörlichen Bürgerkrieg, der es radikaler teilt als jeder Konflikt, zugleich aber zusammenhält und fester begründet als jede Identität. Wenn man genau hinsieht, dann ist sogar das, was Marx Klassenkampf nennt und, obwohl es substantiell unbestimmt bleibt, einen derart zentralen Platz in seinem Denken einnimmt, nichts anderes als dieser Krieg im Innern des Körpers, der jedes Volk teilt und erst enden wird, wenn in der klassenlosen Gesellschaft oder im messianischen Königreich »Volk« und »volk« zusammenfallen und es im eigentlichen Sinn kein Volk mehr gibt. Wenn es richtig ist, daß das Volk in seinem Innern notwendig den fundamentalen biopolitischen Bruch birgt, dann kann man auch einige entscheidenden Seiten der Geschichte unseres Jahrhunderts neu lesen. Denn auch wenn der Kampf zwischen zwei »Völkern« gewiß schon immer im Gange war, so hat er in unserer Zeit doch eine letzte, einem Paroxysmus gleichende Beschleunigung erfahren. In Rom war die innere Spaltung des Volkes durch die klare Trennung in populus Undplebs, die je eigene Institutionen und Magistraten hatten, rechtlich sanktioniert, so wie im Mittelalter die Unterscheidung zwischen popolo minuto und popolo einer genauen Gliederung verschiedener Handwerke und Berufe entsprach. Aber als von der Französischen Revolution an das »Volk« zum alleinigen Bewahrer der Souveränität wird, verwandelt sich das »volk« in eine beschämende und elende Präsenz, und Ausschließung erscheint zum ersten Mal als ein in jedem Sinn untragbarer Skandal. In der Moderne sind Elend und Ausschließung nicht nur ökonomische und soziale Begriffe, sondern eminent politische Kategorien (der ganze Ökonomismus und der »Sozialismus«, welche die moderne Politik zu beherrschen scheinen, haben in Wirklichkeit eine politische, ja biopolitische Bedeutung). Aus dieser Perspektive betrachtet ist unsere Zeit nichts anderes als der-unerbittliche und methodische -Versuch, die Spaltung, die das Volk teilt, durch die radikale Eliminierung des »voIks« der Ausgeschlossenen zu schließen. Dieser Versuch verbindet, nach verschiedenen Modalitäten und Horizonten, die Rechte und die Linke, kapitalistische und sozialistische Länder; sie finden sich vereint im - letzten Endes vergeblichen, aber in allen industrialisierten Ländern teilweise realisierten - Projekt, ein einiges und ungeteiltes Volk herzustellen. Die Obsession der Entwicklung ist in unserem Zeitalter deshalb so wirksam, weil sie mit dem biopolitischen Projekt der Herstellung eines bruchlosen Volkes zusammenfällt. Die Vernichtung der Juden in Nazi-Deutschland nimmt in diesem Licht eine radikal neue Bedeutung an: Als Volk, das sich weigert, sich in den nationalen politischen Körper zu integrieren (denn man nimmt an, daß jede Assimilation in Wahrheit nur simuliert ist), sind die Juden die 1
»Minuto« bedeutet »klein«, hier »mager« im Gegensatz zu »grasso«: » f ett«.
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Repräsentanten schlechthin und beinah das lebendige Symbol des »volkes«, jenes nackten Lebens, das die Moderne zwangsläufig in einem Innern erzeugt, aber dessen Präsenz sie auf keine Weise mehr ertragen kann. Und in der blanken Raserei, mit der das deutsche Volk’ als Repräsentant schlechthin des integralen politischen Körpers die Juden für immer zu vernichten versuchte, müssen wir die extremste Phase jenes inneren Kampfes sehen, der »Volk« und »volk« teilt. Mit der Endlösung (die nicht zufällig auch die Zigeuner und andere Nichtintegrierbare mit einbezieht) versucht der Nazismus auf finstere und nutzlose Weise, die politische Bühne des Abendlandes von diesem unerträglichen Schatten zu befreien, um endlich das deutsche herzustellen, als das Volk, das den ursprünglichen biopolitischen Bruch ausgefüllt hat (deswegen wiederholen die Nazioberen so hartnäckig, daß sie mit der Ausrottung der Juden und der Zigeuner in Wahrheit auch für die anderen europäischen Völker arbeiten). Mit einer Paraphrase von Freuds Postulat zur Beziehung zwischen Es und könnte man sagen, da ß die moderne Biopolitik vom Prinzip geleitet wird: »Wo nacktes Leben ist, soll ein Volk4 werden«; vorausgesetzt man fügt sogleich hinzu, daß dieses Prinzip auch in der umgekehrten Formulierung gilt: »Wo ein Volks ist, wird nacktes Leben sein«. Der Bruch, den man durch die Vernichtung des »volkes« (dessen Symbol die Juden sind) ausgefüllt zu haben glaubt, reproduziert sich so aufs neue und verwandelt das gesamte deutsche Volk in heiliges, dem Tod geweihtes Leben und in einen biologischen Körper, der endlos gereinigt werden muß (durch die Vernichtung der Geisteskranken und der Träger von Erbkrankheiten). In einer davon verschiedenen, aber analogen Weise reproduziert das demokratisch-kapitalistische Projekt, mittels Entwicklung die armen Klassen zu eliminieren, nicht nur in seinem eigenen Innern das »volk« der Ausgeschlossenen, sondern verwandelt alle Bevölkerungen der Dritten Welt in nacktes Leben. Nur eine Politik, die der fundamentalen biopolitischen Spaltung des Abendlandes Rechnung trägt, wird diese Oszillation anhalten können und dem Bürgerkrieg, der die Völker und die Staaten teilt, ein Ende setzen.
Im Original deutsch. Im Original deutsch. 3 Im Original deutsch. 4 Mit Majuskel. 5 Mit Majuskel. 1
2
Schwelle
Als vorläufige Schlußfolgerungen sind in dieser Untersuchung drei Thesen aufgetaucht: . Die originäre politische Beziehung ist der Bann (der Ausnahmezustand als Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen Außen in Innen, Ausschließung und Einschließung). I
Die fundamentale Leistung der souveränen Macht ist die Produktion des nackten Lebens als ursprüngliches politisches Element und als Schwelle der Verbindung zwischen Natur und Kultur, und
was ihn als politisches Tier konstituiert, sein exaktes Gegenstück. Im einen Fall handelt es sich darum, von den vielfältigen Bedeutungen des Wortes »Sein« (das nach Aristoteles »auf viele Arten gesagt wird«) das reine Sein abzusondern; im anderen Fall geht es um die Absonderung des nackten Lebens von der Vielfalt der konkreten Lebensformen. Das reine Sein, das nackte Leben-was steckt in diesen beiden Begriffen, das so-
wohl die Metaphysik wie die Politik des Abendlandes in ihnen und nur in ihnen ihr Fundament und ihren Sinn finden läßt?
2.
Worin besteht die Verknüpfung dieser beiden konstitutiven Prozesse, in denen Metaphysik und Politik, wenn sie ihr eigentliches Element absondern, zugleich an eine undenkbare Grenze
3. Das Lager und nicht der Staat ist das biopolitische Paradigma des Abendlandes.
und undurchdringlich wie das
Die erste dieser Thesen stellt jede Theorie vom vertraglichen Ursprung der staatlichen Macht in Frage, zugleich auch jede Möglichkeit, der politischen Gemeinschaft so etwas wie eine »Zugehörigkeit« zugrunde zu legen (gleichviel ob diese völkisch, national, religiös oder sonstwie begründet sei). Die zweite impliziert, daß die abendländische Politik von Anfang an eine Biopolitik ist, so daß sich jeder Versuch, die politischen Freiheiten auf den Bürgerrechten zu gründen, als nichtig erweist, Schließlich wirft die dritte These einen dunklen Schatten auf die Modelle, mit denen die Humanwissenschaften, die Soziologie, die Urbanistik und die Architektur heute den öffentlichen Raum der Staaten dieser Welt zu denken und zu organisieren versuchen, ohne sich darüber im klaren zu sein, daß in deren Zentrum (wenn auch in verwandelter, scheinbar menschlicherer Form) immer noch das nackte Leben steht, das die Biopolitik der großen totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts bestimmt hat. »Nackt«: im Syntagma »nacktes Leben« entspricht hier dem griechischen Wort mit dem die Prima Philosophia das reine Sein definiert, Die Absonderung der Sphäre des reinen Seins, welche die fundamentale Leistung der abendländischen Metaphysik bildet, bleibt tatsächlich nicht ohne Analogien zu der Absonderung des nackten Lebens im Bereich der abendländischen Politik. Was auf der einen Seite den Menschen als denkendes Tier konstituiert, findet auf der anderen Seite in dem, 190
stoßen? Denn das nackte Leben ist gewiß ebenso unbestimmt Sein, und wie von diesem
könnte man auch wie Schelling von jenem sagen, daß der Verstand es allein im Staunen zu denken vermag. Trotzdem scheinen gerade diese leeren und unbestimmten Begriffe den Schlüssel zum historisch-politischen Schicksal des Abendlandes standhaft zu hüten. Und vielleicht werden wir erst dann, wenn wir die politische Bedeutung des reinen Seins entziffern können, mit dem nackten Leben, das für unsere Unterwerfung unter die politische Macht steht, zu Rande kommen, so wie wir umgekehrt erst dann, wenn wir die theoretischen Implikationen des nackten Lebens verstehen, das Rätsel der Ontologie werden lösen können. An der Grenze des reinen Seins angekommen, geht die Metaphysik (das Denken) in Politik (in Wirklichkeit) über, so wie die Politik auf der Schwelle des nackten Lebens sich selbst zur Theorie hin überschreitet. Georges Dumézil und Karl Kerényi haben das Leben des flamen Dialis, eines der höchsten Priester im alten Rom, beschrieben.
Die Besonderheit seines Lebens liegt darin, daß es in keinem Augenblick zu unterscheiden ist von den kultischen Funktionen, die er erfüllt. Darum sagten die Römer, der flamen Dialis sei quotidie feriatus und assiduus das heißt jeden Moment in einer ununterbrochenen Festlichkeit handelnd. Folglich gibt es keine Geste und kein Detail seines Lebens, seiner Art, sich zu kleiden oder zu gehen, die nicht eine genaue Bedeutung haben 1
*Jeden Tag festlich «; *beharrlicher, beflissener, beständiger Priester*. 191
und in ein Netz von Vorschriften und minutiös verzeichneten Wirkungen geknüpft sind. Zum Beweis der assiduitas seiner Priesterfunktion darf sich der flamen nicht einmal im Schlaf seiner Insignien entledigen; die abgeschnittenen Haare und Fingernägel müssen umgehend unter einem arbor fe l ix (das heißt einem Baum, der nicht den unterirdischen Göttern gehört) vergraben werden; sein Kleid darf keinen Knoten und keine geschlossenen Ringe haben, und er darf keinen Schwur leisten; trifft er auf seinem Weg auf einen Gefangenen in Ketten, so müssen diese gelöst werden; er darf nicht in eine Weinlaube mit überhängenden Ranken treten; er mu ß sich des rohen Fleisches und jeglicher Art von gesäuertem Brotteig enthalten und peinlichst Bohnen, Hunde, Ziegen und Efeu meiden.. . Es ist nicht möglich, im Leben des flamen Dialis so etwas wie ein nacktes Leben abzusondern; seine ganze ist geworden, die private Sphäre und die öffentlichen Funktionen stimmen restlos überein. Deswegen kann Plutarch (mit einer Formel, die an die griechische und mittelalterliche Definition des Souveräns erinnert) von ihm sagen, er sei émpsychon eine belebte heilige Statue. Wenden wir uns nun dem Leben des homo sacer oder den in vielen Belangen ähnlichen Leben des Verbannten, des Friedlosen’ und des aquae et igni interdict us 2 zu. Er ist aus der religiösen Gemeinschaft und von jedem politischen Leben ausgeschlossen: Er kann weder an den Riten seiner genr teilnehmen (wenn für oder erklärt worden ist) noch irgendeine gültige Rechtshandlung vollziehen. Darüber hinaus, da jeder ihn erschlagen kann, ohne einen Mord zu begehen, ist seine ganze Existenz auf ein nacktes, aller Rechte entkleidetes Leben reduziert, das er nur auf der endlosen Flucht oder in der Zuflucht eines fremden Landes retten kann. Gleichwohl, und gerade insofern er in jedem Augenblick einer unbedingten Todesdrohung ausgesetzt ist, befindet er sich in fortwährender Verbindung mit der Macht, die ihn verbannt hat. Er ist reine doch seine steht als solche im souveränen Bann, und er Im Original deutsch. Der dem Feuer und dem Wasser Untersagte. 3 Ehrlos. 4 Ehrlos im Sin von »zeugenschaftsunfähig«, Nebenbedeutung: »ohne Hoden*.
muß in jedem Moment mit ihm rechnen und Wege finden, ihm auszuweichen und ihn zu täuschen. In diesem Sinn, das wissen die Verbannten und Geächteten, ist kein Leben »politischer« als das seine. Man betrachte nun die Person des Führers des Dritten Reiches.* Er repräsentiert die Einheit und Artgleichheit des deutschen Volkes. Seine Autorität ist nicht die eines Despoten oder Diktators, die sich von außen dem Willen und der Person der Untertanen aufdrückt (Schmitt, S. 41 f.); vielmehr ist seine Macht insofern viel unbegrenzter, als er sich mit dem biopolitischen Leben des deutschen Volkes selbst identifiziert (»Führerworte haben Gesetzeskraft«,2 wie Eichmann in seinem Prozeß in Jerusalem zu wiederholen nicht müde wurde), und er ist »der zu seinem Befehl sich bekennende F ührer« (Schmitt 7, S. 679). Gewiß kann er auch ein Privatleben führen, aber was ihn zum Führer bestimmt, ist, daß seine Existenz als solche unmittelbar politischen Charakter hat. Während das Amt des Reichskanzlers eine öffentliche dignitus ist, die ihm aufgrund der von der Weimarer Verfassung vorgesehenen Verfahren verliehen wird, ist dasjenige des Führers kein Amt im Sinn des traditionellen öffentlichen Rechts mehr, sondern etwas, das unvermittelt seiner Person entspringt, insofern sie mit dem Leben des deutschen Volkes zusammenfällt. Der Führer ist die politische Form dieses Lebens; deshalb ist sein Wort Gesetz, deshalb fordert er vom deutschen Volk nichts anderes als das, was es in Wahrheit bereits ist. Die traditionelle Unterscheidung zwischen politischem und physischem Körper des Souveräns (deren Genealogie Kantorowicz sorgfältig rekonstruiert hat) schwindet hier, und die zwei Körper drängen sich in drastischer Form ineinander. Der Führer hat sozusagen einen integralen, weder privaten noch öffentlichen Körper, dessen Leben in sich selbst im höchsten Grad politisch ist. Er ist also an einem Punkt angesiedelt, wo und bios, biologischer und politischer Körper zusammenfallen. In seiner Person gehen das eine und das andere unablässig ineinander über.
I
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1 2
Im Original deutsch. Im Original deutsch. 193
Nun stelle man sich die extremste Figur der Lagerbewohner vor. Primo Levi hat die Figur beschrieben, die im Jargon des Lagers »Muselmann« genannt wurde, ein Wesen, in dem die Demütigung, der Schrecken und die Angst jedes Bewußtsein und jede Persönlichkeit abgeschnitten haben, bis zur totalen Apathie (daher seine ironische Bezeichnung). Er war nicht nur wie seine Gefährten vom politischen und sozialen Umfeld ausgeschlossen, dem er einst zugehörte; er war nicht nur, als jüdisches Leben, das nicht lebenswert war, einem mehr oder weniger nahen Tod geweiht; er war überdies in keiner Weise mehr Teil der Menschenwelt, nicht einmal mehr jener bedrohlichen und prekären der Lagerbewohner, die ihn von Anfang an vergessen haben. Stumm und völlig allein ist er in eine andere Welt übergegangen, ohne Gedächtnis und ohne Trauer. Für ihn gilt Hölderlins Satz, daß »i n der äußersten Gränze des Leidens [. . .] nemlich nichts mehr, als die Bedingungen der Zeit oder des Raums [bestehet]«, buchstäblich. Was ist das Leben des Muselmannes? Kann man sagen, es sei reine Aber in ihm gibt es nichts »Natürliches« und »Gemeines«, nichts Instinktives und nichts Tierisches. Mit dem Verstand sind zugleich seine Instinkte ausgelöscht worden. Antelme berichtet, daß der Lagerbewohner nicht mehr imstande war, zwischen dem Biß der Kälte und der Grausamkeit der SS zu unterscheiden. Wenn wir diese Feststellung wörtlich auf ihn anwenden (*Kälte, SS«), können wir sagen, daß der Muselmann sich in einer absoluten Ununterscheidbarkeit von Faktum und Recht, Leben und Norm, von Natur und Politik bewegt. Gerade deswegen scheint der Aufseher ihm gegenüber bisweilen plötzlich machtlos zu sein, wie wenn er für einen Augenblick zweifeln würde, ob das Verhalten des Muselmannes - der nicht zwischen der Kälte und einem Befehl unterscheidet - nicht eine unerhörte Form von Widerstand sei. Ein Leben, das danach strebt, sich ganz in Gesetz zu verwandeln, steht hier vor einem Leben, das in jedem Punkt mit der Norm verschwimmt, und genau diese Ununterscheidbarkeit bedroht die lex animata des Lagers. Paul Rabinow erzählt den Fall des Biologen Edward O. Wilson, der von dem Augenblick an, da er entdeckt hat, daß er an Leukämie erkrankt ist, beschließt, aus seinem Körper und aus seinem 194
Leben ein Forschungs- und Experimentierlabor ohne Grenzen zu machen. Denn er ist nur sich selbst gegenüber verantwortlich, die ethischen und rechtliche Barrieren verschwinden, und die wissenschaftliche Forschung kann frei und restlos mit der Biographie zusammenfallen. Sein Körper ist nicht mehr privat, da er in ein Labor transformiert wurde; er ist auch nicht mehr öffentlich, denn nur als eigener Körper kann er die Grenzen übertreten, welche die Moral und das Gesetz dem Experimentieren setzen. Experimental life ist die Wendung, mit der Rabinow Wilsons Leben definiert. Es ist leicht zu erkennen, daß das experimental l if e ein bios ist, der sich in einem sehr spezifischen Sinn so weit auf die eigene konzentriert hat, daß er von ihr nicht mehr zu unterscheiden ist. Treten wir ein in den Reanimationsraum, in dem der Körper von Karen Quinlan oder derjenige des Ultrakomatösen oder des neomort liegt und darauf wartet, daß ihm die Organe entnommen werden. Das biologische Leben, das die Maschinen durch Luftzufuhr in die Lungen, Blut in die Arterien pumpend und durch die Regulation der Körpertemperatur erhalten, ist hier von der Lebensform, die den Namen Karen Quinlan trug, völlig abgetrennt: Es ist (oder scheint es zumindest zu sein) reine Als gegen Mitte des 7. Jahrhunderts in der Geschichte der medizinischen Wissenschaften die Physiologie auf den Plan tritt, bestimmt sie sich im Verhältnis zur Anatomie, welche die Entstehung und Entwicklung der modernen Medizin beherrscht hat. Wenn die Anatomie (die auf der Sektion der Leiche basierte) die Beschreibung der unveränderlichen Organe gewesen ist, dann stellt die Physiologie »eine Anatomie in Bewegung« dar; sie ist die Erklärung der Organfunktionen im lebenden Körper. Karen Quinlans Körper ist tatsächlich bloß eine Anatomie in Bewegung, eine Menge von Funktionen, deren Ziel nicht mehr das Leben eines Organismus ist. Ihr Leben wird allein durch die Wirkung der Reanimationstechniken auf der Basis einer juridischen Entscheidung erhalten; es ist nicht mehr Leben, sondern ein Tod in Bewegung. Da aber, wie wir gesehen haben, Leben und Tod jetzt nur noch biopolitische Konzepte sind, ist der Körper von Karen Quinlan, der dem Fortschritt der Medizin und dem Wechsel der juridischen Entscheidungen folgend zwischen Leben und Tod schwankt, nicht weniger ein rechtliches I
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Wesen als ein biologisches Wesen. Ein Recht, das behauptet, über das Leben zu entscheiden, ist in einem Leben verkörpert, das mit dem Tod zusammenfällt. Die Auswahl dieser kurzen Serie von »Leben« mag extrem, wenn nicht gar einseitig provokativ erscheinen. Doch die Liste hätte sich leicht mit nicht weniger extremen und dennoch nunmehr vertrauten Fällen fortsetzen lassen. Da wäre der Körper der bosnischen Frau von Omarska, ein perfektes Beispiel für die Schwelle der U nunterschiedenheit zwischen Biologie und Politik; oder, in einem scheinbar entgegengesetzten, aber eigentlich analogen Sinn, die militärischen Interventionen aus humanitären Gründen, bei denen kriegerische Operationen mit biologischen Zielen wie Ernährung oder Seuchenbekämpfung unternommen werden - ebenfalls ein schlagendes Beispiel der Unentscheidbarkeit zwischen Politik und Biopolitik. Von diesen ungewissen und namenlosen Terrains, von diesen unwegsamen Zonen der Ununterschiedenheit aus müssen die Mittel und Wege einer neuen Politik gedacht werden. Am Ende von der Wille zum Wissen, nachdem er sich von jenem Komplex des Sexes und der Sexualität distanziert hat, in dem die Moderne ihr Geheimnis und ihre Befreiung zu finden glaubte, während sie doch nur ein Dispositiv der Macht umklammerte, deutet Foucault, indem er von einer »anderen Ökonomie der Körper und der Lüste« spricht (Foucault 1, S. 190), den möglichen Horizont einer anderen Politik an. Die Schlußfolgerungen unserer Untersuchung drängen uns dazu, noch vorsichtiger zu sein: Auch der Begriff des »Körp ers << ist, wie der des Sexes und der Sexualität, immer schon in ein Dispositiv eingefaßt und sogar immer schon biopolitischer Körper und nacktes Leben, und nichts in diesem Körper und in der Ökonomie seiner Lüste scheint uns einen festen Boden und Halt gegen die Ansprüche der souveränen Macht zu gewähren. In seiner extremen Form stellt sich der biopolitische Körper des Abendlandes (diese letzte Verkörperung des Lebens des homo sacer) vielmehr als Schwelle der absoluten Ununterscheidbarkeit zwischen Faktum und Recht, Norm und biologischem Leben dar. In der Person des Führers geht das nackte Leben unmittelbar in Recht über, so wie in der Person des Lagerbewohners (oder des neomort) das Recht ins Unbestimmte des biologischen Lebens übergeht. Ein 196
Gesetz, das den Anspruch erhebt, ganz in Leben aufzugehen, steht heute immer öfter einem zur Norm entseelten und mortifizierten Leben gegenüber. Jeder Versuch, den politischen Raum des Abendlandes neu zu denken, mu ß von dem klaren Bewußtsein ausgehen, daß wir von der klassischen Unterscheidung zwischen und zwischen privatem Leben und politischer Existenz, zwischen dem Menschen als einfachem Lebewesen, das seinen Ort im Haus hat, und dem Menschen als politischem Subjekt, das seinen Ort im Staat hat, nichts mehr wissen. Daher kann die Restauration der klassischen politischen Kategorien, wie sie Leo Strauss und in einem anderen Sinn Hannah Arendt vorgeschlagen haben, nur eine kritische Bedeutung haben. Von den Lagern gibt es keine Rückkehr zur klassischen Politik; im Lager sind Staat und Haus ununterscheidbar geworden, und die Möglichkeit, zwischen unserem biologischen Körper und unserem politischen Körper, zwischen dem, was nicht mitteilbar und stumm, und dem, was mitteilbar und sagbar ist, zu unterscheiden, ist uns ein für allemal genommen. Wir sind nicht nur, mit Foucaults Worten, Tiere, in deren Politik es um ihr Leben als Lebewesen geht, sondern umgekehrt auch Bürger, in deren natürlichem Körper ihre Politik selbst in Frage steht. So wenig wie der biopolitische Körper des Abendlandes einfach dem natürlichen Leben des zurückerstattet werden kann, so wenig kann er zugunsten eines anderen Körpers überwunden werden, eines technischen oder vollständig politischen oder gloriosen Körpers, in dem eine andere Ökonomie der Lüste und der Lebensfunktionen die Verflechtung von und ein für allemal löst. Vielmehr muß man aus dem biopolitischen Körper, aus dem nackten Leben selbst den Ort machen, an dem sich eine gänzlich in nacktes Leben umgesetzte Lebensform herausbildet und ansiedelt, ein der nur seine ist. Auch hier gilt es, auf die Analogien zu achten, welche die Politik mit der epochalen Situation der Metaphysik aufweist. Der liegt heute genauso in der wie nach der Heideggerschen Definition des Daseins’ das Wesen in der Existenz liegt.2 Schelling drückte die äußerste Figur seines Denkens in der Idee eines Seins aus, das nur das rein Seiende ist. Aber auf welche Weise 1 2
Im Original deutsch. Im Original »liegt« deutsch beigefügt. ‘ 9 7