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WELTEN DER PHILOSOPHIE
A
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Sind Philosophien wie z. B. die indische und die europäische wirklich radikal verschieden? Ram Adhar Mall bestreitet dies und behauptet, dass die Philosophien – nicht nur interkulturell, sondern ebenso intrakulturell – eine Art »Familienähnlichkeit« aufweisen. Der Name bzw. Begriff ›Philosophie‹ ist zwar griechisch-europäisch, aber nicht die Sache, die Tätigkeit, die sich Philosophieren nennt. Dies gilt nicht zuletzt für die großen Traditionslinien der indischen Philosophie. Von den Veden über den Hinduismus und Buddhismus bis hin zu Mahatma Gandhis Philosophie der Gewaltlosigkeit zeigt sich ihr großer geistiger Reichtum. Der Autor stellt nach einem kurzen Überblick über die Entwicklung der indischen Philosophie deren einzelne Disziplinen wie Anthropologie, Erkenntnistheorie, Logik, Ethik oder Ästhetik vor. Im Dialog mit der westlichen Tradition macht er deutlich, dass die indische Philosophie oft einseitig unter religiösen Vorzeichen gesehen wurde. Neben der Korrektur solcher langlebiger Vorurteile geht es ihm darum zu zeigen, wie die indische Philosophie als Ort des Übergangs vom Denkweg zum Lebensweg, der beiden gleichermaßen ihr Recht zugesteht, dazu beitragen kann, die philosophischen Grundfragen heutiger Menschen interkulturell neu zu begreifen. Dieses Buch möchte, indem es unterschiedliche Philosophietraditionen miteinander ins Gespräch bringt, jeweils neue Möglichkeiten philosophischen Denkens eröffnen.
Der Autor: Professor Dr. Ram Adhar Mall, 1937 in Indien geboren, lebt seit 1967 in Deutschland und lehrte u. a. in Trier, Wuppertal, Heidelberg, Bremen, München und Jena. Er ist Gründungspräsident der Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie (GIP). Zahlreiche Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Phänomenologie, der interkulturellen Philosophie und der vergleichenden Religionswissenschaft.
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Ram Adhar Mall Indische Philosophie – Vom Denkweg zum Lebensweg
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Welten der Philosophie 4 Wissenschaftlicher Beirat: Claudia Bickmann, Rolf Elberfeld, Geert Hendrich, Heinz Kimmerle, Kai Kresse, Ram Adhar Mall, Hans-Georg Moeller, Ryôsuke Ohashi, Heiner Roetz, Ulrich Rudolph, Hans Rainer Sepp, Georg Stenger, Franz Martin Wimmer, Günter Wohlfart, Ichirô Yamaguchi
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Ram Adhar Mall
Indische Philosophie – Vom Denkweg zum Lebensweg Eine interkulturelle Perspektive
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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2. Auflage 2015 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2012 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-495-48737-2
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Für Renate Mall
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Inhalt
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Vorwort zur zweiten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ZUR EINFÜHRUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
I.
Was heißt interkulturelles Philosophieren? – Erwägungen propädeutischer Art . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung und Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . 2. Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. »Orthafte Ortlosigkeit« der philosophia perennis . . . . . 4. Überlappung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zum Primat der Vorsilbe »inter-« vor »intra-« und »trans-« 6. Der Beitrag der interkulturellen Philosophie im weltphilosophischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II. INDISCHE PHILOSOPHIE
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Übergreifende Aspekte . . . . . . . . . . . 7. Kurzer historischer Überblick . . . . . 8. Merkmale der indischen Philosophie . . 9. Vedische und upanishadische Tradition 10. Orthodoxe und heterodoxe Schulen . . a) Carvaka . . . . . . . . . . . . . . b) Buddhismus . . . . . . . . . . . . c) Jainismus . . . . . . . . . . . . . d) Samkhya . . . . . . . . . . . . . . e) Yoga . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
f) Mimamsa . . . . . . . . . . . . . . . . g) Vedanta . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Nyaya . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Vaisheshika . . . . . . . . . . . . . . . 11. Das soziale und politische Denken der Hindus 12. Zur modernen indischen Philosophie . . . . 13. Reflexion – Meditation – Lebensführung . .
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Epistemologie (Pramana Shastra) . . . . . . . . . . . 14. Erkenntnis (Prama) . . . . . . . . . . . . . . . 15. Erkenntnismittel (Pramana) . . . . . . . . . . . a) Wahrnehmung (Pratyaksha) . . . . . . . . . b) Schlussfolgerung (Anumana) . . . . . . . . c) Wort – Rede (Shabda) . . . . . . . . . . . . d) Vergleich (Upamana) . . . . . . . . . . . . . e) Nicht-Wahrnehmung (Anupalabdhi) . . . . . f) Annahme, Hypothese (Arthapatti) . . . . . . 16. Theorien des Irrtums (Khyati-Vada) . . . . . . . 17. Status der Unwissenheit (Avidya) . . . . . . . . 18. Kriteriologie der wahren und falschen Erkenntnis
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Verortung der indischen Logik zwischen Epistemologie und Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . 19. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20. Logik im interkulturellen Kontext . . . . . . . . . . . . 21. Die Jaina-Lehre vom »Standpunkt« (Nayavada) . . . . . 22. Interkulturelle Logik jenseits einer Logik der Identität und Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23. Nagarjunas Lehre von der Leerheit (Shunyata) . . . . . 24. Nagarjunas Methode der »reductio ad absurdum« . . . . 25. Entwurf einer interkulturellen Logik . . . . . . . . . .
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117 117 119 125
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138 138 141 142 143 144 144
Metaphysik (Prameya Shastra) 26. Idee der Metaphysik . . 27. Kategorien (Padarthas) a) Substanz (Dravya) . b) Qualität (Guna) . . c) Handlung (Karma) . d) Inhärenz (Samvaya) 10
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Inhalt
28.
29. 30. 31.
e) Das Universelle (Samanya) . . . . . . . . . . . . . . . f) Das Partikulare (Vishesha) . . . . . . . . . . . . . . . g) Negation (Abhava) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metaphysik im Buddhismus . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vaibhashika (Sarvastivada) . . . . . . . . . . . . . . . b) Sautantrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Yogacara (Vijnanavada) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Madhyamika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kausalität (Karya-karana-sambandha) . . . . . . . . . . . Existenz der Außenwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jaina-Philosophie: Von der Mannigfaltigkeit der Standpunkte (Anekantavada) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ethik und Moralphilosophie (Dharma Shastra) . . . . . . . . . 32. Indische Tradition: Eine kritische Eröterung im Vergleich der Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33. Versuch einer Interpretation der vier Lebensziele (Purusharthas) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34. Exkurs: Das hinduistische Kastenwesen und die Utopia Platons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35. Die Verankerung der Ethik und ihre interkulturelle Verbindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36. Motive ethischen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . 37. Indische Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Grundintentionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Psychologisch-transformative Grundlage der indischen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Die Bedeutung des dharma für das ethische Handeln . d. Missverständnisse gegenüber der indischen Ethik und Zeitauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38. Zur Ethik der Nichtgewalt (Ahimsa) . . . . . . . . . . . Religionsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39. Wie kommt die Philosophie zu Gott? . . . . . . . . . . 40. Exkurs: Das Böse und das Leid als Themen der Religionsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41. Zu dem Begriff der Religion . . . . . . . . . . . . . . . 42. Der religiöse Pluralismus aus interkultureller Sicht . . . 43. Argumente für und gegen die Existenz Gottes . . . . . .
144 144 145 145 146 147 149 150 153 156 158
. 160 . 160 . 163 . 170 . . . .
175 177 178 178
. 184 . 187 . 190 . 192 . 196 . 196 . . . .
202 205 210 216 11
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Inhalt
44. Religion auch ohne Gott als Weg zur Erlösung: Carvaka, Buddhismus und Jainismus . . . . . . . . . . . . . . . . 45. Soteriologische Vorstellungen von moksha und nirvana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ästhetik (Rasa Shastra) . . . . . . . . . . . . . . 46. Ästhetik als Wissenschaft der feinen Künste . 47. Rasa (Ästhetische Erfahrung) und Dhvani (das Unausgesprochene, aber Angedeutete) . 48. Entwurf einer interkulturellen Ästhetik . . . 49. Von interkultureller zu komparativer Ästhetik 50. Das Zusammenspiel von Ethik und Ästhetik .
222 229
. . . . . . . 232 . . . . . . . 232 . . . .
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234 237 240 243
III. THEORIEN VON VERNUNFT UND LOGIK . . . . 247 Interkulturelle Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51. Rationalität und philosophische Traditionen . . . . . . 52. Der interkulturelle Kontext und die Vernunft . . . . . 53. Spezifika indischer Logik . . . . . . . . . . . . . . . 54. Tetralemma und buddhistische Logik . . . . . . . . . 55. Siebenstufige Prädikationslogik (Saptabhanginaya) der Jaina-Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56. Zwei Arten der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . 57. Wider den Absolutheitsanspruch . . . . . . . . . . . 58. Interkulturelle Vernunft – weitere Erkundungen . . . 59. Orthafte Ortlosigkeit interkultureller Vernunft . . . .
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249 249 254 255 262
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268 271 274 276 282
IV. ZUM STANDORT DES MENSCHEN . . . . . . . . 285 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60. Kosmische Verankerung von Anthropologie . . . . . . . . 61. Das Bild des Menschen in den Veden, Upanishaden und Epen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62. Das Bild des Menschen in den nicht-orthodoxen Schulen: Carvaka, Buddhismus, Jainismus . . . . . . . . . . . . . 63. Anthropologische Vorstellungen in den orthodoxen Schulen 12
287 287 289 294 297
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Inhalt
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301 301 307 312
Mensch und Kosmos: Wider den Anthropozentrismus . . . . . .
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Bilder des Menschen im modernen indischen Denken 64. Sri Aurobindo . . . . . . . . . . . . . . . . . 65. Mahatma Gandhi . . . . . . . . . . . . . . . 66. Rabindranath Tagore . . . . . . . . . . . . .
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V. ANHANG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Glossar wichtiger Sanskrit-Termini
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
347
Zu Person und Werk des Autors. Von Karl Hubertus Eckert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
361
Namens- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
371
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Indian Philosophy aims beyond logic … Philosophy thereby becomes a way of life, not merely a way of thought. M. Hiriyanna
Philosophie leitet nicht ab, sondern Philosophie verändert den Menschen. K. Jaspers
Ich will nachzuweisen versuchen, daß die Unifizierung des Wahren zwar ein Traum der Vernunft, immer aber auch eine erste Gewaltsamkeit, eine erste Fehltat ist. P. Ricoeur
[Indian] Philosophy was an intensely intellectual, rigorously discursive and relentlessly critical pursuit. However, this activity was supposedly trusted and relied upon to lead a kind of knowledge that would become transformed into a transformation of the thinker’s mode of being. J. N. Mohanty
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I. ZUR EINFÜHRUNG
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Was heißt interkulturelles Philosophieren? Erwägungen propädeutischer Art
1.
Einleitung und Begriffsbestimmung 1
Philosophie ist ein Kulturprodukt; eine jede Kultur bringt Philosophie hervor, mag diese auch im Poetischen oder Mythologischen wurzeln. Dass es sowohl aus intra- als auch aus interkultureller Betrachtungsweise unterschiedliche Philosophien gibt, ist ebenso wahr wie die Tatsache, dass Philosophien Ergebnisse je eigenen kulturspezifischen Denkens sind. Auf die Frage, »woher« die Philosophie überhaupt komme, kann deshalb zunächst geantwortet werden, dass sie ein Kulturerbe sei. Zweitens kann man antworten, dass sie dem Menschen als anthropologische Disposition zukommt; zu dieser gehört Philosophie als Ausdruck eines metaphysischen Bedürfnisses. Es ist wahr, dass unterschiedliche philosophische Denkrichtungen je eigene Akzente setzen und dem entsprechend auch zu divergierenden Definitionen von Philosophie gelangen. Dies ist an sich nicht unphilosophisch. Für einen philosophischen Diskurs schädlich ist jedoch die Tendenz, eine bestimmte Sichtweise verabsolutieren zu wollen. Interkulturalität dagegen bezeichnet eine Geisteshaltung, aus der heraus Kulturen und die aus ihnen erwachsenen Ausprägungen von Philosophie als gleichrangig angesehen werden. Absolutheitsansprüche werden verneint. Das interkulturelle Projekt des Philosophierens steckt
An dieser Stelle kann nur eine allgemein gehaltene Einstimmung auf die Thematik der vorliegenden Studie versucht werden, ohne dass der Horizont interkulturellen Philosophierens ausgeschritten würde. Ein detaillierter Überblick findet sich in meinem Artikel »Interkulturalität« in der Brockhaus Enzyklopädie, 21. Aufl., Bd. 13, 2005, S. 392–396; zugleich sei auf meine weiteren, in der Bibliographie aufgeführten Arbeiten verwiesen. Einen sehr guten Überblick über die gegenwärtige Herausforderungen der Interkulturalitätsdebatte liefert Kirloskar-Steinbach, M., Dharampal-Frick, G., Friele, M. (Hg.): Die Interkulturalitätsdebatte – Leit- und Streitbegriffe, Freiburg/München 2012.
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Was heißt interkulturelles Philosophieren?
noch in den Kinderschuhen, aber sein eminent wichtiges Anliegen ist so alt wie die Menschheit. Basierend auf der vorbehaltlosen Anerkennung je eigener kulturspezifischer Merkmale plädiert die Interkulturelle Philosophie für eine Vermittlung zwischen dem Besonderen einer jeweiligen Philosophie und dem Allgemeinen der einen universellen Philosophie. Sie stellt sich die Aufgabe, Antwortmuster auf Fragen zu entwerfen, die sich dem Menschen im heutigen Weltkontext des Denkens stellen, und dabei Universell-Verbindendes sichtbar zu machen. Sie geht davon aus, dass das Verstehen von Kulturen, denen wir selbst nicht angehören, sowohl theoretisch als auch praktisch möglich ist und dass ein interkultureller Diskurs außerdem lohnend ist, da er zu einer Erweiterung des je eigenen Denkhorizontes führt. Philosophische Fragestellungen kennen keine rein geographischen, kulturellen oder anderen traditionellen Begrenzungen. Kulturalität und Interkulturalität der Philosophie gehen Hand in Hand. Ein Philosoph qua Philosoph gewinnt seine Identität in erster Linie durch die Benennung von Problemen, durch Fragestellungen und Lösungsansätze – und nicht etwa durch seine Zugehörigkeit zu dem europäischen oder dem asiatischen Kulturkreis. So bleibt etwa ein Empirist oder Rationalist über Kultur- und Sprachgrenzen hinweg ein solcher. Interkulturelle Philosophie steht nicht für eine zusätzliche Disziplin der Philosophie. Auch ist sie nicht zu verwechseln mit dem Begriff einer »komparativen Philosophie«. Vielmehr hat sie eine begleitende Funktion für alle philosophischen Disziplinen und stellt diese in einen interkulturellen Kontext. Der Begriff Kultur steht im Zusammenhang dieser Betrachtungen für einen sowohl theoretischen als auch praktischen Orientierungsrahmen. Zu Kultur gehört wesentlich die Gestaltung einer bestimmten, relativ dauerhaften Lebensform in der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur und mit anderen Kulturen. So wie die Menschenwürde ausnahmslos allen Menschen als Menschen zukommt, sind alle Kulturen als Kulturen gleichwertig; die Feststellung von Unterschieden veranlasst uns zu differenzieren, niemals jedoch in diskriminierender Weise. Im Hinblick auf das Problem des Verstehens wird von der Position des gesunden Menschenverstandes ausgegangen, der unterschiedliche Grade des Verstehens und Nichtverstehens als real annimmt. Freilich ist es möglich zu unterstellen, kein Angehöriger einer Kultur A könne einen Angehörigen einer Kultur B jemals verstehen. Solche Schritte sind bloß analytisch, aprioristisch und tautologisch, bar jeder genuinen 26
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1. Einleitung und Begriffsbestimmung
Information. Sie sind zwar nicht falsch, lösen aber keines der Probleme, die zu lösen sie vorgeben. Wollen wir uns an dem Projekt interkulturellen Philosophierens konstruktiv beteiligen, so bedarf es der Einsicht, dass es eine vollkommen eigenständige, von Nachbarkulturen völlig abgeschottete Kultur nicht gibt und nicht geben kann. 2 Mit der Philosophie, die orthaft und zugleich ortlos ist, verhält es sich nicht anders, wie in Abschnitt III näher dargelegt werden soll. Die vielschichtige Vernetzung kann über sehr lange Zeiträume hinweg zurückverfolgt werden. Eine Antwort auf die Frage, wann zwei Kulturen, Philosophien, Religionen etc. einander völlig wesensfremd gegenüberstehen oder aber sich nur graduell voneinander unterscheiden, kann lauten, dass sie zwei Beispiele eines Gattungsbegriffs darstellen. Wären sie radikal verschieden, könnte man sie nicht unter ein und denselben Gattungsbegriff subsumieren, und radikale Unterschiede könnten nicht einmal sprachlich artikuliert werden. Selbst Gegenargumente werden Argumente genannt, mögen sie noch so konträr oder gar kontradiktorisch sein. So handelt es sich also um einen allgemeinen, überlappend-analogischen Begriff, der sich in Konkretionen entfaltet. Von daher ist man überhaupt erst berechtigt, chinesische, indische, europäische Philosophie voneinander zu unterscheiden. Will man das Allgemeine des Philosophiebegriffs erfassen, so darf man es nicht essentialistisch mit den dafür in unterschiedlichen kulturellen Kontexten jeweils vorhandenen sprachlichen Benennungen gleichsetzen. Gerade voreilige Gleichsetzung hat zu dem lexikalischen Argument verleitet, schon das bloße Fehlen eines Äquivalents für den griechischen Ausdruck »Philosophie« in außereuropäischen Traditionen bedeute das Nichtvorhandensein von Philosophie. Daher ist es ein zentrales Anliegen interkulturell-philosophischer Betrachtungsweise, eine bloß philologische und/oder formale aprioristische Definition des Philosophiebegriffs zu vermeiden, mit dem Ziel, das größere Gemeinsame des Philosophierens in unterschiedlichen Kulturkreisen viel mehr in Fragestellungen als in Antworten zu suchen. Selbst wenn nicht-okzidentalen Denktraditionen philosophische Fragestellungen zuerkannt Vgl. dazu die Differenzierung der philosophischen Konzeptionen von Trans- und Interkulturalität und deren Implikationen bei Pacyna, Tony: Was ist transkulturell an Musikvermittlung und reicht das Konzept der Transkulturalität aus, um Musik im Unterricht zu vermitteln?, in: S. Binas-Preisendörfer, M. Unseld (Hrsg.): Transkulturalität und Musikvermittlung. Frankfurt a. M. 2012. S. 63 ff.
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Was heißt interkulturelles Philosophieren?
werden, belässt man oft doch das »eigentliche« Prädikat Philosophie vielfach nur Ergebnissen okzidentalen Denkens. So ist beispielsweise für Gadamer der »Begriff der Philosophie … noch nicht auf die großen Antworten anwendbar, die die Hochkulturen Ostasiens und Indiens auf die Menschheitsfragen, wie sie in Europa durch die Philosophie immer wieder gestellt werden, gegeben haben«. 3 Verwandte Stereotypen, Klischees oder Vorurteile sind weiter gegenwärtig, obwohl sich erfreulicherweise allmählich die Einsicht durchzusetzen scheint, dass Wahrheit und Werte Konsense und Dissense implizieren und dass der Philosophie mehr als nur eine einzige Heimat zuzubilligen sei. Die Heimatlosigkeit der Philosophie ist eher ihre Stärke denn ihre Schwäche. Hierin liegt auch ihre großartige Unparteilichkeit begründet. Philosophie – im Singular – ist abzulehnen, um eine rein festlegende Definition von Philosophie zu vermeiden. Selbst begriffsgeschichtlich kennt Philosophie keine Homogenität, sei diese intra- oder interkulturell. Dies mag einigen als unzureichend erscheinen. Lässt man die Definitionen von Philosophie in der Geschichte Revue passieren, so stellt man fest, dass eine jede auch eine persönliche bestimmte ist und man das Temperament eines Philosophen nicht ganz außer Acht lassen kann. Ähnlich verhält es sich mit dem Kulturbegriff. Was vermieden werden muss, ist die Verabsolutierung einer bestimmten Präferenz. Sprechen wir z. B. von der westlich-europäischen Kultur und Philosophie, so stellt sich die Frage, ob wir hierbei an eine in sich geschlossene Entität denken oder aber auch die griechischen, römischen, christlichen, naturwissenschaftlichen Einflussfaktoren mit berücksichtigen. Nicht viel anders verhält es sich, wenn wir von der islamischen, chinesischen oder indischen Kultur sprechen. Dass wir dennoch Philosophien und Religionen miteinander in Bezug setzen können, liegt nicht so sehr daran, dass sie radikal unterschiedliche Probleme behandeln, sondern dass sie unterschiedliche Aspekte und Akzentuierungen derselben Probleme erkennen lassen. Kulturen sind keine quasi monadischen Gebilde, und ein bestimmter Grad von Vernetzung war und ist stets zu beobachten. Es mutet daher seltsam an, wenn beispielsweise manche europäischen Philosophen an der indischen Philosophie kritisieren, sie sei »zu religiös«, oder wenn europäische Theologen die indische Religion als »zu philosophisch« einstufen. Es bleibt zu hoffen, dass im Geiste der Gadamer, H.-G.: Europa und die Oikumene; in: Europa und die Philosophie, hg. v. H. H. Gander, Stuttgart 1993, S. 67–86.
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1. Einleitung und Begriffsbestimmung
interkulturellen Philosophie eine begriffliche und inhaltliche Klärung und Auflösung dieser scheinbaren Widersprüche gelingen wird. Wer an der Kreuzung unterschiedlicher Kulturen steht, wer in der Übertragung und »Übersetzung« von Lebensformen und Sprachspielen lebt, erfährt hautnah die Dringlichkeit, aber auch die Schwierigkeit einer interkulturellen, integrativen Verständigung. Philosophie qua Philosophie hat nicht nur eine einzige Muttersprache. Sprachstruktur bestimmt zwar die Denkstruktur, fesselt diese jedoch nicht vollends. Ein Studium der Philosophiegeschichte unterschiedlicher Traditionen belegt diese Auffassung. Der indische Phänomenologe Mohanty 4 äußert tiefes Befremden, wenn man aus je eigenen kulturspezifisch getönten Vorausfixierungen des Begriffs Philosophie resultierende Urteile vorfinde, die schlichtweg von mangelnder Sachkenntnis und philosophischer Besonnenheit zeugten. Eine bloß kulturell-provinzialistische Bestimmung von Philosophie, die Verabsolutierung einer bestimmten philophischen Konvention, ist abzulehnen, ansonsten wäre die Folge ein verabsolutierter Relativismus. Es zeugt von einem verengten Wissenschaftsverständnis, die Vielfalt philosophischer Denkungsarten reduktionistisch zu traktieren und von der Möglichkeit nur einer einzigen Weise des Philosophierens, das diesen Namen verdiene, auszugehen. Vielfalt sollte als Reichtum angesehen werden; dann erübrigt sich auch ein Streit um Geburtsorte der Philosophie. Die Notwendigkeit einer interkulturell philosophischen »Aufklärung« kann man aus dem Dialog zwischen einem indisch-europäischen Philosophen und einem Indologen erkennen. Im Gespräch sagte – besser: gestand der Indologe, dass er an den Wahrheitsgehalt des gesamten indischen philosophischen Denkens nicht glaube. Auf die Frage des Philosophen, warum er sich denn dann überhaupt mit indischem Denken beschäftige und einiges daraus sogar übersetze, antwortete er, als Indologe vom Fach sei er dazu verpflichtet. Sein Hauptinteresse galt also Manuskripten in einem rein philologisch-linguistischen Verständnis. Nagarjuna und Shankara, die sich als Philosophen mit der Frage nach der Wahrheit beschäftigten, interessierten ihn nicht etwa hinsichtlich ihrer denkerischen Leistungen. Der Indologe suchte Wahrheit über die indische Philosophie, nicht aber Wahrheit in der indischen Philosophie. Wer so über andere Kulturen, Philosophien und Religionen denkt, hat Mohanty, J. N.: Reason and Tradition in Indian Thought. An Essay on the Nature of Indian Philosophical Thinking, Oxford 1992, S. 288.
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Was heißt interkulturelles Philosophieren?
schon das Tertium Comparationis in einer ganz bestimmten, ausgewählten Tradition ausschließlich dingfest gemacht. Eine solche Vorgehensweise macht die Disziplin der Komparatistik zu einem Muster ohne Wert und führt zu Blindheit hinsichtlich des unermesslichen Reichtums weltphilosophischen Denkens. Auf die Frage des Philosophen, woher er denn wisse, dass philosophische Wahrheit nur in der europäischen und nicht z. B. auch in der indischen Philosophie zu finden sei, antwortete der Indologe, ein überständiges Klischee wiederholend, Philosophie sei eben nur griechisch-europäisch …
2.
Hermeneutik
Oft wird von der Vorstellung ausgegangen, die Innnenansicht einer Kultur sei für alle, die ihr angehören, transparent, eindeutig, homogen und widerspruchsfrei. Diese Ansicht entspricht jedoch nicht den tatsächlichen Verhältnissen. Bei dem Phänomenologen und Soziologen Alfred Schütz heißt es, dass »das Wissen des Menschen, der in der Welt seines täglichen Lebens handelt und denkt, nicht homogen« sei. Denn dieses Wissen, so Schütz weiter, sei »erstens inkohärent, zweitens nur teilweise klar und drittens nicht frei von Widersprüchen«. 5 Zudem herrscht ein dialektisches Verhältnis zwischen dem Selbst- und Fremdverstehen, und dies trotz der inneren Dynamik der beiden Verstehensarten. Das Selbstverstehen von A wird zum Gegenstand eines hermeneutischen Verstehens von B. Analoges gilt für das Selbstverstehen von B. In diesem Prozess ist ein Konflikt der Interpretationen unvermeidbar. Die bekannte homo duplex-These hält die Insider-Outsider-Spannung letztlich für nicht ganz überwindbar und rät dazu, sie zu minimieren und auszuhalten. Daher muss sich eine Betrachtung von Kulturen, Philosophien und Religionen aus dem Geist einer interkulturellen philosophischen Orientierung vor jeder voreiligen und willkürlichen Einheitsvorstellung hüten und jede Selbstverabsolutierung zu vermeiden. Zwar wird für Einheit plädiert, aber zugleich von der Idee einer Einheitlichkeit Abstand genommen. So ist das hermeneutische Unternehmen weder eine kontinuierliche Verlängerung des Selbstverstehens noch ein völliger Bruch mit diesem, sondern führt zur beharrlichen Suche nach Überlappungen, 5
Schütz, A.: Das Fremde; in: Ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, Den Haag 1972, S. 61.
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