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11/2016
11/ Das große Zeitalter der
PIRATEN
Glorreiche Abenteurer. Brutale Mörder. Handlanger der Mächtigen
VERWURZELT
VERBOTEN
VEREWIGT
Familienforscher erleben Geschichte hautnah – auf den Spuren ihrer eigenen Vorfahren
Das Geheimnis des fünften Evangeliums: Welche Wahrheit birgt die Schrift des Apostels Thomas?
Die deutsche Fotografin Lotte Jacobi porträtierte im Exil die Denker und Künstler ihrer Zeit
Österreich 6,00 €, Schweiz 8,80 sFr, Benelux 6,20 € , Italien 7,00 € , Spanien 7,00 €
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Editorial
Piraten Bei den lohnt Mythos der Blick hinter den
der Populär-Kultur
TI LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
Jens Schröder, Redaktionsleiter P.M. HISTORY
Hauke Friederichs ist der Piraten-Experte der P.M. HISTORY-Redaktion. Sein Spezialgebiet: die Korsaren von Algier
vor einigen Wochen habe ich die Redaktionsleitung von P.M. HISTORY übernommen – und gleich „mein“ erstes Schwerpunktthema kam mir seltsam vertraut vor. Vermutlich erscheinen uns allen sofort dieselben Bilder, wenn wir den Begriff „Piraten“ lesen. Wir sehen: rumseelige Freibeuter mit Augenklappen. Gefechte auf Planken, im gerüschtem Hemd und mit Säbeln elegant geführt, je nach Generation von Errol Flynn oder Johnny Depp. Wer aber wirklich Bescheid weiß (wie unser Kollege Hauke Friederichs, der über Piraten promoviert und das Konzept für diesen Schwerpunkt erarbeitet hat) – der sieht noch ganz andere Facetten in den Seeräubern jener Epoche zwischen 1400 und 1800, in der sie die Weltmeere besonders unsicher machten. Piraten waren auch gnadenlose Mörder und Folterer. Sie ließen sich in politische Ränkespiele ihrer Zeit einbinden. Und an ihrer viel besungenen Freiheit hatten sie oft heftig zu leiden – wie Richard Sievers, bei dem sich die Redaktion lange nicht einigen konnte, ob er nun der „erfolgreichste deutsche Pirat aller Zeiten“ war oder der mit der schlimmsten Pechsträhne. Eine wahrhaft schillernde Figur, von der Sie ab Seite 28 lesen können. Und wussten Sie, dass die erste deutsche Sozialversicherung die Hamburger Sklavenkasse war, bei der sich Seeleute gegen Lösegeldforderungen maurischer Piraten versicherten? Der Held unserer Geschichte über die Kaperzüge dieser „Barbaresken“ (Seite 48) konnte davon leider nach seiner Entführung nicht profitieren: Er war kein Hamburger, er stammte von der Insel Amrum. Und musste sich daher auf eigene Faust in Nordafrika durchschlagen. Sie sehen, es gibt viel zu entdecken jenseits des „toten Manns Kiste“. Schreiben Sie uns gern, wie Ihnen diese Ausgabe gefallen hat:
[email protected]! Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen und gute Erkenntnisse!
P.M. HISTORY – NOVEMBER 201
NOVEMBER 2016
56 48
36 66 40 Chronologie
um 100 v. Chr. Die Laokoon-Gruppe entsteht Seite 22
4
P.M. HISTORY – NOVEMBER 2016
um 150
ab 1390
Seite 14
Seite 26
Das Evangelium des Thomas wird verfasst
Das große Zeitalter der Piraterie
Inhalt
6 Arena
Callanish, Schaffnerin, Washingtons Flucht im Nebel, Till Eulenspiegel, Alexander der Große. Plakativ: Strümpfe. Plus: Tipps der Redaktion
14 Das geheime fünfte Evangelium Wie die Kirche die Botschaft des Apostels Thomas unterdrückte
22 Meisterwerk: Die Laokoon-Gruppe Die berühmteste Marmorskulptur der Antike
PIRATEN 26 Faszination Freiheit
Wie aus brutalen Verbrechern verklärte Abenteurer wurden
28 Der Schrecken der Pilger
Der Deutsche Richard Sievers auf Raubzug im Indischen Ozean
36 Die Wohnstatt der Seeräuber Was macht ein gutes Kaperschiff aus?
74 RUBRIKEN 3 EDITORIAL 70 BÜCHER ZUM TITELTHEMA 94 RÄTSEL 95 LESERBRIEFE & SERVICE 96 VORSCHAU & IMPRESSUM 98 SPRENGSATZ
FOT 40 Brüder der Küste
Captain Morgans legendärer Überfall auf Panama
48 Als weißer Sklave im Reich des Sultans Ein Nordsee-Junge wird von Korsaren entführt – und macht Karriere
56 Die Strandpiraten von Scilly
Am Eingang zum Ärmelkanal ist der Schiffbruch ein uraltes Geschäft
66 Der Fluch der Meere
Porträts von sechs der berühmtesten Seeräuber
72 Kritik unter Freunden Briefwechsel der Dichter Goethe und Schiller
74 Familienforschung
Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln
82 Zeitmaschine: Robert Louis Stevenson Der Schriftsteller erzählt von einer turbulenten Reise nach New York
14
84 Moderne Ikonen
Lotte Jacobi fotografiert die Großen ihrer Zeit aus ungewohnter Nähe
Goethe und Schiller werden Freunde
1879
Robert Louis Stevenson in New York
1938
Seite 72
Seite 82
Seite 84
1794
Lotte Jacobi fotografiert Einstein
P.M. HISTORY – NOVEMBER 201
MAGISCHE ORTE
Callanish
RÄTSELHAFTE STEINFORMATIONEN gibt es auf den Britischen Inseln häufig. Und doch sind die bis zu 4,75 Meter hohen Stones of Callanish auf der Isle of Lewis (Äußere Hebriden) etwas Besonderes. Die größte Steinformation der Megalithkultur – sie besteht wahrscheinlich aus 20 einzeln gesetzten Menhiren – wurde vor etwa 5000 Jahren er richtet. Manche Anlagen waren vollständig von Torf einge schlossen, etwa Callanish 1, das zwischen 1857 und 1981 von Forschern ausgegraben wurde. Alle 13 Steine des Hauptkreises stehen um den zentralen Monolithen. Sinn Callanish und Zweck der Anlage und der Formation der Steine sind unGROSSklar, vielleicht dienten sie der BRITANNIEN Mondphasenbeobachtung.
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P.M. HISTORY – NOVEMBER 2016
Arena
P.M. HISTORY – NOVEMBER 201
Arena
SCHNEIDIG Die Kappe der Schaffnerinnen ähnelt den Schirmmützen der Soldaten im Kaiserreich. Da ist es kein Wunder, dass die Arbeit der Frauen „Dienst an der Heimatfront“ genannt wird.
PFIFFIG Sind Frauen den Anstrengungen der Verkehrsbranche nicht gewachsen, wie manche Zeitungen 1915 befürchten? Ach was. Eine Trambahn-Schaffnerin namens Rosa Urban aus Stuttgart freut sich, wie in ihrer Familienchronik steht: „Alles tanzt nach meiner Pfeife.“ EINREIHIG Eine Tunika mit Gürtel, darunter ein langer Rock: Das war die übliche Arbeitskleidung für weibliche Angestellte der Bahn. Nicht nur in Deutschland, auch in England.
AUS DER MODE
Straßenbahnschaffnerin Alles unter Kontrolle: Als die Männer im Ersten Weltkrieg kämpften, übernahmen Frauen den Dienst an der Zange ZACKIG Knipser zum Entwerten der Fahrkarten. „500 Damen mit Schaffnerzange“ versehen 1917 ihren Dienst bei den Stuttgarter Straßenbahnen – und 19 Fahrerinnen.
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KLOBIG Sammeltasche aus Leder für das Passagiergeld. Weil Frauen viel weniger verdienen als Männer, kommt es 1917 zum mehrtägigen Streik der Kölner Straßenbahnerinnen.
F
30. August 1776
Long Island, New York
Washingtons Flucht im Nebel DAS EINZIGE, WAS JETZT NOCH ZÄHLT: Er muss die Soldaten retten. George Washington weiß, dass die Schlacht vorbei ist, noch ehe sie begonnen hat. Die Übermacht der Briten, die sich seinem Stützpunkt auf Long Island nähern, ist erdrückend – 32 000 bestens ausgebildete Soldaten marschieren von Osten heran. Dagegen rekrutiert sich Washingtons sogenannte Kontinentalarmee aus 20 000 Tagelöhnern, die gern mal ihre Tornister in die Büsche werfen, wenn es eng wird. Es steht nicht gut um die Streitmacht der 13 amerikanischen Kolonien, die seit 1775 versuchen, vom Mutterland unabhängig zu werden. Und Long Island ist eine Sackgasse, ein Rückzug nur über den East River möglich. Doch Washington als Oberbefehlshaber sieht glasklar, worauf es ankommt: England kann trotz seiner militärischen Stärke diesen Krieg nicht gewinnen, solange es Ländereien oder Städte besetzt, denn Amerika ist ein Kontinent von unendlicher Größe. Es gibt noch keine Machtzentrale, die man übernehmen könnte. Deshalb hat das Mutterland nur eine Chance: wenn es die Kontinentalarmee vernichtet. Das gilt es zu verhindern. Doch wie? Sie müssen nachts mit Booten über den East River setzen – nach Manhattan, und dann von
dort weiter fliehen. Und so geschieht es in der Nacht zum 30. August 1776. Die britischen Stellungen liegen in Hörweite. Fast lautlos besteigen Washingtons Soldaten Boot um Boot. Doch die Zeit läuft ihnen davon, zu viele Menschen, zu viele Pferde müssen hinübergebracht werden. Der Morgen graut. Die Sonne wirft helle Strahlen über den Fluss. Und noch immer stehen Männer der Kontinentalarmee nicht am anderen, rettenden Ufer. Als die Briten die Flucht bemerken, scheint alles verloren – doch plötzlich kann George Washington keinen seiner Leute mehr sehen. Er kann überhaupt nichts mehr sehen. Wie von Zauberhand hüllt eine vom Fluss aufsteigende Nebelwand sie alle ein, die Boote, die Truppen, die Waffen. Das undurchdringliche Grau dämpft auch die Geräusche. Das ist die Rettung, ahnt der Oberbefehlshaber und scheucht seine restlichen Leute in die Kähne. Er selbst steigt ins letzte Boot und lässt sich in den Nebel hinaustreiben. Neben ihm schlagen die ersten Gewehrkugeln der Feinde ins Wasser ein. George Washington verliert auf diesem Rückzug nicht einen einzigen Mann. Und er rettet seinen Kopf. 13 Jahre später wird er der erste Präsident der nunmehr unabhängigen Vereinigten Staaten von Amerika. Katharina Jakob
Till Eulenspiegel
Der weise Narr
DER
WAS SAGT DIE LEGENDE?
WIE WURDE SIE ÜBERLIEFERT?
WAS IST WIRKLICH DRAN?
Till Eulenspiegel, geboren 1300 in Kneitlingen am Elm, reist als Schalk, also als eine Art Narr, durch die Lande. Er verspottet selbstzufriedene Bürger, Adel und Klerus, einfältiges Volk und hochnäsige Handwerker. Er nimmt dabei gern Dinge wörtlich und führt sie damit ad absurdum. Seine Botschaft: Klebt nicht an Vorgaben, sondern denkt selbst! Eulenspiegel spielt seine Streiche quer durch Deutschland, aber auch in Polen, Tschechien und Italien. 1350 stirbt er in Mölln (Schleswig-Holstein).
Als Held einer Schwanksammlung taucht er um 1510 erstmals auf. Das anonym veröffentlichte Werk stammt wohl vom Braunschweiger Zollschreiber Hermann Bote und wird sofort ein „Bestseller“. Unzählige Überarbeitungen folgen. Im Namen „Eulenspiegel“ treffen sich die Eule als Symbol der Weisheit (auch der des Teufels) und der Spiegel der Selbsterkenntnis. Nach einer anderen Deutung ist „ulen“ eine alte Variante für „säubern“, während „Spiegel“ in der Jägersprache noch heute „Hinterteil“ bedeutet.
Beweise für seine Existenz gibt es nicht. Aber Indizien: Der Historiker Bernd Ulrich Hucker fand Hinweise auf einen Thile van Cletlinge (Kneitlingen), einen Straßenräuber, dessen Lebensdaten auffällige Parallelen zu Eulenspiegel haben. Außerdem gab es einen Tilo dictus Ulenspegel, der 1350 in Mölln starb. Hermann Bote könnte von beiden Personen gehört und sie zu einer Figur verschmolzen haben. Die Streiche wären entsprechend eine Mischung aus Hörensagen und künstlerischer Freiheit. Thomas Röbke
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Arena
UND JETZT?
Alexanders Schild Forscher haben das Grab von Philipp II., dem Vater Alexanders des Großen, neu untersucht. Das nährt die Spekulationen: Gehörte eine der gefundenen Rüstungen dem legendären Feldherrn?
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ohl nirgendwo kommt man Alexander dem Großen, dem legendären König von Makedonien, näher als hier: In den Königsgräbern von Vergina in Nordgriechenland fand seine Familie ihre letzte Ruhestätte. 1977 von Archäologen entdeckt, führen die unterirdischen Grabstätten bis heute zum Streit zwischen den Forschern: Wer liegt genau in den Gräbern? Wo ruhen Alexanders Vater, sein Sohn und sein Halbbruder? Der Eroberer selbst starb auf einem der Feldzüge, sein Grab ist bis heute unentdeckt. Vor rund einem Jahr wurde die Diskussion neu entfacht, als eine Studie unter der Leitung des Ethnologen Antonis Bartsiokas die Knochenfunde aus einem der Gräber mittels Computertomografie untersuchte. Überdies mehren sich die Hinweise, dass sich unter den Artefakten auch eine Rüstung des berühmten Feldherrn selbst befindet. Die Ausgrabungsstätte ist ein Unesco-Weltkulturerbe. Die zum Teil gut erhaltenen unterirdischen Kammern lassen sich dort in einer beeindruckenden Ausstellung besichtigen. Herr Bartsiokas, Sie glauben, dass in Grab I der drei großen Königsgräber der Vater Alexanders des Großen bestattet wurde. Woran machen Sie das fest? Wenige Jahre vor seinem Tod erlitt Philipp II. durch einen Speer eine schwere Verwundung am Knie. Er erholte sich zwar wieder, hinkte aber fortan. 336 v. Chr. wurde er mit
Antonis Bartsiokas ist Assistenzprofessor für Geschichte und Ethnologie an der Demokrit-Universität Thrakien in Griechenland. Seine Studie von 2015 rollte die bisherige Forschung zu den makedonischen Königsgräbern auf.
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etwa Mitte 40 durch einen Leibwächter ermordet. Mithilfe der Computertomografie fanden wir heraus, dass die Knochen im Grab I einem etwa 45 Jahre alten Mann gehörten. Ein großes Loch klaffte zwischen seinem Oberschenkelknochen und dem Schienbein. Wir glauben daher, dass im besagten Grab Phi lipp II. mit seiner Frau Kleopatra und dem gemeinsamen Kind beigesetzt wurde. Es gibt aber nach wie vor Gegner unserer Theorie, sie vermuten ihn in Grab II. Alexander der Große selbst wurde wohl nicht in Vergina bestattet. Gibt es dort trotzdem Spuren von ihm? Wenn unsere Theorie stimmt, könnten einige Gegenstände aus Grab II ihm gehört haben. Hier wurde nach meinen Forschungsergebnissen sein Halbbruder und Nachfolger Philipp III. Arrhidaios begraben. Er war der letzte seiner Dynastie. Der Familienbesitz wurde wohl mitsamt der Hinterlassenschaft Alexanders mit ihm begraben. Welche Indizien sprechen dafür, dass er dort liegt? Bodenproben haben ergeben, dass Grab II aus dem Jahr 317 v. Chr. stammt und nicht von 336 v. Chr, wie bisher angenommen. Im Jahr 317 v. Chr. starb Alexanders Halbbruder. Welche Gegenstände lassen sich Alexander zuordnen? Womöglich gehörte eine Rüstung mitsamt Helm und Schild zu ihm. Aus antiken Quellen wissen wir, dass sein Halbbruder einen seiner Schilde besaß. Das gefundene Exemplar zeigt eines der Lieblingsmotive Alexanders: Achill tötet die Amazone Penthesilea und verliebt sich in diesem Moment in sie. Alexander hielt sich mütterlicherseits für einen Nachfahren Achills, sein Halbbruder war das nicht. Der Helm wiederum ist aus Eisen, genau wie Plutarch es übers Alexanders Helm berichtet. In der Schlacht am Granikos soll der Helm Alexanders Leben gerettet haben, als ihn ein persischer Anführer auf den Kopf schlug. Interview: Christine Dohler
Fundstücke
BACKSTAGE WAS DIE P.M. HISTORYREDAKTION INSPIRIERTE
Spannende neue Bücher, Filme, Ausstellungen – über mysteriöse Inseln, gigantische Steinkreise, die deutsche Sprache und die Hamburger Juden LESESTOFF SELTSAM Vom Meer verschluckt? Nur an bestimmten Tagen sichtbar? Schon immer tauchen auf Seekarten Inseln auf, die es nicht gibt. P.M.-HistoryAutor Dirk Liesemer stellt 30 dieser Eilande, Archipele und Kontinente vor. Manche entstanden aus Irrtum oder Unkenntnis, andere aus Lust an der Täuschung oder Machtspielen. Oft witzig und immer interessant! Dirk Liesemer Lexikon der Phantominseln Mare, 24 Euro ABENTEUERLICH Emma reist am Ende des Dreißigjährigen Krieges von Hamburg nach Amsterdam. In der Wildeshauser Geest wird ihre Kutsche überfallen, und ein abenteuerlicher Überlebenskampf beginnt. Petra Oelker kann’s einfach! Petra Oelker: Emmas Reise Rowohlt Polaris, 14,99 Euro
EXISTENZIELL Wie der Existenzialismus zum Lebensgefühl wurde: Sartre, Camus, de Beauvoir, Heidegger & Co. zu einem schillernden Gruppenbild versammelt. Sarah Bakewell: Das Café der Existenzialisten C.H. Beck, 24,95 Euro
Wasserschlacht Bereits im Kindergartenalter recherchierte Redakteur Hauke Friederichs in der Badewanne zu Piratenschiffen. Seine PlaymobilFreibeuter kenterten regelmäßig. Später kam ein Lego-Schiff zur Sammlung dazu. Das wurde ständig Opfer wilder Schlachten und musste vom Vater immer wieder zusammengesetzt werden.
LEBENDIG Ein sinnlicher Trip in die Luther zeit voller Kuriosa und Alltagsdetails, der nebenbei mit einigen Mythen aufräumt. Ein Muss für Fans von „Als Deutschland noch nicht Deutschland war“. Bruno Preisendörfer: Als unser Deutsch erfunden wurde Galiani Berlin, 24,99 Euro
Wo ist eigentlich Claus? Nicht nur mancher Leser fragt sich das. P.M. Creative Director Andreas Pufal war ganz enttäuscht, als seine Kollegen ein Idol aus Jugendtagen zerstörten: Störtebeker gab es gar nicht? Historiker sind zumindest nicht sicher. Fest steht: Sein Vorname war definitiv nicht Klaus, Claus oder Claas.
MONUMENTAL Diese Dokumentation über Alltag und Entrechtung, das Ergebnis von mehr als 20 Jahren Forschung, ist weit mehr als eine Hamburgensie. Ina Lorenz/Jörg Berkemann Die Hamburger Juden im NS-Staat 1933 bis 1938/39 Wallstein, 7 Bd., 169,90 Euro
TV-TIPP Auferstandene Ruinen
AUSSTELLUNG Stonehenge
Ein Blick hinter die verfallenen Fassaden: Wigald Boning und Fritz Meinecke untersuchen geheimnisumwobene historische Orte voller faszinierender Geschichten und düsterer Legenden. Zum Beispiel das Elite-Internat der Nazis in Ballenstedt, Hitlers Raketenschmiede in Peenemünde, Ho neckers Jagdgründe in der Schorfheide und die Sperrzone von Tschernobyl. „Wigald & Fritz – Die Geschichtsjäger“ ab 13. November immer sonntags um 21.55 Uhr auf HISTORY
Das prähistorische Monument, mitten in Österreich: Die Ausstellung präsentiert aufwendig die einstige Kultstätte, inklusive Steinmodellen in Originalgröße. Einige Funde sind erstmals außerhalb Großbritanniens zu sehen. Gezeigt werden auch die neuesten Forschungsergebnisse zum noch viel größeren und älteren Steinkreis bei Durrington Walls. „Stonehenge. Verborgene Landschaft“ bis 27. November, Museum Mistelbach, Österreich
Piratenwitze Der neue Redaktionsleiter Jens Schröder konnte beim Piratenthema den Kollegen gleich seine Vorliebe für uralte Kalauer nahe bringen: „Bum-Bum-Boris hat einen neuen Schläger: Der alte Störtebecker“. Schröder will sich bemühen, dieses Niveau lange zu halten. Die Leiden des jungen Autors Nachdem Redakteur Martin Scheufens las, wie die befreundeten Dichter Goethe und Schiller gegenseitig ihre Meisterwerke kritisierten, ist er froh darüber, dass die beiden Genies nie einen Text von ihm in die Finger bekommen.
FOTOS: PICTURE Aus der Mode Kommt die Schaffnerin aus Deutschland oder England? Tagelang studierten wir historische Aufnahmen, doch ganz klären konnten wir es nicht: Die Kleidung scheint aus Berlin zu kommen, der Gruß ist aber englisch.
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Arena
HFK (1912) Fast unschuldig wirkt das Mädchen, das mit ihrem püppchenhaften Hund dasitzt und ihren Strumpf begutachtet. Der Reiz der Beine wird nur angedeutet. Das ändert sich: In den folgenden Jahrzehnten wird immer mehr mit Erotik geworben.
PLAKATIV
Strümpfe S
ie machen die Beine schöner, sind aber auf den ersten Blick nicht zu erkennen: Damenstrümpfe sind die Wunderwaffe der Frauen im Geschlechterkampf. Sie wecken die Fantasie der Männer, geben scheinbar den Blick frei, doch zugleich schenken sie der Trägerin makellose ARWA (1950er) Zuerst war das Nylon, in den 1930erJahren erfunden, für Zahnbürsten gedacht. Heute gilt die erste vollständig synthetische Faser fast als Synonym für Damenstrümpfe. Seit 1940 ist sie nicht mehr nur für Hollywoodstars erschwinglich. Und nach dem Krieg werden die „Nylons“ auch in Deutschland zum begehrten Gut.
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Beine und halten diese an kühleren Tagen zumindest etwas warm. Wäre nur nicht das Problem mit den Laufmaschen. Auch heute, wo viel mehr Haut gezeigt wird als früher, haben Werbeplakate mit elegant bestrumpften Beinen nichts von ihrer Anziehungskraft verloren. FLORINE (1971) In den 1950erJahren gelingt es, Nylon direkt in die gewünschte Form zu stricken, anstatt die Strümpfe mühsam zusammenzunähen. In den 1960ern erobert die Strumpfhose den Markt, wie dieses französische Plakat zeigt. Sie kommt gerade rechtzeitig: Der Minirock wird modern – und gibt mehr Bein frei als je zuvor.
F
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Verlag: Gruner + Jahr GmbH & Co KG, Dr. Frank Stahmer, Am Baumwall 11, 20459 Hamburg. AG Hamburg, HRA 102257. Vertrieb: Belieferung, Betreuung und Inkasso erfolgen durch DPV Deutscher Pressevertrieb GmbH, Nils Oberschelp (Vorsitz), Christina Dohmann, Dr. Michael Rathje, Am Sandtorkai 74, 20457 Hamburg, als leistender Unternehmer. AG Hamburg, HRB 95752.
DER ZWEIFLER Der Apostel Thomas steckt seinen Finger in die Wundmale des auferstandenen Jesu und realisiert: Sein Messias lebt! Caravaggio malt um 1601 eindrücklich diese existenzielle Erfahrung des Zweiflers
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Das
Geheimnis des fünften Evangeliums
Markus, Matthäus, Lukas und Johannes: Diese vier Männer sollen das Wirken Jesu beschrieben haben. Doch auch vom angeblich so ungläubigen Thomas ist ein Evangelium überliefert. Welchen Weg hätte die Christenheit genommen, wäre es nicht früh verdammt worden?
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Religionsgeschichte
Von Peter Sandmeyer
A
ls vor gut 500 Jahren zum ersten Mal die Segel von Karavellen vor der Küste Keralas auftauchten und der Portugiese Vasco da Gama als erster europäischer Schiffsführer den Seeweg um Afrika herum nach Indien gefunden hatte, staunte er: In dem Land, wo es Nelken, Pfeffer, Kardamon und Muskat gab, die im Abendland mit Gold aufgewogen wurden, lebten nicht nur Hindus und Buddhisten, sondern auch christliche Glaubensbrüder. Vom Papst und seinem Anspruch als Oberhirte der Christenheit hatten sie allerdings noch nie etwas gehört. Es waren Inder, die sich Thomas-Christen nannten. Wer hatte sie bekehrt? Die Legende sagt: der Apostel Thomas persönlich. Unter den zwölf ersten Jüngern jenes Predigers aus Galiläa, der als Jesus Christus bekannt wurde, ist er der rätselhafte, der schillernde, der zweifelnde – der „ungläubige Thomas“. Das Bild, das wir von ihm haben, ist das des berühmten Gemäldes von Caravaggio: Ein Mann mit zerfurchter Stirn, schütterem Haar und struppigem Bart,
HEILIGENVEREHRUNG Thomas-Christen beten in der St.-Antonius-Kirche im indischen Chennai
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MAHNUNG Jesus spricht zu Thomas: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“ (Mosaik aus dem 6. Jahrhundert)
der seinen Zeigefinger in das Wundmal an der Seite seines Herrn steckt. Der nicht einfach glauben will; der die eigene Erfahrung braucht, den Auferstandenen und seine Wunde selbst sehen muss, bevor er glauben kann. Für moderne Menschen ist er eine sympathische Figur. Die Legende erzählt es so: Nach dem Kreuztod ihres Herrn haben die Jünger die Missionsgebiete per Loswurf untereinander aufgeteilt, und Thomas ist dabei „das Land der Inder“ zugefallen. Er habe den Job nicht machen und die Reise nicht antreten wollen. Da sei ihm aber Jesus persönlich erschienen, habe ihm Mut zugesprochen und ihn an seine Pflicht erinnert. Danach habe sich Thomas gefügt und sei per Schiff an die Malabar-Küste gelangt, in das heutige Kerala. Dort habe er gepredigt und Gemeinden gebildet; dann sei er weiter nach Osten gezogen und schließlich beim heutigen Chennai den Tod als Märtyrer gestorben. Wie üblich ist diese Heiligen-Geschichte umrankt von allerlei Wunderheilungen und gottvollem Zauberwerk und bietet auf den ersten Blick wenig
Anlass, sie ernst zu nehmen. Der zweite Blick interessierter Forscher aber fand viele Belege für einen tatsächlichen historischen Kern der Legende. „Es dürfte zutreffen, dass der Apostel Thomas in Indien gepredigt hat“, sagt der Tübinger Kirchenhistoriker Helmut Waldmann. Man nimmt heute an, dass der Apostel die üblichen, gut ausgebauten Handelswege über Alexandria ins Rote Meer per Schiff benutzte und etwa 20 Jahre nach der Kreuzigung Jesu, also im Jahr 50 unserer Zeitrechnung, in Indien an Land ging. Mit seiner jungen Botschaft des Christentums stieß er dort auf die bereits 500 Jahre alte Lehre des Gautama Buddha und den 1500 Jahre alten, breit gefächerten Götterglauben der
Hindus. Zwei alte, überaus erfolgreiche Glaubensrichtungen und eine neue, die trotzdem Erfolg hatte. Wie passte das zusammen?
Religionen fehlte und dem christlichen Apostel Anhänger verschaffte. In einem anderen Punkt aber hatte die Glaubenswelt des Apostels Thomas mit dem, was wir heute von der papstgeführten Amtskirche kennen, nicht viel gemein. Und dafür umso mehr mit dem Denken seiner östlichen Zuhörer: Der Gott im Christentum, wie Thomas es sieht, ist keiner, der straft und zürnt und Huldigung verlangt. Er ist präsent in seiner Schöpfung, wohnt in jedem Baum und jedem Menschen. Braucht keine Priester, welche die Einhaltung seiner Regeln kontrollieren und den Kontakt mit ihm vermitteln. Hindus und Buddhisten ist diese Vorstellung vertraut; was wir Gott nennen, ist für
sie eine Art Weltseele, allsehend, allhörend, allverstehend, in allen Wesen gegenwärtig wie Salz im Meer. Im frühen Christentum gab es denselben Gedanken. „Ich bin das Licht, das über allem ist. Ich bin das All. Spaltet ein Stück Holz – ich bin da. Hebt den Stein auf, und ihr werdet mich finden.“ Ein Satz, der nach Buddha klingt, aber Jesus Christus zugeschrieben wird. Der ihn überliefert hat, ist kein anderer als der „ungläubige“ Thomas. In einem Evangelium, das nach ihm benannt ist. Im frühchristlichen Streit um das rechte Verständnis von Gott und Glauben siegten andere. Und die Sieger haben seither diktiert, woran und wie Christen zu glauben haben.
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ie Antwort ist: Viel besser, als man sich das heute vorstellen würde. Ja, der Christ Thomas hatte den Indern etwas zu bieten, das sie in dieser zupackenden Ausprägung nicht kannten: den Impuls, die Welt zu verbessern. Die neue Power des Christentums, das war – und ist – sein Gebot der aktiven Nächstenliebe. Bis in unsere Tage führt es zur Gründung von Schulen, Universitäten, Kranken- und Waisenhäusern. Es muss diese Power gewesen sein, die den alten, „passiven“
BRIDGEMAN IMAGES
P.M. HISTORY – NOVEMBER 201
Welche Bücher das Neue Testament bilden sollten, kristallisierte sich in einer jahrhundertelangen Diskussion der Kirchenväter heraus. Es wurden die vier Evangelien nach Markus, Matthäus, Lukas und Johannes, dazu die Apostelgeschichte und einige Briefe, insgesamt nicht mehr als 27 Doku mente. Zuletzt stieß die Offenbarung des Johannes hinzu. Für alle anderen frühchristlichen Schriften, die sogenannten „Apokryphen“, ordnete bald darauf der fanatische Bischof Athanasius an, dass sie aus allen Klosterbibliotheken verbannt und verbrannt werden müssten. So geschah es auch mit den Schriften des Thomas. Sie wurden dem Vergessen übereignet. Für 1600 Jahre. Doch im Dezember 1945 sorgte ein Zufallsfund für eine archäologische Sensation und ein theologisches Erdbeben. Bauern im oberägyptischen Nag Hammadi stießen in einer Höhle auf einen versiegelten Tonkrug, den vermutlich Mönche eines nahen Klosters versteckt hatten, um die aus ihrer Bibliothek verbannten Schriften vor den Flammen zu bewahren. Inhalt: Eine Textsammlung in der koptischen Sprache der ägyptischen Urchristen; darunter eine Schrift mit dem geheimnisvollen Titel „Die geheimen Worte des Thomasevangeliums“.
D
ieser Text erwies sich als reines Dynamit. Er erzählte eben nicht, wie die vier biblischen Evangelien, das Leben und die Taten des Jesus von Nazareth nach, sondern gab ausschließlich dessen Worte wieder, die er an den Apostel Thomas gerichtet haben soll. Und die klingen durchaus anders als das, was die Kirchenväter für ihren Bibel-Kanon auswählten. Dort, im Johannesevangelium, ist Jesus die absolute Autorität, an der keiner vorbeikommt: „Ich bin das Licht der Welt.“ Im Thomasevangelium dagegen sagt er: „Es existiert Licht im Innern eines Lichtmenschen, und er erleuchtet die ganze Welt.“ Mit anderen Worten: Jeder trägt ein göttliches Licht in sich; es kommt darauf an, dieses Licht zu entdecken, anzufachen und zu verbreiten. Nicht in den Predigten irgendwelcher
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P.M. HISTORY – NOVEMBER 2016
SPRENGSTOFF AUF PAPYRUS Eine Seite des wiederentdeckten Thomasevangeliums in koptischer Sprache. Die Niederschrift stammt aus der Mitte des 4. Jahrhunderts
Päpste oder Priester, nur im eigenen Inneren kann man Gott erfahren – als Anteil des eigenen Daseins. „Wenn ihr jenes in euch erzeugt“, so sagt Jesus laut Thomas, „dann wird das, was ihr habt, euch erretten.“ Der Jesus dieses Evangeliums ist kein Chefkoch, der Rezepte verkündet. Er schreibt nicht vor, was man tun und glauben soll, sondern fordert auf, Gott im eigenen Inneren zu erkennen. „Wenn einer das All erkennt, aber sich selbst nicht, so verfehlt er alles.“ Für die frühe christliche Kirche war das eine gefährliche Botschaft. Sie stellte ihre Existenzberechtigung infrage. Wenn es einen direkten Zugang des Menschen zu Gott gibt und Gott sich in jedem Menschen manifestiert,
wozu braucht er dann Priester? Kein Wunder, dass solche „Gnostiker“ als Feinde bekämpft und ihre Schriften verdammt wurden. Und dass vom prominenten Patron der Botschaft, dem Apostel Thomas, das polemische Bild eines „Ungläubigen“ gezeichnet wurde. Das Johannesevangelium, so urteilt die amerikanische Religionswissenschaftlerin Elaine Pagels, wurde als Kampfschrift genutzt mit dem Ziel, die Anhängerschaft des „ungläubigen Thomas“ in Verruf zu bringen. Wie konnte es in einer Religion, in der es um Nächstenliebe geht, zu solchen Zerwürfnissen kommen? Das ist nur aus der Zeit heraus zu verstehen. Die Lehre des in Jerusalem Gekreuzigten breitete sich im bereits morschen
Religionsgeschichte
dass die Gemeinden, die diesen Glauben lebten, überall stürmisch expandierten. Und dass die neue Lehre dort, wo sie Fuß fasste, von den bisherigen Eliten bis aufs Blut bekämpft wurde.
A FUNDORT Der Tonkrug mit den Texten lag in diesem Bergmassiv. Das nahe gelegene Dorf Nag Hammadi gibt den Funden bis heute ihren Namen
ENTDECKER Der Bauer Muhammad Ali fand die Schriften im Jahr 1945
Römischen Reich aus wie ein Buschfeuer. Den Kabalen und Intrigen der alten Römer-Götter stand plötzlich eine revolutionäre junge Lehre gegenüber. Deren Nächstenliebe-Konzept schloss sogar Huren und Sklaven ein und proklamierte nicht nur ein neues Gottes-, sondern auch ein neues Menschenbild. Und die Gemeinden der Christen lebten diese Nächstenliebe vor. Ihre Priester ließen sich nicht bezahlen wie die der antiken Tempel, sie bestachen ihren Gott nicht mit teuren Opfergaben, sondern vertrauten seiner Liebe. Die Christen hielten zusammen wie Familien und kümmerten sich um Arme, Schwache, Kranke. Da war eine völlig neue Kraft spürbar, die Kraft eines Gottes, der liebte und Liebe erweckte. Kein Wunder,
ber man muss sich diese christliche Bewegung als einen Flickenteppich von Gruppen mit unterschiedlichsten Glaubensausprägungen vorstellen. Klare Normen, feste Bekenntnisse, eine vorgeschriebene Liturgie gab es nicht. Jahrhundertelang gestaltete jede Gruppe den Gottesdienst und die Aufnahme neuer Gemeindemitglieder so, wie sie es für richtig hielt. Des wegen gab es auch Rivalitäten zwischen den Fraktionen und ihren religiösen Führern. Wer war Jesus wirklich? Wie lautete seine Lehre? Wie folgte man ihr? Fragen, die hitzige Auseinandersetzungen auslösten. Und sogar brutale Feldzüge, wie den des Bischofs Johannes von Ephesos, der mit einer Armee im phrygischen Pepouza einfiel, weil dort die Gemeinde der „Neuen Prophetie“
Allerdings spricht er nur im Johannesevangelium so apodiktisch. Die anderen Evangelien kennen einen derart dogmatischen Jesus nicht. Das Johannesevangelium wurde bald zur wichtig s ten Schrift der „römischen“ Fraktion in der christlichen Bewegung. Denn mit keinem anderen Text ließ sich so gut die Forderung nach Eindeutigkeit der christlichen Lehre und nach Einheit der Kirche begründen. Doch was zunächst noch der Einheit dieser jungen Kirche gegen äußere Widerstände gedient haben mag, das nutzten ihre Amtsträger bald für eine rigorose Gleichschaltung. Mit dem Dogma waren abweichende Glaubensrichtungen innerhalb der christlichen Bewegung nicht nur besiegt, sie waren vernichtet. Und dieses gesäuberte und gleichgeschaltete Christentum wurde dann im Jahr 391 römische Staatsreligion. Die ursprüngliche Glaubensbewegung von Ohnmächtigen verband sich mit der Macht des Staats. Ohne diese Allianz wären die Kreuzzüge, die Inqui-
Wurde das Johannes-Evangelium als Kampfschrift genutzt, um den Apostel Thomas zu diffamieren? immer erfolgreicher wurde – und dazu von einer Frau geleitet wurde. Die auch noch allen Ernstes behauptete, die göttliche Offenbarung gehe noch weiter, sei noch nicht mit den Dokumenten der Bibel abgeschlossen! Die Machthaber der gerade im Aufbau befindlichen Amtskirche aber wollten Einheit, Geschlossenheit, wollten finale Wahrheiten. Und dazu genügten die 27 Dokumente des biblischen Kanons vollauf, jedes weitere, so die Befürchtung, würde nur Unruhe stiften. War nicht auch alles Nötige gesagt, um eine große Gemeinde im Griff zu behalten? „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“, spricht Jesus im Johannesevangelium, „niemand kommt zum Vater als nur durch mich.“
sition und die Ketzerverfolgungen nicht möglich gewesen. Zudem führte sie zu einer spirituellen Verarmung. Das erlebte noch Anfang der 1970erJahre der deutsche Benediktiner Willigis Jäger, als er sechs Jahre lang in einem japanischen Zen-Kloster lebte – und dort einer „erfahrungsgesättigten Metaphysik“ begegnete, die er aus seinem Christentum nicht kannte. Danach konnte er sich nicht mehr an die Dogmen der katholischen Kirche halten. „Ich meinte, den christlichen Kirchen etwas zurückgeben zu müssen, was sie verloren haben: ihre Mystik. Ich fragte mich, warum das Mystische in anderen Religionen die Grundlage bildet, im gegenwärtigen Christentum aber so gut wie keine Rolle spielt.“
FOTOS
P.M. HISTORY – NOVEMBER 201
Religionsgeschichte
Natürlich war dem Pater eigentlich klar, woran das lag: Rigoros war die Amtskirche in Europa gegen alle vorgegangen, die ein anderes Bild von Gott entwickelten und etwa einen mystischen Zugang zu ihm verkündeten. Selbst der große mittelalterliche Mystiker Meister Eckhart wurde der Ketzerei
der Bibel? Zu Spekulationen führt der Name, denn „Toma“ ist in der aramäischen Sprache, die damals in Palästina gesprochen wurde, der Ausdruck für Zwilling. Auch in der griechischen Version des Johannesevangeliums wird Thomas „Didymus“ genannt – Zwilling. Was das bedeutet, ist bis heute umstrit-
Christen in Indien lebten mehr als 1000 Jahre lang in Frieden mit Buddhisten und Hindus
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hinaus ragen, bezeugen das bis heute: Ein Kreuz krönt die Architektur eines indischen Tempels, auf den Innenwänden blasen Engel ihre Trompeten so schön, dass sich ihnen Krishnas NandiStiere sanft zu Füßen legen, auf der Fassade räkeln sich Fabelwesen, die zu den Inkarnationen von Vishnu gehören – die Bilder der Bibel und der Hindu-Veden bilden eine fröhliche Wohngemeinschaft.
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ffensichtlich waren die Vorstellungen vom Glauben, die der christliche Apostel nach Indien mitbrachte, und diejenigen, die er dort vorfand, sich nicht allzu fremd. Die Kirche als Institution war Nebensache. Im Buddhismus und Hinduismus gibt es sie gar nicht. Im indischen Christentum behielt sie stets die Bedeutung von Gemeinde, Familie, Weggefährtenschaft. Diesem Verständnis entspricht es, dass Priester heiraten können, dass nur verheiratete Priester die Beichte abnehmen dürfen, dass auch Laienprediger das Wort Gottes verkünden, dass Fragen wie die Empfängnisverhütung jedem selbst überlassen bleiben, dass es nie eine Verdammung Andersgläubiger gab. Thomas-Christen legen im Gottes-
beschuldigt und entkam dem Inquisitionsverfahren nur dadurch, dass er rechtzeitig starb. Als Pater Willigis Jäger seine neuen Einsichten aus Asien verkündete, erhielt er von Joseph Ratzinger, dem damali gen Leiter der römischen „Glaubenskongregation“ und späteren Papst Benedikt Redeverbot – auch im 20. Jahrhundert angeblich noch „zum Schutze der Gläubigen“. Aber was wäre, wenn die „geheimen Worte“ des Thomasevangeliums die Botschaft des historischen Jesus genauer wiedergeben als die Evangelien
ten. War er ein Zwillingsbruder von Jesus? Ein besonders enger Vertrauter? Besonders wilde Spekulationen fragen: Ist Jesus vielleicht gar nicht am Kreuz gestorben, sondern hat, nachdem er aus einem Koma erwacht war, mit neuer Identität als Thomas weitergelebt? In Indien? Gesichert ist, dass die von Thomas missionierten Christen in Indien mehr als 1000 Jahre lang mit Buddhisten und Hindus in freundlicher Koexistenz lebten. Die alten Kirchen in Kerala, deren kurze Türme kaum über das Dickicht der Palmen und Gummibäume
THOMASKREUZ Ein Altar in Kerala zeigt eine gebrochene Variante des Apostelsymbols – ein Kreuz mit verzierten Enden
ABENDMAHL Eine Messe in der Kirche St. John’s Dayara in Kerala. Die Thomas-Christen haben einen eigenen Ritus, der sich von dem katholischen unterscheidet. Auch spielt die Meditation für sie eine größere Rolle – wie bei den anderen Religionen in Indien
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WAR JUDAS WIRKLICH ein Verräter? Das Judasevangelium erzählt etwas ganz anderes (Fresko, 14. Jahrhundert)
Welches Wort Gottes ist das wahrste? Der Apostel Matthäus, ein Dolmetscher von Petrus namens Markus, der griechische Arzt Lukas und der Lieblingsjünger Jesu Johannes – diese vier gelten als die Autoren der Evangelien. Tatsächlich aber hat wohl keiner von ihnen die Texte selbst verfasst. Diese entstanden zwischen 70 bis 100 n. Chr., also einige Jahrzehnte nach Jesu Tod. Daher haben wahrscheinlich nicht Augenzeugen die Evangelien aufgeschrieben, sondern unbekannte Autoren haben ältere Quellen gebündelt, etwa
dienst stärker den Schwerpunkt darauf, Gemeinschaft mit Gott zu erfahren. „Natürlich glaube ich, dass es so etwas wie eine göttliche Substanz in jedem Menschen gibt“, sagt etwa Father Jacob, Priester und Theologie-Professor. Lächelnd fügt er hinzu: „Ja, genau wie die Gnostiker.“ Father Jacob gehört zu einer traditionellen Gemeinde der Thomas-Christen, die heute in Indien, selbst unter den dort lebenden Christen, eine Minderheit bilden. Denn kaum waren die Portugiesen 1498 in Kerala gelandet, entwickelten ihre Missionare auch schon römisch-katholischen Bekehrungseifer. „Die Idee, dass es Einheit in Verschiedenheit geben könnte, war ihnen völlig fremd“, sagt Father Jacob. „Sie setzten alles daran, die kirchliche Disziplin, Liturgie und die anderen Eigentümlichkeiten zu vereinheitlichen. Manche Missionare gingen so weit, von
lose Sammlungen von Jesuszitaten. Neben diesen vier gibt es viele weitere Beschreibungen des Lebens Jesu, von denen die meisten später entstanden. Das Thomasevangelium wurde wohl erst Mitte des 2. Jahrhunderts niedergeschrieben, allerdings fußt es ebenso auf älteren Quellen. Das Petrusevangelium vom Ende des 1. Jahrhunderts soll ein Augenzeugenbericht der Passion Jesu sein. Das Judasevangelium aus der Mitte des 2. Jahrhunderts interpretiert die Ereignisse radikal um: Hier ist Judas nicht mehr der Verräter, sondern der einzige Verbündete Jesu;
den Thomas-Christen eine erneute Taufe zu verlangen.“ Die römisch-katholische Kirche hatte stets auf der Vorstellung eines personalen, herrschenden, strafenden Gottes beharrt. Nur ein solcher Gott konnte schließlich einen Stellvertreter auf Erden haben, der in seinem Namen herrschte. Jetzt gingen die Vertreter der Kirche also auch in Indien gegen diejenigen vor, die einen anderen Zugang zu Gott für sich beanspruchten als den über angeordnetes Beten, Beichten und Büßen. Den Jesuiten gelang es, Teile der Thomas-Christen unter päpstliche Kontrolle zu bringen; sie vernichteten systematisch die alten Kirchenchroniken, sie setzten importierte Bischöfe ein und weihten junge Priester im Schnellverfahren. Das „Gesetz des Thomas“, nach dem die indischen Christen einst lebten? Das
er liefert Jesus nur nach Absprache mit ihm aus, um dessen Heilsplan zu verwirklichen. Das Philippusevangelium vom Ende des 3. Jahrhunderts erzählt von einer engen Verbindung Jesu zu Maria Magdalena. Im Kindheitsevangelium nach Thomas (Ende des 2. Jahrhunderts) formt der junge Jesus Spatzen aus Lehm und erweckt sie zum Leben. Einige apokryphe Evangelien waren im Mittelalter verbreitet und haben die religiöse Symbolik stark geprägt. So stammt die Veronika mit dem Schweißtuch aus dem Nikodemusevangelium von Anfang des 4. Jahrhunderts. Dem Pseudo-Matthäusevangelium aus dem 7. Jahrhundert hat man Ochs und Esel in der Krippe zu verdanken. Die jüngeren Evangelien kopieren meist die früheren, welche wiederum sehr alte Quellen zitieren. Alle sind geprägt durch die Gemeinde, in der sie weitergegeben wurden. Einen ungefilterten Blick auf Jesus liefert wohl keines von ihnen.
Vermächtnis des Apostels? „Vernichtet“, sagt Father Jacob resigniert, „verbrannt, verschollen, vergessen.“ Dennoch gelang es einem Teil der Thomas-Christen, ihr religiöses Leben nach alter Tradition bis heute weiterzuführen. Mit Erfolg: Bis heute erfüllt die Kirchen der Thomas-Christen in Indien ein Klang, der wie ein leises Echo aus den Kindertagen des Christentums ist. Und eine Idee, wie das Christentum hätte werden können, wenn sich in seiner Frühzeit andere Kräfte durchgesetzt hätten. Wie anders dann wohl die Welt wäre, in der wir heute leben?
FOTO Peter Sandmeyer war vor einigen Jahren als Reporter des Magazins „stern“ selbst in Indien unterwegs – auf den Spuren der Thomas-Anhänger.
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Meisterwerk
Die Laokoon-Gruppe Gemeinschaftswerk der Bildhauer Hagesandros, Polydoros, Athanadoros (vermutlich um 100 v. Chr.)
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aokoon ist ein Außenseiter in Troja, das wird ihn das Leben kosten. Als Einziger misstraut der Priester dem riesigen Holzpferd, das vor den Toren der Stadt steht. Er schlägt gegen den Bauch des hölzernen Monstrums: Es klingt hohl. In seinen Ahnungen bestärkt, ruft Laokoon aus: „Ich fürchte die Griechen, auch wenn sie Geschenke bringen!“ Doch die Götter haben Trojas Untergang beschlossen. Jetzt ist der zweifelnde Priester im Weg. Zwei Riesenschlangen steigen aus dem Meer, winden sich um Laokoon und seine Söhne, töten sie mit gezielten Bissen. Und die Trojaner ziehen das Pferd ins Innere der Stadt. So weit die Mythologie. Sie inspiriert – wohl im ersten Jahrhundert v. Chr. – drei Bildhauer aus Rhodos, ein Kunstwerk zu schaffen, das später selbst zum Mythos wird: die Laokoon-Gruppe. Die Meister heißen Hagesandros, Polydoros und Athanadoros, und sie arbeiten so harmonisch im Team, dass man nicht sehen kann, wie sie die Statue aus mehreren Marmorblöcken zusammengefügt haben. Sie scheint aus einer Hand zu stammen. Dann aber liegt sie jahrhundertelang in einer unterirdi-
schen Kammer und kommt erst anno 1506 wieder ans Licht, ausgegraben aus einem römischen Hügel. Kein Geringerer als Michelangelo ist zur Stelle, um den Fund zu begutachten. Dem Künstler stockt der Atem. Bis in die Krümmung der Zehen ist das Werk realistisch, schonungslos haben die Bildhauer Todesangst, Verzweiflung und Qual aus dem Stein geschlagen. „Das ist“, sagt Michelangelo ergriffen, „ein Wunder der Kunst.“ Das sehen auch andere so. Im Lauf der Jahrhunderte entwickelt sich eine regelrechte Laokoon-Bewegung, die Skulptur wird zum Symbol der antiken Kunst. Wer es sich leisten kann, pilgert nach Rom, um sie zu sehen. Darunter ist auch der Kunstgelehrte Johann Winckelmann, den die Frage beschäftigt, warum Laokoon in seinem Todeskampf nicht schreit. Auch andere Fragen werden laut: Ist die Statue kein Original, sondern nur die Kopie einer älteren Bronzeskulptur? Wurde sie 100 Jahre später erschaffen? Immerhin klärt sich die Eigentumsfrage rasch: Direkt nach dem Fund erhebt der Vatikan Ansprüche und schafft die Statue hinter päpstliche Mauern. Dort steht sie noch heute.
FOTO: JE DER SCHREI Laokoon schreit nicht, worüber der Kunstgelehrte Winckelmann und der Dichter Lessing heftig disputieren: Ist dies ein Zeichen der Tapferkeit antiker Helden? Oder wollen die Bildhauer die Einbildungskraft des Betrachters anregen?
DER ARM Laokoons rechter Arm fehlt bei der Ausgrabung. Ein MichelangeloSchüler fertigt einen neuen an, den er nach oben durchstreckt – was falsch ist. Denn 1904 wird das stark angewinkelte Original in Rom gefunden und an die alte Stelle gesetzt.
Hagesandros, Polydoros und Athanadoros: die Laokoon-Gruppe, zwischen 1. Jh. v. Chr. und 1. Jh. n. Chr., Marmor, 184 cm, Vatikan, Belvedere
DIE SCHLANGE Auch der Kopf der Schlange ist jüngeren Datums und stammt aus dem 16. Jahrhundert. Doch diese Rekonstruktion ist bis heute umstritten. Der ursprüngliche Schlangenkopf soll in Höhe von Laokoons rechtem Arm gewesen sein.
DER SOHN Während Laokoon und sein Sohn zur Rechten dem Tode nahe sind, macht der ältere Sohn zur Linken den Versuch, sich zu befrei en. Aber sein Gesichtsausdruck lässt erkennen, dass er dazu nicht mehr die Kraft finden wird. Entsetzen lähmt ihn.
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Piraten
Faszination
Freiheit
Das Leben unter der Totenkopfflagge war weitaus weniger abenteuerlustig und romantisch als in Filmen und Romanen. Piraten waren keine Sozialrebellen, sondern brutale Verbrecher. Warum begeistern sie uns nur so? Von Hauke Friederichs
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ergrabene Schätze am Strand, Rum saufende Haudegen mit Augenklappe und Holzbein, schnelle Segler mit der Totenkopfflagge am Mast: Wer an Piraten denkt, der hat Abenteuer in der Karibik im Sinn. Raue Gesellen, die leben, wie es ihnen gefällt, die sich nehmen, was sie wollen, die wild fluchen und niemandem Gehorsam schulden. Ein herrlicher Mythos – ein verklärter Blick. Kinofilme wie „Fluch der Karibik“ mit Johnny Depp als Captain Jack Sparrow prägen unser Bild vom Seeräuberleben. Doch die Legendenbildung begann viel früher. Bereits in der Antike entstanden Abenteuergeschichten über die peirates. Ein Thema, das immer wieder aufgegriffen wurde. Der britische Dichter Lord Byron verfasste 1814 „Der Korsar“ – voller Exotik und Erotik. Der Roman „Die Schatzinsel“ von Robert L. Stevenson (1881) und Kapitän Hook aus
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„Peter Pan“ (1902) gingen ganz in Klischees auf – mit Folgen bis heute: keine Karnevalsfeier, kein Kinderfasching ohne Piratenkostüme, kein Spielzeugladen ohne Freibeuter aus Plastik. Jedes Land mit Küste hat seeräu-
ker-Festspiele auf Rügen, die ihm jedes Jahr wieder im Freilichttheater huldigen. Und in der Hamburger Hafencity steht ein Denkmal für den Piraten, der angeblich einst zu den Erzfeinden der Hansestadt zählte. Finanziert von Kauf-
Tausend Entbehrungen und fast niemals einen Schatz: Das freie Piratenleben? Ein Mythos! berische Nationalhelden. England feiert seinen Francis Drake, die Niederlande ehren Piet Hein, die Franzosen benannten neun Kriegsschiffe nach René Duguay-Trouin. Und Deutschlands berühmt- berüchtigter Pirat, Klaus Störtebeker, der im 14. Jahrhundert die Nord- und Ostsee unsicher gemacht haben soll, gab einer Biermarke seinen Namen. Zudem gibt es die Störtebe-
leuten, den Pfeffersäcken, deren dickbauchige und langsame Koggen gnadenlos von den Vitalienbrüdern gejagt wurden. Tatsächlich waren Piraten brutale Verbrecher, die raubten, entführten, mordeten und vergewaltigten. Was fasziniert uns nur an ihnen? Es ist derselbe Reiz, den auch der legendäre Räuberhauptmann Schin der-
EDLER SCHUFT Errol Flynn bedient im Film „Unter Piratenflagge“ viele Klischees. Er erobert Schiffe und Herzen
hannes, ein König der Diebe aus dem Sherwood Forest namens Robin Hood und der Mafiapate Al Capone ausüben. Sie verkörpern Macht, Reichtum und vor allem: Freiheit. Die historische Realität sah jedoch anders aus. Schätze, die sie am Strand vergraben konnten, erbeuteten in Wahrheit nur die wenigsten Piraten. So jagten die Vitalienbrüder die Koggen der Hanse, die mit Bier aus Hamburg, Roggen aus Pommern oder Stockfisch aus Bergen beladen waren. Kisten voller Goldmünzen? Die gab es auf Nord- und Ostsee nicht zu rauben. Reich wurden nicht die Seeräuber, sondern skrupellose Händler, die mit ihnen Geschäfte machten, die gekaperte Ware günstig kauften und teuer feilboten. Reichtümer konnten Freibeuter im 16. und 17. Jahrhundert allenfalls in der Neuen Welt rauben. Hier verluden die Spanier tatsächlich von Azteken und Mayas geraubte Schätze auf ihre Galeo-
nen sowie Silber aus den Bergwerken. Leichte Beute war das aber nicht: Meist segelten die Galeonen in großen Konvois heim über den Atlantik, begleitet von schwer bewaffneten Kriegsschiffen. Jeder Überfall bedeutete ein großes Risiko für die Angreifer. Mörderisch verliefen die Gefechte: Die Geschütze wurden mit Nägeln und Schrapnellen geladen. Sie zerfetzten Körper, ließen die feindlichen Schiffe aber weitgehend unbeschädigt. Die aufgebrachten Segler sollten nach der Schlacht weiter genutzt werden. Verwundete Seemänner hingegen mussten an Land gehen – ohne Einkommen. Anders als im Film konnte ein Seeräuber mit einem Holzbein oder Eisenhaken an Stelle einer Hand nur schlecht seinen Dienst an Bord verrichten: Die Arbeit auf den Planken eines Piratenschiffs war schon ohne Gebrechen hart genug. Wie sollte ein Versehrter mit nur einem Arm oder einem
Bein in die Takelage klettern – bei Wind und Wellengang? Bei Sturm schwankte alles, selbst gesunde Matrosen mit allen Gliedmaßen gingen immer wieder über Bord. Da kaum ein Seeräuber schwimmen konnte, endeten solche Unfälle meistens tödlich. Und die besungene Freiheit der Freibeuter? Piraten waren vor allem vogelfrei. Wenn sie von der Marine aufgegriffen wurden, baumelten sie meist kurz darauf am Mast. Auf Piraterie stand die Todesstrafe. Als gesuchte, geächtete Verbrecher konnten Seeräuber die meisten Häfen nicht anlaufen, ihnen blieben schäbige, verruchte Stützpunkte wie Port Royal auf Jamaika. Dort gaben die Piraten ihr Geld in überteuerten Kneipen aus. „15 Mann auf des toten Mannes Kiste, Jo-ho-ho und ’ne Buddel voll Rum“, heißt es in einem Lied. Gesoffen haben die meisten Piraten tatsächlich. Im Rausch ließ sich ihr hartes Leben leichter ertragen. ■
FOTO: ACTION PRESS
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Der Schrecken Richard Sievers ist heute unbekannt – aber zu seiner Zeit war er der bedeutendste deutsche Freibeuter aller Weltmeere. Sein Traum: das Gold der indischen Mekkapilger. Doch das Schicksal ließ ihn vor seinem größten Coup unermessliche Rückschläge erleiden. Porträt eines Hartnäckigen Von Michael Schophaus
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der Pilger
AUF ZUM ENTERN Piraten sind für ihre Überfälle bekannt, tatsächlich machten diese nur einen kleinen Teil ihrer Zeit an Bord aus (Gemälde von Frederick Judd Waugh, 1861–1940)
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Piraten
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m Herbst des Jahres 1694 beschließt Richard Sievers, reich zu werden. Er steht im Hafen von Rhode Island an der amerikanischen Ostküste, fern seiner deutschen Heimat, und er träumt sich aufs Meer hinaus. Dort, ganz weit draußen, müssen die Schiffe sein, die so viele Schätze in ihren Bäuchen tragen, dass sie fast Schlagseite bekommen. Der deutsche Seefahrer träumt vom Mohrengold. Sievers, Mitte 30, besitzt in diesem Moment nicht mehr, als er am Körper trägt. Gerade erst ist er dem Galgen in London entkommen, ist nach Amerika geflohen, wie so viele, die keine Zukunft mehr in Europa haben. Es wird Zeit, dass sich sein Leben ändert. Sievers beschließt, Pirat im Indischen Ozean zu werden. Seine Epoche wird später als Goldenes Zeitalter der Piraterie in die Geschichte eingehen, und Richard Sievers mit ihr, als damals wohl bedeutendster deutscher Freibeuter. Im Indischen Ozean wird er zum Kapitän aufsteigen und einen gigantischen Schatz erbeuten. Doch seine Geschichte erzählt wie kaum eine andere vom echten Leben der Piraten, vom entbehrungsreichen Alltag – und ihrem oft unglücklichen Ende. Geboren wurde Sievers wohl um 1660 in der Umgebung von Hamburg. Wo er das Navigieren gelernt hat, ist unklar, vermutlich während einer Zeit in der Royal Navy. 1692 heuert er auf einem englischen Kaperschiff an. Als man ihn schnappt, verurteilt ihn ein Gericht zum Tode, doch er wird begnadigt. Viel mehr ist über Sievers Vorleben nicht bekannt. Die Weltbühne betritt er erst, als er in Rhode Island eintrifft. Ab diesem Zeitpunkt lässt sich sein Leben verblüffend detailliert rekonstruieren: aus den Berichten überfallener Seeleute und den dokumentierten Geständnissen gefangener Piraten.
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HEIMATLOS In den britischen Kolonien in Amerika werden ständig neue Seeräuber angeworben
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Ein Aufbruch voller Gier und Hoffnung
Newport auf Rhode Island, 200 Kilometer nördlich von New York, ist damals eine der größten Handelsstädte der britischen Kolonie in Amerika – und Heimathafen vieler Seeräuber. Als Sievers 1694 dort ankommt, gibt es seit Monaten nur ein Thema in den Spelunken und Freudenhäusern der Stadt: die Raubzüge von Kapitän Thomas Tew. Der hatte im Roten Meer indische Pilger überfallen, die auf dem Weg nach Mekka waren. Im Frühjahr war er heimgekehrt, sein
Schiff „Amity“ hatte immensen Tiefgang vor lauter Beute: Silbermünzen, Gold, Elfenbein, Edelsteine. Die Ankunft der „Amity“ löst unter den Seeräubern eine Hysterie aus. Hoffnung, Schnaps und Gier liegen in der Luft. Was für ein reich gedeckter Tisch im fernen Osten! Zahlreiche Schiffe werden für eine Fahrt in den Indischen Ozean aufgetakelt. Das ist Sievers Chance auf ein neues Leben: Er heuert auf dem Zweimaster „Portsmouth Adventure“ an, wird sogar Navigator. Damit ist er der zweite Mann an Bord, gleich nach Kapitän Joseph Faro.
■ SIEVERS’ REVIER Ab 1693 ist der Indische Ozean ein Schwerpunkt der weltweiten Piraterie
Persischer Golf INDIEN
Rotes Meer Mekka
Im Dezember 1694 läuft die „Portsmouth Adventure“ aus. Ein Schiff, das unter seinem Alter ächzt. 60 Mann, Schweine, Ziegen, Gänse, Hühner, Fässer mit gepökeltem Fleisch, Wasser, Rum. Zwischen den Holzbalken sind unter Deck die Hängematten gespannt. Sie schwanken im Rhythmus des Meeres, es stinkt nach Teer, Kot und Schimmel. Die Männer wissen: Viele von ihnen werden Amerika nicht wiedersehen. Die Fahrt über den Atlantik dauert Monate. Die Männer nutzen die Zeit, um sich das Schießen an den Geschützen beizubringen. Mit sechs Kanonen ist die Bark nicht für eine große Seeschlacht geeignet. Die „Portsmouth Adventure“ ist kein Schiff zum Fürchten. Jeder Schuss muss deshalb sitzen, das Schicksal der ganzen Besatzung kann eines Tages davon abhängen. Richard Sievers navigiert den Zweimaster durch die unberechenbaren Meere. Zuerst mit dem Nordostpassat im Nacken entlang der Küste von Brasilien. Dann, bei 30 Grad südlicher Breite, mit Westwind über den Atlantik nach Afrika. Tag und Nacht steht er am Ruder, das Meer verzeiht keinen Fehler. Am Kap der Guten Hoffnung steuert er in den Indischen Ozean hinein. Die Zustände an Bord sind mittlerweile höllisch. Das Wasser geht zur Neige, das Vieh ist längst geschlachtet. Hunger bricht aus. Verzweifelt halten die Piraten Angeln ins Wasser, prügeln sich um Fliegende Fische, die aufs Deck fallen. Sie fangen mit bloßen Händen Schildkröten, knacken den Panzer, braten ihr Fleisch. Es verursacht starken Durchfall. Dann bricht auch noch Skorbut aus. Bei etlichen Männern beginnt der Gaumen zu faulen, der Koch leiht den Kranken seine schärfsten Messer: Sie müssen sich die Eiterherde selbst herausschneiden. Um den Mund zu desinfizieren, spülen sie ihn mit ihrem eigenen Urin aus.
Surat Bombay
Golf von Bengalen
Arabisches Meer
ARABIEN
Str
Mokka
Golf von Aden Malediven
Ceylon
Bab el-Mandeb
Seychellen Komoren
INDISCHER OZEAN
Mayotte Sainte Marie
AFRIKA
MADAGASKAR
Tafelberg Kap der Guten Hoffnung
FOT ■ NAUTISCHES ASTROLABIUM Zwischen 1500 und 1700 wurde mit dem Instrument auf hoher See die Position eines Schiffs anhand des Stands der Sonne und des Polarsterns bestimmt
Die Kranken werden zur Ader gelassen, manche sterben, jämmerlich, würdelos, brüllend vor Schmerz. Ihre Leichen werden in Leinen eingenäht, mit einer Kanonenkugel beschwert und der See überlassen. Die Habseligkeiten der Toten versteigert man am Fockmast. Im April 1695, nach fünf Monaten, erreichen sie endlich Madagaskar. Die Insel an der Ostseite Afrikas ist mit ihren kleinen, versteckten Buchten ein beliebter Unterschlupf für Seeräuber und andere Halunken. Hier rüstet die Mannschaft die „Portsmouth Adventure“ für die anstehenden Kaperfahrten auf. Sie ziehen das Schiff an den Strand, holen Kiel, um Muscheln, Seepocken und Krebse vom Rumpf zu kratzen, denn diese machen die Bark langsam. Sie füllen ihre Vorräte wieder auf, dann setzen sie ihre Fahrt fort. Ihr Ziel: die Meerenge Bab el-Mandeb, die das Rote Meer und den Indischen Ozean verbindet.
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Verfolgungsjagd Indischen Ozean
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Etwa 30 Kilometer schmal ist das Nadelöhr, durch das alle müssen, die per Schiff von Indien ins Rote Meer und zurück wollen. Indien wird damals von muslimischen Herrschern, den Mogulen, regiert. Sie exportieren Seide, Gewürze und Farbstoffe von Europa bis China. Auch auf die Arabische Halbinsel, wo die muslimischen Händler zugleich Mekka besuchen. Pilgern und Handel gehen auf diesen Reisen Hand in Hand. Auch in diesem Jahr sind mehrere Flotten des Moguls unterwegs: Auf ihrem Rückweg nach Indien haben sich zwei Dutzend Pilgerschiffe Berichten zufolge in Mokka versammelt, einem Hafen im Roten Meer, der durch den
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Piraten
Kaffeehandel wohlhabend wurde. Von dort aus will die Kolonne zurück ins indische Surat. Doch dazu müssen sie die Meerenge passieren. Als die Mannschaft der „Portsmouth Adventure“ in Bab el-Mandeb ankommt, sind sie nicht die Ersten. Fünf weitere Piratenschiffe liegen in der Bucht der kleinen Insel Perim auf der Lauer. Darunter auch die schwer bewaffnete „Fancy“ von Henry Every, einem der gefürchtetsten Piraten seiner Zeit. Die Seeräuber wissen: Gegen die Flotte des Moguls haben sie nur eine Chance, wenn sie sich verbünden. Als Henry Every sich selbst zum Anführer vorschlägt, widerspricht keiner.
Das ellenlange Warten beginnt. Die Sonne brennt vom Himmel, die Männer drängen sich in den Schatten, schlafen an Deck. Über 40 Grad Hitze, tagelang geht kein Wind. Es ist ein stiller Kampf, bevor überhaupt jemand zum Säbel greift. Irgendwann erzählen arabische Fischer den Seeräubern, dass die indische Pilgerflotte Bab el-Mandeb bereits vor Tagen im Schutz der Dunkelheit passiert hat. Das Geschrei ist groß. Unter vollen Segeln setzen die sechs Piratenschiffe den Pilgern nach, an der Spitze das Schiff von Every. Sie segeln
PILGERSCHÄTZE An Bord der indischen Schiffe befinden sich große Mengen an arabischen Münzen (hier aus Silber), mit denen die Araber für die indischen Exportwaren bezahlt haben
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Richtung Surat, wollen die Kolonne vor deren Heimathafen einholen. Aber schon nach Tagen fällt die Gruppe der Verfolger auseinander. Die „Portsmouth Adventure“ kann einige Zeit mithalten, dann verliert auch sie den Anschluss. Als Richard Sievers nach Wochen wieder zur Spitze aufschließt, ist der Kampf längst vorbei: Ausgeplündert dümpeln zwei Pilgerschiffe im Meer. An Bord hatte Every ein Massaker veranstaltet, das selbst für die damalige Zeit beispiellos ist.
MUSKETE Die Waffe war auf hoher See beliebt, sie bestand aus Holz und Messing. War alle Munition verschossen, diente sie auch als Schlagwaffe
Kurz vor Surat hatte er das Handelsschiff „Fath-i-Mahmamadi“ eingeholt. Der Zweimaster, mit sechs Geschützen nur unzureichend bewaffnet, hatte nur drei Kanonenschüsse abgegeben – und dann rasch die Segel gestrichen. Die Piraten plünderten ihn bis auf den Kiel, strichen Gold und Silber ein, insgesamt 40 000 Pfund. Doch das reichte Every nicht: Er wollte mehr. Und er griff gleich das größte Schiff der Kolonne an, die „Ganji-Sawai“: ein Dreimaster von 500 Ton-
nen, hochgerüstet mit mehreren Dutzend Kanonen und 400 Soldaten an Bord. Solch einen Angriff hatte vorher noch keiner gewagt. Drei Stunden dauerte das Gefecht. Dann brachte Every mit einem Treffer in den Großmast der „Ganj-i-Sawai“ diesen zum Einsturz. Im heillosen Durcheinander drehte er daraufhin sein Schiff längsseits, direkt neben das Pilgerschiff, seine Männer sprangen hinüber und enterten es. Fürchterliche Szenen müssen sich über Tage auf der „Ganj-i-Sawai“ abgespielt haben. Die Piraten waren im Rausch. Gemetzel, Raub, Vergewaltigung. Die 600 Pilger an Bord hatten keine Chance. Wen die Piraten nicht töteten, den folterten sie, um auch an versteckte Schätze zu gelangen. In ihrer Not stürzten sich vor allem mehrere brutal missbrauchte Frauen ins Wasser, andere töteten sich selbst mit dem Dolch. Den Piraten fielen Gold, Silber, Juwelen, auch ein mit Rubinen besetzter Sattel des Großmoguls in die Hände. Mehrere Frauen wurden auf die „Fancy“ verschleppt, sie werden nie mehr wiedergesehen. Der Gewaltexzess geht in die Geschichte ein, macht Henry Every zur Legende – und zum reichsten Piraten der Welt. Als die letzten Nachzügler der ursprünglichen Piratenflotte eintreffen, versammeln sich die Seeräuber in einer Bucht südlich von Bombay. Die 180 Männer stimmen über die Verteilung der Beute ab, insgesamt 500 000 Gold- und Silbermünzen. Die Mannschaft der „Portsmouth Adventure“ soll leer ausgehen, da sie kaum zum Erfolg beigetragen hat. Every bietet der Mannschaft immerhin 1000 Pfund Sterling für die vergebliche Mühe an. Kapitän Faro nimmt das Geld an sich – und wechselt die Fronten: Er geht auf die „Fancy“. Die Besatzung der „Portsmouth Adventure“ hat nichts. Nicht einmal mehr einen Kapitän.
ANGRIFF AUF EINE GALEONE Anfang des 20. Jahrhunderts veröffentlicht der Illustrator Howard Pyle eine Reihe von Gemälden zur Piraterie. Diese prägen bis heute unser Bild der Seeräuber
FOTO Und Richard Sievers? Ergreift seine Chance. Als Navigator übernimmt er das Kommando und steuert die Insel Mayotte auf den Komoren an, doch er erreicht sie nur mit Mühe. Die „Portsmouth Adventure“ hat es hinter sich. Sie ist morsch und leck, die Mannschaft muss sie aufgeben. Die Männer zerlegen die Bark, aus den Segeln bauen sie Zelte für den Strand, die Planken reißen sie heraus, bis bald nur ein Gerippe übrig ist. Dieses stecken sie anschließend in Brand, um die wertvollen Nägel zu retten. Dann beginnt das Warten.
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Die lange Durststrecke
Monatelang starren die Seeräuber aufs Meer, spähen nach vorüberziehenden Schiffen. Die Verzweiflung ist groß. Einige wollen sofort zurück nach Amerika, zu ihren Familien. Die Piraterie ist ein brutales Geschäft. Auch Sievers hängt grüblerischen Gedanken nach. Er könnte ja wieder zum ehrlichen Seemann werden. Aber er weiß auch, dass man auf einem Handelsschiff ein erbärmliches Dasein führt. Und dass jeder zweite Seemann
in jener Zeit damit rechnen muss, während seiner Arbeit auf dem Grund des Meeres zu landen. Dann doch lieber das Risiko in Kauf nehmen, als Pirat am Galgen zu enden – und wenigstens den Traum vom Reichtum weiter träumen!. Nach sechs Monaten kommt endlich Ende April 1696 das Freibeuterschiff „Resolution“ aus Boston vorbei. Kapitän Robert Glover ist auf dem Weg zum Roten Meer. Sievers wittert seine Chance und schließt sich der Besatzung an. Erneut hat ihn das Fieber nach dem Mohrengold gepackt.
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Kapitän Glover erweist sich allerdings als unfähig: Das Schiff ist mit über 100 Seeleuten hoffnungslos überfüllt, das Trinkwasser geht ihnen aus. Die Mannschaft muss eine kleine Insel vor der arabischen Küste ansteuern, sie verpassen die alljährliche Pilgerflotte. Die frustrierten Seeräuber meutern und setzen Glover auf einer einsamen Insel aus. Zum neuen Kapitän der „Resolution“ wählt die Mannschaft: Richard Sievers. Der Deutsche soll nun für reiche Beute sorgen. Aber die Gelegenheiten sind rar. Die Handels- und Pilgerschiffe fahren in Kolonne, geben sich gegenseitig Schutz. Oft sind auch Begleitschiffe voller Militär dabei. Die Piraten müssen auf ihre Chance warten: Darauf, dass ein Handelsschiff den Anschluss verliert, dass ein Sturm eine Kolonne auseinanderreißt oder ein geiziger, naiver oder ungeduldiger Händler sein Schiff ohne Schutz losschickt. Das Piratengeschäft ist wie eine Lotterie. Sievers hat kein Glück. Viele Raubzüge im Indischen Ozean scheitern. Auf der Fahrt nach Madagaskar gerät das Schiff im Februar 1697 in schwere See. Sievers muss die Masten kippen, um ein Kentern zu verhindern. Mit Mühe erreicht das lädierte Schiff die Insel vor Ostafrika. In wochenlanger Arbeit wird die „Resolution“ aufgerüstet und auf den Namen „Soldado“ getauft. Sievers steuert das neue Schiff bis in die Straße von Malakka vor dem heutigen Malaysia. Auf der Rückfahrt treffen sie auf das englische Handelsschiff „Sedgewick“. Sievers verfolgt es über neun Stunden, wegen Flaute muss sogar gerudert werden. Endlich kapern sie es – doch die Ladung besteht fast nur aus Pfeffer, den die Räuber nirgendwo verscherbeln können. Wieder ein Fehlschlag. Die Seeräuber sind Treibgut. So viele Jahre auf stin kenden Schiffen. So viele Jahre den Tod vor Augen. Weit weg von der Heimat. Weit weg vom Wohlstand. Sie besitzen nicht mehr, als in einen Seesack passt. Am 23. September 1698 wird sich das ändern.
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MEUTEREI Wer als Kapitän keinen Erfolg hatte, wurde abgesetzt. Manche Piratenbanden funktionierten fast demokratisch. Doch oftmals kämpften die Seeräuber auch um den Chefposten (Howard Pyle, 1911)
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Der große Coup
Wieder sind die alljährlichen Pilgerflotten des Großmoguls unterwegs. Diesmal will Sievers nicht an der Meerenge zum Roten Meer warten, sondern gleich am Ziel der Flotte, in Surat. Dort entdeckt der Ausguck die schwer beladene „Mohammed“. Das indische Handelsschiff hat den Anschluss an seine Flotte verloren. Sofort hisst Sievers die blutrote Flagge, jeder weiß, was das heißt: Kampf bis zum bitteren Ende.
Die „Soldado“ holt die „Mohammed“ ein. Feuert sofort. Zwei, drei Salven treffen die „Mohammed“. Doch auch sie schießt und trifft die „Soldado“ schwer, zwei von Sievers Männern sterben. Doch schließlich gelingt es den Piraten, das indische Schiff zu entern. Das Schiff ist voll mit Passagieren, Kisten mit Gewürzen, Kaffee und Tee fallen in ihre Hände. Doch erst als sie unter Deck gehen, realisieren sie: Sie sind reich. Mit einem Schlag. 40 000 arabische Goldstücke lagern dort, 25 000 spanische Silbermünzen, drei Truhen Korallen und zwei Säcke
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Perlen. Die Gefangenen setzen sie aus, ein paar kräftige Männer behalten sie als Sklaven. Sievers sorgt dafür, dass die Schätze gerecht unter den Seeräubern aufgeteilt werden. Jeder erhält so viel, als wäre er 50 Jahre mit einer guten Heuer zur See fahren. Die Männer sind am Ziel ihrer Träume! Nun wollen die meisten zurück in ihre Heimat. Die neue „Soldado“ (Sie-
Richard Sievers hat als Kapitän mit 1200 Pfund doppelt so viel bekommen wie seine Besatzung. Ein paar Wochen lang kann er den Verlockungen widerstehen. Doch als sie auf der Pirateninsel Sainte Marie vor Madagaskar ankommen, verprasst er in wenigen Monaten fast seine ganze Beute: bei Huren, beim Spiel und für Trinkgelage. Mit nur noch 100 Pfund in der Tasche geht er als Passagier an Bord des
Der plötzliche Reichtum verändert die Männer – Argwohn und Neid herrschen an Bord vers hat das alte Schiff versenken lassen und die viel stärkere „Mohammed“ in „Soldado“ umgetauft) sticht in See. Sie halten Kurs auf Madagaskar. Doch der plötzliche Reichtum ändert das Leben an Bord. Vorher waren die Männer auf ihrer Suche nach Reichtum vereint. Jetzt herrschen Argwohn und Neid. Um ihre Beute gegen Diebstahl zu schützen, nähen sie sich ihre Münzen in die Kleidung ein. Oder verbergen sie im Gürtel. Jahrelang haben sie von diesem Geld geträumt und dafür gedarbt. Und jetzt wissen sie nicht mit ihrem Reichtum umzugehen. Manche riskieren ihren Anteil beim Würfel- oder Kartenspiel, riesige Summen wechseln den Besitzer. Es gibt Streit.
Handelsschiffs „Margaret“. Es soll ihn nach Amerika bringen. Doch dort wird die „Margaret“ niemals ankommen. Am Kap der Guten Hoffnung gerät sie in einen heftigen Sturm. Dem Kapitän bleibt nichts anderes übrig, als mit seinem Schiff in den Hafen unter dem Tafelberg einzulaufen, dem heutigen Kapstadt. Dort wird Matthew Lowth, Kapitän des schwer bewaffneten Dreimasters „Loyal Merchant“ und Angestellter der British East India Company, auf die „Margaret“ und ihre Passagiere aufmerksam. Er hat ein Auge für Piraten. Sein Arbeitgeber, die East India Company, versucht zu dieser Zeit, den Handel in Südostasien zu dominieren, doch sie steht unter Druck: Der indische Mogul ist erzürnt über die Piraten-
angriffe auf seine Flotten, er fordert von der britischen Company, dass sie zumindest „ihre“ Piraten im Zaum hält. Lowth lässt die gesamte Besatzung der „Margaret“ unter Androhung von Gewalt auf sein Schiff bringen. Er befragt Sievers zu den Massakern auf der „Fath-i-Mahmamadi“ und der „Ganj-iSawai“. Der deutsche Navigator lügt, dass sich die Balken biegen. Er wird trotzdem in Ketten gelegt. Am 5. Januar 1700 tritt Sievers seine letzte Schiffsreise an. Er wird nach Bombay gebracht, einer Niederlassung der Briten in Indien. Dort wird er mit einigen seiner Männer in eine enge, dunkle Zelle im Dongri Fort eingesperrt. Dreck, Gestank, Hitze und Ungeziefer setzen den Gefangenen derart zu, dass die meisten von ihnen elendig verrecken. Auch Sievers stirbt nach wenigen Monaten im indischen Kerker. Sein Name gerät in Vergessenheit. In den folgenden Jahren wird die britische Krone die Seewege sichern, die Versorgungswege der Piraten abschneiden, den Nachzug neuer Seeräuber aus Nordamerika stoppen. Die Goldene Zeit der Piraterie im Indischen Ozean geht im beginnenden 18. Jahrhundert ihrem Ende zu. ■ Michael Schophaus stützte sich auf die Forschung des Historikers Arne Bialuschewski, der das Leben von Richard Sievers rekonstruierte.
DER TOD HAT SIE GEHOLT Auf dem historischen Piratenfriedhof auf der Insel Sainte Marie vor Madagaskar lassen sich heute noch Gräber der Seeräuber besichtigen
FOTOS:
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Die Wohnstatt der Seeräuber Für den Piratenhauptmann ist sein Schiff alles: Heimat, Vermögen, Waffe und Fluchtmittel.
Über die berühmten Kaperschiffe der Seeräuber
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as ist das Besondere an einem Piratenschiff? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Denn Piratenschiffe, wie sie im 17. und 18. Jahrhundert in der Karibik kreuzten, wurden nicht eigens konstruiert – sondern stets gekapert. Die meisten waren ehemalige Transporter der Handelsschifffahrt. Von Seeräubern in Besitz genommen, wurden sie mit Kanonen aufgerüstet und in Raubschiffe verwandelt, die sich nun ihrerseits auf die Lauer legten, um Beute zu machen. Die Piraten wussten, wo sich das Warten lohnte, die Bedingungen in der karibischen See zwangen die Konvois auf festgelegte Routen. Schiffe aus Europa oder Afrika mussten Passat winde und Meeresströmungen nutzen, um nach Westen zu kommen. Der Rückweg führte dagegen durch die Straße von Florida, eine andere Route ließen die Strömungsverhältnisse nicht zu. Weil die Neue Welt so reich war und Europa so gierig, waren die Handelsboote auf der Heimfahrt gefüllt mit Gold und Silber. Fuhren sie dagegen in die Kolonien, kauerten in ihren Schiffsbäuchen die Sklaven, die aus Westafrika entführt wurden. So viel Ladung machte die Gefährte schwerfällig. Auch waren ihre Matrosen keine Krieger. Gegen die Piraten, die fast immer in Überzahl angriffen, hatten sie nicht den Hauch einer Chance. Bis heute hat man nur vier Wracks eindeutig als frühere Piratenschiffe identifizieren können: die „Queen Anne’s
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FLAGGSCHIFF Blackbeards größtes Gefährt war ein hol ländischer Dreimaster mit acht Segeln – ein Pinass schiff
VORMAST Der vorderste Mast wird meist Fockmast genannt
BUGSPRIET Dieser Vorbau stützt den Fockmast
„Queen Anne’s Revenge“ Anfang des 18. Jahrhunderts machte der Pirat Blackbeard die Karibik und die Ostküste Nordamerikas unsicher (mehr dazu auf Seite 68). Nicht nur er wurde zur Legende, auch sein Schiff, die „Queen Anne’s Revenge“. Es hieß, in Wahrheit wäre sie lebendig und würde ausschließlich den Befehlen des Kapitäns gehorchen.
ILLUSTRA ANKER Er wiegt um die 1500 Kilogramm. Ihn zu heben dauerte etwa eine Stunde
FLAGGE Die Banner der Piraten sind meistens schwarz und tragen einen Totenkopf. Die Flagge der „Queen Anne‘s Revenge“ zeigt das Skelett eines Teufels, der ein Herz durchbohrt BESANMAST Bei einem Dreimaster ist der hinterste Mast identisch mit dem Kreuzmast
GROSSMAST Der mittlere Mast ist meist der größte
HECKLATERNE Diese signalisiert das hintere Ende des Schiffs. Sie befindet sich auf dem Quarterdeck, von dem aus das Schiff befehligt wird
KAPITÄNS KAJÜTE Sie befindet sich im Heck, denn hier schwankt das Schiff bei schlechtem Wetter am wenigsten. Auch lässt sich das Heck bei einer Meuterei gut verteidigen
LADERAUM Hier lagern die Vorräte der Piraten wie Frischwasserfässer und Ersatzsegel, falls Kanonenschüsse das Tuch zerfetzen
KOMBÜSE Die Schiffsküche wurde mit Ziegelsteinen ummauert, um das Ausbreiten von Feuern zu verhindern
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Revenge“ des berüchtigen Seeräubers Blackbeard, die „Whydah“ von Black Sam Bellamy, bewehrt mit 28 Kanonen, die „Speaker“ des Piratenhauptmanns John Bowen und die „Fiery Dragon“, die unter der Flagge von William Condon alias „Billy One-Hand“ fuhr. Eine Meldung, dass zudem noch das Piratenschiff „Adventure Galley“ entdeckt worden sei, hat sich mittlerweile als Irrtum herausgestellt.
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lackbeards „Queen Anne’s Revenge“ war vor der Kaperung ein Sklaventransporter gewesen, ein französischer Handelssegler namens „La Concorde“. Als der Pirat sie 1717 in Besitz nahm, machte er sie zum Flaggschiff seiner Seeräuberflotte, zu der noch drei Schaluppen gehörten, und bestückte sie mit bis zu 40 Kanonen. Ihr neuer Name „Queen Anne’s Revenge“ spielte auf die britische Königin Anne an, die vor König George I. Großbritannien regiert hatte. Und mit George hatten die Freibeuter um Kapitän Blackbeard noch eine Rechnung offen, weil er ihnen erst Kaperbriefe ausgestellt hatte und sie dann doch der Gesetzlosigkeit überließ. Blackbeards Flaggschiff wurde zur Heimsuchung der Handelskonvois in der karibischen See. Allerdings nur für den Zeitraum eines Jahres. Schon im Frühsommer 1718 lief das Schiff auf eine
PIRATENSCHATZ Diese Münzen wurden aus der „Whydah“ geborgen, die voll beladen im 18. Jahrhundert sank und vor etwa 30 Jahren wiederentdeckt wurde
Sandbank und versank. Die Ursache des Untergangs ist bis heute nicht geklärt. Hatte der Kapitän sein Schiff absichtlich stranden lassen? Jahrhundertelang lag die „Queen Anne’s Revenge“ gerade mal sieben Meter unter Wasser vor der Küste von North Carolina, bis sie am 21. November 1996 von einem amerikanischen Schatzsucher namens Phil Masters entdeckt wurde. Schätze konnten vom Wrack zwar nicht mehr geborgen werden. Denn was wertvoll und beweglich war, hatten die Piraten mitgenommen, als sie das sinkende Schiff verließen. Dennoch war Phil Masters ein einzigartiger Fund ge-
glückt: Auf fast eine Million wird die Anzahl der „piratischen“ Alltagsgegenstände geschätzt, die zum Teil noch immer am Meeresgrund liegen – weil die Konservierung von Objekten, die fast 300 Jahre im Salzwasser überdauert haben, höchst kompliziert ist. Doch einige Kanonen sind mittlerweile geborgen, manche sind sogar noch geladen, als habe die Besatzung sich kurz vor dem Untergang auf einen Angriff vorbereitet. Ebenfalls 90 Kanonenkugeln, einige bis zu sechs Pfund schwer. Knöpfe von Gehröcken, Glasperlen und Schuhschnallen sowie Essgeschirr aus Zinn und medizinische
Größe und Besatzung 1717 wurde die spätere „Queen Anne’s Revenge“ auf dem Weg von Afrika nach Martinique vom Piraten Hornigold überfallen. Dieser überließ das Schiff seinem Schützling Blackbeard, der es ausbaute und umbenannte. Das Schiff war gemacht für 125 Mann Besatzung, doch Blackbeard hatte 300 Mann an Bord. Die Ladekapazität betrug 300 Tonnen, der Tiefgang vier Meter. Trotz seiner Größe war es schnell und gut manövrierbar – ideal für ein Piratenschiff.
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LÄNGE: 32 Meter
BREITE: 7,5 Meter
Spitzmarke
I ns trumente – all das lagert heute im eigens errichteten Queen-Anne’s-Revenge-Laboratorium der East Carolina University. Das Wrack selbst ist zum Ziel für Hobbytaucher geworden.
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anchmal sind die Entdecker von Seeräuberschiffen ähnlich schillernd wie die einstigen Piratenkapitäne. Auf Phil Masters, der in aller Stille 2007 verstarb, trifft das nicht zu. Dafür umso mehr auf Barry Clifford. Der US-Amerikaner ist der Entdecker der „Whydah“, jenes britischen Frachtschiffs, das sich Black Sam Bellamy im Februar 1717 unter den Nagel riss und zum Kaperschiff umrüstete. Doch nur wenige Monate später sank es in schwerer See vor der Küste von Massachusetts. Von der 146 Mann zählenden Besatzung überlebten nur zwei. Sie hatten also keine Zeit, ihre Schätze zu retten. Daher musste dort, wo die „Whydah“ vermutet wurde, noch das meiste von dem vorhanden sein, was die Piraten einst erbeutet hatten. Das zumin dest glaubte Barry Clifford in den 1980erJahren aufgrund der Dokumente, die er studiert hatte. Er sollte recht behalten: 1984 holte Clifford, zu dessen Crew
zeitweilig auch der Kennedy-Sohn John F. Junior gehörte, aus etwa zehn Meter Wassertiefe zuerst eine Kanonenkugel, dann eine spanische Goldmünze ans Tageslicht. Doch stammten
RELIKTE Glocke, Granate und Schwertgriff von der „Revenge“. Die Granate besteht aus einer Eisenkugel voller Schießpulver und einer hölzernen Zündschnur
die Funde wirklich von der „Whydah“? Ein Jahr später konnte Clifford das beweisen: Er fand die Bordglocke mit dem eingravierten Namen des Schiffes. Und das war noch nicht alles: Im Laufe der Jahre wurden an der von ihm entdeckten Stelle 8000 Münzen geborgen, Pistolen und Habseligkeiten jener Männer, die einst als Schrecken der Meere galten. Und dann als Fischfutter endeten. 2013 machte der Abenteurer Barry Clifford erneut von sich reden. In der näheren Umgebung der „Whydah“, verkündete er, sollten noch viel mehr Münzen liegen, bis zu 400 000
Stück. Als Beweis diente ihm ein historisches Dokument, das einen solchen Schatz erwähnt. Doch bis heute ist dieser Schatz nicht gefunden worden. Und wohl auch nicht das Wrack der „Adventure Galley“ von Seeräuberkapitän William Kidd, das Clifford vor der Küste Madagaskars entdeckt haben wollte. Inzwischen zweifeln Experten am Wahrheitsgehalt seiner Aussagen. Denn der Amerikaner leistete sich grobe Fehler. Medienwirksam tauchte er im Mai 2015 nach der vermeintlichen „Adventure Galley“ und holte vor laufenden Kameras einen 50 Kilogramm schweren grauen Klotz aus dem Wasser. Ein Silberbarren, Beute aus dem Piratenschiff. Das behauptete Clifford. Falsch, entgegnete Michel L’Hour, Leiter eines Expertenteams der Unes co, das der Sache nachging. Denn der angebliche Silberbarren entpuppte sich als Bleigewicht für Fischernetze. Und was das vermeintliche Schiffswrack der „Adventure Galley“ betraf, machte der Unesco-Bericht alle Glücksritterträume zunichte: „Schiffsreste konnten nicht gefunden werden.“ Stattdessen handelte es sich bei Cliffords Fund um die Überbleibsel einer alten Hafenanlage. ■
ILL Das Kanonendeck
SCHLINGE Ein Seil hält die Kanone beim Rückstoß in Position
FEUERKRAFT Die „Queen Anne’s Revenge“ hatte 40 Kanonen, die von je vier Personen bedient wurden. Sie feuerten Kugeln von bis zu zehn Kilogramm ab
SCHWAMM Das Rohr wurde nach jedem Schuss mit Wasser gekühlt
TAKELUNG Die fahrbare Kanone wird mit Flaschenzügen befestigt, damit sie während der Segelfahrt nicht wegrollt LADESTOCK Damit wird die Kugel im Rohr nahe der Zündung platziert
LAFETTE Das oft hölzerne, fahrbare Gestell, auf dem das Rohr montiert ist. Es wog selbst um die 900 Kilogramm
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BRÜDER DER KÜSTE ZAHLTAG Die Beute wird unter den Bukaniern nach festen Regeln aufgeteilt. Für Verletzungen im Kampf gibt es Schadensersatz
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Es ist der größte Überfall in der Geschichte der karibischen Piraterie: Im 17. Jahrhundert greifen Freibeuter um Henry Morgan Spaniens Hauptstadt in der Neuen Welt an – Panama. Zum Glück für die Nachwelt ist ein Chronist zur Stelle, Morgans Wundarzt Alexandre Exquemelin. Er wird einen einzigartigen Bericht über das Leben der Piraten verfassen
Von Dirk Liesemer FLUCH DER KARIBIK Kuba und Hispaniola (Mitte), Mexiko und Panama (unten) waren im 17. Jahrhundert Zentren der Piraterie
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ie sind am Ende. Statt auf einem Beutezug befinden sich die Piraten längst auf einem Hungermarsch durch den Urwald Zentralamerikas. Seit Tagen haben sie nichts gegessen. Die spanischen Posten, die am Weg liegen, waren offenbar gewarnt. Sie sind geräumt worden. Kein Brotkrümel wurde zurückgelassen, nicht einmal ein paar faule Kartoffeln. Nun führt der Kapitän Henry Morgan seine rund 1000 Freibeuter auf einem schmalen Pfad durch den Dschungel in Richtung Panama. Dort, so hat er ihnen versprochen, gebe es reiche Beute. In der prächtigen Küstenstadt leben 3000 Menschen, wohlhabende Händler sind darunter, und natürlich der spanische Gouverneur. Wie alle Städte, die Morgan bislang erobert hat, will er auch Panama von der Landseite aus angreifen, wo niemand mit einer Attacke rechnet. Die meisten Kanonen in karibischen Häfen sind aus gutem Grund zur See hin ausgerichtet. Immer wieder greifen einheimische Waldvölker die Männer an, erschießen sogar einige der Freibeuter mit ihren Pfeilen. Doch nichts ist so schlimm wie der Hunger, der sie alle auszehrt. Sie stopfen sich Gräser in den Mund, die sie am Wegrand abreißen. In jeder Pause rauchen sie, das lindert die Hungerqualen wenigstens für einen Augenblick. Am fünften Tag entdecken sie in einem verlassenen Lager zwei Sack Mehl, etwas Weizen, zwei volle Weinkrüge und einige Kochbananen. Es reicht bei Weitem nicht, um 1000 Mägen zu füllen. Am Morgen stolpern sie weiter, immer vorwärts. Hünenhafte Kerle brechen entkräftet zusammen. Am Himmel kreisen die Truthahngeier. Die Aasfresser riechen den Tod von fern. In einem verwaisten Wachposten finden die Freibeuter ein paar leere Ledersäcke. Sie schaben die Borsten auf dem Leder ab und schneiden die Säcke in Streifen, weichen diese in einem Bach
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Alexandre Olivier Exquemelin (um 1645–1707, Genaueres ist nicht bekannt) Der Augenzeugenbericht des hugenottischen Arztes „De Americaensche Zee-Rovers“ („Die Amerikanischen Seeräuber“) erscheint 1678 in Amsterdam und wird rasch zum Bestseller. Bis heute gilt das Werk als eine der fundiertesten Quellen über die karibischen Freibeuter.
ein und rösten sie über dem Feuer. Mit einem Schluck Wasser lassen sich die Lederfetzen hinunterschlucken.
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ie Details dieses verzweifelten Gewaltmarsches aus dem Jahr 1671 – wir verdanken sie dem Chronisten Alexandre Exquemelin, der die Freibeuter als Wundarzt begleitet. Mit seinem Bericht hat er die schillerndsten Einblicke in die Karibik jener Epoche geliefert. Und zugleich seinen Kapitän unsterblich gemacht: den Bukanier Henry Morgan. Morgan ist zu dieser Zeit Mitte 30 und ein charismatischer Anführer. Er stammt aus einer wohlhabenden Waliser Bauernfamilie. Bereits als Jugendlicher kommt er in die Karibik, verdingt sich als Schuldknecht, ehe er sich den Bukaniern anschließt, den „Brüdern der Küste“, wie sich diese Piratengilde nennt. Ihre Mitglieder sind die Nachfahren europäischer Siedler, die sich
auf Jamaika, Kuba und Hispaniola niedergelassen hatten. Und die sich, als ihre Siedlungen immer öfter von spanischen Flotten überfallen wurden, zur Wehr setzten, indem sie von Kanus aus die ankernden Schiffe der Eroberer attackierten. Als die Spanier daraufhin die Viehherden der Siedler abschlachteten, blieb vielen nur noch der Weg in die berufsmäßige Seeräuberei. Seither bilden die Bukanier eine Gemeinschaft von Gleichen. Vor jedem Raubzug stimmen sie ab, wo sie zuschlagen und wer das Kommando hat. Unterwegs gilt ein strikter Kodex: Niemand darf einem Kumpanen Hilfe verweigern oder heimlich Beute an sich nehmen. Wer dagegen verstößt, wird ausgeschlossen und verfolgt. So bilden sie eine verschworene Truppe. Vielleicht ist es dieser Gemeinschaftssinn, der Henry Morgans 1000 Mann auf ihrem Marsch durch den Wald trotz aller Not zusammenhält – bis endlich die Erlösung kommt. Am neunten Tag erblicken die Männer von einem Hügel aus erstmals Häuser in der Ferne: Panama. Voller Hoffnung marschieren sie weiter und stoßen in einer Ebene auf grasendes Vieh. Ihre Rettung! Sie umkreisen die Kühe, Pferde und Esel, zücken ihre Messer, stechen zu. Rasch sind Feuer entfacht, Fleischstücke brutzeln auf der Glut und verschwinden noch halbroh in den Rachen der Männer. Blut strömt über ihre Wangen, über ihre Arme und Oberkörper. Als Henry Morgan zum Aufbruch drängt, kauen seine Leute noch. Aber jetzt fühlen sie sich wieder stark. Einige Hundert Meter vor der Stadt schlagen sie ihr Nachtlager auf, gerade weit genug entfernt: Während Kanonen in ihre Richtung donnern, schlafen sie tief. Am Morgen des 28. Januar 1671 steht Morgan auf einer Anhöhe. Was er sieht, gefällt ihm nicht. Hunderte Reiter und Tausende Fußsoldaten haben die Einwohner Panamas auf einem Feld
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EDELMANN Für seinen Angriff auf Panama wird der Freibeuter Henry Morgan in Eng land zum Ritter geschlagen – um die Spanier zu provozieren
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postiert – fast viermal so viele Kämpfer, wie er selbst aufbieten kann. Seine Männer schreien sich Mut zu. Unter ihnen sind viele erfahrene und rücksichtslose Piraten, ausgezeichnete Scharfschützen, die vor einer Übermacht nicht zurückschrecken. Überdies ist die Stadt reich, voller Gold, Silber, Juwelen! Und nicht zu vergessen: Frauen. Vergewaltigung und Menschenraub sind Teil der Beute. Und Motor der Motivation. Morgan schickt seine Scharfschützen vor und beordert zwei Fußtrupps zu den Flanken. Für alle Fälle bleibt eine Nachhut zurück. Mit dieser Taktik wurden schon einige Siedlungen geplündert. Kaum positionieren sich die Schützen in zwei Reihen am Schlachtfeld, greifen die spanischen Reiter an, gefolgt von ihren Fußtruppen. Morgans erste Reihe feuert eine Salve ab. Während sie nachlädt, schießt die zweite. Reiter schreien auf und stürzen von den Pferden. Als sich die spanischen Fußsoldaten mitten auf dem Feld befinden, stürmen von den Flanken plötzlich Horden von Bukaniern heran. Nach stundenlangem Kampf liegen Hunderte Männer, vor allem Spanier, auf dem Feld. Ein verletzter Kavallerist gibt preis, dass in einem Fort kurz vor der Stadtmauer acht feuerbereite Kanonen auf die Angreifer warten. Noch einmal schwören Morgans Männer einander Treue, dann rennen sie los. Von überall her fliegen Geschosse auf sie zu, Meter für Meter dringen sie vorwärts, klettern über Barrikaden, attackieren Stellungen, nehmen Hunderte gefangen. Am Ende des Tages lebt von den Bukaniern nur noch jeder Zweite. Aber sie haben Panama erobert: der größte Triumph in der Geschichte der karibischen Piraterie.
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iner ist stets dabei und hält die Augen offen: der Wundarzt Alexandre Exquemelin. Später wird er ein Buch über die Freibeuter verfassen: „De Americaensche Zee-Rovers“, so der niederländische Titel. Die Seeräuber Amerikas. Fast unser ganzes Wissen über die Bukanier stammt aus diesem Bericht. Doch Exquemelin kann auch schweigen: Von sich selbst, seinen Ansichten und
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seinem Leben bei den Freibeutern wird er kaum etwas erzählen. Er kommt in Frankreich als Sohn eines hugenottischen Apothekers zur Welt und studiert Medizin. Doch 1666 verbietet Ludwig XIV. den Hugenotten, als Ärzte tätig zu werden. Exquemelin heuert bei der französischen Westindien-Kompanie an und reist noch im Sommer des-
selben Jahres zur Karibikinsel Tortuga, die vor der Nordküste von Hispaniola liegt (das heutige Haiti und die Dominikanische Republik). Dort muss er wie Morgan als Schuldknecht arbeiten. Als er freikommt, schließt er sich 1669 mittellos den Bukaniern an. Seither begleitet Alexandre Exquemelin diese als Wundarzt und hat schon
einige grausame Anführer dieser Banden erlebt. Einer hatte die Brust eines Feindes zerfleischt, ihm das Herz aus dem Leib gerissen und seine Zähne in das noch zuckende Organ geschlagen, woraufhin die Gefolgsleute des so Getöteten panisch ausplauderten, wo sie ihre Schätze versteckt hielten. Eine raue Gesellschaft.
PANAMA IN FLAMMEN Morgans Freibeuter wollen nur zwei Häuser anzünden, als Drohung. Aber es kommt zu einem Großbrand (niederländischer Stich, 17. Jahrhundert)
raten angeschlossen haben – vor Gericht sollen sie damit ihre Unschuld beweisen können. Ein Zugeständnis, das belegt, wie sehr die Piraten immer wieder auf die Heilkundigen angewiesen sind, auch in Zeiten ohne Kampf: Sie schneiden sich beim Segelsetzen ins Fleisch, kugeln sich ihre Gelenke aus oder stürzen betrunken aufs Deck. Exquemelin muss
FOTO: BRIDGEM Doch die Ärzte unter den Freibeutern genießen eine Sonderbehandlung: Oft bekommen sie sogar eine Bescheinigung, dass sie sich nicht freiwillig den Pi-
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Knochenbrüche richten, Pistolenkugeln aus Körpern pulen und oft auch Arme oder Beine amputieren, um Wundbrand zu verhindern. Narkosemittel sind noch nicht erfunden. Der Arzt lernt Henry Morgan wohl im Jahr 1670 kennen. Vermutlich in Morgans Versteck, auf dem kleinen Eiland Île à Vache, südlich von Hispaniola, wo es einen Süßwassersee und eine versteckte Grotte am Meer gibt, in der sich Schätze bunkern lassen. „Henry bittet zum Rendezvous“ heißt es einigen Quellen zufolge in den Spelunken, wenn Männer für ei-
Vor jedem Raubzug schließt der Freibeuter-Kapitän mit seinen Männern einen erstaunlich fortschrittlichen Vertrag. Darin wird geregelt, wie sie die Beute aufteilen und wie im Kampf erlittene Verletzungen abgegolten werden. Schiffsbauer und Zimmermann bekommen zwischen 100 und 150 Silberpesos, der Wundarzt erhält zwischen 200 und 250 Silberpesos für Sold und Medikamente. Für den Verlust des rechten Armes gibt es 600 Silberpesos oder sechs Sklaven, für das rechte Bein 500 Silberpesos oder fünf Sklaven; der linke Arm und das linke Bein sind weniger wert.
Im Auftrag Ihrer Majestät Ein Kaperbrief macht aus einem kriminellen Piraten einen angesehenen Unternehmer. Denn ein Kaperfahrer entert mit dem Segen seines Landes. Dafür muss er einen Teil der Beute abgeben. Francis Drake, der berühmteste britische Freibeuter, schlug im 16. Jahrhundert wohl meist ohne Kaperbrief zu – seine Königin adelte ihn später dennoch.
nen Überfall auf eine spanische Stadt gesucht werden. Oder, wie Exque melin es in der umständlichen Sprache seiner Zeit niederschreibt: „Er bestimmte ihnen den Randevous-Platz an der Sud-Seite der Insul Tortuga, und schrieb zugleich einen Brieff an den Gouverneur derselben Insul/und an alle Feldbau leute und Jäger der Insul Espagniola, worinnen er ihnen zu wissen thate/dass sein Vornehmen wäre eine gnug same Macht zu samlen/darmit einen ansehnlichen Platz zu attaquiren/ all da sie sämtlich ... ihr Glück machen sollten.“
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Von dem, was übrig bleibt, bekommt der Kapitän fünfmal so viel wie ein Seemann; der Anteil für die Offiziere liegt dazwischen. Vor dem Aufbruch schwören die Männer, weder etwas zu unterschlagen noch zu desertieren. Unterwegs gibt es für jeden, einschließlich des Kapitäns, das immer gleiche Essen: gepökeltes Fleisch, salzigen Fisch und eingelegte Schildkröten. Weil Süßwasser rasch abgestanden schmeckt, trinken sie Bier oder Rum, der auch vor Auskühlung schützen soll. Morgan greift niemals Schiffe an, sondern überfällt ausschließlich spani-
sche Küstenstädte. Dabei lässt er seine Flotte stets in einer versteckten Bucht ankern, um sich dann hinterrücks an die Stadt heranzupirschen. Als er Ende 1670 zur Eroberung Panamas aufbricht, gehören zu seiner Flotte 36 Schiffe und 1846 Freibeuter, von denen er einige Hundert beim Sturm auf eine Festung verliert. Aber die 1000 Mann, mit denen er Wochen später vor der spanischen Hauptstadt auftaucht – sie genügen Henry Morgan, um die Schlacht seines Lebens zu gewinnen. Sobald Panama erobert ist, lässt er die Stadt plündern und die Einwohner foltern, bis sie verraten, wo sie ihr Hab und Gut versteckt halten. Dafür sei es üblich, „einen Mann langsam in Stücke zu schneiden“, berichtet einer von Morgans Männern später. „Erst schneidet man ein wenig Fleisch ab, dann eine Hand, einen Arm, ein Bein. Manchmal wird auch ein Seil um den Kopf gelegt und mit einem Stock festgezurrt, bis die Augen hervorquellen.“ England betrachtet die Bukanier trotz ihrer Brutalität als Verbündete. Mit ihren Überfällen verhindern die oft britisch- und französischstämmigen Freibeuter, dass Spanien seine Macht in der Neuen Welt zügig ausbauen kann. Offiziell ist die Piraterie verboten, regelmäßig werden Seeräuber im Mutterland erhängt. Nichtsdestotrotz spricht sich jede erfolgreiche Plünderung Morgans in London herum – und zwar als gute Nachricht. Davon gibt es in der Regierungszeit von König Charles II. wenig genug: Die englische Hauptstadt wird von der Pest heimgesucht, dann von einem Feuer und schließlich von holländischen Kriegsschiffen, die im Hafen die königliche Flotte versenken. Morgan gilt in diesen Jahren als Held. Sein Ansehen ist so hoch, dass er vom König zum Admiral ernannt wird – obwohl er doch Seeschlachten fast immer ausweicht.
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ach drei Wochen, am 14. Februar 1671, ziehen die Freibeuter aus Panama ab. Sie verschleppen 600 Menschen, darunter viele Frauen. Panama ist durch einen Großbrand zerstört. Erbost über die magere
WAS BLEIBT Der historische Stadtteil Panamá Viejo mit der Ruine des Kirchturms ist seit 1997 UnescoWeltkulturerbe
Beute, hatten die Piraten zwei Häuser angezündet, wobei die Flammen auf die Stadt übergriffen. Auf dem Rückweg lässt Morgan alle seine Piraten antreten. Jeder muss schwören, nichts unterschlagen zu haben. Dann werden sie durchsucht, auch er selbst zeigt seine Taschen vor. Als die Beute dann geteilt wird, erhält jeder Mann trotzdem nur 200 Silberpesos. Wo ist der Rest hin? Dazu steht nichts im Bericht von Exquemelin. Offenbar gibt Morgan keine Rechenschaft ab, er beruft auch keinen Freibeuterrat ein, wie es Sitte wäre. Statt dessen flüch-
tet er vor seiner murrenden Truppe mit wenigen Getreuen auf den Golf von Mexiko. Ob er damit gegen den Kodex der Bukanier verstößt, wird in Exquemelins Buch nicht diskutiert. Allerdings nehmen einige Männer die Verfolgung auf. Doch als ihre Vorräte ausgehen, kehren sie um. Morgans Schiffe ankern Tage später vor der Hafenstadt Port Royal auf Jamaika. „Diese Stadt ist das Sodom der Neuen Welt“, berichtet ein Geistlicher über die Residenz des britischen Gouverneurs – die damit der Gegenpart zu Panama ist, dem Hauptsitz der Spanier.
„Der Großteil ihrer Einwohner besteht aus Piraten, Halsabschneidern, Huren und einigen der widerwärtigsten Personen der Welt.“ Neben Boston ist Port Royal in diesen Jahren die größte Siedlung Amerikas, die nicht von Spaniern gegründet worden ist. Im Januar 1672 trifft ein Schreiben aus England ein. Henry Morgan und der britische Gouverneur werden nach London beordert. Spanien fordert, dass Morgan als Pirat gehängt wird. Denn als er Panama überfiel, hatten England und Spanien einen Friedensvertrag geschlossen. Auch wenn dieser in der Karibik noch unbekannt war, muss der Gouverneur ins Gefängnis. Vermutlich ein willkommener Vorwand, ihn loszuwerden. Morgan aber wird zum Ritter geschlagen und zum Vizegouverneur befördert. Ein Affront gegen Spanien. Von Jamaika aus lässt Sir Henry Morgan nun seine ehemaligen Kumpane verfolgen. Er lebt auf einer Hazienda, sammelt edle Kämme, säuft und verfällt dem Glücksspiel. In seinem Testament bereut er seine Schandtaten und macht der Kirche wertvolle Geschenke. 1688 wird er mit einem Staatsbegräbnis in Port Royal beigesetzt. Vier Jahre später, am 7. Juni 1692, flutet ein Tsunami das Piratennest. Jahrhundertelang suchen Glücksritter nach Morgans Schätzen. Offiziell hat er nur 5263 Pfund und einige Plantagen hinterlassen. Ein Witz. Der Name Alexandre Exquemelin wird zuletzt 1707 erwähnt. Er segelt nach Amsterdam und wird ins Zunftbuch der holländischen Wundärzte aufgenommen. An Land hält es ihn nicht lange. Er bereist als Schiffsarzt den Atlantik und schließt sich sogar erneut karibischen Piraten an. Deren Zeit endet jedoch 1717/18, als England einen weitgehenden Straferlass für sie ausspricht. London will seine Handelsmacht in der Neuen Welt ausbauen. Und die schwer berechenbaren Freibeuter sollen dabei nicht stören. ■
FOTOS: T Dirk Liesemers Vater war eine Weile als Kapitän in der Südsee unterwegs und hat viele Piratengeschichten mitgebracht, zur Freude seines Sohnes.
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Als weißer Sklave im Reich des Sultans Mit 15 Jahren wird Hark Olufs aus Amrum 1724 von algerischen Korsaren entführt. Vom Gefangenen steigt er in Afrika bis zum General auf Von Hauke Friederichs
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PIRATENNEST Algier lebt vom Seeraub. Gestohlene Ware und entführte Christen landen auf den großen Märkten. Gefangene, die fliehen wollen, werden gefoltert (Stich aus dem 17. Jahrhundert)
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as für ein ungeheuerlicher Lärm. Verkäufer preisen lautstark ihre Ware an, Interessierte bieten hohe Summen, feilschen, schreien, streiten. Hark Olufs, 15 Jahre alt, steht im Frühjahr 1724 auf einem der großen Marktplätze von Algier. So einen Trubel kennt er nicht. Er stammt von Amrum, einer kleinen Insel aus dem nordfriesischen Wattenmeer. Knapp 150 Häuser beherbergen dort keine 600 Einwohner. In Algier hingegen leben gut 100 000 Menschen. Nicht nur deswegen dürfte Hark Olufs sich einsam, ängstlich und sehr fremd gefühlt haben. Denn er ist nicht als Gast in Algier oder als Reisender, sondern als Gefangener. Auf dem Sklavenmarkt der Stadt gehört er zur menschlichen Ware, die an diesem Tag den Besitzer wechseln soll. Junge Seeleute wie er sind begehrt in Nordafrika. 1000 Lübische Mark zahlt
IM GEFECHT Osmanische Kämpfer richten eine umgestürzte Kanone auf, deren Rad wohl nach einem Treffer gebrochen ist (Gemälde von 1844)
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ein Käufer für ihn, umgerechnet in die damals gültige Währung der norddeutschen Hansestädte. Und veräußert ihn schon am nächsten Tag weiter, mit zehn Prozent Gewinn. Ein gewaltiger Betrag: Ein Knecht in Hark Olufs Heimat verdiente damals keine 50 Mark im Jahr, ein Schulmeister höchstens 120, ein Kuh kostete 24 Mark, ein Arbeitspferd das Doppelte. Der Junge aus Amrum war in Afrika mehr wert als 22 Ochsen! Wenige Tage zuvor war er noch an Bord der „Hoffnung“ zur See gefahren, einem Schiff, das zur Hälfte seinem Vater gehört. Vom französischen Nantes sollte die Route nach Hamburg führen. Doch in der Nähe der Scilly-Inseln endete die Fahrt. Ein fremdes Schiff segelte auf die „Hoffnung“ zu: Piraten! Ein „türkischer Kaper“, erkannten die Männer an Bord mit großem Schrecken. Zwar kamen die Angreifer aus Nordafrika, doch die Region gehörte zum Osmanischen Reich, deswegen
wurden ihre Bewohner im christlichen Europa nur „Türken“ genannt. Von der „Barberei“ oder der „Sklavenküste“, sprachen die Seeleute zudem, wenn sie Algier, Tunis und Tripolis meinten. Barbaresken hießen die Korsaren aus der Region. Die Crew an Bord der „Hoffnung“ fürchtete sie. Sie hatten wie alle christlichen Seeleute viele Gerüchte über deren Untaten gehört: Kerker, Folter, Zwangsbekehrung zum Islam, Sklaverei, davon berichteten nach Nordafrika verschleppte Seeleute in Briefen. Darin baten sie Verwandte, ihr Lösegeld aufzubringen. Sklaverei und Geiselhaft: ein furchtbarer Ausblick. Doch bei einem Gefecht riskierten sie Verstümmelungen oder gar den Tod. Was tun? Sie waren nur sieben Mann an Bord der „Hoffnung“. Die Angreifer waren ihnen drastisch überlegen. Ein Kampf schien aussichtslos. Vermutlich ergaben sich Hark Olufs und seine Gefähr-
ten rasch. Sicher ist, dass die Sieger die Besatzung nach Algier verschleppten. Der Stadtstaat galt im christlichen Europa jener Epoche als verruchtes Piratennest. Im Mittelmeer schlugen Seeräuber schon in frühester Zeit zu – erstmals vermutlich vor mehr als
mal auch erst nach Jahren, wenn ihre Schiffe in ferne Gegenden segelten. Ob Hark Olufs jemals seine Heimatinsel Amrum wiedersehen würde, war nach seiner Ankunft in Algier fraglich. Viele entführte Seeleute waren dort in Ketten gestorben.
Von Algier aus gehen die Korsaren auf Jagd und entführen christliche Seeleute. Sie versklaven Tausende 3000 Jahren. Herodot und Thukydides beschrieben das abenteuerliche Leben der peirates in der Antike. Ägypter, Phönizier und Römer litten unter ihnen. Raubschiffe aus Kilikien in der heutigen Türkei schnitten später sogar Rom, die Hauptstadt des mächtigen Imperiums, von seinen Getreidelieferungen ab. Den jungen Julius Cäsar nahmen diese Seeräuber gefangen und erpressten Lösegeld. Die Barbaresken, die mehr als 1400 Jahre später das Mittelmeer unsicher machten, gingen ähnlich vor wie ihre Urahnen aus Kilikien. Auch sie entführten Seeleute und Passagiere, ließen ihre Gefangenen erst gegen ein hohes Lösegeld frei. Wenn überhaupt.
Von Algier aus brachen regelmäßig Korsaren auf. Sie steuerten mit ihren Schiffen die italienische und die spanische Küste an, überfielen dort Dörfer, raubten Güter und Menschen. Auf dem Mittelmeer jagten sie Segler und Galeeren aus christlichen Staaten. Gekaperte Schiffe rüsteten sie für neue Raubfahrten aus. Die Besatzung wurde oft
genug gezwungen, weiterhin an Bord zu arbeiten. Besonders begehrt waren Zimmerleute, Steuermänner, Ärzte und Seemänner, die sich mit der Navigation auskannten. Diese Spezialisten unter den Gefangenen kamen rasch wieder auf See zurück: auf ein Raubschiff, das gegen die Christen auslief. Die Barbaresken gingen trickreich vor. Sie hissten oft falsche Flaggen und verwirrten so ihre Opfer. An Bord ihrer Galeeren dienten meist Dutzende Janitscharen. Diese Elitekrieger stießen vor dem Enterangriff ein unglaubliches Geheul aus, um den Gegner einzuschüchtern. Ihre Ausbildung war brutal. Die meisten Janitscharen waren als Kinder ihren christlichen Eltern weggenommen oder auf dem Sklavenmarkt gekauft worden. Sie waren nur dem Sultan und ihren Kameraden gegenüber verpflichtet. Feigheit wurde mit dem Tod bestraft. Ihr Ruf eilte ihnen voraus: Nur wenige christliche Seemänner leisteten
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lgier und seine Schwesterstädte lebten vom Raub, vor allem vom Geschäft mit dem „Weißen Gold“. So wurden die hellhäutigen Sklaven genannt, die in den Steinbrüchen, Gärten, Palästen und Privathäusern, auf den Feldern, Werften und den Ruderbänken der Galeeren schufteten. Bis zu 40 000 christliche Gefangene sollen zur Mitte des 18. Jahrhunderts in Algier festgehalten worden sein – sicher ist, dass mindestens 104 aus Hamburg stammten. Einige werden auch von den nordfriesischen Inseln gekommen sein – wie Hark Olufs. Ihre Heimat bot nur karge Böden, die Landwirtschaft ernährte nicht alle Bewohner, im Frühjahr brachen deswegen viele Männer in die Hansestädte und nach Holland auf und verdingten sich dort als Seeleute. Sie kehrten erst nach vielen Monaten wieder heim – manch-
NEUE HEIMAT In Constantine in Nordafrika lebt Hark Olufs viele Jahre lang. Geschützt von schroffen Bergen gilt die Stadt als nahezu uneinnehmbar. Der junge Mann aus dem nordfriesischen Amrum macht hier Karriere, kauft sich Häuser und Ländereien
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noch Widerstand, wenn die Janitscharen an Bord stürmten. Die Gegenwehr war so schwach, dass die Hamburger Sklavenkasse harte Bedingungen für einen Freikauf stellte. Diese Versicherung, die 1624 gegründet worden war, um verschleppten Seeleute auszulösen, verlangte, dass jeder Mann aktiv sein Schiff verteidigen musste. Wer kampflos aufgab, für den wurde nicht gezahlt. Doch das zu überprüfen war natürlich schwierig. Nordafrika war weit weg. Und es gab viele Überfälle.
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nd so traf Hark Olufs viele Deutsche und Dänen in der Gefangenschaft. Junge Männer, so wie er einer war, waren als Sklaven besonders beliebt: Sie lernten schnell, passten sich rasch an – und sie waren eher bereit, selbst Muslime zu werden. Ihr Besitzer schenkte ihnen in diesem Fall meist die Freiheit. Allerdings konnten sie dann nicht mehr ohne Weiteres nach Hause zurückkehren – als Mohammedaner. Wer aber nicht zum Islam konver tierte, hatte nur wenig Chancen freizukom-
men. Er musste auf das Geld von Verwandten oder die Gnade der christlichen Orden hoffen. Olufs blieb nichts anderes übrig, als auf ein Wunder zu warten. Aus seinen Memoiren wissen wir, dass sein neuer Patron ihn im Garten arbeiten ließ. Er musste Maulbeerblätter sammeln und damit die Raupen für die Seidenzucht füttern, aber auch Wasser ins Haus
seinem Sohn widerfahren war. Und er versuchte, ihn freizubekommen. Der alte Olufs schrieb einen Brief an die Dänische Kanzlei in Kopenhagen, denn Amrum gehörte zu dem skandinavischen Königreich. Er bat darum, in den Kirchen eine Kollekte abhalten zu dürfen, um fromme Christen um eine Spende für den Freikauf zu bitten. Doch die Behörde lehnte am 13. Dezember 1724
Seine Familie versucht, Lösegeld für Hark Olufs zu sammeln. Doch niemand will helfen schleppen und das Gebäude sauber halten. Nach nur zwei Wochen wechselte er erneut den Besitzer. Diesmal kaufte ihn Kalyan Hasan Bey von Constantine, Herrscher über die Stadt, die zu Algier gehörte. Eine neue Heimat. Weit weg von zu Hause. Auf Amrum erfuhr Harks Vater erst einige Wochen nach dem Überfall, was
das Gesuch ab, da die „Hoffnung“ unter Hamburger Flagge gefahren und damit kein dänisches Schiff wäre. Sollen doch die Hamburger helfen … Schließlich gab es in der Hansestadt die Sklavenkasse. Doch Hilfe erhielt Familie Olufs auch hier nicht. Die Kasse löste nur Hamburger aus. Die Seeleute der „Hoffnung“, die von den nordfriesischen Inseln und aus der holsteinischen Provinz kamen, mussten als Gefangene in Nordafrika bleiben.
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MACHTFAKTOR BARBARESKEN Der französische König verbündet sich mit den Korsaren aus Nordafrika. Er lässt deren Schiffe 1543 im Hafen von Toulon überwintern
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rei Jahre nachdem Hark Olufs in Algier verschwunden war, sorgten die Barbaresken in ganz Europa für Aufsehen. Eine kleine Flotte von Korsaren drang bis nach Island vor und überfiel Dörfer auf der Insel. Sie plünderten und entführten einige Insulaner. So weit im Norden hatten die nordafrikanischen Korsaren noch nie zugeschlagen. Den Weg kannten die Piraten gut. Mehrere Christen dienten an Bord der Flotte. Im selben Jahr kam ein Vetter Olufs frei, der mit ihm an Bord der „Hoffnung“ gewesen war. Dieser hatte drei Jahre lang in Algier verbracht und dem dortigen Herrscher treu als Kaffee-Mundschenk gedient. Auch Hark Olufs arbeitete im engen Umfeld seines Herrn. Zunächst war er dessen Lakai. Ein strenger, aber auch großzügiger Gebieter soll der Bey von Constantine gewesen sein. „Er war, wie ich in seine Dienste trat, schon ein Herr im hohen Alter, hitzigen Kopfs und
gesunder Complexion; er war beherzt und hatte eine gute Kriegserfahrung (…)“, so beschrieb ihn Olufs später in seinen Memoiren. Und nannte ihn einen „kleinen König“, der von 1713 bis 1736 in Constantine herrschte. „So viel ich weiß, stand er auf keine Weise unter dem Groß-Sultan, sondern er war Souverain in seinem Lande“, schrieb Olufs. Damit machte er seinen Herrn allerdings mächtiger und unabhängiger, als er wohl tatsächlich war. Der Historiker Martin Rheinheimer, der das Leben von Hark Olufs detailliert erforscht hat, weist darauf hin, dass der Bey von Constantine dem Dey von Algier zweimal im Jahr einen Tribut zahlen musste.
CHRISTENSCHRECK Chaireddin erobert 1516 Algier und nutzt dessen Hafen als Piratenstützpunkt. Seine europäischen Feinde nennen ihn Rotbart: Barbarossa
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och im Herrschaftsgebiet von Constantine gab es keinen mächtigeren Mann. Noch in 250 Kilometer Entfernung von der Stadt unterhielt der Bey Stützpunkte. Doch nicht alle Berberstämme in der Region erkannten seine Macht an. Immer wieder kam es mit ihnen zu Konflikten. In solch kriegerischen Zeiten brauchte der Bey verlässliche Diener. Und dem Jungen von der Nordsee muss er vertraut haben. Denn Olufs machte Karriere in seinem Dienst. Er lernte Türkisch und Arabisch, er übernahm einige wichtige Aufträge für den Herrscher, und er kam dessen Familie nah. Der Bey hatte zwei Ehefrauen, die von vier „Beschnittenen“, also Eunuchen, bewacht wurden. Mehrere Dutzend Diener sorgten für die Herrscherfamilie. Ob Olufs zum Islam übertrat, ist nicht gelärt. Er schrieb in seinen Memoiren, dass er seinen Herrn auf dessen Pilgerreise nach Mekka begleitet habe. Als Ungläubiger hätte er aber nicht zum Hadsch aufbrechen und die heiligen Stätten besuchen dürfen. Zudem beschrieb Olufs die Religion und die Riten des Islams detailliert – und mit großem Respekt. Und: Ob der Bey einem Christen so viele verantwortungsvolle Posten übertragen hätte? Nach dreieinhalb Jahren in Constantine ernannte der Bey Hark Olufs im Jahr 1727 zu seinem Cassendar, einer Mischung aus Finanzminister und
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Oberkassierer. Er verdiente viel Geld, kaufte sich Land, Kamele und Schafe. Als nun 1732 Mitglieder einer sächsi schen Forschungsexpedition durch Nordafrika reisten und auch Constantine besuchten, trafen sie einen Sklaven, der dort das Amt des Cassendars innehatte. Rheinheimer und andere Historiker vermuten, dass es sich dabei um Hark Olufs gehandelt hat. Dieser Sklave begleitete die Forscher wohl einige Tage bei ihren Erkundungen in Constantine. Er trug dabei türkische Kleidung. Und er rettete die Deutschen, als eine Menschenmenge sie bedrängte und mit Steinen bewarf. Die Leute waren wütend auf Europäer, weil spanische Truppen kurz zuvor die Stadt Oran eingenommen hatten, die zum Reich von Algier gehörte. Alle Ausländer wurden für Spione gehalten. Zwischen Sachsen und Spaniern unterschied der Pöbel nicht. Der Beschützer, vermutlich Olufs, schlug gnadenlos zu. „Er kam mit Flinte, Pistole und Säbel gewaffnet wieder, attaquirte den Pöbel, verwundete etliche und zerstreute die übrigen“, berichtete der Expeditionsleiter Johann Ernst Hebenstreit. Er nannte zwar nicht Olufs Namen – dieser jedoch erwähnt den Forscher später in einem Bericht. Olufs hatte seinem Herrn erneut seinen Mut bewiesen. Nun stieg er weiter auf. Der Bey ernannte ihn zum Kom-
mandanten seiner Leibgarde, 500 Reiter standen damit unter seinem Befehl. Der Junge aus Amrum war in Constantine der Mann fürs Grobe. Wenn der Herrscher jemanden zum Tode verurteilte, führte Olufs den Befehl aus. Öfters habe er die „eine oder andere Execution an den Straffälligen vollbracht“, noch bevor der Bey aus dem Mittagsschlaf erwacht sei. Er habe, so notierte es der Amrumer, „vollkommene Macht über Leben und Tod“ gehabt.
Jeden Befehl des Beys führte Hark Olufs aus. So musste er zwei Männer töten, die einen Schatz seines Herrn in dessen Auftrag an einem geheimen Ort versteckt eingemauert hatten – und die ihr Wissen mit niemandem teilen sollten. Tote reden nicht. Olufs bedauerte die Handwerker – und ermordete sie dennoch. Auf Amrum vermisste seine Familie den in der Fremde Verschollenen. Nach zehn Jahren brachte Hark Olufs Vater
Für seinen algerischen Herrn führt Olufs Krieg. Er mordet auch. Der Deutsche ist unverzichtbar Nach einem Überfall auf einen Feind des Beys, bei dem Olufs Truppe 52 Gegner tötete und selbst nur fünf Mann verlor, beförderte ihn sein Herr erneut. Der Deutsche kommandierte nun die gesamte Kavallerie, als einer der höchsten Generäle in Constantine. Aber er wusste, dass er viele Neider hatte. Der Bey war ein alter Mann – und Olufs Leben hing an seiner Gunst. Sein „barbarischer Herr“ habe die Macht gehabt, ihn jederzeit so tief zu erniedrigen, „als ich war erhöhet worden“.
endlich das Geld für einen Freikauf auf: 800 Mark. Ein Matrose verdiente damals gut 100 Mark im Jahr. Ein Kaufmann aus Hamburg übermittelte das Geld nach Afrika. Meist waren Geschäftsleute aus Livorno in die Freikäufe eingebunden. Gegen Provision: Am Geschäft mit dem Weißen Gold verdienten auch Christen mit. Doch in diesem Fall misslang der Freikauf. Nicht Olufs trat die Heimreise an, sondern ein Soldat aus Bremen. Die entsetzte Familie bekam nicht den
Die Hamburger Sklavenkasse Sie strecken ihre gefalteten Hände dem Betrachter entgegen. Schwere Ketten umwickeln den Körper. Die Bittfiguren aus Holz, die in Hamburger Kirchen standen, sollten die Gläubigen zu einer Spende für entführte Seeleute motivieren. Korsaren aus Algier, Tunis und Tripolis entführten vom 16. Jahrhundert an viele Tausende Seeleute im Mittelmeer und im Atlantik. Frei kamen sie nur, wenn ein Lösegeld bezahlt wurde. Oft entspraUNTER BETTLERN Diese Holzfiguren sollten Kirchgänger zu einer Spende für den Freikauf gewinnen
chen die geforderten Summen gleich mehreren Jahresgehältern eines Matrosen. Nur wenige Familien hatten genug Geld für den Freikauf. Helfen sollten ihnen frühe Versicherungen, sogenannte Sklavenkassen. Die erste entstand 1624 in Hamburg, gegründet von der Admiralität der Stadt. Sie gilt als erste Sozialversicherung auf deutschem Boden. Befreit wurden meist allerdings nur Hamburger. Besatzungsmitglieder auf Hamburger Schiffen, die aus anderen Staaten kamen, erhielten keine Unterstützung. Ähnlich hielten es die Sklavenkassen in Lübeck und Dänemark.
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DIE LETZTE RETTUNG Mönche kommen mit Geld nach Nordafrika, um weiße Sklaven auszulösen. Die Gefangenen werden misshandelt
vermissten Sohn zurück, sondern einen Fremden. Der Irrtum fiel erst auf, als ein Vetter den vermeintlich in Hamburg angelangten Hark Olufs abholen wollte. Ein neuer Anlauf war für die Familie unerschwinglich. In Nordafrika bekam Olufs von dem Freikaufversuch gar nichts mit. Aber er dachte auch an seine Familie. Er hatte einen Brief nach Amrum geschickt, darin berichtete er, dass er in Constantine Karriere gemacht und Wohlstand erlangt hätte und dass „Hoffnung zu mei-
FOLTER UND MORD Die Schrecken der Sklaverei in Algier zeigt ein Bild aus einer dänischen Kirche
ner gewissen Erlösung“ bestünde. Denn Olufs hatte im Krieg seines Herrn gegen Tunesien eine gefährliche Mission übernommen. Er ging in das Lager der Feinde, gab sich als Überläufer aus, tatsächlich aber spionierte er die Gegner aus. Zur Belohnung schenkte der Bey seinem Vertrauten die Freiheit. Und der begann sogleich, seine Abreise vorzubereiten. Eine vorweggenommene Flucht.
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er Bey war längst dem Tode nah. Und sein Nachfolger würde die Getreuen des alten Herrschers sicherlich verjagen, ihnen ihr Geld rauben und sie vielleicht sogar töten. Olufs Abschied vom Bey war tränenreich. „Afendi!“, sagte der Deutsche zu seinem alten Förderer. „Ich danke für Brot und den Sold.“ Zwölf Jahre hatte er ihm gedient. Nun, wohl Ende 1735, umarmte der Bey ihn, gab ihm seinen Segen mit auf dem Weg. Sein ganzes Geld und seinen Besitz durfte Olufs mitnehmen. Über Algier kehrte er nach Europa zurück: Marseille, Lyon, Hamburg. Am Ziel holte ihn sein Vater ab. Der alte Mann erkannte den Sohn kaum wieder. „Er hatte mich nicht gesehen, seitdem ich ein Knabe von 14 Jahren, ietzo aber wohl gewachsen, anbey corpulent und mit zierlichen Kleidern angethan“, erinnerte sich Olufs. Die Männer mussten sich erst wieder aneinander gewöhnen.
Am 25. April 1736 betrat der Rückkehrer erstmals wieder den Boden seiner Heimatinsel. Ganz Amrum staunte. Als einfacher Schiffsjunge war er verschwunden, als reicher Mann kehrte er zurück. In Constantine hatte er mehr Soldaten unter seinem Kommando gehabt, als auf Amrum Menschen leben. „Olufs trat selbstbewusst auf, ganz wie die Kapitäne, die nach Ende ihrer aktiven Zeit auf ihre Heimatinsel zurückkehrten. Auch mit seiner Kleidung – wohl einer türkischen Generalsuniform – bekundete er seinen Rang, und natürlich erregte er großes Aufsehen“, schreibt der Historiker Rheinheimer. Im Gepäck hatte Olufs nicht nur einen Kaftan und einige kostbare Möbel, sondern auch eine beträchtliche Menge „baarem Gelde“. Er kauft sich ein Haus in Süddorf und zusätzlich Land. Hart arbeiten muss er nicht mehr – obwohl er noch unter 30 Jahre zählt. Hark Olufs ist rasch ein bekannter Mann im Norden, sogar der dänische König lädt ihn zur Audienz. Im Sommer 1737 heiratet er Antje Lorentzen, die Tochter eines Steuermanns. Das Paar bekommt fünf Kinder. 1746 entsendet Dänemark ein Geschwader nach Algier. Mit vier Kriegsschiffen will das Königreich den Dey zwingen, endlich Frieden zu schließen. Hark Olufs dürfte einen guten Zeitpunkt ausgemacht haben, um endlich seine Memoiren zu veröffentlichen. Das Interesse an den Barbaresken ist gerade groß im Staate Dänemark. 1747 erscheinen „Hark Olufs’ Sonderbare Avanturen“. Am 13. Oktober 1754 stirbt Olufs – mit 46 Jahren. Die Angriffe der Barbaresken sind zu diesem Zeitpunkt lange noch nicht zu Ende. ■ Hauke Friederichs hat über die Barbaresken promoviert. Bei diesem Artikel hat er auch das Buch „Der fremde Sohn“ von Martin Rheinheimer genutzt.
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Die schroffen Klippen der Scilly-Inseln sind der Albtraum jedes Seemanns. Doch über Jahrhunderte garantierten sie das Überleben der Insulaner, für die jedes neue Wrack ein Segen war Von Christian Jungblut
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Die Strandpiraten von Scilly
PASSAGE Tausende Seeleute finden hier den Tod. Und doch müssen die Schiffe an den Klippen der Scillies vorbei (Ölgemälde von David James, 1885)
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chon vier Tage hat Pete Carss mit seinem Kutter das Seegebiet zwischen der Insel St. Angnes und dem Bishop Rock durchsucht. Doch das an einem Kabel unter Wasser hinterhergeschleppte Magnetometer hat nicht das kleinste Metallstück auf dem Meeresboden registriert. Erst jetzt, als der Kutter das Riff Gilstone passiert, zeigt sich auf dem Bildschirm im Ruderhaus ein starker Ausschlag. „Habt ihr das gesehen!?“, rufen er und die anderen Männer sich zu. „Das ist ein Treffer!“ Elektrisiert markieren sie die Stelle im GPS-Gerät. Kein weiteres Wort. Man will ja nicht das Glück zerstören, bevor man es greifen kann. Die vier Männer an Bord suchen nach Wracks, sie nennen sich Meeresarchäologen. Doch eigentlich sind sie moderne Nachfahren jener Wrecker, die ein Jahrtausend lang hier der Konterpart der Piraten waren. Während die Seeräuber Schiffe überfielen und die Bewohner der Küsten ausplünderten, galten die am Ufer lebenden Wrecker noch bis vor wenigen Jahrzehnten als Strandräuber, als Aasgeier der Riffe, deren Beute die Überreste gestrandeter Schiffe waren. Und wenn sie, um an die Ladung zu gelangen, Seeleute erschlugen, dann meinten sie, damit auch Rache an den „Piraten“ zu nehmen: Weil das Unheil immer von See kam, gehörte für die Insulaner alles Schiffsvolk zu den Piraten. Mit ihrem Magnetometer durchkämmen die Männer auf dem Kutter den wohl größten Schiffsfriedhof der Erde: die vor der südwestlichen Spitze Englands gelegenen Scilly-Inseln. Wer vom Nordatlantik kommend nach London, Amsterdam oder Hamburg will, muss dort am Nadelöhr, der Einfahrt in den Ärmelkanal, vorbei. Es ist ein unberechenbares Seegebiet mit häufigen Orkanen und schnell aufziehenden Nebelbänken – seit eh und je Horror der Seeleute. Auf einer Karte ist nahezu jeder registrierte Schiffbruch auf den Scilly Rocks verzeichnet. An die 800 Schiffe, bis zu 14 monatlich, zerschellten im Laufe von 1000 Jahren an den vielen Felsen – das Gros im 18. und 19. Jahrhundert –, was 10 000 Seeleu-
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EIN FOTO ALS IKONE Die Insulaner warten 1874 auf ihre Beute: Sinkt die „Minnehaha“ ganz, oder bleibt sie auf den Felsen hängen? Was untergeht, ist auch für die Strandpiraten verloren
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ten und Passagieren den Tod, den bitterarmen Insulanern aber Leben brachte.
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in Foto von 1874 ist zur Ikone für die Scillonier angesichts von Schiffbruch und Verderben geworden: Es zeigt die Klippen von Penninis Head, einem Kap im Süden der ScillyInsel St. Mary’s. Direkt dahinter ragen schräg die Masten des Windjammers
„Minnehaha“ ins Bild. Auf den Felsen: eine Gruppe Insulaner. Auf den ersten Blick erscheinen sie wie harmlose Schaulustige. Doch sie warten ab, was mit dem sinkenden Schiff passiert. Verschwindet es ganz in der aufgepeitschten See, oder bleibt es halb gesunken an den Klippen hängen? Sie warten auf Beute. Dieses Bild hat der Scillonier Alexander Gibson in den Kindertagen der
Liverpool
DUBLIN IRLAND
GROSSBRITANNIEN LONDON KELTISCHE SEE
Tresco Bryher
St. Martin‘s
ÄRMELKAN
St. Mary‘s St. Agnes
ISLES OF SCILLY
FRANKREICH
ATLANTIK
Höllenpassage Die Scillies sind ein Archipel aus 145 Inseln, von denen nur fünf bewohnt sind. Sie liegen etwa 45 Kilometer südwestlich von Land’s End, der westlichen Spitze Cornwalls, am Eingang zum Ärmelkanal. Vor der letzten Eiszeit bildeten sie eine zusammenhängende Insel, die nach und nach im Meer versank. So kamen die
ABGETAUCHT Die Scillies sind selbst versunkenes Land
Fotografie mit einem großen Plattenapparat aufgenommen. Sein Vater John, ein ehemaliger Seemann, hatte damit begonnen, Schiffbrüche zu fotografieren. Über 130 Jahre lang bis zur Jahrtausendwende haben vier Generationen der „Gibsons of Scilly“ den Untergang abgelichtet. Tausende Aufnahmen, viele davon mit einer eigentümlich poetischen Ausstrahlung, die den Schiff-
bruch verklärte. Denn auf Scilly, dem Todesarchipel, war er willkommen. Schon im 12. Jahrhundert überfielen Wikinger die Scillies und „machten viel Beute“, wie in der Orkneyinga-Saga vermerkt wurde. Im Jahr 1305 nahmen die Insulaner den Verwaltungsbeamten William le Poer gefangen und forderten ein Lösegeld, weil er die Ladung eines Wracks nicht ihnen überlassen, sondern
Unterwasserfelsen zustande, die neben den unregelmäßigen Gezeiten strömen das Gebiet für die Seefahrt so riskant machen. Doch wer aus dem Nordatlantik kam und nach London wollte, musste durch den gefährlichen Archipel hindurch. Ein Umweg wäre viel zu weit gewesen.
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GESTRANDET Wrecker entkleiden den toten Admiral Shovell, der mit seiner Flotte auf die Riffe gelaufen war
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für den König von England konfiszieren wollte. Und als sich 1320 eine Kogge aus der Normandie zwischen die Inseln verirrte, erschlugen die Scillonier die Crew, um an die Ladung zu kommen. Doch nicht nur hier, überall an Europas Küsten herrschte zu jener Zeit ein mörderisches Strandrecht, nach dem alles, was an die Küste gespült wurde, sich die dort lebenden Fischer oder Bauern aneignen konnten. Und wenn ihnen Kapitän und Mannschaft im Weg standen, wurden die umgebracht. Das Ausmaß der Schlächterei von Schiffbrüchigen war so groß, dass mehrere Päpste und Könige (etwa Heinrich II. von England) die Strandräuberei mit einem Bann belegten oder unter Todesstrafe stellten. Auch gegen Lotsen, die meist einheimische Fischer waren, richtete
und ihren Fisch nicht vermarkten konnten. Weil sich nirgends sonst so viele Havarien mit reich beladenen Schiffen ereigneten. Und weil sich sogar der König bediente und den Löwenanteil am Strandgut beanspruchte. Selbst 1707, beim zweitgrößten Desaster der Royal Navy, ging es nicht ohne Raub und Totschlag ab. Durch einen Navigationsfehler gerieten 21 hintereinander segelnde Kriegsschiffe der englischen Krone in Nacht, Nebel und Orkan zwischen die Riffe der Scilly-Inseln. 17 Kanonenbooten gelang es, sich aus dem Klippenlabyrinth freizusegeln. Doch die ersten vier zerschellten und rissen an die 2000 Seesoldaten mit in die Tiefe, nur ein Dutzend überlebte. In jener Zeit gab es schon einen Leuchtturm auf der Insel St. Agnes.
Ein Kohlenfeuer glomm in der Schicksalsnacht im Leuchtturm von St. Agnes. Angeblich sich das Verdikt – damit sie nicht willentlich die Schiffe auf Grund setzten, um sie der Plünderung preiszugeben. Trotz des Banns der Kirche holten sich die Küstenbewohner den Beistand des Allmächtigen: „Gott segne unseren Strand“, bat man an der Nord- und Ostsee. „Wir bitten, O Lord, nicht dass sich Wracks ereignen. Aber wenn sie passieren, dann leite sie zu diesen Inseln zum Vorteil der Bewohner“, flehten die Scillonier. Sogar einen eigenen Schutzpatron der Wracks hatten sie: den noch aus keltischen Zeiten stammenden Heiligen Warna. Wenn es den Insulanern schlecht ging, warfen sie Nadeln in einen ihm geweihten Brunnen, damit er ihnen schnellstens ein Wrack schickte.
Und in dieser Schicksalsnacht soll hinter dessen Glasscheiben ein Kohlenfeuer gebrannt haben. Doch vielleicht glomm es nur. Als das vorderste Schiff, mit dem Admiral an Bord, sich in den Klippen verirrte, gab der Kanonier einen Warnschuss für das nachfolgende Geschwader ab, was die Bewohner der Insel aufschreckte und das Feuer kräftig entfachen ließ – offenbar zu spät für die ersten Schiffe, die schon zwischen die Riffs gesegelt waren. Der Oberbefehlshaber Admiral Cloudesley Shovell, ein Mann mit Hängebacken, Doppelkinn und blonder Perücke, wurde am Morgen mit seinen zwei Stiefsöhnen, zwei weiteren Edelmännern und seinem Hund Mumper am Strand von St. Mary’s von zwei Frauen tot aufgefunden. Nach ihrem Bericht „war ihm das Hemd ausgezogen worden, und offensichtlich fehlte, nach dem Abdruck an seinem Finger zu urteilen, ein Ring an seiner Hand“: ein kostbarer diamantbesetzter Smaragdring, das Geschenk eines gräflichen Freundes. Erst 30 Jahre später beichtete eine
ERMORDET UND AUSGERAUBT Admiral Cloudesley Shovell von der Royal Navy fällt 1707 einer Strandräuberin zum Opfer
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as Gemetzel nahm im Laufe der Jahrhunderte ab. Ihrem christlichen Glauben folgend, versuchten die Scillonier etwa ab dem 15. Jahrhundert meist als Erstes, die Schiffbrüchigen zu retten. Doch den Raub setzten sie fort: weil sie kaum Ackerland hatten, immer wieder Hunger litten
SINKENDE BEUTE Das Passagierschiff „Earl of Arran“ strandet 1872 vor Nornour. Der Salon läuft innerhalb von Minuten voll
FRIEDHOF In Old Town auf St. Mary’s liegen die Schiffbrüchigen begraben
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DIE „SEINE“ gerät zwar vor den Scillies in Seenot, schafft es aber noch bis nach Cornwall. Dort erst strandet sie - zur Freude der Wrecker vor Ort
Insulanerin auf ihrem Sterbebett einem Geistlichen, dass sie den entkräfteten Admiral ermordet hatte, um an dessen Fingerring zu gelangen. Nach einer Insellegende war der Admiral allerdings auch selbst ein Schurke, der sein verdientes Ende gefunden hatte. Danach hatten sich die fünf Edelleute nämlich in einem Beiboot abgesetzt und die gemeinen Seesoldaten zurückgelassen. In einer anderen Variante trieben sie auf dem abgerissenen hölzernen Heckteil des Schiffes in die Bucht hinein – was jedoch wegen der Gezeitenströmungen nicht möglich ist.
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eginnend mit dem Schicksal des Admirals hat der englische Kaplan John Troutbeck im 18. Jahrhundert mit seinem Buch „Die Untersu-
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chung des altertümlichen und heutigen Zustands der Scilly Inseln“ ein über 100 Jahre umspannendes Panoptikum des Schiffbruchs niedergeschrieben und nebenbei die Missetaten der Insulaner aufgelistet. Mal brachen sie in einen Keller ein, in dem aus einem Wrack geborgene Fässer mit Brandy für die wahren Eigentümer verwahrt wurden. Mal drohten sie dem königlichen Collector, der das Strandgut einsammeln sollte, ihm den Kopf mit stählernen Stangen einzuschlagen. Mal wurde der Wärter des Leuchtturms von St. Agnes in Eisen gelegt, weil er das Kohlenfeuer verlöschen ließ und dann der Erste unter den Plünderern war, wenn ein Schiff strandete. Doch als im September 1786 die Scillonier aus einem Wrack 2,7 Tonnen
Pfeffer, der damals in Gold aufgewogen wurde, beiseiteschafften und verhaftet wurden, ordnete der Richter ihre sofortige Freilassung an: Der Kapitän des Schiffes konnte nicht schwören, dass der gefundene Pfeffer derselbe war wie der, den sein Schiff geladen hatte. Auf den Fotos der Gibsons of Scilly sind diese Kämpfe nicht zu sehen. Sie zeigen friedliche Ansichten, wenn etwa Boote der Insulaner an einem gestrandeten Segler längsseits liegen. Und die Bilder, die das Bergen etlicher Kühe von einem sinkenden Frachter zeigen, wirken eher wie eine skurrile Idylle. Wie die Gibsons überhaupt viele dieser Aufnahmen zustande bringen konnten, erscheint heute rätselhaft. Immer wieder schafften sie es, mit als Erste am Schauplatz zu sein – trotz der unhand-
lichen Plattenkameras, der sperrigen Holzstative und der Kästen für die unbelichteten Glasplatten, die sie transportieren mussten, selbst über unwegsames Gelände oder im Boot durch die aufgewühlte See.
ken einer Laterne von der Nebeninsel, manchmal wehte der Schall eines Musketenschusses herüber. Aber weder Glockenläuten noch Schreie waren zu hören, wenn wieder ein Schiff zwischen die Felsen gelaufen war. In der Dunkel-
Blutzoll gegen Strandrecht: Wer sein Leben als Retter riskiert, darf auch Beute machen
einem bestimmten Zeitpunkt trotz aller Räuberei immer die Retter. Immer wieder ertranken ganze Bootsmannschaften, weil die offene Gig in der tobenden See vollschlug oder kenterte. Das war der Blutzoll, aus dem die Scillonier ihr Strandrecht ableiteten. Erst wenn keiner mehr gerettet werden konnte, wurde Hand ans Schiff gelegt, oft unter Lebensgefahr. Denn Ware bergen konnten sie nur, solange es noch über Wasser lag. Nicht nur die Ladung, alles war für die Insulaner von Wert: Töpfe, Stühle, Kajütseinrichtungen, Kleidung von Seeleuten und Passagieren, Segel, Holz, auch Planken, die sie herausbrachen. Doch je größer und totaler ein Schiffbruch, desto weniger fiel für die Insulaner ab. Dann wurden nicht etwa Fässer mit Wein oder Öl an die Ufer ge-
FOTO: G Die Menschen von Scilly hatten ein un trügliches Gespür: Es gab Sturm- und Nebelnächte, in denen ein Schiffbruch geradezu passieren musste. Manchmal blinkte ein Lichtsignal wie das Schwen-
heit sah man dann einen Schatten, der zur Gig, zum Rettungsboot, eilte. Wortlos trafen alle, die den Vorbeieilenden bemerkt hatten, beim Boot ein. Die Ersten, die hinausfuhren, waren ab
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LUKRATIVE LECKAGE Das Frachtschiff „Cita“ sinkt 1997 vor St. Mary’s und verliert viele seiner Container
BONANZA Für den Eigentümer ist die nasse Ware wertlos. Die Insulaner hingegen freuen sich über Grillsets und Autoreifen
SCHATZKISTEN Die Fracht findet rasch neue Besitzer. Doch die noch umhertreibenden Container gefährden die Schifffahrt
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Piraten
spült, sondern Leichen – wie beim Untergang der „Schiller“ am 7. Mai 1875. Der Post- und Passagierdampfer aus Hamburg, mit 116 Meter Länge damals eines der größten Schiffe der Welt, lief mit 372 Menschen an Bord nachts, bei Nebel, auf das Riff Retarrier Ledges. Als die Insulaner die Böller der sinkenden „Schiller“ hörten, deuteten sie die nicht als Notsignal, sondern als „Passiert“-Freudenschüsse, wie sie oft von den neuen Dampfschiffen abgegeben wurden, wenn sie die Scillys hinter sich gelassen hatten. Ein einheitliches Notsignal, wie das gemorste SOS und das heutige „Mayday“, war noch unbekannt. Am nächsten Morgen entdeckten Einwohner der nächstgelegenen Scilly- Insel St. Agnes sieben in der See treibende Leichen. Als Retter an den Unglücksort gelangten, konnten sie nur noch Tote und Postsäcke bergen. 335 Menschen waren umgekommen, überwiegend Deutsche,
den Steinen der Küste Container. Bei vielen quollen die Güter aus den aufgesprungenen Türen. Als größte „Bergungs-Bonanza aller Zeiten“ feierten die Insulaner diesen Schiffbruch. Sie schleppten Kleidungsstücke, Schuhe, Autoreifen, Einkaufstaschen, Bodenbeläge, Haustüren, Grill-Sets, Golfausrüstungen, Handtücher, Akkus, Badezimmerzubehör, Lastwagenersatzteile, Computermäuse, Puderdosen, Schlüsselanhänger, ja sogar Gabelstapler und Grabsteine davon. Nach heutigem Recht gehören, ähnlich wie bei anderen Fundsachen, die angeschwemmten Güter weiterhin den ursprünglichen Eigentümern. Doch die fordern die Strandbeute meist nicht zurück, da sie in der Regel durch Nässe beschädigt ist und die Versicherer von Lloyd’s of London den Schaden ohnehin begleichen. An die größte Beute sind die Insulaner allerdings bis heute nicht heran-
Noch immer sollen Schätze auf dem Meeresgrund liegen. Moderne Wrecker suchen nach ihnen die in einem Massengrab auf St. Mary’s beerdigt wurden. So sind die Scillies zu den Inseln des Untergangs geworden. Und nur hier konnten Fotografen wie die Gibsons heranwachsen. Sie waren Dokumentare der fortwährenden Schiffbrüche und schufen mit ihrem Werk eine Allegorie auf unser zerbrechliches Dasein.
gekommen. Sie ist überall auf dem Meeresboden verteilt. „Da unten liegen Schätze!“, ruft Pete Carss, während sein Kutter in Schleifen die Magnetometer-Sonde hinter sich herzieht, „Millionen wert! Abermillionen!“ Goldbarren von der „Schiller“, Silberbarren von der „Prinses Maria“ und wieder Silberbarren von der „Hollandia“ und so weiter: Goldmünzen, Silberdollars, Edelsteine, Schmuck … Über ein Jahrtausend hinweg haben sie sich dort abgelagert. Pete Carss blickt über die Seite des Kutters ins Wasser. „Nur Peanuts haben sie über die Jahrhunderte geborgen. Vielleicht ist das doch noch die Rache der Abgesoffenen!“ Er lacht. ■
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iner der letzten Untergänge geschah aus Dummheit und Fahrlässigkeit, ohne einen Toten – was daher eine reine Freude für die Scillonier war, die ihr altes Strandrecht wieder ausleben konnten. Der Containerfrachter „Cita“ lief nachts am 26. März 1997, bei bester Sicht und mit voller Kraft auf die Felsen von Porth Hellick. Der einzige Mann auf der Brücke schlief fest, während das Schiff durch einen Autopiloten gesteuert wurde und die Radarwarnung ausgeschaltet war. Bei Tagesanbruch lagen überall auf
Christian Jungblut ist in einer Lotsenfamilie direkt am Elbufer von Hamburg aufgewachsen, wo er als Kind selbst Strandgut geborgen hat.
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Der Fluch der Meere Sie entern, sie rauben, sie morden – und werden zu Legenden. Die Lebensgeschichten von sechs der berühmtesten Piraten aller Zeiten
Francis Drake Im 16. Jahrhundert beherrschten Spanien und Portugal die Weltmeere. Ihre Schiffe brachten Gold und Silber aus den Kolonien nach Europa. Die Routen über den Atlantik wurden zu Lebensadern, mit denen vor allem Spanien seine Vormacht sicherte. England wollte das Monopol des Erzfeinds brechen, doch seine Flotte war unterlegen. Es geschah daher mit der stillen Erlaubnis von Königin Elizabeth I., dass Francis Drake (1540–1596) ab den 1570er-Jahren spanische Kolonialstädte und Schiffe vor Südamerika überfiel. Er eroberte Reichtümer, störte den spanischen Seehandel empfindlich. Sein großer Coup gelang dem Freibeuter, als er die berüchtigte Magellanstraße durchquerte. Die Spanier an der Westküste Amerikas wurden völlig überrumpelt. Um mit dem schwer beladenen Schiff nicht erneut die Meerenge passieren zu müssen, wählte Drake eine Rückroute über den Pazifik, umrundete dabei als einer der ersten Seemänner die Erde. Seine Raubfahrten ließen den Streit zwischen Spanien und England eskalieren. Spanien schickte eine „Armada“, um England zu erobern. Als Vizeadmiral half Drake 1588, diese gewaltige Flotte zu vernichten. So begann der Aufstieg Englands zur Weltmacht.
Gödeke Michels Die Vitalienbrüder machten gegen Ende des 14. Jahrhunderts erst die Ostsee und dann auch die Nordsee unsicher. Einer ihrer Anführer war Gödeke Michels – doch stets steht er im Schatten eines Mythos: Klaus Störtebeker, jener Seeräuber, der angeblich nach seiner Hinrichtung kopflos die Reihe seiner Kumpanen ablief, um deren Leben zu retten – und erst durch einen Holzblock zu Fall gebracht wurde. Leider scheint nicht nur diese Geschichte zu schön, um wahr zu sein, denn die historischen Quellen belegen nicht eindeutig, wer Störtebeker überhaupt gewesen ist. Englische Gerichtsakten nannten seinen Namen, in Wismar wurde ein Mann dieses Namens Opfer eines Überfalls, die Hamburger wollen ihn enthauptet haben. Mehr als ein gewöhnlicher Piratenkapitän war Störtebeker, wenn es ihn denn gegeben hat, wohl nicht. Erst die Nachwelt hat den legendären Oberpiraten Störtebeker erfunden. Anders sieht die Quellenlage zu Gödeke Michels aus. Zweifelsfrei gehörte er zu den Anführern der Vitalienbrüder der zweiten Generation. Gegründet wurde diese Seeräuberbande von Adeligen, als die Herzöge von Mecklenburg mit dänischen Aristokraten um den Thron in Dänemark stritten und dabei die Hilfe von Piraten nutzten. Sie entfachten einen Kaperkrieg, um den Gegner zu schwächen. Als der Streit beigelegt war, überfielen die Vitalienbrüder Handelsschiffe im großen Stil. Doch 1401, nach dem Erstarken der Hanse, schlugen Hamburger Schiffer auf der Weser zu, nahmen Michels und 80 Piraten gefangen. Sie wurden nach Hamburg gebracht und auf dem Kleinen Grasbrook enthauptet. GRASBROOK Die Vitalienbrüder schreiten in Hamburg zu ihrer Hinrichtung (nach einem Flugblatt aus dem 16. Jahrhundert)
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Blackbeard Sein Auftritt: gewaltig, Angst einflößend. Mit gleich mehreren Pistolengurten, Patronenriemen, Messern war er angeblich behangen. Der schwarze dichte Bart fiel beeindruckend lang. In seinem Hut steckten brennende Lunten! Eine Ausgeburt des Teufels! Edward Teach (oder Thatch, 1680–1718), besser bekannt als Blackbeard, gilt als der Piratenkapitän schlechthin. Nur 18 Monate lang plünderte der Engländer vor der nordamerikanischen Küste, meist auf der „Queen Anne’s Revenge“ (siehe Seite 36). Doch diese kurze Zeit reichte aus, um eine Legende zu erschaffen, denn Blackbeard weiß sich perfekt zu inszenieren. Die Propaganda funktionierte: Manche Schiffsbesatzungen strichen schon vor dem Kampf mit ihm die Segel, um ihr Leben zu retten. Blackbeard paktierte mit dem Gouverneur von North Carolina, der ihm Amnestie versprach und seine Beute verhökerte. Doch als der Pirat immer mehr Schiffe überfiel, sollten Soldaten ihn stoppen. Von Kugeln durchsiebt, stirbt Blackbeard im Kampf.
Roche Brasiliano Zu den brutalsten Piraten zählte Roche Brasiliano (circa 1630–1671). Wer ihm in die Quere kam, musste Folter und Tod befürchten. So ließ er zum Beispiel zwei spanische Gefangene, die sich weigerten, Geheimnisse zu verraten, bei lebendigem Leib über offenem Feuer rösten. Geboren in Groningen in Friesland wanderte er in die niederländische Kolonie in Brasilien aus, dort erhielt er seinen markanten Namen. Er wurde ein Bukanier in Jamaika und war dabei, als Henry Morgan Panama überfiel (siehe dazu auch Seite 40). Zwar gab der trinkfreudige Seeräuber wie so viele Piraten seine gesamte Beute bei heftigen Gelagen und Eskapaden aus – doch letztlich ging er wegen einer besonderen Form der Geldanlage in die Geschichte ein: Roche Brasiliano gehört zu den ganz wenigen Piraten, die tatsächlich einen Schatz vergraben haben. Als man ihn gefangen nahm und die Inquisition ihn foltern ließ, verriet er sein Geheimversteck auf der Isla de Pinos. Und tatsächlich gruben Soldaten dort mehr als 100 000 Piaster aus.
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Jean Fleury 1521 griff eine kleine spanische Armee die Azteken im Hochland von Zentralmexiko an. Unter dem Kommando von Hernán Cortés plünderte sie die Hauptstadt Tenochtitlan. Gold, überall Gold, Silber und Perlen. Die Spanier rafften unglaubliche Schätze an sich. Zwei Jahre später sollten drei Schiffe die Beute nach Spanien bringen. Doch dort kamen sie nie an. In der Nähe der Azoren traf die spanische Flottille auf fremde Schiffe: Der Korsar Jean Fleury (gest. 1527), Kommandeur von sechs französischen Schiffen, wartete hier auf Beute. Er befahl den Angriff. Die Piraten eroberten zwei Karavellen, die überladen waren mit dem Gold der Azteken. Erst mit diesem Überfall realisierte der Rest Europas, welche Schätze Spanien in Amerika an sich gerissen hatte. Fleury blieben nur wenige Jahre, um sich an seinem Reichtum zu erfreuen: 1527 fiel er in der Nähe von Cadiz in die Hände der Spanier und wurde als Pirat verurteilt – obwohl er einen Kaperbrief seines Königs dabei hatte und damit formell kein Räuber war, sondern im Auftrag Frankreichs den Seekrieg führte.
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Piraten
Chen I. Sao Sie ist eine der wenigen bekannten Piratinnen. Dabei begann Chen I. Sao (1775–1844) ihre Karriere auf einer kleinen Insel als Prostituierte unter dem Namen Shih Yang. 1801 traf sie dort auf Chen I., Anführer einer Piratenbande. Die beiden heirateten, und sie war fortan bekannt als Chen I. Sao, übersetzt „die Frau von Chen I.“. Beide befehligten gemeinsam die Truppe. Ihnen gelang es, mehrere Piratenbanden zu einem mächtigen Bund zu vereinen. Dieser umfasste 1804 etwa 400 Dschunken und 70 000 Mann. Im Grunde herrschte das Ehepaar über einen eigenen Staat inklusive Schiedsgerichten und einer Abrechnungsstelle. 1807 starb ihr Mann. Cheng I. Sao konnte sich durchsetzen und übernahm allein die Führung. Doch um ihre Position zu sichern, brauchte
Jolly Roger sie einen Gatten. Sie heiratete einen Piraten, der ihr die Macht überließ. Sie führte einen strengen Codex in ihrer Bande ein: Wer nicht bedingungslos gehorchte, wurde geköpft. Ihre schlagfertige Armee beherrschte bald das ganze Südchinesische Meer. Das als so mächtig geltende chinesische Kaiserreich erwies sich ihnen gegenüber als machtlos. Soldaten des Kaisers sabotierten ihre eigenen Schiffe, um nur nicht gegen die Piraten kämpfen zu müssen. In seiner Not bat China in Europa um Hilfe, doch auch England und Portugal konnten gegen die Umtriebe Chen I. Saos nur wenig ausrichten. Ab 1810 zerbrach der Piratenbund. Chen I. Sao handelte mit China geschickt eine Amnestie aus: Viele Piraten durften nun für den Staat arbeiten und Teile der Beute behalten.
Totenkopfflaggen sind keine Fik tion, jeder Pirat hatte seine eigene
THOMAS TEW Starker Arm hält eine geschwungene orientalische Klinge
STEDE BONNET Ein Schädel zwischen einem Dolch und einem Herzen
BLACKBEARD Skelett durchbohrt Herz, Sanduhr zeigt nahenden Tod
HENRY EVERY Diverse schwarze Piraten flaggen-Motive, hier mit Kopftuch
WALTER KENNEDY Ein nackter Mann mit Sanduhr und Schwert
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Piraten
Zum Vertiefen Buchtipps zum Titelthema von der Redaktion
ZUM EINTAUCHEN Reich bebildert, mit anschaulich geschriebenen Texten über Kaperfahrer, Meuterer und Freibeuter, präsentiert dieser Band Hintergrundwissen, das Spaß macht. Das Buch entstand nach einem Symposium des Überseemuseums in Bremen über Piraten und versammelt namhafte Autoren. Hartmut Roder Piraten. Abenteuer oder Bedrohung? Edition Temmen, 2002, 172 Seiten, antiquarisch zu beziehen
ZUR ÜBERSICHT Von den Seeräubern der Antike bis zu den Bukaniern der Karibik zeichnet der Geschichtsprofessor Robert Bohn die großen Linien der Piraterie auf. Ein lesenswerter Einstieg in das Thema. Robert Bohn Die Piraten C.H. Beck, 3. Aufl., 2007, 128 Seiten, 8,95 Euro
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ZUM MITFIEBERN Piraten haben kaum autobiografische Quellen hinterlassen. Über die Schrecken der Meere wurde stets viel geschrieben, aber selbst griffen die Seeräuber lieber zum Säbel als zur Feder. Eine Ausnahme ist der Wundarzt Exquemelin. Seine Berichte aus der Karibik sind eine wichtige Quelle für Historiker und spannend zu lesen. Alexandre Olivier Exquemelin Das Piratenbuch von 1678 Erdmann, 1968, 263 Seiten, antiquarisch zu beziehen
ZUM TAGTRÄUMEN Alles beginnt mit einer Schatzsuche, auf die sich der junge Jim Hawkins begibt: Er trifft harte Seebären, gierige Piraten und erlebt ein unglaubliches Abenteuer. Stevensons Roman prägt bis heute das Piratenbild. Robert Louis Stevenson Die Schatzinsel dtv, 2015, 384 Seiten, 12,90 Euro
ZUM KAMPF DER KULTUREN Der Geschichte des Mittelmeerraums hat sich der Historiker Salvatore Bono verschrieben. Er schildert packend den Kampf zwischen christlichen und muslimischen Korsaren. Salvatore Bono Piraten und Korsaren im Mittelmeer Klett-Cotta, 2009, 320 Seiten, 12,95 Euro
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Briefwechsel
„Mein Wunsch: Arbeiten Sie konzentrierter“ Zwei Genies auf Augenhöhe: Goethe und Schiller schreiben sich und motivieren einander, kritisieren und verbessern die Arbeit des anderen, beflügeln sich zu immer neuen Meisterwerken
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s ist keine Zuneigung auf den ersten Blick: Goethe und Schiller sind nach den ersten Begegnungen recht unbeeindruckt voneinander. Die beiden sind Konkurrenten. Doch ab 1794 entwickelt sich zwischen ihnen eine eigentümliche Nähe. Fast scheint es, als seien sie aufeinander fixiert. Sie schreiben sich nahezu täglich Briefe, obwohl beide in Weimar leben. Die Freundschaft der Dramatiker führt zu besonderer Produktivität. Anfang 1802 stößt Schiller auf das Thema für ein Drama, an dem er, mit Unterbrechungen, zwei Jahre arbeitet: die Geschichte des Schweizer Freiheitskämpfers Wilhelm Tell. SCHILLER am 10. März 1802 aus Weimar
Ich bin nicht untätig gewesen, wiewohl ich von meinem Tun noch lange keine Rechenschaft geben kann. Ein mächtiger Interesse (…) hat mich schon seit sechs Wochen beschäftigt und mit einer Kraft und Innigkeit angezogen, wie es mir lange nicht begegnet ist. Noch ist zwar bloß der
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„Ich freue mich, dass wir den Eintritt des Frühjahrs zusammen zubringen werden“ Moment der Hoffnung und der dunkeln Ahnung, aber er ist fruchtbar und vielversprechend, und ich weiß, dass ich mich auf dem rechten Weg befinde … GOETHE am 16. März 1802 aus Jena
Die Nachricht, dass Sie mit entschiedenem Interesse einen neuen Gegenstand bei sich herumtragen, macht mir viel Freude, sowohl für Sie als für uns, ich wünsche guten Sukzeß (…). Übrigens weiß ich nicht viel zu sagen, als dass mir abends, wenn es 7 Uhr werden will, sehr oft der Wunsch entsteht, Sie (…) auf ein paar Stunden bei mir zu sehen.
Friedrich Schiller (1759–1805) zählt zu den wichtigsten deutschen Dramatikern. Zu seinen Werken gehören „Die Räuber“, „Wilhelm Tell“ und das Gedicht „An die Freude“, das Beethoven in seiner Neunten Sinfonie vertonte. SCHILLER am 20. März 1802 aus Weimar
Ich freue mich, dass Sie bald wieder hier sein und dass wir den Eintritt des Frühjahrs zusammen zubringen werden, der mich immer traurig zu
Sie mehr Produktionen und, ich darf wohl sagen, theatralisch wirksamere lieferten. SCHILLER am 06. Juli 1802 aus Weimar
Ich gebe Ihnen vollkommen recht, dass ich mich bei meinen Stücken auf das Dramatischwirkende mehr konzentrieren sollte (…). Soll mir jemals ein gutes Theaterstück gelingen, so kann es nur auf poetischem Wege sein (…). Mir möchte dieses Problem schwerer zu lösen sein als einem andern, denn ohne eine gewisse Innigkeit vermag ich nichts, und
GOETHE am 13. Januar 1804 aus Weimar
Das ist denn freilich kein erster Akt, sondern ein ganzes Stück, und zwar ein fürtreffliches, wozu ich von Herzen Glück wünsche und bald mehr zu sehen hoffe (…). Zwei Stellen nur habe ich eingebogen. Bei der einen wünschte ich (…) noch einen Vers, weil die Wendung gar zu schnell ist. Bei der andern bemerke ich so viel: Der Schweizer fühlt nicht das Heimweh, weil er an einem andern Orte den Kuhreigen hört, denn der wird, soviel ich weiß, sonst nir-
„Dies ist ein fürtreffliches Stück, wovon ich bald mehr zu sehen hoffe“ Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) gilt als deutscher Dichterfürst. In seiner Zeit in Weimar wurde die Stadt zum Zentrum der deutschen Klassik. Seine Werke „Die Leiden des jungen Werther“ und „Faust“ sind Teil der Weltliteratur.
diese hält mich gewöhnlich bei meinem Gegenstand fester, als billig ist … GOETHE am 17. August 1802 aus Jena
Sagen Sie mir ein Wort und trösten mich über meine lange Entfernung von Ihnen, welche nur durch eine bedeutende Fruchtbarkeit einigermaßen entschuldigt und entschädigt werden könnte. SCHILLER am 13. Januar 1804 aus Weimar
machen pflegt, weil er ein unruhiges und gegenstandsloses Sehnen hervorbringt … GOETHE am 05. Juli 1802 aus Lauchstädt
Mein alter Wunsch, in Absicht auf die poetischen Produktionen, ist mir auch hier wieder lebhaft geworden: dass es Ihnen möglich sein könnte, gleich anfangs konzen trierter zu arbeiten, damit
Indem ich mich erkundige, wie es mit Ihrer Gesundheit steht, frage ich zugleich an, ob Sie sich gestimmt und aufgelegt fühlen, von etwas Poetischem Notiz zu nehmen. Denn in diesem Fall wollte ich Ihnen den großen ersten Akt des ‚Tells‘ zuschicken, welchen ich (…) nicht gerne ohne Ihr Urteil aus den Händen geben möchte (…). Ich habe Hoffnung, mit Ende des kommenden Monats ganz fertig zu sein …
gends geblasen; sondern eben weil er ihn nicht hört, weil seinem Ohr ein Jugendbedürfnis mangelt. SCHILLER am 14. Januar 1804 aus Weimar
Dass Sie mit meinem Eingang in den ‚Tell‘ zufrieden sind, gereicht mir zu einem großen Trost (…). Auf den Montag will ich Ihnen das Rütli senden … (Szene im zweiten Akt) GOETHE am 18. Januar 1804 aus Weimar
Hier kommt das Rütli zurück, alles Lobes und Preises wert (…). Ich verlange sehr, das Übrige zu sehen. Alles Gute zur Vollendung. Das Drama „Wilhelm Tell“ wird am 17. März 1804 in Weimar uraufgeführt. Ein Jahr später stirbt Schiller. ■
FOTOS: INTERFOTO Die Briefe stammen aus: Goethe, Schiller: Die große Freundschaft in ihren Briefen. Auswahl von Ulla Leippe, Deutsche Hausbücherei, 1953 (antiquarisch), 355 Seiten.
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KÖNIGSBLUT Ein Adelsgeschlecht ohne Stammbaum? Undenkbar. Ein unbekannter Künstler malte das Geäst des Hauses Savoyen, das mehrere italienische Könige gestellt hat
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Die Spur der Ahnen Fließt vielleicht blaues Blut durch meine Adern? Oder war mein Vorfahr
ein Schurke? Über das Abenteuer, zu den eigenen Wurzeln vorzudringen Von Teja Fiedler
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ow, das ist nun wirklich etwas anderes als ein Doppel-Whopper!“ Andächtig löffeln die Besucher aus den USA den Eintopf, der die kulinarische Spezialität jenes Landstrichs zwischen Cloppenburg und Osnabrück ist, in dem sie zu Gast sind: Weißkohl, Karotten, Zwiebeln, Gerstengrütze und: Bauchspeck. „Really terrific!“, sagt Dennis Kruse, Manager aus Virginia, und leckt sich zum Beweis die Oberlippe. Es hat die 29-köpfige Reisegruppe nicht zufällig ausgerechnet hierher verschlagen, ins norddeutsche Tiefland um das Dörfchen Gehrde. Dieser ansonsten touristisch weniger entwickelte 2000-Einwohner-Ort war das punktgenaue Ziel ihrer Reise über den Atlantik. Denn die Besucher aus den USA stammen alle – über teils verschlungene Stamm baumwege – vom Bauernsohn Johann Hinrich Kleiböcker ab, der sich 1851
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Ahnenforschung
als junger Mann aus Gehrde aufmachte, in der Neuen Welt sein Glück zu suchen. Viele der Besucher aus Amerika tragen noch heute den Namen Kleiböcker. „Back to the roots“, sagt Dennis, den man als Motor des „Ahnenforschungsprojekts Gehrde“ bezeichnen kann. Zurück zu den Wurzeln. Zurück in die alte Heimat.
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chon lange fasziniert Dennis Kruse die Migrationsgeschichte des Kleiböcker-Clans. „Allein schon der Anfang: Angeblich wurde Johann Hinrich, eingenäht in einen Strohsack, in Bremerhaven an Bord des Auswandererschiffs geschmuggelt. Warum? Er war zum königlich-hannoverschen Wehrdienst einberufen worden. Da haute er einfach ab.“ In New Orleans ging Kleiböcker den Unterlagen nach an Land. Und landete dann in Freistatt, Missouri. Bauernland, so flach, fruchtbar und gottesfürchtig wie die alte Heimat. Und bis auf die Knochen deutsch. „Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurde dort Deutsch gesprochen“, erzählt Kruse. „Erst mit dem Zweiten Weltkrieg hörte das auf. Und bis vor ein paar Jahren gab es noch eine Original-Blaskapelle.“ Kleiböcker heiratete, natürlich eine Deutsche. Er wurde Farmer im Landstrich um Freistatt. Manche seiner Nach-
kommen sind das noch immer. Viele aber sind im Lauf von 150 Jahren abgewandert und leben heute in Virginia, Texas, Oregon oder Kalifornien. Dennis Kruse spürte sie in genealogischer Fein- und Kleinarbeit auf und konnte nun 28 Kleiböcker-Nachkommen für einen Trip in die alte Heimat begeistern. „Wir wollten Licht ins Dunkel unserer europäischen Vergangenheit bringen“, sagt Jane Mayden, eine Cousine von Dennis. Sie zeigt sich erstaunt, als sie von ihrer entfernten Verwandten
Allein in Deutschland gehen 120 000 Menschen auf Ahnenjagd. Nostalgie? Oder Familiensinn? Hella Kleiböcker vor Ort erfährt, dass zu den Zeiten ihres gemeinsamen Urururgroßvaters die Bauern mit ihrem Vieh unter einem Dach lebten: „Amazing“. Unglaublich. Die Erforschung der eigenen Familie stößt im Einwandererland USA auf großes Interesse. Es gibt sogar TV-Shows, in denen Menschen auf genealogische Spurensuche gehen. Ursprünglich waren es vor allem Afroamerikaner, die wissen wollten, aus welchem Teil Afrikas ihre Vorfahren als Sklaven entführt
FRÖHLICHE SIPPSCHAFT Auf einem Hof in Niedersachsen treffen sich die Nachkommen der Familie Kleiböcker. Viele leben heute in den USA und sind zum ersten Mal in Europa
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worden waren. Aber unter den rund 120 Millionen Amerikanern, die auf die Suche nach längst verstorbenen Verwandten gehen, sind auch immer mehr europäischstämmige Familien. Sie wollen ihren „Crossing Ancestors“ näherkommen – jenen Vorfahren, die einst den Atlantik überquert hatten. „Aber auch hierzulande hat sich das Stöbern in der eigenen Familiengeschichte längst zu einem Massenphänomen entwickelt“, sagt Wolfgang Grams. Als Projektentwickler der Münchner Ge-
nealogie-Datenbank Ancestry hat er den Kleiböcker-Clan bei der Heimkehr ins Land der Väter (und Mütter) begleitet. Die Gründe für die neu erwachte Lust am Blick zurück? „Unsere globalisierte Welt wird zunehmend als unübersichtlich empfunden. Da suchen die Menschen Halt, Heimat, Zusammenhänge, überschaubare Abläufe. Sie vergewissern sich durch den Rückgriff auf die Familiengeschichte ihrer eigenen Gegenwart. Selbstspiegelung in früheren Generationen sozusagen.“ Allein in Deutschland gehen heute 120 000 Menschen auf Ahnenjagd. Aus Nostalgie, aus Familiensinn – oder auch mit dem Wunsch nach einem „Renommier-Ahnen“, einer nachweislichen Blutsverwandschaft mit Goethe, Luther oder Karl dem Großen. Unterstützt werden sie dabei häufig von Vereinen. Die Genealogische Gesellschaft Hamburg etwa zählt heute rund 600 Mitglieder und verfügt über 25 000 gedruckte Quellen sowie eine Datenbank mit rund drei Millionen Einträgen. In ganz Deutschland gibt es mehr als 70 ähnliche Gruppen. Auch wenn die Geschichte der deutschen Genealogie schwer belastet ist: In der Nazizeit hatten alle Bürger zum Beweis ihres „Deutschtums“ – sprich zur Ausgrenzung und Entrechtung der deutschen Juden – einen „Arier-Nach-
ist die Schrift oft fast bis zur Unleserlichkeit verblasst. Warum? Weil Tinte damals teuer war, und da hat sie der Herr Pastor mit Wasser gestreckt. Das heißt, Pastoren auf dem Land waren arme Schlucker.“ Henz fährt fort: „In den Tauflisten um 1730 sind stets Vater, Kind und drei Taufzeugen namentlich genannt, nicht aber die Mutter. Sie hatte zwar das Kind geboren, aber das war nicht der Erwähnung wert. Bei höheren Ständen – sagen wir mal Offizier oder Kaufmann – steht bei den Männern immer ,Herr‘ vor dem Namen. Einem Schlachter oder Tagelöhner erwies der Pastor diese Ehre nicht.“
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uch Wissenschaftler nutzen mittlerweile Datensammlungen aus Kirchenbüchern und Urkunden für Erkenntnisse über frühere Gesellschaftsstrukturen: Mikrogeschichte nennt sich das, weil es dem Blick durch ein historisches Mikroskop gleicht. Und während die offizielle Geschichtsschreibung früherer Epochen oft nur von den Reichen und Mächtigen erzählt, lässt sich aus Melderegistern oder Geburtsurkunden auch viel über das Leben von Armen und Landlosen herauslesen. Etwa dass sie im Norddeutschland des 19. Jahrhunderts mitnichten in lebenslanger Knechtschaft an einen Bauern gebunden waren, wie Historiker lange annahmen, sondern dass sie meist nach wenigen Jahren den Hof wechselten. Und solche Wechsel sogar aktiv anbahnten, indem sie ihre künftigen Wunscharbeitgeber zum Paten ihrer Kinder machten. Jenseits aller wissenschaftlichen und psychologischen Aspekte hat der Aufschwung der Ahnenforschung auch einen ganz handfesten Grund: die Digitalisierung. Wer heutzutage entfernte Verwandte irgendwo auf der Welt aufspüren oder seinen Stammbaum bis in die Napoleon-Zeit auffächern möchte, muss sich nicht wie früher selbst durch schwer zugängliche Kirchenbücher oder den Dokumentenwust eines Staatsarchivs kämpfen. Er kann auf die Dienste kommerzieller Anbieter zurückgreifen: Die Münchner Firma
FOTO WURZELN EINER HELDIN Johanna von Orléans ist die Nationalheilige Frankreichs. Dies ist der Stammbaum ihrer Mutter, einer geborenen de Vouthon
weis“ zu erbringen. Beglaubigte Geburts-, Heirats- oder Sterbeurkunden bis zurück zu allen vier Großeltern mussten beweisen, dass niemand in der Familie Jude war. Für Parteimitglieder der NSDAP war es sogar zwingend vorgeschrieben, von 1800 an „judenfreie“ Vorfahren zu haben. Der Stammbaum wurde damit für jedermann zu einem Muss. Die Ahnenforschung boomte. Eine „Reichsstelle für Sippenforschung“ gab Hilfestellung. Aber auch Priester öffneten bereitwillig ihre Kirchenbücher für den Arier-Nachweis ihrer Schäflein.
Nach 1945 war die Ahnenforschung daher erst einmal gebrandmarkt. Zwei Generationen später aber hat sie dieses Stigma weitgehend verloren. Und so zynisch es klingen mag, dem Arier-Wahn verdankt die heutige Genealogie eine Fülle von Familiendaten, die ansonsten wohl verloren gegangen wären. Und inzwischen ist auch klar: Ahnenforschung ist mehr als nur ein Hobby für Privatleute. Genealogische Dokumente, erklärt Uwe Henz von der Hamburger Genealogischen Gesellschaft, gäben wertvolle Einblicke in die Zeit ihrer Entstehung: „In alten Kirchenbüchern
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Ahnenforschung
Ancestry etwa stellt ihren Kunden historische Heiratsurkunden, Todesanzeigen, Volkszählungen, Ein- und Auswanderungsdokumente, Militärakten, Kirchenbücher, historische Telefonbücher und Zeitungen per Mausklick im Internet zur Verfügung. Dazu digitalisiert Ancestry nicht nur die Bestände von Staatsarchiven – die Experten bohren auch entlegene Quellen an, etwa die Zensurlisten aller Schüler im bayerischen Ebersberg zwischen 1824 und 1912. Oder die Verlustregister der deutschen Kriegsmarine. „Doch die ergiebigsten Informationen kommen aus den Registern der Standesämter“, so Grams. Leider wurde der Betrieb von Standesämtern erst zwischen 1874 und 1876 für alle Regionen des Deutschen Reichs zur Pflicht. Vorher waren es meist nur die Kirchenbücher, in denen Geburten, Hochzeiten und Todesfälle registriert wurden. „Und nicht jeder Pfarrer war da gleich fleißig. Es gab ja keine einheitlichen Vorschriften, welche Informationen eingetragen werden mussten. Außerdem haben Krieg, Brände oder Epidemien das sowieso schon lückenhafte Material über die Jahrhunderte weiter dezimiert.“ Für die Zeit vor der Einführung der Standesämter sind dokumentierbare Ahnenreihen ohnehin eher die Ausnahme – außer bei den Adelsgeschlechtern, für die ein lückenloser „blaublütiger“ Stammbaum zur Legitimation ihrer Pri-
PER SCHIFF in die neue Heimat nach New York: In Ahnentafeln markieren „Crossing Ancestors“ oft wichtige Wendepunkte
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vilegien notwendig war. „Auch im elektronischen Zeitalter muss man schon ein bisschen Glück haben, um etwas zu finden“, sagt Wolfgang Grams. Nicht selten ist einer dieser Glücksfälle dann auch die Initialzündung für das Hobby Ahnenforschung. Dennis Kruses Begeisterung etwa entfachte sich an einem Packen angegilbter Blätter, die ihm eine Verwandte vermacht hatte. Es waren Kleiböckers Erinnerun-
hängt sauber gerahmt an der Wohnzimmerwand und bezeugt, dass 1848, im Jahr der bürgerlichen Revolution, „der Johann Heinrich Hambrock aus Bierde“ für den Verkauf von „Cavallerie-Pferden“ eine „Königliche Prämie“ von „3 Pistolen“ erhielt. „Pistolen“ waren in diesem Fall keine Waffen, sondern die Goldwährung im Königreich Hannover, zu dem das Dorf Bierde gehörte. 50 Jahre später waren die Hambrocks Hambur-
Wer auf Spurensuche geht, muss lernen, die Sütterlinschrift zu lesen. Nicht leicht, aber machbar gen, in gestochener Sütterlinschrift: „Mein Lebenswandel“. Niemand hatte sie mehr als 100 Jahre lang lesen wollen oder können. Bis Kruse kam. Fünf Berufsjahre in Deutschland machten den Kleiböcker-Nachfahren sprachlich fit für die Memoiren seines Urahns. Und mit der Hilfe von Ancestry klaubte er dann den Stammbaum des gesamten Clans zusammen. Man kann natürlich nicht als Journalist über Familiengeschichtsforschung schreiben, ohne den Blick auch mal auf die eigene Sippe zu lenken: Meine Lust an der Genealogie befeuerte eine Urkunde aus dem Jahr 1848. Sie gehört der Familie meiner Frau, deren Mutter eine geborene Hambrock war. Die Urkunde
ger Kaufleute mit einem Kontor in der Speicherstadt. Wie kamen sie dort hin? Wer auf Spurensuche gehen will, egal ob im Archiv oder via Internet, kommt an einem nicht vorbei: Er muss die Sütterlinschrift entziffern, auch „deutsche Schrift“ genannt. Bis ins 20. Jahrhundert sind die handschriftlichen Teile aller Dokumente darin verfasst. „Das ist nicht ganz einfach“, sagt Grams, „aber man kann es lernen. Es ist ja unser Alphabet, nur werden die Buchstaben etwas anders, meist schwungvoller, geschrieben.“
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emeinsam mit Grams scrolle ich durch die Urkundenbestände der Ancestry-Datenbank und werde im Heirats- und Sterberegister der Hansestadt Hamburg dreifach fündig. Faksimiles in Sütterlin erscheinen auf dem Bildschirm. Dokument 1: Am 9. Mai 1893 erscheint der „Kaufmann Dietrich Albert Hambrock, geboren 1866, wohnhaft in Hamburg, Rothenbaum-Chaussee 26, zum Zweck der Eheschließung“ vor dem Standesbeamten. Er ist ein Sohn des „Zuckerfabrikanten Dietrich Heinrich Hambrock“, ebenfalls wohnhaft in Hamburg. Dokument 2: Drei Jahre später, am 28. März 1896 erscheint dort zum gleichen Zweck der „Kaufmann John Friedrich Hambrock, geboren 1863, wohnhaft Rothenbaum- Chaussee 26“, auch er
SPUREN DER VERGANGENHEIT Links das Lederetui des Kapitäns Jürgen Kruse aus dem Jahr 1793 und unten der Bürger eid, den er der Hansestadt Hamburg leisten musste, von 1788 (Erbstücke aus dem Hause Hambrock)
Sohn des Zuckerfabrikanten Dietrich Heinrich Hambrock – und Urgroßvater meiner Frau. Und Dokument 3: Am 22. November 1902 findet sich der „Commis“ (Handlungsgehilfe) Rudolph Bluhm im Standesamt ein und bezeugt den Tod seines Chefs, eben dieses „Kaufmanns Dietrich Heinrich Hambrock“, wohnhaft zu Hamburg, Rothenbaum-Chaussee 23“, einen Tag zuvor. Der Tote, so hält der Eintrag fest, ist 1826 in Bierde geboren und Sohn des „verstorbenen Landmannes Johann Heinrich Hambrock“. Wir haben die Verbindung zu dem Pferdehändler aus Bierde gefunden! Jetzt wissen wir: Der Sohn jenes Bierder Bauern Hambrock, der dem König von Hannover Pferde verkauft hatte, ging irgendwann, vermutlich vor 1863, in die Hansestadt. Er hatte Erfolg im Zuckergeschäft und etablierte sich als ehrbarer Kaufmann, der sich Häuser an der noblen Rothenbaum-Chaussee leisten konnte, für sich und seine Söhne. Ein zweites Erbstück im Hause Hambrock ist schwerer zuzuordnen. Das Lederetui eines „Jürgen Kruse: 1793“, wie in goldenen Lettern auf der Vorderseite eingeprägt ist. Darin liegen zwei Urkunden. Eine weist Jürgen Kruse als Kapitän des Segelfrachters „Teutonia“ aus. Auf diesem Dokument ist seine zwölfköpfige Besatzung vom Steuermann bis zu den drei Schiffsjungen in Deutsch, Englisch und Französisch durch den
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Ahnenforschung
„beeidigten Wasserschout (den Seefahrt-Dezernenten) der Kaiserlich-freien Reichsstadt Hamburg“ beglaubigt. Das zweite Dokument ist ein Bürgereid, den Jürgen Kruse 1788 leistete. Darin verpflichtete er sich „mittelst Handschlages“, der Stadt Hamburg „getreu, hold, gewärtig und gehorsam“ zu sein und „keine Unruhe, Tumult oder Aufstand wider hochgedachten Rath und die Stadt, mit Worten oder Werken“ anzurichten sowie alljährlich einen „Schutz-Thaler“ zu bezahlen. Wie kam das Kruse-Etui in den Besitz der Hambrocks? Wo mündet die Kruse-Linie in den Hambrock-Stammbaum?
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iner Familien-Überlieferung nach ist Kapitän Kruse kurz nach 1800 samt der „Teutonia“ vor der sibirischen Küste verschollen. Zuvor habe eine Tochter des Kapitäns namens Johanna Hinrietta in Hamburg noch einen gewissen Friedrich Möller geheiratet. Ihr Kind Dorothea Friederike Rebecca wiederum sei die Ehefrau von Dietrich Heinrich Hambrock, dem Zuckerfabrikanten, gewesen. Diese Heirat des Zuckerfabrikanten Dietrich Heinrich Hambrock mit einer „Dorothea Friederike Rebecca, geborene Möller“ ist durch einen Eintrag auf dessen Totenschein von 1902 belegt (den wir ja im Faksimile bei Ancestry gefunden hatten). Und es ist gesichertes Familienwissen, dass Johanna Henrietta hochbetagt im Hause ihres Schwiegersohns um 1880 verstarb. Finden wir auch dieses Datum in der Suchmaschine von Ancestry? Zunächst eine Enttäuschung: keine Treffer für „Johanna Henrietta Möller“. Dann haben wir doch noch Glück – wir finden Johanna Henrietta unter ihrem Mädchennamen „Kruse“ im Sterberegister von 1881 am 5. Januar. Dort ist sie als Frau des „Zuckerfabrikanten Friedrich Möller“ gelistet. Die Schwiegermutter des Bauernsohns Hambrock aus Bierde war also die Gattin eines Zuckerfabrikanten – der Junge aus Hannoverschen Landen hat seinen Aufstieg in die hanseatische Kaufmannsgilde seiner vorteilhaften Heirat ins Zuckergeschäft Möller
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zu verdanken. Und wessen Tochter ist seine Schwiegermutter Henrietta? Laut Sterbeurkunde „Tochter des Schiffscapitains Jürgen Kruse“! Jetzt haben wir es amtlich, warum das Lederetui des Kapitäns Kruse im Hause Hambrock – und damit bei mir – landete. Ahnenforschung kann Geschichten erzählen. Nicht jeder, der auf Ahnenjagd geht, wird einen so markanten Vorfahren aufspüren wie unseren Kapitän Kruse mit seinem standesgemäßen Seemannstod in eisigen Gewässern. Doch es gibt immer wieder Überraschungen, wie die eines Bremer Familienforschers: Er grub das Protokoll eines Hexenprozesses von 1629 aus. Es dokumentiert Folter und Tod auf dem Scheiterhaufen einer Ur-
DIGITALE SUCHE Dennis Kruse stöbert im Onlinearchiv nach Kleiböckers
mehr Anhaltspunkte, desto besser. Finden sich Treffer, kann sich der User bis zu den eingescannten Originaldokumenten durchklicken: Geburtsurkunden, Passagierlisten, Zunftregister, Heiratsurkunden und vieles mehr. Oft sind Ehegatten, Eltern, Wohnort oder der Beruf verzeichnet – und die Stammbaumsuche kann weitergehen. Für die Recherche benötigt Ancestry: Namen und möglichst viele Lebensdaten der Urgroßeltern und/oder älterer Generationen Bewerbungen bitte bis zum 08.11.2016 per Mail an:
[email protected] Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
ahnin im bayerischen Reichertshofen. Der Teufel hatte der Armen angeblich „drei Gulden in Gold“ als Lohn für ihre Hexereien geschenkt. Oder der Fund eines schwäbischen Hobby-Genealogen: Zu seinem gelinden Entsetzen entdeckte er in seiner Sippe einen Scharfrichter, der gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Tübingen Missetätern fachmännisch „den Kopf vom Rumpfe trennte“. Wer weiß, was es bei Ihnen in der Familie zu entdecken gibt? ■ Teja Fiedler würde gern auch in der eigenen Familie mit dem Ahnenforschen beginnen – bislang endet seine Bemühung aber schon beim Urgroßvater.
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1879 Kurs auf das Räubernest Sie waren die besten Reporter der Geschichte. Diesmal im Originalton: Robert Louis Stevenson hört Horrorgeschichten über New York
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ls wir uns New York näherten, war ich über die Warnungen und die grausigen Geschichten, die die Runde machten, zuerst belustigt und dann ein wenig beunruhigt. Man hätte meinen können, wir landeten auf einer Kannibaleninsel. Man dürfe niemanden auf der Straße ansprechen, denn sie ließen einen nicht wieder weg, bis sie einen übers Ohr gehauen und restlos ausgeplündert hätten. Ein Hotel dürfe man nur unter militärischen Vorsichtsmaßnahmen betreten, denn das Mindeste, was man zu erwarten habe, sei, am Morgen wie ein einsames gerupftes Huhn, ohne Geld und Gepäck oder die notwendige Kleidung, aufzuwachen; schlimmstenfalls verschwinde man auf mysteriöse Art und Weise ganz aus den Reihen der Menschheit. Bisher habe ich immer festgestellt, dass solche Geschichten nicht im Mindesten den Tatsachen entsprechen. So wurde ich vor den Gasthäusern an den Landstraßen der Cevennen gewarnt, und das von einem gelehrten Professor. Als ich Pradelles erreichte, bekam ich eine Erklärung für die Warnung geliefert. Sie war bloß der ferne Nachhall und die monströse Vergrößerung einer einzigen schrecklichen Geschichte, die sich bereits vor einem halben Jahrhundert zugetragen hatte und im Laufe der Zeit fast in Vergessenheit geraten war. So war ich versucht, auch diese Berichte über Amerika auf die leichte Schulter zu nehmen. Wir hatten jedoch
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einen Mann an Bord, dessen Erlebnisse man nicht einfach beiseiteschieben konnte. Er hatte diese Gefahren am eigenen Leib erlebt, er war nämlich in eine Herberge von Räubern geraten. Das Publikum besitzt von jeher eine tief verwurzelte Vorliebe für derlei Geschichten, und ich möchte es nach besten Kräften zufriedenstellen. Mein Mitpassagier, nennen wir ihn M’Naughten, war mit einem Kamera-
Robert Louis Stevenson (1850–1894) Der schottische Schriftsteller starb an Tuberku lose und wurde nur 44 Jahre alt. Seine berühmtesten Werke: „Die Schatzinsel“ und die Geschichte von „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“.
den von New York nach Boston gefahren, um Arbeit zu suchen. Sie waren ein paar muntere Burschen, ließen ihr Gepäck am Bahnhof und verbrachten den Tag bis Mitternacht in bester Stimmung in Wirtshäusern. Dann machten sie sich auf, eine Unterkunft zu finden, liefen bis zwei Uhr durch die Straßen, klopften an Herbergen, wurden entweder abgewiesen oder es war ihnen zu teuer. Gegen zwei hatte die Wirkung des Alkohols nachgelassen, sie waren
müde und erschöpft, und nachdem sie in einem großen Kreis gelaufen waren, erreichten sie in derselben Straße, in der sie ihre Suche begonnen hatten, ein französisches Hotel, bei dem sie bereits nachgefragt hatten. Da das Haus noch immer geöffnet war, versuchten sie es erneut. Ein Mann mit einer weißen Mütze saß in einem Büro nahe der Tür. Er schien sie herzlicher willkommen zu heißen als beim ersten Mal, und der Preis für die Übernachtung war unerklärlicherweise von einem auf einen Vierteldollar gefallen. Ihnen gefiel sein Aussehen nicht, aber jeder zahlte seinen Vierteldollar, und sie wurden treppauf unters Dach geführt. Dort wünschte der Mann (…) ihnen eine gute Nacht. Das Zimmer war mit einem Bett, einem Stuhl und einigen anderen Möbeln ausgestattet. Die Tür ließ sich von innen nicht zusperren, und der einzige Zierrat bestand in zwei gerahmten Bildern, das eine über dem Kopfende des Bettes und das andere am Fußende. Beide waren von einem Vorhang verdeckt, so wie man es manchmal bei wertvollen Gemälden sieht, die mit Wasserfarben gemalt wurden (…), oder bei Kunstwerken mit recht freizügigen Darstellungen. Wahrscheinlich in der Hoffnung, Letzteres zu finden, zog M’Naughtens Freund den Vorhang vor dem ersten Bild beiseite. Er wurde auf überraschende Weise enttäuscht. Dort hing kein Bild. Der Rahmen umfasste, vom Vorhang verdeckt, eine rechteckige Öffnung in der
BOOMTOWN 1878 nahm die Hochbahn an der Third Avenue ihren Betrieb auf
Wand, durch die sie in den dunklen Korridor blickten. Jemand, der dort gestanden hätte, hätte mit Leichtigkeit einen Geldbeutel unterm Kopfkissen wegziehen oder einen Schlafenden sogar erwürgen können. M’Naughten und sein Kamerad starrten einander wie Balboa und seine Männer „mit unheilvoller Ahnung“ an, dann griff sich Letzterer die Lampe, rannte zum anderen Rahmen und riss
Niemand schien sich von diesen Geschichten sehr erschrecken zu lassen, aber alle fragten nach der Adresse dieses ehrenwerten Hotels, und ich vertraute mich für meinen Teil der Führung von Mr. Jones an. Am Vormittag des zweiten Sonntags kam die flache Küstenlinie vor dem Hafen von New York in Sicht. Die Zwischendeckspassagiere mussten an Bord bleiben, um am nächsten Morgen durch Castle Garden an Land zu gehen,
Man muss fürchten, wie ein gerupftes Huhn aufzuwachen den Vorhang zur Seite. Er stand wie versteinert da, und M’Naughten, der ihm gefolgt war, packte ihn voller Entsetzen am Handgelenk. Sie konnten in ein anderes Zimmer blicken, größer als das ihre, in dem drei Männer zusammengekauert im Dunkeln saßen. Einen Moment lang schauten sich diese fünf Personen gegenseitig in die Augen, dann fiel der Vorhang, und M’Naughten und sein Freund waren mit einem Satz aus dem Zimmer und die Treppe runter. Der Mann mit der weißen Mütze sagte nichts, als sie an ihm vorbeistürmten; sie waren so froh, wieder draußen an der Nachtluft zu sein, dass sie den Gedanken an ein Bett aufgaben und bis zum Morgen durch die Straßen von Boston liefen.
aber wir aus der zweiten Kajüte gingen zusammen mit den Lords aus der ersten Kajüte von Bord; gegen sechs Uhr bogen Jones und ich dann, auf etwas Stroh in einem Gepäckkarren sitzend, in die West Street ein. Es goss in Strömen, und von diesem Augenblick an bis zu meiner Abreise aus New York am nächsten Abend regnete es ohne Unterlass. Die Straßen waren überspült, die Luft war vom Lärm des niederprasselnden Regens erfüllt, und die Restaurants rochen stark nach nassen Leuten und nasser Kleidung. Es dauerte (…) nur ein paar Minuten, bis wir durch die West Street zu unserem Ziel gerumpelt waren: „Reunion House, No. 10 West Street, zu Fuß nur eine Minute von Castle Gar-
den entfernt, von den Dampfschiffsanlegern der Linien nach Kalifornien und Liverpool; Kost und Logis 1 Dollar pro Tag, einzelne Mahlzeiten 25 Cent; private Zimmer für Familien; keine Gebühr für Gepäck und Lagerung; Zufriedenheit garantiert; Michael Mitchell, Eigentümer.“ Das Reunion House war (…) eine bescheidene Herberge. Man trat in einen langen Schankraum, durchquerte dann einen kleinen Speisesaal und gelangte in eine noch kleinere Küche. Die Möblierung war einfach, aber im Schankraum hingen, ganz nach amerikanischer Art, aufmunternde und gastfreundliche Sprüche. Dieser Brauch hat etwas Jugendliches, das mir gefällt. Es hat auch etwas von Reklame, sie bieten dir für dein Geld nicht bloß die übliche Bedienung, sondern sie versprechen goldene Aussichten und heißen dich mit offenen Armen willkommen. So ein Wirt scheut keine Kosten und Mühen, um dich in sein Lokal zu locken. (…) So kannst du dir nicht nur seiner eigenen Aufmerksamkeit sicher sein, sondern auch des Witzes und der Freundlichkeit seiner Gäste. ■
FOTOS Entnommen aus: Robert Louis Stevenson, Emigrant aus Leidenschaft Ein literarischer Reisebericht. Aus dem Englischen von Axel Monte. © 2005 by Manesse Verlag, Zürich, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Moderne Ikonen
Lotte Jacobi fotografierte Künstler und Denker ihrer Zeit – und kam ihnen dabei so nah, dass Aufnahmen in ungewohnt lebensnahen Perspektiven entstanden. Ihre Porträts prägen
bis heute unser Bild von den Großen ihrer Zeit Von Matthias Thiele
P GESCHWISTERBANDE Dieses Bild von Klaus und Erika Mann wurde zur Ikone – weil es die Nähe der beiden auf einzigartige Weise zeigt
rinceton, USA, 1938. Da sitzt Lotte Jacobi nun bei Albert Einstein in dessen Arbeitszimmer und klagt dem Physiker ihr Leid. Sie braucht dieses Bild. Unbedingt! Der Fototermin war fest verabredet: Einstein, zusammen mit Thomas Mann. Die berühmtesten Exil-Deutschen in den USA, erstmals auf einer Aufnahme vereint. Der Auftrag für die Fotografin Lotte Jacobi kam von der „New York Times“ – und er könnte ihren beruflichen Durchbruch bedeuten. Nur: Wo bleibt der Schriftsteller? Eigentlich jammert Jacobi nie, hat in ihrem Leben vieles ertragen. Aber jetzt ist sie froh um den guten Freund aus der Heimat. Albert Einstein kennt
sie noch aus seinen Berliner Jahren: Sie hat ihn oft besucht in seinem Landhaus in Caputh und Fotos von ihm gemacht. Seit beide nach Amerika emigriert sind, ist eine Freundschaft zwischen ihnen gewachsen. Einstein hatte gegenüber der Zeitung auf Jacobi als Fotografin bestanden, um ihr zu helfen. Doch jetzt hat sich Thomas Mann entschuldigen lassen: Er fühle sich nicht gut, das Foto könne nicht aufgenommen werden. Was kümmert den Nobelpreisträger, dass man in der Redaktion an der Ostküste auf die Negative wartet. „Warten Sie“, sagt Albert Einstein: „Ich rufe ihn an. Dem wird schon wohl genug sein.“ Die junge Frau steht in diesen Tagen an einem Scheideweg. Sie war
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Fotografie
ALBERT EINSTEIN IN LEDERJACKE Der Physiker und Jacobi sind gute Freunde. Dieses ungewöhnliche Foto markiert 1938 ihren Durchbruch in den USA
eine erfolgreiche Fotografin im Berlin der Weimarer Republik, hat Käthe Kollwitz porträtiert und Heinrich George. Drei Jahre zuvor ist sie vor den Nationalsozialisten geflohen und in New York gestrandet. Jetzt laufen ihre Geschäfte schlecht, ihr Atelier hat sie aufgegeben. Einstein ist ihre letzte Hoffnung.
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otte Jacobi wird 1896 als Tochter des Porträtfotografen Sigismund Jacobi und seiner Frau Mia im pommerschen Thorn geboren. Eine Fotografenfamilie: Urgroßvater Samuel, ein Gla sermeister mit iberisch-jüdischen Vorfahren, soll in Paris bei Louis Daguerre, dem Erfinder der lichtempfindlichen Fotoplatte, die Lizenz zum Fotografieren erworben haben und gründete daheim ein Atelier. Sein Sohn Alexander etablierte das Geschäft, eröffnete Filialen in Culm, Posen und Inowrac■law, die nach und nach seine Kinder übernehmen. Als Lotte zwei Jahre alt ist, übersiedelt die Familie deshalb nach Posen, wo sie sich früh für die Arbeit ihres Vaters begeistert. Mit elf baut sie sich eine Loch kamera, mit 13 bekommt sie ihren ersten „echten“ Fotoapparat: Ihre früheste erhaltene Aufnahme zeigt ihren Bruder mit einem Freund im Hof ihres Hauses, aus dem Kellerfenster schaut neugierig der Vater heraus. Bei dem lernt Lotte den Umgang mit Entwicklersubstanzen und Fixierbad, mit Verschlusszeiten und Kontaktabzügen. Vor allem an den Bildern junger Männer in Uniform: Denn seit Kriegsausbruch 1914 prägen die Soldatenporträts im väterlichen Atelier den Alltag. Kurz vor dem Dienst an der Front kommen die jungen Männer noch einmal zu Sigismund Jacobi und seiner Tochter, um sich abbilden zu lassen. Vier Jahre später ist der Krieg für Deutschland verloren, Posen wird polnisch, Lotte zieht mit ihren Eltern nach Berlin, wo ihr Vater in der Joachimsthaler Straße 5, zwischen Kurfürstendamm und Bahnhof Zoo, ein Atelier eröffnet. Mit dabei: Lottes kleiner Sohn Jochen, von dessen Vater sich die selbstbewusste Frau bald getrennt hat. Für Lotte Jacobi ist der erzwungene Umzug in die große Stadt eine
FOT FO DYNAMIK In seinem Element ist Bruno Walter, damals Kapellmeister des Leipziger Gewandhausorchesters, später Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker (vermutlich 1932)
MASKERADE Für die „Berliner Morgenpost“ fotografiert sie den Komiker Harry Reso 1930 bei einem Auftritt
THEATER Jacobi hält die experimentelle Kunst Berlins fest, hier die Tänzerin Verona Skoronel, 1930
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Fotografie
Initialzündung. Gerade 24 Jahre alt geworden, sucht sie in Berlin den Kontakt zu Künstlern und Intellektuellen. Sie interessiert sich für das politische Theater, den expressionistischen Tanz und die experimentelle Kunst – die Kamera hat sie immer dabei. Nach den Vor stellungen wartet sie vor den Garde roben ausgängen der Volksbühne und des Neuen Operettentheaters am Schiffbauer Damm. Häufig benutzt sie die Kamera, um mit Schauspielern und Tänzern ins Gespräch zu kommen.
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ls der Vater 1927 erkrankt, führt sie für die Familie das Geschäft mit den Bildern weiter. Einer der Stammkunden ist Albert Einstein, der zu Porträtsitzungen oft in die Joachimsthaler Straße kommt, und den sie später auch in seinem Landhaus in Caputh besucht. Die beiden verstehen sich gut, lieben das Unkonventionelle. Berlin ist nach dem Hunger der ersten Nachkriegsjahre und der großen Inflation zu einer Metropole von Weltrang geworden: In der Stadt tummeln sich 600 Fotografen, die die Pressedienste, Illustrierten und Zeitungen mit Bildern versorgen. Dabei hat sich der Anspruch der Kunden gewandelt: Gefragt sind nicht mehr gekünstelte Bildnisse aus den Ateliers, sondern Szenen aus dem wahren, pulsierenden Stadtleben. Mehr kunstvolle Porträts gibt es im Buch „Lotte Jacobi – Photographien“, herausgegeben von Hannelore Fischer (Wienand, 96 Seiten mit 72 S/W-Abb., 19,80 Euro)
Lotte Jacobi kommt diese neue Sicht entgegen. Sie liebt den Kontakt zu den Menschen, sucht vor jeder Aufnahme das Gespräch mit dem Porträtierten, fühlt sich ein – und nimmt sich selbst zurück. Ihr persönlicher fotografischer Stil? Den habe sie gar nicht, sagt Jacobi über ihr Werk: „Mein Stil ist immer der Stil der Menschen, die ich fotografiere.“ Sie porträtiert den Schauspieler Emil Jannings beim Schminken, Leni
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ÜBERZEUGUNGSKUNST Jacobi nimmt sich viel Zeit, den Porträtierten nahezukommen. Dadurch lockt sie auch widerspenstige Zeitgenossen vor die Linse. 1928 schießt sie das bekannteste Bild des Komikerduos Karl Valentin und Liesl Karlstadt
EXOTISCHER SOZIALISMUS? Unterwegs in der Sowjetunion fotografiert Jacobi 1932 verschleierte Usbekinnen, die Tjubetejkas, eine traditionelle Kopfbedeckung, verkaufen
Riefenstahl bei der Arbeit mit ihrem Sprechtrainer, die Bildhauerin Renée Sintenis mit ihrem Pferd. Oder Karl Valentin. Der gilt als eigentümlicher Charakter. Aus Angst vor Bazillen vermeidet er jeden Händedruck, außerhalb der Bühne gilt er als ungeduldig – und fotografieren lässt er sich gar nicht gern. Als er 1928 mit seiner Bühnenpartnerin Liesl Karlstadt in Berlin auftritt, lockt Lotte Jacobi den Bayern mit einem
Fleischgericht: „Ihr bekommt doch hier in Berlin sicher nichts Gescheites zu essen“, sagt sie, als sie ihn nach einem Auftritt trifft. „Kommt vorbei, ich mache einen guten Braten. Aber dafür darf ich zwei Fotos von euch machen.“ Auch Fotografie geht offenbar durch den Magen: Es entsteht das berühmteste Foto des Münchener Komikerduos. Ganz neue Möglichkeiten der Bühnenfotografie eröffnen sich Lotte
FO BÜHNENREIFE ELEGANZ Schauspielerin Eleonora von Mendelssohn (um 1930) arbeitete mit Gustaf Gründgens und korrespondierte mit Rainer Maria Rilke. 1935 flüchtet sie, die aus einer jüdischen Familie stammt, selbst aber getauft ist, in die USA und bringt sich 1951 um
Jacobi, als sie 1928 eine Ermanox-Plattenkamera kauft: Mit einer Blende von 1,8 kann sie nun auch bei den schlechten Lichtverhältnissen in den Theaterhäusern Bühnenszenen einfangen und den Lesern der Illustrierten die Welt hinter den Kulissen zeigen. Sie fotografiert Hans Albers als Tunichtgut am Deutschen Theater, Gustaf Gründgens als Operndarsteller und Ernst Busch mit Chor im Theater am Nollendorfplatz.
Als sie 1932 für die „Arbeiter Illustrierte Zeitung“ Ernst Thälmann, den Vorsitzenden der Kommunistischen Partei, fotografiert, nutzt sie den Kontakt, um sich den Wunsch nach einer Reise in die Sowjetunion zu erfüllen. Der Arbeiterführer hilft, organisiert ein Visum. Ihre Bahnreise führt sie von Moskau über Tatarstan bis in das legendäre Buchara an der Seidenstraße. Die Bilder, die unterwegs entstehen, verklären die
Exotik nicht, erzählen unverblümt die Geschichte des frühen Aufeinandertreffens von Mohammed und Marx, zeigen Basare und Kolchosen, Chemiefabriken und verschleierte Frauen. Als Lotte Jacobi im Februar 1933 nach Berlin zurückkehrt, ist die Welt eine andere: Adolf Hitler ist Reichskanzler, und jüdische Fotografen ereilt bald ein Berufsverbot. Ein Onkel, der in Amerika lebt, will ihrem Vater dort
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Fotografie
SELBSTPORTRÄT Lotte Jacobi 1929 mit ihrer Kamera
ein Studio einrichten. Doch Sigismund Jacobi will nicht fort – und Lotte Jacobi möchte ihn keinesfalls in Deutschland zurücklassen. Nicht jetzt, da jüdische Geschäfte boykottiert und Menschen verprügelt werden. Mithilfe verschiedener Decknamen gelingt es Lotte Jacobi, den Atelierbetrieb noch einige Monate aufrechtzuerhalten. Einige ihrer Fotografien erscheinen noch unter dem Pseudonym „H. Neustadt.“ Doch nach dem Tod ihres Vaters 1935 beschließt sie endgültig, das Land zu verlassen. Zunächst flieht sie nach London, doch auch dort fühlt sie sich nicht sicher. „Es roch nach Krieg“, sagte sie rückblickend auf die Stimmung dieser Jahre. Also reist sie mit einem Besuchervisum nach New York. Ihr Archiv hatte sie schon auf dem Weg nach Groß-
„Mein künstlerischer Stil? Ist immer der Stil der Menschen, die ich fotografiere“ britannien in Berlin zurücklassen müssen, es gilt seit dem Zweiten Weltkrieg als verschollen. Nur etwa 30 der großformatigen Glasplatten kann sie retten.
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DOPPELPORTRÄT Jacobi fotografierte 1930 die Bildhauerin Elisabeth Wolff neben ihrem Selbstbildnis
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ew York hat auf die Fotografin aus Deutschland nicht gewartet. Als am 29. September 1935 vom Deck des Dampfers die Silhouette der Wolkenkratzer erstmals am Horizont zu sehen ist, erhellt vom gleißenden Licht der Upper Bay, da liegt vor Lotte Jacobi eine Zeit der Ungewissheit. Das Visum gestattet ihr nur den Aufenthalt von sechs Monaten. Sie lebt zunächst bei ihrer Schwester Ruth, die kurz zuvor emigriert ist. Gemeinsam gründen sie unweit des Central Parks ein Studio. Doch Jacobis Stil ist in den USA nicht gefragt, die Veröffentlichung von Theaterbildern wird durch Lizenzrechte so erschwert, dass sie die Arbeit vor und hinter der Bühne ganz aufgibt. Und dann sind da noch die Agenturen: In Berlin war sie es gewohnt, Redaktionen auf gut Glück Porträts der Filmund Theaterstars anzubieten. Die New
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VERTRAUTHEIT Der Maler Marc Chagall mit Tochter Ida, 1946 in New York. Jacobis Fotos wirken zugleich inszeniert und natürlich
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Fotografie BUBIKOPF UND ZIGARETTE Lotte Lenya wurde berühmt als Seeräuber-Jenny in der Uraufführung der „Dreigroschenoper“ (Berlin, 1929)
Yorker Presse dagegen greift auf das Material der großen Bildagenturen zurück – und gegen die hat die Neue aus Deutschland allein keine Chance. Immerhin ist ab Januar 1936 ihr Aufenthaltsstatus gesichert: Mit dem Zug reist sie ins kanadische Toronto, um dann ganz offiziell aus Kanada einzuwan dern – und so in den Genuss eines vereinfachten Immigrationsverfahrens zu kommen. Doch beruflich geht es ihr schlecht. Ihr erstes eigenes Studio gleich neben dem legendären Plaza Hotel in der 59. Straße muss sie wieder aufgeben, weil sie die Miete nicht bezahlen kann. Sie wechselt mehrmals die Wohnung, ihre Dunkelkammer ist mittlerweile im Kleiderschrank untergebracht. Statt Filmstars und Schrift-
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steller porträtiert sie nun Hochzeitspaare – eine Arbeit, die sie nicht mag: „Ich bin eine schlechte kommerzielle Fotografin; wenn man mir sagt, wie ich es zu tun habe, ist es mir unmöglich.“ Aber sie gibt die Suche nach neuen Blickwinkeln nicht auf: 1938 bekommt sie die Erlaubnis für eine Reportage über die Wall Street – und darf als erste Frau die Händler auf dem Börsenparkett fotografieren. Und dann ist es ihr alter Freund Albert Einstein, der ihr den Erfolg zurückbringt: Als der Physiker 1938 vom „Life Magazine“ für eine Fotostory angefragt wird, macht er zur Bedingung, dass nur „Miss Jacobi“ die Aufnahmen machen darf. Eine Veröffentlichung dort gilt als Ritterschlag für Fotografen. Und für Lotte Jacobi ist
der Auftrag eine Riesenchance – auch wenn das Foto „Einstein in Lederjacke“ später nicht in der „Life“ veröffentlicht wird; es war der Redaktion zu wenig repräsentativ. Aber der Stein kommt ins Rollen: Bald fragt die „New York Times“ an und möchte Einstein gemeinsam mit Thomas Mann vorstellen. Zwei deutsche Nobelpreisträger, Physikgenie und Autor, die Amerika bereichern, weil ihre Heimat in Barbarei versinkt. Eine tolle Story. Aber nur, wenn der Dichter mitmacht… Im Arbeitszimmer in Princeton sieht Einstein die Not seiner Freundin. Er hat sich am Telefon jetzt mit Manns Tochter Erika verbinden lassen – wer die Krümmung der Raumzeit berechnen kann, sollte doch auch einen Schrift-
FO ■ RUHE NACH DEM STURM Die Jagd der Broker ist vorbei, zurück bleiben ihre Papiere (Börsenparkett in New York, 1938)
■ ZWEI NOBELPREISTRÄGER Nachdem Einstein bei Thomas Mann Druck macht, entsteht das Foto für die „New York Times“ ■ MIT LICHT ZEICHNEN Später experimentiert Jacobi in der Dunkelkammer, belichtet die Platten ohne Kamera, erschafft per Taschenlampe dynamische Formen wie in diesem Werk mit der Tänzerin Pauline Koner (New York, um 1950)
steller zu einem Fototermin bewegen können! Als er das Telefon einhängt, stellt Einstein sich vor der Fotografin auf, hebt grazil die Arme wie eine Balletttänzerin und sagt: „Die Primaballerina wird heute auf jeden Fall fotografiert.“ Das Foto der beiden Männer erscheint, wie geplant, in der „New York Times“.
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it dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg beginnt für Lotte Jacobi 1941 erneut ein neuer Lebensabschnitt: Nun gelten aus Deutschland emigrierte Künstler und Wissenschaftler in New York nicht mehr als „Hitlers Geschenk an die USA“, sondern als „Enemy Aliens“ – als „feindliche Fremde“. Das gerade erblühte
Geschäft wird zäh. Dennoch fotografiert sie noch den Maler Marc Chagall, die Psychoanalytikerin Karen Horney und die Präsidentengattin Eleanor Roosevelt. Aber mehr und mehr zieht sich Jacobi, inzwischen mit dem Verleger Erich Reiss verheiratet, ins Privatleben zurück. Nach dem Krieg experimentiert sie mit abstrakten Fotogrammen: Sie belichtet in ihrer Dunkelkammer Mo tive ohne Kamera, zeichnet mit Taschenlampen. „Abenteuer in Licht“ nennt sie ihre Arbeiten später. Das Museum of Modern Art stellt sie 1948 aus. Drei Jahre später stirbt ihr Mann – und Lotte Jacobi, inzwischen knapp 60 Jahre alt, sucht sich ein Haus in der Provinz. In der kleinen Gemeinde Deering findet sie ein abgeschiedenes,
großzügiges Domizil. Dieses soll eine Galerie werden für junge Fotografen, ein Treffpunkt für Künstler. Mittlerweile wird ihre Arbeit landesweit, ja weltweit gewürdigt – auch in Deutschland. Im Alter von 93 Jahren stirbt die Fotografin am 6. Mai 1990. Die Frau, die vom Trubel der Metropolen lebte, liegt tief in den Wäldern New Hampshires begraben, in Concord, wo sie sich 1955 ihren Lebenstraum erfüllte: ein Haus auf dem Land – und nur noch so viel Trubel, wie sie selbst veranstaltet. ■ Matthias Thiele wusste nicht, dass Lotte Jacobi quasi in seiner Nachbarschaft lebte: Wo vor dem Krieg ihr Atelier stand, kauft er seine Joggingschuhe.
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FRAGEN ZUR
Geschichte
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WAAGERECHT: 1 Seelenbild der Frau 6 Mineral, Schmuckstein 12 Opernfigur bei Gershwin 16 Westindischer Seeräuber 17 Beginn eines Dienstes 18 Giftige Waldstaude (…stab) 19 Kleine Geige im MA. 20 Kfz-Z. Göttingen 21 Gewässer 22 Baumumhüllung 23 Nordische Hirschart 24 Meer mit den Antillen 25 Weibl. Kurzname 27 Niederländ. Provinz 30 Astrologe Wallensteins † 1656 32 Engl. Anrede: Herr 34 Getränk der Polynesier 36 Dän. Sagenheld 37 Seebad in Belgien 39 Vogel zur Jagd 43 Altgriech. Stadt 45 Morgenländ. Herrscher 46 Radioaktives Element 48 Weibliches Borstentier 49 Ungebunden; unbesetzt 51 Einspruch 52 Münze in Kroatien 54 Fries. männl. Vorname 55 Froschlurch 57 Stadt am Rhein 58 Riemenwerk der Zugtiere 59 Hauptstadt Albaniens 62 An der Vorderseite 63 Inselstaat im Pazifik 65 Deutscher Autor † 1943 (Hanns Heinz) 68 Junge Kuh, Färse 69 Liliengew., Heilpflanze 71 Engl.: Versorgungsnetz 72 Dt. Piratenkapitän (Richard) † 1700 75 Übermäßig schneller Fahrer 77 Teigware 79 Gattin des Kaisers Augustus 81 Dän. Insel 84 Gebirge in Südamerika 85 Flüsschen in Holland 86 Krebsfleischimitat (jap.) 87 Japanischer Reisgott 90 Karpfenfisch 91 Essbare Früchte 93 Abtei in Oberbayern 94 Geflügelte Liebesgötter 98 Stadt in Nordfrankreich 99 Votivmesse im Advent 101 Fluss zum Ouse 103 Schlaufe 104 Piratenstaaten (veralt.) 105 Kunde, Sage 106 Edle Blume 107 Englisch: eins SENKRECHT: 1 Wandelform, Variante 2 Frauenfigur aus „Tiefland“ 3 Heiligenbild der Ostkirchen 4 Auftrag, Vollmacht 5 Vorschlagen 6 Gelege 7 Unwohl 8 Österr.: Meerrettich 9 Glänzende Überzüge 10 Jenissei-Zufluss 11 Rückbuchung 12 Landschaft in Südbaden 13 Klettergerät für gefrorene Wasserfälle 14 Kleine Felsstücke 15 Seemännisch: Knoten 26 Eine der Westindischen Inseln 28 Figur in „Das Rheingold“ 29 Dt. Schauspielerin † 1980 31 Bewohner der „Grünen Insel“ 32 Musik: bewegt 33 Sich wundern 34 Ha-
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Das Lösungswort ergibt sich aus den Buchstaben in den gelben Feldern – in richtiger Reihenfolge geordnet. Unter den Einsendern des Lösungsworts verlost P.M. HISTORY ein Samsung Galaxy Tab A 7.0 WiFi (8 GB) im Wert von 169 Euro!
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Teilnahme Sie haben zwei Möglichkeiten, das Lösungswort an P.M. zu übermitteln:
fenstadt in Finnland 35 Schiffsplanke 38 Positive Ergebnisse 40 Angelstöcke 41 Bauch-, Nierenfett des Schweins 42 Staatl. Vollmacht zur Erbeutung feindl. Handelsschiffe 44 Engl.: wahr 47 Abzugsgraben 50 Ein Schiff kapern 52 Vulkanisches Magma 53 Englische Prinzessin 56 Exotische Frucht 58 Filmberühmtheiten 60 Zeughaus, Waffenlager 61 Hahnenfußgewächs 64 Früherer Name von Zagreb 66 Altisländ. Schrifttum 67 Eingelegter junger Hering 70 Wallberge (Geologie) 73 Italienisch: Wein 74 Keimgut 76 Auserlesen 78 Päpstlicher Richter (ital.) 80 Kleiner Zierschrank 82 Griech. Insel 83 Salpetersaures Salz 86 Bibl. Stadt am Toten Meer 88 Wundmal 89 Lat. Vorsilbe: rückwärts 92 Weibl. Vorname 93 Nadelbaum, Taxus 95 Stadt am Niederrhein 96 Fruchtbare Wüstenstelle 97 Fränk.: Hausflur 100 Poetisch: Adler 102 Abzählreim: … mene muh
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OLYMPIA 1936 Die Propaganda-Spiele in Berlin: Wie Jesse Owens die Pläne Adolf Hitlers durchkreuzt
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Eine Frau ist Königin der antiken Stadt – und fordert Rom heraus
Paris versinkt 1572 in Gewalt: die blutige Verfolgung der Hugenotten
Der Wiener Vergnügungspark entsteht 1766 – und zieht bis heute die Massen an
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Kasperl statt Kasperle Wiener Prater P.M. History 09/2016
Wie entzückt war ich von dem Beitrag über den Wiener Prater „Gondeln, Tiere, Sensationen“. Ich gebe dem Autor recht bei seiner Meinung, dass es am „Älterwerden“ liegt, wenn man sich mehr Nostalgie und weniger Action wünscht. Als Jahrgang 1929 konnte ich als Kind den alten Wurstelprater noch in seiner Glanzzeit erleben. Leider fand die „Liliputbahn“ (Spurweite 381 mm) keine Erwähnung, mit der man seit 1928 bis zum heutigen Tage eine Runde durch das grüne Pratergelände drehen kann, was im Frühjahr, wenn die Pratersaison wieder beginnt, eine entschleunigte Nostalgiereise ist. Ich bestehe jedoch auf die Wiener Schreibweise des „Kasperls“. Wir Wiener haben seit 250 Jahren einen „Kasperl“ und kein Kasperle! Ilse Wolfbeisser, per E-Mail
Ben Hur auf der Vespa Legendäres Hollywood P.M. History 08/2016
Lösung aus Heft 10/16 Lösungswort: INTRIGE Die Gewinnerin aus Heft 09/16 ist: Marie Timmich aus Dresden TANAV ANIT
ETTERA A REELI
RARA R ANER
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Genial! Fantastisch! Irre gut! Unglaublich! Hochinteressant! Einmalig! Hollywood als Schwerpunkt-Thema in P.M. History! Ich konnte es nicht glauben! Noch nie habe ich mich schon bei der Vorschau so auf eine Ausgabe gefreut! Jeder Bericht war hochinteressant. Der Artikel über Strasberg hat mich schockiert, und ich sehe ihn jetzt mit sehr kritischen Augen! Eben las ich „Ben Hur“ fertig (Buch zweimal gelesen und Film circa 15-mal gesehen!) und konnte nicht schlafen gehen, ohne diese Mail an euch zu senden! In diesem Sinne „Gute Nacht, P.M.“, ich werde heute von „Ben Hur“ auf der Vespa träumen! Brigitte Wiesenbauer, Wien Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.
Besonders gefreut haben wir uns über einen Leserbrief von Ragna Long, der Schwiegertochter von Luz Long, über dessen besondere Freundschaft zu Sprinter-Legende Jesse Owens wir berichtet haben. Ragna Long lobte die exakte Beschreibung – vielen Dank. Sie hebt zudem den Artikel über Doping hervor, der „zum Nachdenken zwingt“. Ragna Long hat mit ihrem Mann ein Buch über Long geschrieben. Über den Trainingsplan ihres Schwiegervaters berichtet sie: „Sport im Frühjahr bis Herbst, danach Studium, um den Geist anzuregen und für Abwechslung zu sorgen. Keine Hallen-Wettkämpfe im Winter!“
Themenvorschläge Wir bedanken uns bei den vielen Leserinnen und Lesern, die uns Themen vorgeschlagen haben. Sogar aus Pennsylvania erhielten wir eine Zuschrift! Nicht umsonst spricht man von Schwarmintelligenz: Viele Ihrer Ideen sind außergewöhnlich und die Bandbreite ist enorm. Es wird schwer für uns, alle Wünsche zu erfüllen. Aber wir werden es versuchen! Sie können uns auch weiterhin Themen vorschlagen. Wir freuen uns darauf!
Lösungswort 09/16 Leider haben wir bei der Auflösung des Rätsels 09/16 (abgedruckt in 10/16) versehentlich nicht das Lösungswort, sondern eine der Antworten auf die Fragen genannt. Richtig ist: Sommerspiele (wir schrieben: Olympiade). Die Gewinnerin wurde unter den Einsendern des korrekten Lösungsworts gezogen. Die Redaktion
Bitte schreiben Sie uns WIE GEFÄLLT IHNEN DIESE AUSGABE? P.M. HISTORY Am Baumwall 11 20459 Hamburg E-Mail:
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Vorschau
TITELTHEMA
Neue Zeiten Am Ende des Mittelalters erschüttern mehrere Ereignisse die damalige Welt, erzwingen den Aufbruch in die Neuzeit. P.M. History erzählt, wie Johannes Gutenberg in Mainz den Buchdruck neu erfindet. Wie Martin Luther die Reformation anstößt und die Macht der katholischen Kirche bricht. Wie der Humanist Poggio Bracciolini wichtige Werke der Antike wiederentdeckt und damit den Blick seiner Zeitgenossen auf die Welt radikal verändert. Und wir erzählen von Kolumbus’ Leben nach seiner Entdeckung der Neuen Welt.
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Impressum GRUNER + JAHR GMBH & CO KG
Inkognito? Dieses Abziehbild eines Agenten war tatsächlich Agent. Und die Hausdurchsuchung (unten) fand wirklich statt. Die Stasi dokumentierte penibel ihre Arbeit. Ein zugleich lächerliches wie erschreckendes Fotoalbum.
Postanschrift für Verlag und Redaktion Am Baumwall 11, 20459 Hamburg Telefon: 040/3703-0, Fax: 040/3703-5694 Chefredakteur: Florian Gless (V.i.S.d.P.) Stellvertretender Chefredakteur P.M. und Redaktionsleiter P.M. HISTORY: Jens Schröder Creative Director: Andreas Pufal Geschäftsführende Redakteurin/CvD: Bettina Daniel Layout: Jan Krummrey Redaktion: Hauke Friederichs (leitend), Martin Scheufens, Katharina Jakob Bildredaktion: Julia Franz, Laura Cristoforetti, Imke Keyssler Assistenz: Gunhild Lübeck Publisher: Dr. Gerd Brüne Publishing Manager: Eva Zaher Vertrieb: DPV Deutscher Pressevertrieb Director Distribution & Sales: Torsten Koopmann Executive Director Direct Sales: Heiko Hager Director Brand Solutions: Daniela Krebs Verantwortlich für den Anzeigenteil: Daniela Krebs, G+J Media Sales, Am Baumwall 11, 20459 Hamburg Sales Manager: Max Schulz Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Christine Haller Marketing Director: Sandra Meyer Es gilt die gültige Preisliste. Informationen hierzu unter www.gujmedia.de Bankverbindung: Deutsche Bank AG, Hamburg, IBAN: DE30 2007 0000 0032 2800 00, BIC: DEUTDEHH Für unverlangte Manuskripte, Fotos und Zeichnungen wird keine Haftung übernommen. Bei Leserbriefen behält sich die Redaktion das Recht auf Kürzungen vor. Die Redaktion ist nicht für den Inhalt im Heft veröffentlichter Internet-Adressen verantwortlich. © 2016 für alle Beiträge bei Gruner + Jahr GmbH & Co KG. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Aufnahme in Online-Dienste und Internet und Vervielfältigung auf Datenträger wie CD-ROM, DVD-ROM etc. nur nach vorheriger schrift licher Zustimmung des Verlages. Herstellung: G+J-Herstellung, Heiko Belitz (Ltg.), Sören Hohmann Druck: Prinovis GmbH Co. KG, Betrieb Ahrensburg, Alter Postweg 6, 22926 Ahrensburg. Repro: 4mat media, Kleine Reichenstraße 1, 20457 Hamburg. Printed in Germany. Tarifanforderungen Anzeigen G+J Electronic Media Sales GmbH, Am Baumwall 11, 20459 Hamburg Tel.: 040/3703-5517, Fax: 040/3703 17 5517 E-Mail:
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Ein Mann mit vielen Leben Er war Seeräuber, Goldgräber, Robbenfänger. Er war Farmer, Tramp, Häftling – und er war der erfolgreichste Schriftsteller seiner Zeit. Jack London nutzte sein unfassbar abenteuerreiches Leben als Quelle für seine Bücher und fand damit ein Millionenpublikum.
DAS NÄCHSTE HEFT ERSCHEINT AM 11. 11. 2016
P.M. HISTORY (USPS no 0017423) is published monthly by GRUNER + JAHR GMBH & CO KG. Subscription price for USA is $ 90 per annum. K.O.P.: German Language Pub., 153 S Dean St, Englewood NJ 07631. Periodicals Postage is paid at Englewood NJ 07631 and additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: P.M. HISTORY, GLP, PO Box 9868, Englewood NJ 07631. Anmerkung zu den Bildnachweisen: Wir haben uns bemüht, sämtliche Inhaber der Bildrechte zu ermitteln. Sollte dem Verlag gegen über dennoch nach gewiesen werden, dass eine Rechtsinhaberschaft besteht, entrichten wir das branchenübliche Honorar nachträglich. ISSN 2510-0661
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Sprengsatz
„Ehe du für dein
Vaterland Arno Schmidt (1914–1979)
„Wie dem Adler der Himmel offen steht, so ist dem tüchtigen Mann die ganze Welt das Vaterland.“ Euripides, griechischer Dramatiker (um 480–406 v. Chr.)
„GROSSE KÜNSTLER HABEN KEIN VATERLAND.“ Alfred de Musset, französischer Dramatiker (1810–1857)
„Das Vaterland kann einen jeden von uns entbehren, aber keiner von uns das Vaterland.“
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lingt plausibel, dieser Satz, den der Schriftsteller Arno Schmidt in seinem Roman „Aus dem Leben eines Fauns“ verwendet hat. Im Jahr 1953 war das. Und wie die meisten Autoren der jungen Bundesrepublik rang auch der umstrittene Sprach-Experimentierer Schmidt mit der großen Frage: Wie kann man noch Romane schreiben oder Gedichte in der Sprache von Hitler und Goebbels? Welche Rolle soll die Kunst spielen nach dem Holocaust? Und wie geht man als Künstler um mit der neuen Freiheit, die ja nun sogar im Grundgesetz verankert war? Schmidt konnte zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, dass er auch mit seinem neuen, demokratischen Vaterland nicht ohne Weiteres klarkommen würde. 1955 ermittelte die Justiz gegen ihn wegen Gotteslästerung und der Verbreitung von Pornografie in dem Roman „Seelenlandschaft mit Pocahontas“. Das Verfahren wurde eingestellt. Doch Schmidts Verleger entschärfte im nächsten Werk des Autors Passagen über die Wiederbewaffnung. Mit der Kunstfreiheit der Ära Adenauer mochte Schmidt sich nicht zufriedengeben und schrieb enttäuscht an einen Kollegen: „The Germany kann me furchtbar leckn!“
„PATRIOTISMUS IST LIEBE ZU DEN SEINEN; NATIONALISMUS IST HASS AUF DIE ANDEREN.“ Romain Gary, französischer Schriftsteller (1914–1980)
„Man soll das Vaterland nicht mehr lieben als einen Menschen.“ Friedrich Dürrenmatt, Schweizer Schriftsteller (1921–1990)
„Das Vaterland oder den Tod!“
„Ich möchte was darum geben, genau zu wissen, für wen eigentlich die Taten getan worden sind, von denen man öffentlich sagt, sie wären für das Vaterland getan worden.“
Che Guevara, argentinischer Revolutionär (1928–1967)
Georg Christoph Lichtenberg, deutscher Mathematiker (1742–1799)
Iwan Sergejewitsch Turgenew, russischer Schriftsteller (1818–1883),
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sterben willst, sieh dir’s erst mal genauer an.“
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Selbst, wenn wir unter Wasser sprechen könnten, gäbe es noch Momente, die uns sprachlos machen.
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