Bild und Text herausgegeben von GOTTFRIED BOEHM & KARLHEINZ STIERLE
1995
Was ist ein Bild? Herausgegeben von Gottfried Boehm Wilhelm Fink Verlag
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Was ist ein Bild ? / Gottfried Boehm (Hrsg.)- -München: Fink, 1994 (Bild und Text) ISBN 3-7705-2920-0 NE: Boehm, Gottfried [Hrsg.] 2. Auflage 1995 ISBN 3-7705-2920-0 © 1994 Wilhelm Fink Verlag, München Satz: Jönsson Satz & Grafik, München Druck und Bindung: Graph. Großbetrieb F. Pustet, Regensburg Umschlagentwurf: omas Bechinger und Christoph Unger
Inhalt Vorwort 7 GOTTFRIED BOEHM Die Wiederkehr der Bilder 11 MAURICE MERLEAU-PONTY Der Zweifel Cezannes 39 JACQUES LACAN Linie und Licht 60 JACQUES LACAN Was ist ein Bild/Tableau 75 HANS-GEORG GADAMER Bildkunst und Wortkunst 90 HANS JONAS Homo Pictor: Von der Freiheit des Bildens 105 ARTHUR C. DANTO Abbildung und Beschreibung 125 MICHAEL POLANYI Was ist ein Bild? 148 GÜNTER WOHLFART Das Schweigen des Bildes 163 WOLFGANG WACKERNAGEL Subimaginale Versenkung Meister Eckharts Ethik der bild-ergründenden Entbildung 184 ELMAR SALMANN Im Bilde sein Absolutheit des Bildes oder Bildwerdung des Absoluten? 209 BERNHARD WALDENFELS Ordnungen des Sichtbaren 233 MEYER SCHAPIRO Über einige Probleme in der Semiotik der visuellen Kunst: Feld und Medium beim Bild-Zeichen 253 KURT BAUCH Imago 275 MAX IMDAHL Ikonik. Bilder und ihre Anschauung 300 GOTTFRIED BOEHM Die Bilderfrage 325 KARLHEINZ LÜDEKING Zwischen den Linien. Vermutungen zum aktuellen Frontverlauf im Bilderstreit 344 FELIX PHILIPP INGOLD Welt und Bild Zur Begründung der suprematistischen Ästhetik bei Kasimir Malevic 367 BERNHARD LYPP Spiegel-Bilder 411 Ausgewählte Bibliographie 443 Zu den Autoren 455 Quellennachweise 459
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Die Wiederkehr der Bilder I. Das Bild und die Bilder Wer nach dem Bild fragt, fragt nach Bildern, einer unübersehbaren Vielzahl, die es fast aussichtslos erscheinen läßt, der wissenschalichen Neugier einen gangbaren Weg zu weisen. Welche Bilder sind gemeint: gemalte, gedachte, geträumte? Gemälde, Metaphern, Gesten? Spiegel, Echo, Mimikry? Was haben sie gemeinsam, das sich allenfalls verallgemeinern ließe? Welche wissenschalichen Disziplinen grenzen an das Phänomen Bild? Gibt es Disziplinen, die nicht daran grenzen? Mit der diffusen Allgegenwart des Bildes ließen sich mannigfache Argumente und eorien verknüpfen. Wie immer sie sich ausrichten mögen, sie münden zurück in ein Feld elementarer Fragen. Wen ein spezielles Interesse leitet: das Bild als Metapher, als Kategorie der bildenden Kunst oder als elektronisches Simulationsereignis zu verstehen, der möchte am Ende doch wissen, mit welcher Art Bildlichkeit er umgeht. Was macht Bilder sprechend? Wie lassen sich der Materie (der Farbe, der Schri, dem Marmor, dem Film, der Elektrizität etc.) aber auch dem menschlichen Gemüt Bedeutungen überhaupt einprägen? Wie verhält sich das Bild (und mit ihm alle nichtverbalen Ausdrucksformen der Kultur) zur alles dominierenden Sprache? Diese Probleme umgrenzen ein Arbeitsfeld, das auch mit demjenigen der Philosophie nicht identisch ist. Denn Orientierung am Logos hat sie lange daran gehindert, dem Bild die gleiche Aufmerksamkeit zu widmen wie der Sprache. Der Nachweis ihrer »Metaphernpflichtigkeit« ist neueren Datums, verbunden mit dem Bewußtsein einer Krise des philosophischen Erkenntnis- und Allgemeinheitsanspruchs. Aber auch eine Wissenscha vom Bild, konzipierbar in Analogie zu einer allgemeinen Sprachwissenscha, hat sich nicht entwickelt, müßig darüber zu spekulieren, ob sie wünschbar wäre. Der Interessierte sieht sich deshalb auf einen mittleren Weg
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verwiesen, den einer klärenden Reflexion, die gleichermaßen theoretische, historische oder anthropologische Aspekte zu würdigen bereit ist. Aus Gründen der Kohärenz handeln die meisten hier versammelten Beiträge von Bildern im Sinne der bildenden Kunst. Disziplinar betrachtet stammen sie zumeist von Philosophen, Kunsttheoretikern und Kunsthistorikern, Autoren die Grenzgänge nicht scheuen. Die Auswahl scheidet zwangsläufig vieles aus, was ebenso Beachtung verdient hätte. Was auf die Seite des Verzichts zählt, davon verscha die Bibliographie einen ersten Eindruck. Der Band möchte einige der Fundamente sichtbar machen, auf die sich die Debatte stützt, daneben – in exemplarischer und punktueller Form – dieKomplexität des Bildbegriffs. an Beispielen erhellen. Ausgeschieden bleibt, was in den letzten Jahren allerorten den Ton angegeben hat und entsprechend breit publiziert wurde. Gemeint ist das Bild als eine kulturelle Figuration, die – unter Vorzeichen einer globalen Ästhetisierung und Simulation -, Ausgangspunkt für kulturelle Analysen und Prognosen gewesen ist, deren fröhliches Endzeitbewußtsein zwischen dem »Ende der Moderne« und der »Agonie des Realen« oszillierte. Die Möglichkeiten des Bildes werden in dieser postmodernen Perspektive sehr einseitig ausgedeutet. Vor allem ist es ein Medium betörender Suggestion im Dienste eines Illusionismus, von dem es heißt, daß er sogar den Alltag der Menschen beherrsche, die Differenz zwischen Darstellung und Wirklichkeit einzuebnen vermöchte. Gelungene Simulation macht vom Bild freilich einen strikt ikonoklastischen Gebrauch. Eine durchgängig ästhetisierte Welt wäre auch völlig kunstlos. Es lohnt, auf jene Quellen zurückzugehen, an denen deutlich wird, wie sich (seit Kant, Kierkegaard, Nietzsche, Freud, "Wittgenstein, Husserl, Heidegger u. a.) der'Erkenntnisanspruch und die 'Erkenntnissicherheit der Philosophie zu verändern begannen und damit dem Bild (der Einbildungskra, der unbewußten Imagination, der Metapher, der Rhetorik usf.) eine neue Rolle und Legitimität zuwuchs. Der Kronzeuge des veränderten Bildverständnisses ist selbstverständlich die moderne Kunst selbst. Ihre Vervielfältigung der Darstellungsmodi, die Verflüssigung der Gestaltungsmöglichkeiten, gibt dem Bild eine ubiquitäre Präsenz, die mit dem seinerseits beweglichen Tafelbild der Tradition nicht zu erzielen war.
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IL Eine ikonische Wendung der Moderne? Die Rückkehr der Bilder, die sich auf verschiedenen Ebenen seit dem 19. Jahrhundert vollzieht, wollen wir als »ikonische Wendung« charakterisieren. Dieser Titel spielt natürlich auf eine Analogie an, die sich seit Ende der Sechziger Jahre und unter dem Namen des »linguistic turn« vollzogen hat.1 Darf man – und in welchem Sinne? -von einem »iconic turn« sprechen? Begleitet die Rückwendung auf die Bedingungen der Sprache nicht ein ähnliches Interesse an den Prämissen des Bildes? Hat die Frage: was ist ein Bild? ihre Brisanz und ihre sachliche Basis in diesem wissenschasgeschichtlichen Vorgang? Der linguistische Impuls meinte, in seiner radikalen Form, daß alle Fragen der Philosophie'Fragen der Sprache sind. Allgemeiner formuliert: er zeigte, daß der letzte Grund allen Argumentierens am Ende nicht in einem höchsten Sein, einem transzendentalen Ich oder in der Reflexivität des Selbstbewußtseins besteht, sondern in den Regeln der Sprache. Bei Carnap, Ryle, Russell u. a. folgen diese Rückfragen dem Bedürfnis nach strikter und objektiver Erkenntnissicherung. Bald freilich sollte sich herausstellen, daß das Fundament der Sprache schwankt. Spätestens mit Wittgensteins Kritik am eigenen Frühwerk wurde deutlich, daß konsistentes Argumentieren, das Bestreben Begriffe eindeutig zu verknüpfen, sich nur auf die Alltagssprache und deren Unscharfen abstützen kann. Das Konzept des »Sprachspiels.«, das Wittgenstein in den »Philosophischen Untersuchungen« entwickelte, basiert auf der »Familienähnlichkeit« der Begriffe.2 Wenn sie sich vermittels Ähnlichkeiten verbinden (und nicht nach den strengen Regeln der Logik, von der man hoe, sie werde sich mit der Sprache zur Deckung bringen lassen), dann ist die Forderung nach Identität und Eindeutigkeit nicht mehr einzulösen. Ähnlichkeiten verbinden z. B. die Mitglieder einer Familie, eines Clans oder einer Kultur. Das von ihnen geknüpe Band ist locker, gleichwohl haltbar gespannt: hier scheinen gleiche physiognomische Merkmale auf, dort schaffen Gesten Anklänge, da erkennt man die Individuen an der wiederkehrenden Farbe der Haare, der Haut, der Augen, an Attitüden oder Mentalitäten wieder. Wittgenstein entnimmt die Verbindungen der Begriffe untereinander der Alltagsspra1 Richard Rorty (Hg.), e Linguistic Turn. Recent Essays in philosophical Method, Chicago 1967. 2 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Schrien, Frankfurt/M. 1960, S. 281ff.
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che, in deren eigentümliche Bedeutungsgeflechte bestimmte Lebensformen inkorporiert sind. Der Begriff des »Spiels« ist sehr gut geeignet, das Ineinander regelhaer Verbindlichkeiten und variabler Freiräume zu kennzeichnen. Ähnlichkeiten stimulieren eine vergleichende Wahrnehmung, sie appellieren stärker ans Auge, als an den abstrakten Verstand, sie schaffen Resonanzen und Spuren, die sich eher sehen bzw. lesen als deduzieren lassen. Gleichwohl manifestiert sich in ihnen Einheit, nicht im Sinne strikter logischer Identität, eher so wie die Rhetorik darüber verfügt, im Modus des Plausiblen. Ähnlichkeit verweist auch etymologisch auf einen gemeinsamen Stamm, den »einer Art«. Wittgenstein verbindet die Begriffe vermittels des rhetorischen Spiels der Kommunikation, er scha damit für Metaphern Raum, schon seine Leitkategorien »Sprachspiel« und »Familienähnlichkeit« sind metaphorischer Herkun. Dies geschieht nicht auf dem Wege einer Abkehr vom strengen Denken, einer hedonistischen Gleichgültigkeit gegenüber den Ansprüchen der Vernun. Ganz im Gegenteil: Es ist die strikte Forderung plausibler Selbstbegründung des Denkens, die Wittgenstein ebenso leitet wie die philosophische Tradition vor ihm. Die Unerbittlichkeit des Begründungswillens macht aber gerade sichtbar, daß die Welt der Begriffe von ihrem metaphorischen bzw. rhetorischen Boden nicht abgetrennt werden kann. Das philosophische Denken ist »metaphernpflichtig« (Blumenberg). Selbst seine festen Begriffe sind, wie schon Nietzsche betonte, verfestigte Metaphern, die auf den schwankenden Gebrauch der Alltagssprache zurückverweisen. Wittgensteins eorie bedeutet in der Geschichte der »ikonischen Wendung« einen vorläufigen Endpunkt und insofern einen Durchbruch, als es die Befragung der Sprache war, welche der ihr innewohnenden Bildpotenz Nachdruck verschae, den linguistic turn in einen iconic turn überleitete. Diese Wendung zum Bild als unvermeidlicher Figur der philosophischen Selbstbegründung hat ihre Vorgeschichte. Zu ihr rechnet, in langer Perspektive betrachtet, bereits Plotins Denken des Einen, für welches die Beziehung auf das Urbild konstitutiv ist.1 Im vorliegenden Band gibt Wolfgang Wackernagels Beitrag zum Bilddenken Meister Eckharts davon einen Eindruck. Gadamer, für den die Darstellungsweise (die »Seinsvalenz«) des Bildes in »Wahrheit und Methode« außerordentliche Bedeutung bekommen hatte, entfaltete – auf exemplarische Weise 1 Vgl. Werner Beierwaltes, Denken des Einen, Frankfurt/M. 1985.
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die Kra des Bildes aus seiner Urbildrelation.1 Die Wendung zum Bild hat im übrigen ihren historischen Ort innerhalb der neuzeitlichen Philosophie, gerade dort, wo sie ihr.Selbstbegründungsproblem kritisch verschär. Für diese Behauptung darf man auf die Rolle verweisen, die Kant der Einbildungskra zubilligt. Ihr ehedem regionaler Stellenwert (meist im Rahmen der Affektlehre) verändert sich signifikant zu Gunsten einer Schlüsselstellung, die das »Spiel der Einbildungskra« übernimmt, wenn es darum geht, Sinnlichkeit und Verstand zu verknüpfen, bzw. theoretische und praktische Vernun systematisch aufeinander zu beziehen etc. Die beiden ersten Kritiken Kants verklammert eine dritte, in der das Bildvermögen eine zentrale Rolle spielt.2 Kein Zufall, daß der spätere Kantinterpret Martin Heidegger gerade diese bildgebende Kra herausgearbeitet hat. Es würde jetzt zuweit führen, auf die spekulative Rolle der »Lehre vom Bild« z. B. bei Fichte einzugehen oder die Funktion der ästhetischen Anschauung bzw. des Bildes für Schellings frühes Systemdenken zu erörtern, wo es zum Organ der Philosophie überhaupt erhoben wurde etc. In der Geschichte des fortschreitenden 19. Jahrhunderts beschleunigte sich jedenfalls die Rückkehr der Bilder ins philosophische Argumentieren. Ein Vorgang, der mit einer Erneuerung der alten Rhetorik nicht ganz hinreichend beschrieben wäre. Deren Wettstreit mit der Philosophie in der Antike hatte in der Regel nicht bedeutet, daß die Bildpotenz Teil des philosophischen Argumentationsganges gewesen'wäre. Im Gegenteil: die metaphernabhängigen Wahrscheinlichkeiten der Rhetorik blieben hinter der eigentlichen Wahrheit der Idee, welche die Philosophie zu begründen versteht, signifikant zurück. Der Kronzeuge der neueren Wendung zur Metapher war Nietzsche. Bei ihm verbindet sich zwar eine ausgezeichnete Kenntnis der antiken Rhetorik, mit deren philosophischem Gebrauch. Durchschlagskra gewinnt sie aber, weil sie integraler Bestandteil philosophischer Rede wird. Vor allem der Text über »Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne« ist eine Inkunabel der vollzogenen Einkehr der Metapher ins Zentrum des philosophischen Denkens.3 1 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, S. 13Off. 2 Vgl. dazu: Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt/M. 1951, bes. S. 85ff.: Transzendenz und Versinnlichung, S. 88ff.: Bild und Schema, S. 92ff.: Schema und SchemaBild. 3 Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (1873), in: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, München 1980, S. 875. Die Wahrheit erscheint hier »als ein bewegliches Heer von Metaphern«... »Wahrheiten... II-
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Nietzsches radikaler Zweifel an einer referentiellen Beziehung des Menschen zur Welt provoziert die Suche nach neuen Mittelgliedern. Wenn es eine Illusion war, Erkenntnis von Realität nach dem Modell des Abbildes zu begreifen, wenn Kausalitäten zwischen Objekt und Subjekt auszuschließen sind, dann bietet sich die Metapher als Brückenschlag besonders an. Denn sie verbindet auf eine schöpferische Weise, ihre luigen Konstrukte schwingen sich über die Abgründe des logisch scheinbar Verbindungslosen hinweg. Je größer und tiefer die Klüe, umso kühner die Metaphern. Sie stellen nicht fest, was »ist«, sie fallen dieser alten Idee einer stabilen, mit sich identischen Realität nicht zum Opfer. Sie bilden nicht ab, sie bringen vielmehr hervor. Ein »Heer von Metaphern« entzaubert die Illusion der einen Welt, wird zum Grund menschlicher Erkenntnistätigkeit. Den »Wirklichkeitssinn« begleitet ein neuer »Möglichkeitssinn«.1 Gerade die poietische Leistung der Bilder wurde zum Leitsignal der Kunst des späten 19. Jahrhunderts, mehr noch für diejenige der Abstraktion, des surrealen Unbewußten, der kubistischen Weltkonstruktion usf. Nietzsches Denken wurde dafür, neben anderen, immer wieder als Prototyp herangezogen. Die eigentliche Leistung (und der Gehalt dieses historischen Geschehens) ist die Entkräung des Abbildes und, zugleich damit, die Entdeckung genuiner und produktiver Leistungen des Bildes selbst. Wenn das Modell der Simulation wie wir sahen, die Möglichkeiten des Bildes bis zur ikonoklastischen Auebung überanstrengt (oder unterläu), so ist das Abbild dazu angetan, sie zu entkräen, sie auszuhöhlen. Denn Abbilder, in ihrer täglichen Rolle, erschöpfen sich darin, existierende Dinge oder Sachverhalte nochmals zu zeigen, nämlich dem äußeren Sinn des Auges. Sie illustrieren, ganz reibungslos dann, wenn sie sich als eine Art Double der Sache darbieten. Die bildlichen Potenzen sind nur insoweit gefragt, als sie von sich selbst wegweisen, imstande sind, den dargestellten Sachverhalt zu veranschaulichen. Abbilder sind zweifellos die verbreitetsten Bilder. Ein erheblicher Teil ihrer öffentlichen Präsenz (im Fernsehen, in Photos, Reklamen, Katalogen etc.) dient diesem Zweck. Es ist leicht einzusehen, daß der sekundäre Status des Abbildes das Bildverständnis lusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind...« (881). Den Begriff nennt Nietzsche das »Residuum einer Metapher« (882), Begriffe auch die »Begräbnisstätte der Anschauung« (886) usw. 1 Robert Musil beschreibt das Verhältnis dieser beiden Sinne im »Mann ohne Eigenschaften«, Hamburg 1952, S. 16ff.
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schwer behindert. Die ikonische Wendung, deren Grundzüge hier skizziert werden, ist sehr wohl geeignet, mehr als eine geistesgeschichtliche Hintergrundsbeleuchtung zu liefern. Sie vermag das gängige und höchst beschränkte Vorverständnis: dessen was ein Bild sei und was es vermöge, abzubauen, den Blick für die Sache zu schärfen, ihm Argumente zu liefern. III. Die Kreuzung der Blicke und das Bild Was tragen Einsichten in das metaphorische Wesen der Sprache und in die Metaphernpflichtigkeit des Denkens für das Verständnis des Bildes bei? Der Antwort auf diese Frage schicken wir einige Bemerkungen voraus, die sich mit einer anderen Quelle neuerer Bildtheorien befassen: der sinnlichen Wahrnehmung, insbesondere dem Blick. Zur ikonischen Wende rechnet deshalb auch eine immer noch kryptische Geschichte des Sehens. Ihr bedeutendster Inaugurator im 19. Jahrhundert war Konrad Fiedler, schon deswegen, weil er imstande gewesen ist, das Sehen aus seiner passiven Rolle innerhalb der philosophischen Erkenntnis zu befreien, es als eine aktive und insoweit selbstbestimmte Tätigkeit zu beschreiben.1 Sie ähnelt keinem photographischen Abbildungsprozeß, scha nicht nur den Stoff höherer Erkenntnis herbei, sondern ist in sich Ausdrucksbewegung, ein Sehen, das mit der Tätigkeit der Hand kooperiert, Anschauung und poiesis in sich vereinigt. Dessen Produkte nannte Fiedler »Sichtbarkeitsgebilde« ohne sie (als Bilder, Zeichnungen, Skulpturen) in ihrer konkreten Beschaffenheit weiter zu erkunden. Hat er zwar selbst bildtheoretische Fragen weitgehend ausgespart, eröffnete er ihnen durch seine Vorarbeiten doch einen Weg. Erst durch die Phänomenologie Husserls und die Schlüsse, die aus ihr z. T. kritisch, gezogen wurden, gelangte die Wahrnehmung wiederum in eine maßgebende Rolle für die Bildreflexion. Der Ertrag der Phänomenologie für unsere Frage zeigte sich erst, als MerleauPonty damit begann, ihre theoretischen Fundamente in Frage zu stellen. Husserl selbst hatte das Bildproblem in unserem Sinne kaum interessiert, seine Schüler Roman Ingarden, Fritz Kaufmann und Eugen Fink nahmen diesen Faden auf, allerdings unter der kaum zureichenden Voraussetzung, Bilder seien nach dem Modell 1 Konrad Fiedler, Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit, in: Schrien zur Kunst, Bd. I, hg. von G. Boehm, 2. A., München 1991, S. lllff.
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eines Fensters zu verstehen.1 Auch Merleau-Pontys Hauptwerk, die »Phänomenologie der Wahrnehmung« (1945) bewegt sich noch im Banne dieses Vorverständnisses, dessen Wandel dann durch das unvollendete Spätwerk »Das Sichtbare und das Unsichtbare«, nicht minder durch einige Essays, die auf dem Weg dorthin entstanden waren, vollzogen wurde. Hierher zählt der bereits 1942 verfaßte (1945 gedruckte) Aufsatz: »Der Zweifel Cezannes«, sowie »Auge und Geist« (1961), in dessen Titel sich bereits unscheinbar die Wendung anzeigte, dem Auge Selbständigkeit und produktiven Gestaltungsraum, eigenen Geist zuzuerkennen. Sehen manifestiert sich in seinen Möglichkeiten vor allem auch künstlerisch. Cezanne wurde Merleau-Pontys Zeuge und Mentor auf seinem Weg ins Unbekannte. An ihm konnte er sich klar machen, wie unzureichend der überkommene neuzeitliche, cartesisch-zentralperspektivische Bildbegriff ist und auf welche Erfahrungen der Philosoph rekurrieren kann, wenn er eine Revision versucht. Das frühe Datum des Cezanne-Essays wird erklärbar, wenn man berücksichtigt, daß Merleau-Ponty sehr viel schneller in der Lage war, die offenen Probleme zu diagnostizieren, als sie zu lösen. An Cezannes Spätwerk scheitert der Versuch, die Wahrnehmung mittels Sehbahnen zu erörtern, die idealiter konstruierbar, den abstrakten Augenpunkt mit dem bildregierenden Fluchtpunkt verbindet. Dabei passiert sie die imaginäre Bildebene, die Schnittpunkte lassen sich als Bildpunkte definieren, 'wie schon die Erfinder der Zentralperspektive wußten und in technische Verfahren ummünzten, deren populärste Variante durch Dürers »Unterweisung der Messung« in Umlauf kam.2 Das Bild als imaginäre Projektionsfläche, selbst unsichtbar, um vermittels Durchblick Realitäten bildlich zu erfassen – dieses Modell war von durchschlagendem historischem und theoretischem Erfolg. Wie Merleau-Ponty (aber auch die Aufsätze unseres Bandes) zeigen, dient es als der unvermeidliche point de depart der meisten Revisionsversuche. Kunstgeschichtlich gilt dies im besonderen Masse für Marcel Du1 Vgl. Eugen Fink, Vergegenwärtigung und Bild, in: Studien zur Phänomenologie, Den Haag 1966, S. lff., bes. S. 77ff.; Roman Ingarden, Untersuchungen zur Onto-logie der Kunst, Tübingen 1962, S. 139-253, Das Bild. 2 Albrecht Dürer, Underweysung der messung, Nürnberg 1525, dort u. a. auch ein Holzschnitt, auf dem man einen Künstler sieht, der einen sitzenden Mann auf einer eingerahmten Glasscheibe (Fenster) zeichnet, die zwischen Modell und Auge auf einem Tische steht: »Solchs ist gut allen denen, die jemand wollen abconterfeien und die ihrer Sache nicht gewis sind.«
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champ, dessen Glasarbeiten (vor allem das »Große Glas«) diesen Projektionsaspekt des Bildes aufgreifen, um ihn auszuhöhlen.1 Der geregelte Durchblick durchs Fenster impliziert ein elementares Bewußtseinsmodell. Noch Husserls Idee der Intentionalität bzw. der intentionalen Wahrnehmungsanalyse enthält Bestimmungen der gerichteten Sehbahn. Die Aktivität des Sehens modelliert sich nach einem Tasten, das sich eines virtuellen Stockes bedient. Seit der Perspektivkonstruktion spricht man von einer Rationalisierung des Sehens, die in der Geometrisierung des Wahrnehmungsprozesses unverhüllt zutage trat. Diderots »Essai sur l'aveugle« ist der bekannteste theoretische Beleg dieser Auffassung und vor allem in der französischen Debatte auch der klassische Ansatzpunkt der Kritik. Merleau-Ponty mußte mithin auch die phänomenologischen Grundlagen seines Denkens revidieren, die Wahrnehmungsachse der Intentionalität mit ihrer zweipoligen Akzentuierung (nach Noesis und Noema) abbauen, wenn er ein angemessenes Verständnis von Auge und Bild gewinnen wollte. Vor allem versuchte er zu denken, was dem naiven Bewußtsein auf unumstößliche Weise festzustehen scheint: daß der Sehende sich nicht gegenüber der Realität auaut, sondern sein Tun in ihr vollzieht, das Auge gleichsam deren Spielräume durchquert, von ihnen umfaßt wird. Das Sehen verliert seine konstruktive Statik und technische Abstraktheit, – gewinnt die ihm eigentümliche Prozessualität zurück, seine Einbindung in den Körper, dessen Augen sehen. Dieser Grundgedanke läßt sich auf einfache Weise nachvollziehen, vor allem wenn man daran denkt, daß der Mensch entwicklungsgeschichtlich gesehen immer Beteiligter war (um zu überleben), bevor er unbeteiligter und distanzierter Betrachter werden konnte. Die antike eoria (als Schau) fundierte sich auch diesbezüglich in der Praxis. Davon abgesehen: jeder der sieht (z. B. den Baum vor dem Fenster) erfährt das Gesehene dort und draußen (in einer gewissen Entfernung) und er erfährt es zugleich in sich selbst präsent, wenn er es anschaulich erlebt hat. Das Auge ist in der Welt, die Welt im Auge. Dieser rätselhae Einschluß fordert ein anderes Modell von Wahrnehmung. Die eigentümliche Verschränkung von Sehen und Gesehenem veranlaßte MerleauPonty, deren Gründe aufzuspüren. War das Modell der Selbstreflexion dafür geeignet? Er wandelt es auf signifikante Weise ab. Selbstreflexion meint eine doppelte menschliche Befähigung: zu sehen und sich selbst dabei 1 Marcel Duchamp, Schrien, Bd. I, Zürich 1981.
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zuzuschauen. Auch Husserls intentionales Bewußtsein verschränkt, was er intentio recta (Blick auf die Dinge) und intentio obliqua (Blick auf dieses Sehen durch es selbst) nannte. Diese Überkreuzung vollzieht sich gleichsam am Rande der Welt. Wer so auf sich selbst reflektiert, scheint über der erkannten Realität zu schweben. Merleau-Ponty verpflanzt dieses selbstbezogene Tun in die Mitte der Welt zurück: indem er den Akt des indirekten Sehens nicht auf das Sehen, sondern auf den eigenen Körper richtet. Die Tragweite dieser Blickänderung versteht man vermutlich erst dann, wenn man ihre empirische Basis berücksichtigt. Jeder hat sich selbst tausende Male so erfahren: z. B. die eigene Hand betrachtend, sieht er etwas, aber/gleichzeitig auch sich selbst in seiner körperlichen Präsenz, erfährt er sich zugleich sehend und gesehen. Damit ist aber auch die Position des Auges gegenüber einer fassadenhaen Wirklichkeit verschoben, in die Mitte der Dinge versetzt. Jeder menschliche Körper repräsentiert eine solche Mitte. Seine Auszeichnung besteht darin, eine existierende, eine gelebte und leibhae Reflexivität zu sein, in der sich Blick und Anblick überkreuzen. Diesen Kreuzungspunkt zeichnet nicht die Transparenz reinen Denkens aus, sondern dasjenige, was Merleau-Ponty mit seiner Lieblingskategorie »chair« umschrieb, deren deutsche Übersetzung mit »Fleisch« die im Original mitschwingenden Bedeutungen der Inkarnation, des sexuellen Begehrens und sinnlicher Fülle verdrängt.1 Die leibhae Überkreuzung der Blicke läßt die Betrachtung der Welt von außen, in Distanz, aus der Position des Gegenüber, als möglich aber abgeleitet erscheinen. Der sehende Leib, sichtbarer Wirklichkeit zugewandt, ist zugleich sichtbarer Leib und hat als solcher Anteil an der allgemeinen Sichtbarkeit der Dinge. Insoweit gehört er der Natur an, kehrt zu ihr zurück, weil er ihr entstammt. Sein »zweiblättriges Wesen«, seine doppelte Zugehörigkeit zur Ordnung der Objekte wie zur Ordnung der Subjekte macht ihn zum Kreuzungspunkt, zu einer Nahtstelle der Realität. Damit ist auch die Bildstruktur vorformuliert. Ihr liegt eine Kreuzung der Blicke zugrunde. Mit Hinweis auf Cezanne zeigt Merleau-Ponty, daß Malerei keine »richtigen« Abbilder, keine Doppel der Dinge erzeugt, sondern an den Voraussetzungen des Dargestellten 1 Vgl. auch Gottfried Boehm, Der stumme Logos, in: Alexandre Metreaux/Bernhard Waidenfels (Hg.), Leibhaige Vernun. Spuren von Merleau-Pontys Denken, S. 289-304.
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arbeitet.1 Was wir in den Bildern sehen sind Fügungen von Farbe, Form und Linien, die weder Gegenstände umschreiben noch Zeichen setzen, sondern etwas zu sehen geben. Cezanne geht es gleichermaßen um Sichtbarmachen und um Anblicken. Er bestätigt den menschlichen Erfahrungsumgang mit der Wirklichkeit und überbietet ihn zur gleichen Zeit durch ein Sehen, das imstande ist, alles wie zum ersten Male zu zeigen. Das Bild ist Grund einer Einsicht, die es ausschließlich aus sich selbst schöp. Der Maler übersetzt deshalb keine innere Vorstellung ins Äußere der Farben, projiziert sie nicht auf den Schirm der Leinwand, sondern er arbeitet zwischen den Flecken, Linien und Formen, richtet sie ein, baut sie um, ist so sehr Auktor wie Medium seines Tuns. Merleau-Ponty hat diesbezüglich vom Geflecht oder dem Wurzelwerk des Sichtbaren gesprochen als der eigentlichen Arbeitsebene des Malers. Im Bilde wiederholt sich die Überkreuzung der Blicke. Das Gemälde gehört der Welt der Dinge zu, nimmt physische Stoffe in sich auf, baut sich daraus und ist doch mehr als aufgeschütteter Schmutz: im Falle des Gelingens ein Muster an Wirklichkeit, eine kleine Welt. Die instrumentelle Sehbahn und die Distanz veschwinden aus der Malerei, was man vor allem an der Rolle der Inversion ablesen kann, die seit Cezanne, Monet, Matisse bis zu Albers, Yves Klein und der Gegenwartsmalerei von erheblicher Bedeutung wurde. Sie besagt, daß der Bildraum nicht einsinnig gerichtet ist (in sich verkürzt, eine imaginäre Tiefe öffnend), sondern die Bildschicht gleichermaßen Impulse nach »vorn« wie nach »hinten« enthält. Die inversive Verflechtung des Konkaven mit dem Konvexen wird vom Betrachter prozeßha, d. h. temporal erfahren. Im Bild überkreuzen sich verschiedene visuelle Energien, nach Maßgabe der künstlerischen Gestaltung. Merleau-Ponty benutzte Elemente aus Ferdinand de Saussures »Cours de la linguistique generale«, um die phänomenologisch gewonnenen Beobachtungen zu stabilisieren.2 Die Sprachtheorie fördert sein Bildverständnis, mündet in die von ihm vollzogene ikonische Wendung ein. Dieser Versuch dokumentiert sich am deutlichsten in »Das unmittelbare Sprechen und die Stimmen des Schweigens«. Zu dieser Übertragung regte ihn Cezannes Malerei an. Sie 1 Vgl. auch die Analyse von G. Boehm, Cezanne Montagne Sainte-Victoire, Frankfurt/M. 1988, bes. auch die Marginalien zu Merleau-Ponty und Cezanne, S. 131 ff. 2 Ferdinand de Saussure, Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenscha, 2. A., Berlin 1967; Maurice Merleau-Ponty bezieht sich darauf bes. in: Das mittelbare Sprechen und die Stimmen des Schweigens, bzw. in: Das Auge und der Geist, beides in der Sammlung: Das Auge und der Geist, Hamburg 1984, S. 13ff, 69ff.
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gestattete, die von de Saussure postulierte Bedeutungslosigkeit des einzelnen sprachlichen Artikulationselementes auf die Geflechtstruktur des Bildes zu übertragen. Der einzelne farbige Fleck oder Punkt in Bildern Cezannes, Monets, Seurats u. a. »bedeutet« nichts. Er formuliert Sinn durch Kooperation mit anderen Flecken, auf laterale Weise. Es sind Kontraste, die der Bewegung des Blickes als movens dienen. Die Matrix der Malerei ist nicht final geordnet, sie besitzt (wie die Sprache) Bedeutungsspielräume, Vieldeutigkeitsstellen, die freilich auch den Erfahrungs- und Deutungsreichtum begründen. MerleauPontys Versuch mit de Saussures Sprachtheorie eine Bildtheorie zu begründen hat seine natürlichen Grenzen in der Verschiedenheit der beiden Medien. Bilder verfügen weder über eine diskrete Menge wiederkehrender Elemente oder Zeichen, noch sind die Regeln der Verkuppelung von Farbe oder Form in irgendeiner Weise systematisierbar, – um nur zwei Aspekte der Barriere zwischen den Medien zu benennen. Jacques Lacan stand mit Merleau-Ponty in regem Austausch, wie sein Nachruf, vor allem aber die Texte des Seminars von 1964 belegen.1 Ihnen ist eine eorie des Blickes und des Bildes inkorporiert, die sich aus der soeben skizzierten Perspektive verständlich machen läßt, so unterschiedlich die Erkenntnisabsichten des Psychoanalytikers auch waren und so vorläufig andererseits manche der Reflexionen Merleau-Pontys geblieben sind. Ansatzpunkt ist eine eorie, von der Lacan fordert, sie möge »das Subjekt auf seine signifikante Abhängigkeit« zurückführen.2 Diese besteht im Akt des Begehrens, dessen urtümlicher Impuls vor aller Intentionalität liegt, Teil einer »wilden Ontologie« ist (die Merleau-Ponty mit »chair« kennzeichnete). Sie zeigt sich im, psychisch gedeuteten, Urakt einer »Spaltung«, in dem das Begehren gleichsam der Endlichkeit seiner Situation Tribut zollt. Es konstatiert den Mangel seiner Erfüllbarkeit, dessen analytischer terminus technicus die Kastrationsangst ist. Die Feststellung des Mangels veranlaßt das frühkindliche Begehren, einen Teil von sich abzuspalten, etwas, das sehr verschieden besetzt werden kann, deshalb von Lacan ganz formal: Objekt a genannt wird. Wir werden sehen, daß Lacan dieses Objekt den Blick nennen 1 Diese Bezüge im Band: Jacques Lacan, Vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (Seminar XI, 1964), Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers, von Norbert Haas, Weinheim/Berlin 1987, bes. S. 73ff. 2 Die folgenden Seitenzahlen beziehen sich auf den in Anm. 1 bezeichneten Text Lacans:.
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wird. Das Subjekt agiert mithin nicht, indem es sich den Blick als eigenen Augpunkt einverleibt, der Blick ist vielmehr etwas, das ihm entgegenkommt. Der Mensch sieht sich auf eine primordiale Weise angeblickt. Es wäre, im Sinne Lacans, völlig mißverständlich, wenn man Sehen, Wahrnehmung oder Auge mit dem.Blick gleichsetzen würde. Auf diesem Wege etabliert sich eine Kreuzung der Blicke: der visuelle Impuls des Sehens (vom Subjekt ausgehend) kreuzt sich mit dem Angeblicktwerden, dessen Ort in der Welt das abgespaltene Objekt a ist, das gleichwohl auf das Begehren, z. B. den Schautrieb zurückbezogen bleibt. Lacan grei zur Erläuterung dieses Modells (dessen Stellenwert im Kontext der psychoanalytischen Erkenntnisbegründung hier nicht interessieren kann) auf Valerys »Junge Parze« zurück, einer Figur des gedichteten Narzißmus, von der es heißt, sie sei »sich sich sehen sehend«. Daran wird deutlich (und Lacan bezieht sich wiederum ausdrücklich auf Merleau-Ponty): »daß wir im Schauspiel der Welt angeschaute Wesen sind. Was uns zum Bewußtsein macht, das setzt uns auch mit demselben Schlag ein als speculum mundi« (81). Das Subjekt wird unter dem Blick selbst zum tableau, in das sich verschiedenste Sichtbarkeiten einschreiben können. Lacan hat die Reziprozität, die in jeder Wahrnehmung das par distance Sichtbare ihr selbst auch immer einverleibt, zu einer eorie weiterentwickelt, in der er dieses Gegenüber mit einer Blickqualität ausstattet: »... ich sehe nur von einem Punkt aus, bin aber in meiner Existenz von überall her erblickt« (78). Dieses Erblickt-werden unterliegt nicht dem Willen des Subjekts, es erscheint »in Form einer befremdlichen Kontingenz« (ist Symbol des konstitutiven Mangels, in psychischer Hinsicht: der Kastratiosnangst). Für diese Überlegung stand Sartres Analyse des Blicks Pate, zu deren Pointen u. a. gehörte, daß sich das Angeblickt-werden nicht erst auf der Ebene konkreter Kommunikation etabliert, sondern zur menschlichen Befindlichkeit gehört, so daß es u. a. auch gar keiner konkreten Augen bedarf, sondern nur eines unvermittelten Rascheins, um uns die Erfahrung eines ungesehenen Blickes zu vermitteln, der anonym auf uns gerichtet ist.1 Lacan bezieht sich z. T. kritisch darauf (90). Auch an Sartre wäre der Übergang von der eorie des Blickes in die des Bildes zu rekonstruieren, wobei freilich wichtige Zwischenglieder fehlen, die zwischen der fundamentalen Absicht seines philosophischen Haupt1 Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, Hamburg 1962, S. 338ff.
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werkes und den funkelnden Essays über Giacometti, Wols u. a. eine Brücke zu schlagen vermöchten.1 Lacan hat das chiastische Modell der Blickverschränkung mit größter Aufmerksamkeit entwickelt, dabei Gebrauch gemacht von der Verschränkung zweier Dreiecke (früher auch als Sehpyramiden bezeichnet), deren geometrische Plausibilität immer wieder dazu benützt worden ist, um das Ineinander von Sicht und Ansicht darzutun. Diese Konstrukte dienen zunächst dazu, alte Vorstellungen vom Sehen beiseite zu schaffen (die geometrische Sehbahn, das Wahrnehmen als verkapptes Tasten usw.), auf jenen Punkt zurückzugehen, wo das Auge bei der Sache ist, dorthin wo sich aus einem »Schillern« (chatoinement) eine erste »Sichtung« (voyure) manifestiert (88). Lacan stattet sein metaphorisches Reden an dieser Stelle auch mit einem Hinweis auf den Mythos von der Jagd der Artemis aus, einer urtümlichen Situation, wo der Blick das Wild aufspürt und tötet. Aber auch der Rückgang vor jede Reflexion, in das, was mit Schelling ein unvordenklicher Grund genannt werden kann, gelingt doch nur soweit als die Mittel der Reflexion, der Analyse und Metapher reichen. Kennzeichnend für diese Absicht (und ihre Schwierigkeiten) ist auch Lacans Interesse am Mimikry einiger Tiere, einem naturgeleiteten Bildprozeß. Er kritisiert seine Deutung nach dem Anpassungsmodell vor allem, weil er an der Interaktion des Mimikry mit seiner Umgebung das Ineinander von Auge und Blick, von Sehen und Wirklichkeit veranschaulichen kann, eine dichte Relation, die er auch Nachahmung nennt, für die kennzeichnend ist, »daß das Subjekt in eine Funktion einrückt, bei deren Ausübung es erfaßt wird« (104). Die bevorzugten Exempel der Mimesis sind die sexuelle Vereinigung und der Kampf auf Leben und Tod, Vorgänge, in denen sich die »Spaltung des Seins« artikuliert, wobei in Verkleidung, Maskierung, Spiel als ob etc. bildhae Momente eine unverzichtbare Rolle spielen: »Hier tritt das Sein auf großartige Weise auseinander in Wesen und Schein...« (114). »Was (aber) ist Malerei?« (106). Aus der Überkreuzung von Auge und Blick überträgt sich ins Bild »mit Sicherheit immer ein Blickhaes« (107). Es ist selbstverständlich nicht an die Darstellung von Augen gebunden, es genügt auch eine abstrakte Spezifik, um das 1 Unter den bildtheoretischen Aufsätzen Sartres sind besonders zu erwähnen: Die Suche nach dem Absoluten, in: Situationen, Reinbek 1965, S. 89-97, sowie: Die Gemälde Giacomettis und: Finger und Nicht-Finger, in: Porträts und Perspektiven, Reinbek 1971, S. 277-289 und S. 325-346.
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»Gefühl der Gegenwart eines Blickes« zu haben (107). Dieses Angebot eines Bildes lädt den Betrachter dazu ein, »seinen Blick in diesem zu deponieren« (107), ein Tun, dem er die pazifizierende und apollinische Wirkung der Bilder zuordnet. Am Wettstreit von Zeuxis und Parrhasios erläutert Lacan, daß diese Eignung zur »Augenweide« doch keine Erfüllung bedeutet. Es geht um einen Wettstreit der Täuschung, nicht um die Koinzidenz von Sehen und Gesehenem, sondern um die Erfahrung des Trugs (leurre): »Über das Auge triumphiert der Blick« (109). In dieser paradoxen Formulierung ist nicht nur die Abspaltung des Blickes vom Sehen zum Ausdruck gebracht, sondern auch, daß das Verhältnis, welches das Sehen mit sich selbst herstellen kann, nicht seinem Willen unterliegt, es wird vielmehr gelebt, »es« geschieht, unter Bedingungen des Zufalls. Lacan erörtert seinerseits die herkömmlichen Bildmodelle der Zentralperspektive (wobei er an Dürers »Pförtchen« erinnert) und der Anamorphose (die ihn zur Erörterung von Holbeins Doppelbildnis der Gesandten veranlaßt).1 Er sieht die Aufgabe des Malers ganz im Sinne Merleau-Pontys nicht in der »Organisation des Vorstellungsbildes«, sondern in der Organisation einer Matrix. Die »Niederlegung« des Blicks im Bild (121), d.h. seine Materialisierung durch den Künstler ist ein souveräner Akt, der scha und findet, was er zeigen kann, indem er es tut. Die Aktion des Malers, der den Pinsel führt, kann deshalb nicht final beschrieben werden. Sie überträgt nicht die Idee des Kopfes nach außen ins Feld der Leinwand. Sie ist an die körperliche Motorik, an die mimische Augenbewegung usw. gebunden. Als Geste ist die Malhandlung eben nicht »Hieb«, der vom Ausgangspunkt her sein Ziel umstandslos erreicht. In die Malgeste ist ihre zukünige Unterbrechung schon eingefügt, sie ist etwas »dessen Wesen es ist, einzuhalten, suspendiert zu werden«. Die Lebendigkeit der körperlichen Funktion, der versunkene Akt der Bildschöpfung ist selber auch vom Mangel durchzogen – womit Lacan keine ästhetischen Vorbehalte benennt, sondern auch das Bild als Dokument der Abhängigkeiten des Subjekts sieht, an die Dialektik des Begehrens gebunden. »Im Augenblick, wo das Subjekt einhält und seine Gebärde unterbricht, wird es mortifiziert. Die AntiLebens-, die Anti-Bewegungsfunktion dieses terminalen Punktes ist das fascinum...« (123). 1 Vgl. den in Anm. 2, 18 erwähnten Holzschnitt Dürers. Lacan kommt auf Dürers »Pförtchen« auf S. 93 zu sprechen (a. a. O.), innerhalb des Abschnittes: Die Anamorphose, in dem er sich auch mit Holbeins Gemälde der »Gesandten« beschäigt.
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IV. Metapher und Bild Läßt sich die Frage nach dem Bild auf dem Umweg über die Sprache klären? Hält die Sprachwissenscha Anhaltspunkte für eine Grammatik und Syntax des Bildes bereit? Kandinsky und Klee beispielsweise haben ihre Erkundungen nach den Wurzeln bildnerischen Gestaltens streckenweise nach dem Muster einer visuellen Grammatik geformt, Kandinsky am deutlichsten in >Punkt und Linie zu Fläche<, Klee u. a. im Pädagogischen Skizzenbuch<.' Darüberhinaus zählt die Suche nach einer gemeinsamen semiotischen Basis, die den verschiedensten kulturellen Ausdrucksformen zugrundeliegen könnte, zu den wiederkehrenden emen der Debatte.2 Die Schwierigkeiten einer universellen Bedeutungstheorie liegen auf der Hand3, die medienübergreifenden Reflexionen waren dann wohl am erfolgreichsten, wenn sie sich beschränkten. Meyer Schapiros Beitrag zur Semiotik von Fläche und Rahmen ist dafür ein guter Beleg. Im weiten Felde der Sprache erscheint die Metapher als ein besonders geeigneter Kandidat, strukturelle Einsichten in die Funktionsweise von »Bildern« zu eröffnen, ob sie nun gemalt, skulptiert, gebaut, gestellt, gespielt oder getanzt sind.4 Diese Auszeichnung hat verschiedene wissenschasgeschichtliche Ursachen: 1 Wassili Kandinsky, Punkt und Linie zu Fläche. Beiträge zur Analyse der malerischen Elemente, München 1926. – Paul Klee, Pädagogisches Skizzenbuch, München 1925. 2 Vgl. dazu Louis Marin, Detruire la peinture, Paris 1977, ders., La description de l'image: ä propos d'un paysage de Poussin, in: Communications Nr. 15, 1970, S. 186-209, ders., Towards a eory of Reading in the Visual Arts: Poussins: >e Arcadian shepherds<, in: Norman Bryson (Hg.) Calligram. Essays in New Art Hi-story from France, Cambridge 1988, S. 63-90; Umberto Eco, Semiotik. Entwurf einer eorie der Zeichen, München 1986; Felix ürlemann, Vom Bild zum Raum. Beiträge zu einer semiotischen Kunstwissenscha, Köln 1990. 3 Nelson Goodman, Languages of Art. An Approach to a eory of Symbols, Indianapolis 1968 (dt. 1973), ders., Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/M 1984; vgl. auch Oliver R. Scholz, Bild, Darstellung, Zeichen. Philosophische eorien bildhaer Darstellung, Freiburg/München 1991. 4 Vgl. Anselm Haverkamp (Hg.), eorie der Metapher (Wege der Forschung, Bd. 389), Darmstadt 1983; Harald Weinrich, Art.: Metapher, in: Ritter/Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1980; Jürgen Nieraad, >bildgeseg-net und bildverflucht<, Forschungen zur sprachlichen Metaphorik (Erträge der Forschung, Bd. 63), Darmstadt 1977; Paul Ricceur, Die lebendige Metapher, München 1986; Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 1982; eine umfassende Bibliographie: Warren A. Shibles, Metaphor: An annotated bibliography and history, Whitewater, Wisconsin 1971.
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(1) Die analytische Sprachtheorie stieß auf die Metapher als eine Anomalie, die sich zu einer erkenntnisgefährdenden Krankheit auszuwachsen droht. Verantwortlich dafür schien ihre schwer zu kurierende, schillernde Vieldeutigkeit. (2) Die wiederentdeckte Rhetorik erkannte in den Formen bildhaer Rede (darunter der Metapher) ein lange verschüttetes Phänomen. Es gestattete, die affektiven Wirkungen der Rede zu untersuchen, die Art und Weise, wie sie die Partizipation des Hörers herbeiführt. (3) Ästhetik und Poetik hatten die Metapher seit langem als Modell im Auge, um die Verfahrensweise der Dichtung zu erhellen. Schon Hamann sprach von der Poesie (d.h. der metaphorischen Rede) als der eigentlichen Muttersprache des Menschengeschlechts.1 Die logische und begriffliche Konsistenz von Aussagen erschien als ein abgeleitetes Phänomen, das diesen bildschaffenden Grundzug der Sprache, – mehr noch: des menschlichen Gemütes – zu verdecken imstande sei. Das metaphernfreundliche Denken verfügt über eine eigene und verzeigte Tradition. Noch Danto benutzt die Metapher als Paradigma des Ästhetischen schlechthin, erkennt in ihr eine Struktur, die Kunstwerken überhaupt innerwohnt.2 (4) In gleichsam archäologischer Perspektive ließ sich die Geschichte des Denkens als Prozeß einer »verblichenen Mythologie« (Schel-ling), des Vergessens jener Bilder lesen, die im Laufe der Zeit zu Kategorien und Begriffen konventionalisiert wurden. Nietzsche hatte diese Idee wieder besonders virulent gemacht und Blumenbergs »Metaphorologie«, sein Hinweis auf die »Metaphernpflichtigkeit« des Denkens, versucht daraus ein historisches Forschungsprogramm zu machen.3 Tatsächlich läßt sich schon mit jedem etymologischen 1 Johann Georg Hamann, Aesthetica in Nuce: »Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts«, zitiert nach: Vom Magus im Norden und der Verwegenheit des Geistes. Ein Hamann-Brevier, hg. von Stefan Majetschak (vgl. auch dessen Nachwort), München 1988, S. 100. 2 Arthur C. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen, Frankfurt/M. 1984, S. 264: »Wenn die Struktur der Kunstwerke die Struktur der Metapher ist oder ihr sehr nahe kommt, dann kann keine Paraphrase oder Zusammenfassung eines Kunstwerks den teilnehmenden Geist in all den Weisen fesseln, wie es das Kunstwerk selbst kann;...«. 3 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Archiv für Begriffsgeschichte, 6, 1960, S. 1-147; ders., Beobachtungen an Metaphern, Archiv für Begriffsgeschichte, 10,1971, S. 161215; ders., Schiruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt/M. 1979 (darin: Ausblick auf eine eorie der Unbe-grifflichkeit, S. 75 ff).
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IV. Metapher und Bild Läßt sich die Frage nach dem Bild auf dem Umweg über die Sprache klären? Hält die Sprachwissenscha Anhaltspunkte für eine Grammatik und Syntax des Bildes bereit? Kandinsky und Klee beispielsweise haben ihre Erkundungen nach den Wurzeln bildnerischen Gestaltens streckenweise nach dem Muster einer visuellen Grammatik geformt, Kandinsky am deutlichsten in >Punkt und Linie zu Fläche<, Klee u. a. im Pädagogischen Skizzenbuch<.' Darüber hinaus zählt die Suche nach einer gemeinsamen semiotischen Basis, die den verschiedensten kulturellen Ausdrucksformen zugrundeliegen könnte, zu den wiederkehrenden emen der Debatte.2 Die Schwierigkeiten einer universellen Bedeutungstheorie liegen auf der Hand3, die medienübergreifenden Reflexionen waren dann wohl am erfolgreichsten, wenn sie sich beschränkten. Meyer Schapiros Beitrag zur Semiotik von Fläche und Rahmen ist dafür ein guter Beleg. Im weiten Felde der Sprache erscheint die Metapher als ein besonders geeigneter Kandidat, strukturelle Einsichten in die Funktionsweise von »Bildern« zu eröffnen, ob sie nun gemalt, skulptiert, gebaut, gestellt, gespielt oder getanzt sind.4 Diese Auszeichnung hat verschiedene "wissenschasgeschichtliche Ursachen: 1 Wassili Kandinsky, Punkt und Linie zu Fläche. Beiträge zur Analyse der malerischen Elemente, München 1926. – Paul Klee, Pädagogisches Skizzenbuch, München 1925. 2 Vgl. dazu Louis Marin, Detruire la peinture, Paris 1977, ders., La description de l'image: ä propos d'un paysage de Poussin, in: Communications Nr. 15, 1970, S. 186-209, ders., Towards a eory of Reading in the Visual Arts: Poussins: >e Arcadian shepherds«, in: Norman Bryson (Hg.) Calligram. Essays in New Art Hi-story from France, Cambridge 1988, S. 63-90; Umberto Eco, Semiotik. Entwurf einer eorie der Zeichen, München 1986; Felix ürlemann, Vom Bild zum Raum. Beiträge zu einer semiotischen Kunstwissenscha, Köln 1990. 3 Nelson Goodman, Languages of Art. An Approach to a eory of Symbols, Indianapolis 1968 (dt. 1973), ders., Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/M 1984; vgl. auch Oliver R. Scholz, Bild, Darstellung, Zeichen. Philosophische eorien bildhaer Darstellung, Freiburg/München 1991. 4 Vgl. Anselm Haverkamp (Hg.), eorie der Metapher (Wege der Forschung, Bd. 389), Darmstadt 1983; Harald Weinrich, Art.: Metapher, in: Ritter/Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1980; Jürgen Nieraad, >bildgeseg-net und bildverflucht<, Forschungen zur sprachlichen Metaphorik (Erträge der Forschung, Bd. 63), Darmstadt 1977; Paul Ricceur, Die lebendige Metapher, München 1986; Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 1982; eine umfassende Bibliographie: Warren A. Shibles, Metaphor: An annotated bibliography and history, Whitewater, Wisconsin 1971.
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(1) Die analytische Sprachtheorie stieß auf die Metapher als eine Anomalie, die sich zu einer erkenntnisgefährdenden Krankheit auszuwachsen droht. Verantwortlich dafür schien ihre schwer zu kurierende, schillernde Vieldeutigkeit. (2) Die wiederentdeckte Rhetorik erkannte in den Formen bildhaer Rede (darunter der Metapher) ein lange verschüttetes Phänomen. Es gestattete, die affektiven Wirkungen der Rede zu untersuchen, die Art und Weise, wie sie die Partizipation des Hörers herbeiführt. (3) Ästhetik und Poetik hatten die Metapher seit langem als Modell im Auge, um die Verfahrensweise der Dichtung zu erhellen. Schon Hamann sprach von der Poesie (d.h. der metaphorischen Rede) als der eigentlichen Muttersprache des Menschengeschlechts.1 Die logische und begriffliche Konsistenz von Aussagen erschien als ein abgeleitetes Phänomen, das diesen bildschaffenden Grundzug der Sprache, – mehr noch: des menschlichen Gemütes – zu verdecken imstande sei. Das metaphernfreundliche Denken verfügt über eine eigene und verzeigte Tradition. Noch Danto benutzt die Metapher als Paradigma des Ästhetischen schlechthin, erkennt in ihr eine Struktur, die Kunstwerken überhaupt innerwohnt.2 (4) In gleichsam archäologischer Perspektive ließ sich die Geschichte des Denkens als Prozeß einer »verblichenen Mythologie« (Schel-ling), des Vergessens jener Bilder lesen, die im Laufe der Zeit zu Kategorien und Begriffen konventionalisiert wurden. Nietzsche hatte diese Idee wieder besonders virulent gemacht und Blumenbergs »Metaphorologie«, sein Hinweis auf die »Metaphernpflichfigkeit« des Denkens, versucht daraus ein historisches Forschungsprogramm zu machen.3 Tatsächlich läßt sich schon mit jedem etymologischen 1 Johann Georg Hamann, Aesthetica in Nuce: »Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts«, zitiert nach: Vom Magus im Norden und der Verwegenheit des Geistes. Ein Hamann-Brevier, hg. von Stefan Majetschak (vgl. auch dessen Nachwort), München 1988, S. 100. 2 Arthur C. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen, Frankfurt/M. 1984, S. 264: »Wenn die Struktur der Kunstwerke die Struktur der Metapher ist oder ihr sehr nahe kommt, dann kann keine Paraphrase oder Zusammenfassung eines Kunstwerks den teilnehmenden Geist in all den Weisen fesseln, wie es das Kunstwerk selbst kann;...«. 3 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Archiv für Begriffsgeschichte, 6,1960, S. 1-147; ders., Beobachtungen an Metaphern, Archiv für Begriffsgeschichte, 10,1971, S. 161-215; ders., Schiruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt/M. 1979 (darin: Ausblick auf eine eorie der Unbe-grifflichkeit, S. 75 ff).
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Lexikon der bildhae Ursprung europäischer Leitbegriffe wie Phy-sis, Evidenz, Form usw. aufzeigen. Was macht die Metapher möglicherweise geeignet, das strukturelle Muster von »Bildlichkeit« abzugeben? Seit der Antike hat man sie von der Syntax aus verständlich gemacht. Metaphorische Syntaktik kennzeichnet freilich eine produktive Vieldeutigkeit, zu der mannigfache Bestimmungen beitragen. Wer z. B. auf Rilkes Metapher >fast tödliche Vögel der Seele< (in der zweiten Duineser Elegie) hört, macht sich klar, daß er es nicht mit einem verkürzten Vergleich, nach dem Muster: so – wie, zu tun hat. Die Wendung ist auch keine Prädikation, die einem vorgeordneten Subjekt Eigenschaen zuspricht. Rilke sagt auch nicht: tödliche Vögel >bewohnen< die Seele odgl. Alle Versuche, die Metapher sprachlich zu normalisieren, müssen scheitern. Überhaupt scheint es wichtiger, die Anklänge zu hören: auf der lautlichen Ebene, die sich wiederholenden ö, auf der inhaltlichen Ebene den Rückverweis von den fast tödlichen Vögeln der Seele auf den Engel und seine Schrecklichkeit, mit der diese Elegie beginnt. Es gilt schließlich die überraschende Inversion wahrzunehmen, welche das Bild des Seelenvogels unter die Vorzeichen des Tödlichen setzt u. a.m. Auf diesem Wege wird der Sinn nicht länger in einzelne, verwendete Worte zurückbuchstabiert, es geht nicht darum, ihn >unverblümt< sagen zu wollen. Diese Schwierigkeiten Metaphern zu verstehen kennt auch, wer sich mit komplexen Gemälden beschäigt. Der Betrachter eines Werkes von Tizian, Rubens, Matisse etc. wird sich vergeblich darum bemühen, was er sieht durch seine Komponenten (formaler, ikono-graphischer, biographischer Art) zu erklären (so unverzichtbar die Kenntnis derartiger historischer Substrate auch ist). Bilder »sehen« hat seinerseits mit Resonanzen zu tun, mit visuellen Wechselwirkungen und überraschenden Synthesen. Damit ist die Erhellungskra der Metapher für das Bild freilich nicht erschöp. Danto hat die Metapher als rhetorische Figur eines unvollständigen Schlusses diskutiert, dem entweder der Vorsatz oder die Konklusion mangelt.1 Diese, Enthymem genannte, Redefigur reißt eine geistige Lücke in die geregelte Schlußform des Syllogismus. Ihrer Plausibilität tut dies keinen Abbruch. Im Gegenteil. Gerade die Unvollständigkeit, Offenheit und Vieldeutigkeit ihrer Form involviert den Hörer.2 Sie gibt 1 Arthur C. Danto, a. a. O., S. 258ff. 2 Vgl. auch H. Schepers, Art.: Enthymem, in: Ritter/Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Basel 1972, Sp. 528ff.
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affektiven Resonanzen Raum, evoziert Sinn, indem sie Spuren legt, Allusionen erzeugt, paradoxe Zirkularitäten in Gang setzt usf. Die Bildhaigkeit, die uns die Metapher darbietet, läßt sich, Einzelbeobachtungen zusammenfassend, als ein Phänomen des Kontrastes kennzeichnen. Der Kontrast resultiert gerade aus den überraschenden Wortfolgen, aus Brüchen, Inversionen oder unüberbrückbaren geistigen Sprüngen. Was immer sich im sprachlichen Bild fügt, seine innere Differenz wird doch als eine einzige Sinngröße erfahrbar: etwas wird als etwas sichtbar und plausibel. Es gehört zur Kunst des Autors, den geeigneten Kontrast zu finden. Längst nicht jede Wortanhäufung ist eine Metapher, von den möglichen Metaphern sind noch weniger sinnvoll bzw. treffend. In der Bemessenheit des Kontrastes, die Unterschiede zusammensieht ohne sie auszulöschen, liegt zugleich, was man die Anschaulichkeit des Metaphorischen genannt hat, seine erleuchtende geistige Kra.1 Auf unser Beispiel bezogen: Tod, Vogel und Seele sind unverwechselbare Bedeutungen, die keine wechselweise Beziehung enthalten. Ihre erkennbare Differenz löst sich auch nicht auf, wenn sie der Dichter in einer überraschende Nähe zueinander bringt. Die gelungene, springende Sinnverbindung wird von einer stets gegenwärtigen Hetereogenität begleitet. Das eigentliche »Wunder« der Metapher ist die Fruchtbarkeit des gesetzten Kontrastes. Er fügt sich zu etwas Überschaubarem, Simultanem, etwas, das wir ein Bild nennen. V. Die ikonische Differenz Der Kontrast, der die Metapher charakterisiert läßt sich gewiß übertragen. Schon deshalb, weil er ursprünglich aus dem visuellen Felde stammt, ein sichtbares Entgegenstehen meint, das eine gleichmäßige Anordnung unterbricht und damit auch kennzeichnet. Kontraste betreffen Unterschiede der Helligkeit, der Farbe, das Verhältnis von Fläche und Tiefe usf. Wenn wir jetzt von einem Kontrast sprechen, der das Bild generell kennzeichnet, sind nicht primär Einzelphänomene im Blick, wie die zuvor genannten, sondern die Bedingungen des Mediums selbst. Was uns als Bild begegnet, beruht auf einem 1 Gerhard Kurz, a. a. O., S. 23: »Der oszillierend schweifende, etwas unbestimmte Charakter der metaphorischen Bedeutung ist ein Resultat der Verstehensbewe-gung, die sie in Gang setzt: die Prädikation tri zu, sie tri nicht zu und sie soll doch zutreffen.«
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einzigen Grundkontrast, dem zwischen einer überschaubaren Gesamtfläche und allem was sie an Binnenereignissen einschließt. Das Verhältnis zwischen dem anschaulichen Ganzen und dem, was es an Einzelbestimmungen (der Farbe, der Form, der Figur etc.) beinhaltet, wurde vom Künstler auf irgendeine Weise optimiert. Die Regeln dafür sind historisch veränderlich, von Stilen, Gattungsordnungen, Auraggebern usw. geprägt. Bilder – wie immer sie sich ausprägen mögen – sind keine Sammelplätze beliebiger Details, sondern Sinneinheiten. Sie entfalten das Verhältnis zwischen ihrer sichtbaren Totalität und dem Reichtum ihrer dargestellten Vielfalt. Das historische Spektrum möglicher Wechselbestimmungen dieser ikonischen Differenz ist ausgesprochen reich.1 Ein Beispiel: zwischen der Überfülle der miniaturartig durchgeformten Details in Hieronymus Boschs >Garten der Lüste< (Prado, Madrid) und der schieren Differenzarmut eines >Monochrome Bleu< von Yves Klein gab und gibt es mannigfache Akzentverschiebungen. Sie betreffen die Relation zwischen dem Nacheinander auf der Fläche und ihrer Ansichtigkeit als Fläche, kurz gesagt: zwischen Sukzession und Simultaneität. Gewiß gehört auch das Spiel mit den Grenzen der Fläche zu dieser Arbeit am Bild, wie illusionistische Deckengemälde in barocken Kirchen zeigen oder jene Entgrenzungstendenzen, die für die Malerei Barnett Newmans oder Jackson Pollocks (nach dem zweiten Weltkrieg) wichtig "wurden. Was Bilder in aller historischen Vielfalt als Bilder »sind«, was sie »zeigen«, was sie »sagen«, verdankt sich mithin einem visuellen Grundkontrast, der zugleich der Geburtsort jedes bildlichen Sinnes genannt werden kann. Was auch immer ein Bildkünstler darstellen wollte, im dämmrigen Dunkel prähistorischer Höhlen, im sakralen Kontext der Ikonenmalerei, im inspirierten Raum des modernen Ateliers, es verdankt seine Existenz, seine Nachvollziehbarkeit und Wirkungsstärke der jeweiligen Optimierung dessen, was wir die »ikonische Differenz« nennen. Sie markiert eine zugleich visuelle und logische Mächtigkeit, welche die Eigenart des Bildes kennzeichnet, das der materiellen Kultur unauebbar zugehört, auf völlig unverzichtbare Weise in Materie eingeschrieben ist, darin aber einen Sinn aufscheinen läßt, der zugleich alles Faktische überbietet. Das 1 Der Begriff der ikonischen Differenz ist dem des ikonischen Kontrastes eng verwandt. Er ist allerdings geeignet, die wechselseitige Bestimmung, die im Kontrast liegt und Unterschiedenheit auf Einheit zurückbezieht, genauer zu benennen – in Analogie zur »ontologischen Differenz« (Heidegger).
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stupende Phänomen, daß ein Stück mit Farbe beschmierter Fläche Zugang zu unerhörten sinnlichen und geistigen Einsichten eröffnen kann, läßt sich aus der Logik des Kontrastes erläutern, vermittels derer etwas als etwas ansichtig wird. Was der Satz (der »Logos«) kann, das muß auch dem bildnerischen Werke zu Gebote stehen, freilich auf seine Weise.1 Das tertium beider, zwischen Sprachbildern (als Metaphern) und dem Bild im Sinne der bildenden Kunst, repräsentiert, wie wir sahen, die Struktur des Kontrastes. Man kann darüber streiten, ob dieser Sinn für das Bild, diese Befähigung in der Arbeit an Materie Bedeutungen aufscheinen zu lassen, eine anthropologische Mitgi darstellt oder kulturgeschichtlich erworben wurde. Ungeklärt ist auch, ob die Befähigung zum Bild und die Befähigung zu sprechen, gleichzeitig aufgetreten sind. Die ältesten bildartigen Artefakte reichen, mit den Faustkeilen, länger als einhunderttausend Jahre zurück, wir wissen nicht auf welche Weise sich jene frühen Menschen untereinander verständigten. Hans Jonas entscheidet sich in seinem Beitrag für eine anthropologische Option, die er im homo pictor als konstitutive differentia specifica verankert. Die pikturale Differenz, die dem Menschen spezifisch ist, definiert sich als das Vermögen das bewegliche Wahrnehmungsfeld des alltäglichen Sehens mit seinen offenen Rändern, seiner flexiblen Neuanpassung an Situationen in ein begrenztes und stabiles Bildfeld umzustilisieren, als Bildwerk, als Gefäß, als Ritzzeichnung odgl. zu gestalten. Die Frage nach einer kulturgeschichtlichen Genese dieser Abstraktionsleistung nimmt Meyer Schapiro in den Blick, wenn er in seinem Essay darauf hinweist, wie voraussetzungsreich und wenig selbstverständlich bereits die Setzung einer neutralen, randbegrenzten Malfläche ist. In der Höhlenmalerei glaubte er sie noch nicht voraussetzen zu dürfen. Eine derartige kulturgeschichtliche Retrospektive ließe sich umstandslos durch einen Blick auf die Avantgarden unseres Jahrhunderts erweitern, die ihrerseits daran gearbeitet haben, die Prämissen des Bildes zu erkunden, zu vereinfachen, in Frage zu stellen oder aufzuheben. Dazu geben die Beiträge von Felix Philipp Ingold (zu Malewitsch), von Karlheinz Lüdeking und Bernhard Lypp (zur zeitgenössischen Bilderfrage) Aufschluß. 1 Hans-Georg Gadamer hat den Begriff der »Darstellung« (seit >Wahrheit und Me-thode<, Tübingen i960, S. 144ff.) als selbstverständliches tertium zwischen den Künsten benutzt. Im Lichte dessen heben sich die Gemeinsamkeiten innerhalb der Kunst stärker ab als die Differenzen, so auch im Aufsatz: Bildkunst und Wortkunst, dieses Bandes.
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Wer die Diskussionslinie dieses Bandes verfolgt, der wird dem eorem der ikonischen Differenz unter verschiedenen anderen Begriffen wieder begegnen. Die semiotische Sprache Meyer Schapi-ros unterscheidet sich von anderen wissenschalichen oder philosophischen Idiomen, dennoch sollte es kein unüberwindliches Problem sein, die verschiedenen Diskurse aufeinander zu beziehen. Die phänomenale Basis kann jeder Leser aus seiner eigenen Bilderfahrung beibringen und zur Kontrolle heranziehen. Es nimmt nicht Wunder, daß das klassische Paradigma der Bilddiskussion im neuzeitlichen, perspektivisch konzipierten Gemälde (oder Fresko) gesehen wurde. Die Frage des ikomschen Kontrastes läßt sich hier vor allem am Verhältnis von Fläche und Tiefe entfalten. Michael Polanyi geht diesem Problem nach, in polemischer Absetzung gegenüber Gombrich. Dieser hatte die Beziehung von Fläche und Tiefe als alternativ, als sich ausschließend bestimmt, als ein visuelles Entweder-Oder. »... kann man wirklich die ebene Fläche und das Schlachtroß auch gleichzeitig sehen?... Wir können das Schlachtroß nur auffassen, wenn wir für einen Augenblick die ebene Fläche vergessen. Beides auf einmal geht nicht.«1 Diesem Schalteffekt, durch den Gombrich die Bildwahrnehmung charakterisiert, hält Polanyi u. a. das Verhältnis zwischen begleitender und fokusierender Wahrnehmung entgegen, was die Phänomenologie ihrerseits durch die Wechselbestimmung von ema und Horizont gekennzeichnet hat. Es handelt sich in der Tat um die ikonische Differenz, welche zwischen Verschiedenem auf der Fläche und dem Flächengrund selbst eine produktive Spannung auaut. Niemals wird sich das Detail in seinen begleitenden Kontext auflösen lassen und umgekehrt. Beide bleiben spannungsvoll aufeinander angewiesen. Zwischen fokusierender und begleitender Wahrnehmung lassen sich die Akzente der Aufmerksamkeit verschieben, ein Wechsel der Einstellung herbeiführen, von einer Alternative allerdings zwischen Flächen und Dingwahrnehmung wird man nicht reden können. Das produktive Oszillieren, welches auch für die Metapher charakteristisch war, käme dabei nicht in Gang.2 Polanyi sieht im In- und Auseinander zwischen Fläche und Tiefe eine Tntegration von Inkompatiblem<. Das Rätsel der >flachen Tiefe< geht, so sagt er, >weit über die Natur hinaus<. Es beinhaltet eine poietische Kra, die über genuine Sinnmöglichkeit 1 Ernst H. Gombrich, Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Köln 1967, S. 311. 2 Wie Anm. 1, S. 29.
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gebietet, die im verbreiteten Modell des Abbildes völlig zurückgedrängt werden. Bilder sind Prozesse, Darstellungen, die sich nicht darauf zurückziehen Gegebenes zu wiederholen, sondern sichtbar zu machen, einen »Zuwachs an Sein« (Gadamer) hervorzubringen. Ihre Existenz orientiert sich am »Lebendigen« (Zoon), das die Griechen, woran Gadamer erinnert, als Name für das Bild gebrauchten. Damit ist das Bild der gängigen Modellvorstellung einer statischen Nachformung entzogen, die dann am besten gelungen wäre, wenn sie das Dargestellte möglichst getreu oder gar ununterscheidbar wiederholte. Gadamer spricht in seiner Bildtheorie von der »Seinsvalenz des Bildes«, die überhaupt erst vergegenwärtigt, was das Dargestellte ist.1 Das Abbild bewegt sich auf der Linie seiner Selbstauebung. Das Paradox der »flachen Tiefe« kennzeichnet einen Aspekt der ikonischen Differenz, der für das perspektivische Bild besonders charakteristisch ist. Danto hat die doppelte Aufmerksamkeit, zu der uns das Bild veranlaßt, mit dem Wechselspiel einer »Opazitäts«- und einer »Transparenztheorie« beschrieben.2 Opak ist alles Materielle am Gemälde, seine dingliche Seite, die Faktur des Farbaurags udglm. Der Künstler richtet die materiellen Verhältnisse allerdings so ein, daß in diesem Undurchsichtigen etwas Sichtbares aufsteigt, ein Anblick oder Durchblick eröffnet wird, sich die opake Bildfläche transparent zeigt auf etwas Gemeintes und Gezeigtes hin, auf Sinn. Auch Opazitäts- und Transparenztheorie des Bildes bestimmen sich wechselseitig, sie sind genau genommen nicht zwei eorien, sondern eine – denn: es »... wird stets ein Rest von Materie übrig bleiben, der nicht in reinen Inhalt verdamp werden kann.«3 Wer die Frage nach dem Bild im angedeuteten Sinne stellt und zu beantworten sucht, entdeckt auch, daß der >Bilderstreit< nicht nur ein externes Phänomen darstellt, welches mit der gesellschalichen Bewertung der Bilder, extremenfalls ihrem Verbot oder ihrer Unterwerfung unter kanonische Vorschrien zu tun hat. Diese Geschichte der Bilderkämpfe ist alt und für die Rolle des Bildes zweifellos von 1 Hans-Georg Gadamer, a. a. O., S. 128ff. »Es muß eine wesentliche Modifikation, ja fast eine Umkehrung des ontologischen Verhältnissen von Urbild und Abbild stattfinden, wenn das Bild ein Moment der >Repräsentation< ist und damit eine eigene Seinsvalenz besitzt... erst vom Bilde her wird das Dargestellte eigentlich bildha.« (135). 2 Danto, a.a.O., S. 243. 3 a. a. O.
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großer Bedeutung.1 Sie verdeckt aber auch ein Phänomen, das sich unter den reflektierten Bedingungen der Moderne besonders deutlich zeigt: daß die Bilder selbst Optionen ausüben, die entweder tendenziell bilderfreundlich bzw. bildstärkend sind oder auch bilderfeindlich, bildnegierend.2 Die Kriterien dieses inneren Bilderstreits, den die Geschichte der Kunst von sich aus ausgetragen hat und weiter austrägt, lassen sich mittels des eorems der ikonischen Differenz formulieren. In der spannungsvollen Beziehung, die sich im visuellen Grundkontrast zeigt, gibt es, wie wir sahen, die Möglichkeit, daß Bilder ganz selbstvergessen in der Illusionierung von etwas Dargestelltem aufgehen oder – umgekehrt – ihr bildliches Gemachtsein betonen. In extremis verleugnet sich das Bild als Bild ganz, um die perfekte Repräsentation einer Sache zustandezubringen. Dieses Ziel erreicht es, wenn wir als Betrachter getäuscht werden, das Bild für das Dargestellte selbst halten, es als Bild gleichsam übersehen. Diese Überschreitung der Grenze des Bildes in Pygmalions Traum war bereits für die antike Bildreflexion von erheblicher Bedeutung. Hier verbindet sich wiederum die Idee des Lebendigen mit dem Bild: der Bildhauer erweckt die schöne Marmorstatue seiner Hand selbst zum Leben. Damit hat die Darstellung ihre Grenze überschritten, ist zu dem geworden, •was sie zuvor lediglich bezeichnete oder repräsentierte. Plato sah in dieser Fähigkeit des Bildes auf das Leben auszugreifen eine große Verführung, die ihn veranlaßte, den bildenden Künstlern schlechte Plätze in seiner Polisordnung zuzuweisen. Die vielfach variierten Künstlerlegenden der Antike beschreiben das Gelingen der Illusion fasziniert als die eigentliche Genugtuung des Malers. Als Beleg gelten die gemalten Trauben des Zeuxis, die so sehr Realität vortäuschen, daß selbst die Tauben daran picken.3 Zum Wettkampf kommt es zwischen Zeuxis und Parrhasios in eben dieser Frage. Wer von ihnen wäre imstande den anderen (der 1 Anthony Bryer/Judith Herrin (Hg.), Iconoclasm. Birmingham 1977; Chr. Doh-men, Das Bilderverbot, Bonn 1987; Martin Warnke (Hg.), Bildersturm. Die Zerstörung des Kunstwerks, München 1973. 2 Die Frage der bildimmanenten Ikonoklastik diskutieren die Beiträge von Wolfgang Wackernagel (am Begriff der >Entbildung< des Meister Eckhart), Karlheinz Lüdeking und Gottfried Boehm. Vgl. von letzterem auch: Ikonoklastik und Transzendenz, in: W Schmied (Hg.), GegenwartEwigkeit, Katalog, Berlin 1990, S. 27-34. 3 Vgl. Verena L. Brüschweiler-Mooser, Ausgewählte Künstleranekdoten. Eine Quellenuntersuchung. Diss. Zürich 1973. Neuerdings auch: Ralph Konersmann, der eine hier nicht einschlägige Anekdote, die von Timanthes, zum Ausgangspunkt seiner »Perspektiven historischer Semantik« macht, in: Der Schleier des Timanthes, Frankfurt/M. 1994.
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jeder für sich ein Experte des täuschenden Bildes war) mit seinem eigenen Bilde zu täuschen? Der wahre Triumph der Malerei besteht, nach der Logik dieser Anekdoten, in seiner Auebung. Der Maler ist idealiter ein Ikonokiast. Keine Frage, daß diese antike Reflexion über die Rolle des Bildes ihre Aktualität behalten hat. Die moderne Reproduktionsindustrie favorisiert das Bild als Abbild, als Double der Realität. Die elektronischen Simulationstechniken steigern, – wie der Begriff der Simulation unmißverständlich zeigt1 – die Darstellung zu einem perfekten »Als-Ob«, so sehr, daß dem Bewußtsein der Postmoderne tendenziell die Differenz zwi-chen Bild und Realität selbst zu schwinden schien, factum und fictum konvergierten. Die Bilderfeindlichkeit der Medienindustrie ist ungebrochen, nicht weil sie Bilder verböte oder verhinderte, im Gegenteil: weil sie eine Bilderflut in Gang setzt, deren Grundtendenz auf Suggestion zielt, auf bildlichen Realitätsersatz, zu dessen Kriterien seit jeher gehörte, die Grenzen der eigenen Bildlichkeit zu verschleiern. Das vielbeschworene neue Zeitalter des Bildes, – nach demjenigen Gutenbergs – , ist ikonoklastisch, auch dann, wenn es seine Enthusiasten nicht einmal bemerken. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß mit reproduktiven – oder simulierenden – Bildtechniken nicht starke Bilder gemacht werden könnten. Die Geschichte der Photographie, des Films oder der beginnenden Videokunst haben dies zur Genüge bewiesen. Von diesen neuen Techniken einen bildstärkenden Gebrauch zu machen, setzte freilich voraus, die ikonische Spannung kontrolliert aufzubauen und dem Betrachter sichtbar werden zu lassen. Ein starkes Bild lebt aus eben dieser doppelten Wahrheit: etwas zu zeigen, auch etwas vorzutäuschen und zugleich die Kriterien und Prämissen dieser Erfahrung zu demonstrieren. Erst durch das Bild gewinnt das Dargestellte Sichtbarkeit, Auszeichnung, Präsenz. Es bindet sich dabei aber an artifizielle Bedingungen, an einen ikonischen Kontrast, von dem gesagt wurde, er sei zugleich flach und tief, opak und transparent, materiell und völlig ungreiar. Es ist nicht das ema dieses Buches, mögliche kunstgeschichtliche Folgen der skizzierten Bildreflexion sichtbar zu machen. Immerhin läßt sich andeuten, daß das gängige Verfahren, Kunst auf ihre historischen Entstehungsbedingungen zu reduzieren, der Realität des Bildes nicht wirklich gerecht wird. Eine solche kunsthistorische Methodik überspringt die eigentümliche Darstellungsmacht des Bil1 Jean Baudrillard, Simulacres et Simulation, Paris 1981, auch: e TrompeT'CEil, in: Norman Bryson (Hg.), Calligram a. a. O., S. 53-62.
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des, sie rechnet gar nicht damit, daß es über eigene Sinnpotentiale verfügt. Auch sie sind selbstverständlich historisch determiniert, von bildgeschichtlichen Rahmenvorstellungen mitbestimmt, wie u. a. Kurt Bauch in seinem Beitrag >Imago< zu zeigen versucht.' Dennoch macht es einen Unterschied, ob Bilder lediglich auf ihre historische Genese zurückgeführt werden oder die Frage ihres Geltungsanspruchs in den Blick kommt. Eine solche Kunstgeschichte wäre dann im Kern eine Geschichte des Bildes, die das Ikonische, in abwägender Auseinandersetzung mit den jeweiligen externen Rahmenbedingungen (ikonographischer, biographischer, sozialgeschichtlicher Art) zum sprechen bringt. Einem solchen Programm hatte sich, auf seine Weise, Max Imdahl verschrieben, dessen letzter Aufsatz, wenige Monate vor seinem Tod (1988) verfaßt, in diesem Bande erscheint. Der Autor hatte ihn als eine Art Resume entworfen, das auf andere Publikationen verweist.2 Ein bildgeschichtliches Prozedere würde es gestatten, die vergeblichen und fruchtlosen Grabenkriege zwischen Formanalytikern und Sozialhistorikern, zwischen Autonomisten und Dependenz-strategen zu beenden, die partiellen Einsichten beider Seiten an die Instanz des Bildes zurückzubinden. Die Spannung zwischen Kunst und Geschichte ist im Namen des Faches Kunst-Geschichte formuliert, es geht darum, sie erkenntnisreich auszutragen.3 VI. Die Transformation der Bilder in der Moderne Die Frage, die in diesem Band gestellt wird, eignete sich auch als Leitfrage der/ modernen Kunstentwicklung. Tatsächlich bietet sich das Terrain der Kunst seit Beginn dieses Jahrhunderts als ein Laboratorium dar, in dem die Voraussetzungen der Kunst, ihre Elemente, Darstellungsregeln und möglichen Inhalte einer fortlaufenden, einer – wie Marcel Duchamp sagte – »ätzenden« Probe unterworfen wurden. Das Erscheinungsbild der Werke hat sich dabei grundlegend verwandelt, eine explosionsartige Vermehrung der Darstellungsformen hat stattgefunden, was ein abgegrenztes, komponiertes 1 Vgl. auch Walter Paatz, Von den Gattungen und vom Sinn der gotischen Rundfigur, in: Sitz.berichte der Heidelberger Akad. der Wiss., 3. Abh., Heidelberg 1951. 2 Besonders wichtig: Max Imdahl, Giottos Arenafresken. Ikonographie-Ikonologie-Ikonik, 2.A., München 1988, bes. die Abschnitte S. 84ff. 3 Gottfried Boehm, Kunst versus Geschichte. Ein unerledigtes Problem, in: George Kubler, Die Form der Zeit, Frankfurt/M. 1982, S. 7-26.
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und auf sich selbst konzentriertes Bild war, findet sich als Objekt, als shaped canvas, als Installation, als Konzeptkunst, als Performance odgl. wieder. Die Malerei bastardisierte sich mit Bestimmungen, die man bis dahin dem Relief, der Skulptur, der Architektur zugeordnet hatte, die Verfransung der Gattungen betri alle in der Neuzeit bewährten Bildformen.1 Ist die Frage nach dem »Bild« damit bereits historisch? Betri sie ein abgeschlossenes Saeculum? Oder sind: »Bilder jenseits der Bilder« entstanden? Wir gehen davon aus, daß sich argumentative Grundlagen, die in diesem Bande entwickelt wurden, durchaus auf das Feld der^fortge-schrittenen Moderne beziehen lassen, sofern sie darauf nicht ausdrücklich bereits Bezug nehmen. Es hat den Anschein, als habe sich im Zuge der Moderne das Erscheinungsbild des Ikonischen grundlegend gewandelt, ohne daß es deswegen auch zur Verabschiedung von »Bildlichkeit« gekommen wäre. Eher im Gegenteil: die Versuche bildnerische Ausdrucksformen zu reflektieren, neu zu fundieren, auf unbekannte Bereiche der Realität hin zu öffnen, haben bei aller Unterschiedenheit doch eines gemeinsam. Sie rechnen z. B. damit, daß vermittels eines Feldes von Metallstäben in der Wüste von Neu-Mexiko (Walter de Maria), mit einer ritualisierten Begegnung zwischen dem Künstler und einem Coyoten (Joseph Beuys) oder mit einem kalkulierten Farbfeld auf dem Fußboden (Ellsworth Kelly) doch ikonische Kontraste entstehen, die in aller Zerstreuung Dichte kumulieren, etwas Unabweisbares vermitteln. Der Betrachter moderner Werke lernt, daß Bilder nicht verschwinden, sondern daß sie sich auf völlig gewandelte Weise bezeugen. Sie wechseln ihr materielles Kleid, gewiß auch ihren Gehalt und dennoch sind sie weiterhin Bilder, deren jeweilige ikonische Differenz zu sehen und zu denken gibt. So betrachtet ist das gewaltige Transformationsgeschehen in der Kunst unseres Jahrhunderts durchaus auf das Stichwort einer gewandelten Ikonizität hin zu diskutieren. Der retrospektive Blick auf die Zeit vor der Antike, auf prähistorische Artefakte, auf Volkskulturen, auf den Bereich der sogenannten angewandten Kunst, ebenso sehr der Blick auf außereuropäische Stammeskunst bzw. auf die bildnerische Hinterlassenscha ferner Hochkulturen verdeutlichen, daß unser – o unausgesprochenes – Vorurteil, das Bild am Modell des »Gemäldes« oder des Tafelbildes zu messen, in 1 Vgl. den Katalog der Ausstellung: Transform. Bild – Objekt – Skulptur im 20. Jahrhundert, Basel 1992, darin auch: Gottfried Boehm, Bilder jenseits der Bilder, S. 15-21.
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die Enge führt und revisionsbedürig ist. Die ältere und außereuropäische Bildgeschichte besitzt einen Gestaltenreichtum, der hinter dem der Moderne keineswegs zurücksteht. An orientalischen Teppichen, japanischen Teeschalen, afrikanischen Sitzen, an Faustkeilen der fernsten Frühe des Menschen usw. läßt sich bereits kritisch erproben, was Bilder sind und was sie determiniert. Die moderne Parole einer Erweiterung des Kunstbegriffs ist deshalb nicht besonders originell und besagt wenig, solange sie nicht zu zeigen vermag, wie sich Bildlichkeit neu manifestiert. Denn tatsächlich sind viele Bedingungen des Bildes weiterhin im Spiel: Anschaulichkeit, Begrenzung (wie prekär auch immer), Ökonomie der Mittel, Totalität, Wechselspiel zwischen sukzedierender und simultaneisierender Sicht u. a. Es geht weiterhin darum, im ausgesteckten Felde der Materie einen Überschuß an Sinn zu erzeugen. Gleichzeitig haben die Erprobungen der Moderne aber auch unser Wissen von den Voraussetzungen, von der Flexibilität und der Wirkungsweise, z. B. der Malerei, der Zeichenkunst oder des skulp-turalen Gestaltens erheblich erweitert. Die Frage: Was ist ein Bild? ließe sich, so gesehen, auch an Künstlertexten, von Cezanne oder Matisse an, über Duchamp, Delaunay, Mondrian zu Breton oder Magritte verfolgen. Sie ließe sich an Autoren des Bauhauses diskutieren, in der frühen Nachkriegszeit und bei den Zeitgenossen. Zu solchen ausgesprochen bildtheoretischen Texten rechnen z. B. die Notizen eines Malers (von Matisse), die Bildkritik Duchamps, die Differenztheorie von Josef Albers (f actual f act versus actual f act), die eorie des »letzten Bildes« von Ad Reinhardt, die Proklamation des entgrenzten Bildes unter Vorzeichen der Erhabenheit (Barnett Newman) u. a. m. Sammlungen moderner Künstlertexte liegen vor, freilich keine, die speziell auf unsere Frage ausgerichtet wären. Was eine solche Textgrundlage, neben derjenigen Basis, welche die Werke selbst repräsentieren, für das Problem des Bildes austrüge, ist im Zusammenhang noch nicht untersucht worden. Eine Probe darauf steht aus. Allein ihr Umfang verbot es allerdings, sie in diesem Band zu beginnen.1 1 Die erwähnten bildtheoretischen Texte befinden sich in: Henri Matisse, Über Kunst, hg. v. Jack D. Flam, Zürich 1982, S. 64ff. (u. a.); Marcel Duchamp, Die Schrien, Bd. 1, hg. von Serge Stauffer, Zürich 1981 (ein Textlabyrinth, das erst erkundet werden will); Josef Albers, Interaction of Color, Köln 1970; Barnett Newman, Selected Writings and Interwiews, New York 1990, besonders die Texte des Abschnittes III, S. 138-175; Ad Reinhardt, Schrien und Gespräche, München 1984, besonders: Kunst-als-Kunst (S. 136ff., S. 147ff., S. 159ff., S. 164ff., S. 167ff.).
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Linie und Licht Begehren und Bild/tableau Geschichte einer Sardinenbüchse Der Lichtschirm Mimikry Das Organ Nie erblickst Du mich da, wo ich Dich sehe Die Funktion des Auges kann den, der Sie aulären möchte, in recht abgelegene Forschungen führen. Seit wann, könnte man beispielsweise fragen, gibt es die Funktion dieses Organs, und wann ist es einfach vorhanden in der Reihe der Lebewesen? Die Beziehung des Subjekts zum Organ steht im Mittelpunkt unserer Erfahrung. Unter den Organen, mit denen wir es zu tun haben, Brust, Kot und anderen, ist das Auge, und mit Erstaunen stellen wir fest, wie weit dieses bei den Arten, die das Erscheinen des Lebens repräsentieren, zurückverfolgt werden kann. Sie essen, ohne sich viel dabei zu denken, Austern, und wissen nicht, daß das Auge bereits auf dieser Stufe des Tierreichs aufgetaucht ist. Bei solchen Abstechern in die Tiefe erleben wir blaue Wunder, wie man sagen kann. Trotzdem, wir müssen wählen, da wir ja die Aufgabe haben, die Dinge auf den Punkt zurückzuführen, der uns hier interessiert. Ich bin letztes Mal, denke ich, genau genug gewesen, so daß Sie nun erkennen können, was das kleine, sehr vereinfachte Dreieckschema bedeuten soll, das ich oben an die Tafel gezeichnet habe.
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Es soll in drei Termen an die Optik erinnern, die zur Anwendung kommt bei der operativen Montage, bei der es um eine umgekehrte Anwendung der Perspektive geht, wie dies vorherrschend wurde in der Technik der Malerei namentlich vom Ende des fünfzehnten Jahrhunderts an über das sechzehnte bis ins siebzehnte Jahrhundert. Wie die Anamorphose zeigt, geht es in der Malerei nicht um eine realistische Wiedergabe der Dinge im Raum – was überhaupt eine Ausdrucksweise ist, bei der die größten Vorbehalte anzumelden wären. Darüber hinaus zeigt das kleine Schema, daß das Eigentliche des Sehens einer bestimmten Optik entgehen muß. Diese Optik steht auch dem Blinden zu Gebot. Sie erinnern sich, daß ich Sie auf Diderots Brief verwiesen habe, der zeigt, wie gut auch der Blinde von allem, was das Sehen vom Raum wiedergibt, sich Rechenscha zu geben, wie gut er diesen Raum zu rekonstruieren, sich bildha vorzustellen, davon zu sprechen vermag. Aufgrund dieser Möglichkeit konstruiert Diderot laufend einen Doppelsinn mit metaphysischen Untertönen, und diese Ambiguität macht seinen Text lebendig und gibt ihm seine Schärfe. Uns hingegen zeigt die geometrale Dimension, wie sehr das Subjekt, dem unser Interesse gilt, im Feld des Sehens erfaßt, gefangen und gesteuert ist. Sofort – ohne länger als sonst mit verdeckten Karten zu spielen -zeigte ich Ihnen auf dem Gemälde von Holbein jenen eigentümlichen im Vordergrund schwebenden Gegenstand, der da betrachtend zu betrachten ist und der den Betrachter lockt, ich möchte fast sagen: in die Falle lockt, nämlich uns. Mit Sicherheit ist es die außergewöhnliche, ich weiß nicht welchem Reflexionsmoment des Malers zu verdankende, letztlich aber doch völlig offenkundige Absicht, uns zu zeigen, daß wir als Subjekte auf dem Bild buchstäblich angerufen sind und also dargestellt werden als Erfaßte. Das Geheimnis dieses Bilds, an dessen Bedeutungsvielfalt ich Sie erinnerte: die vanitas-Ob-jekte zwischen den beiden unbeweglichen Figuren in reichem Ornat, die dieses Bild präsentiert, alles, was in der Auffassung der Zeit an die Eitelkeit der Künste und der Wissenschaen erinnert – dies Geheimnis des Bildes zeigt sich in dem Augenblick, wo wir uns von ihm entfernen und im langsamen Weggehen nach links uns umkehren und sehen, was der schwebende magische Gegenstand anzeigt. Er gibt unsere eigene Nichtigkeit wieder, in Gestalt eines Totenschädels. Hier ist also die geometrale Dimension dazu da, das Subjekt einzufangen, offensichtlich im Verhältnis zum Begehren, das aber rätselha bleibt.
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Was ist das aber für ein Begehren, das sich in dem Bild fängt, sich im Bild festmacht – es aber ebenso motiviert, indem es ja den Künstler dazu bewegt, etwas, und was, ins Werk zu setzen. Dies ist der Weg, auf dem wir heute weiterkommen wollen. 1 In dieser Materie des Sichtbaren wird alles zur Falle und ist auf sonderliche Weise – Maurice Merleau-Ponty bezeichnet das sehr treffend in einer Kapitelüberschri von Das Sichtbare und das Unsichtbare – Flechtwerk/ entrelacs1. Es gibt nicht eine einzige Teilung, nicht eine einzige der doppelten Seiten, die die Funktion des Sehens aufweist, die sich uns nicht als Labyrinth darstellen würde. Je besser wir die Felder unterscheiden, um so deutlicher wird, wie sehr sich diese Felder überschneiden. Im Bereich des Geometralen, wie wir uns ausdrücken, scheint zunächst das Licht den Faden zu geben. Sie konnten letztesmal sehen, wie ein derartiger Faden uns mit jedem Punkt des Objekts verbindet und da, wo er das Netz in Gestalt eines Schirms, auf dem wir das Bild/image ausmachen, durchläu, auch richtiggehend als Faden fungiert. Das Licht pflanzt sich in gerader Linie fort, sagt man, und dies gilt als gesichert. Es scheint uns also das Licht den Faden zu geben. Bedenken Sie aber trotzdem, daß dieser Faden nicht unbedingt auf Licht angewiesen ist – es genügt, daß er gespannt ist. Deshalb ist ein Blinder in der Lage, allen unseren Demonstrationen zu folgen, wir müssen uns nur etwas Mühe geben. Wir geben Ihm zum Beispiel einen Gegenstand von bestimmter Höhe, den er betasten soll, dann soll er den gespannten Faden entlanggleiten, dann lehren wir Ihn, mit Hilfe des Tastsinns an den Fingerkuppen eine bestimmte Figu-ration auf einer Fläche zu unterscheiden, die das Merkmalhae eines Bilds wiedergibt – genauso wie wir in der reinen Optik unterschiedlich proportionierte, aber im Grunde homologe Beziehungen, Entsprechungen des einen und des andern Punkts im Raum uns vorstellen, was ja letzten Endes immer darauf hinausläu, daß wir zwei Punkte ein und desselben Fadens im Raum ausmachen. Eine solche Konstruktion gibt uns also noch nicht die Möglichkeit, zu sagen, was das Licht hier eigentlich beiträgt. 1 Entrelacs ist homonymisch zu lesen als entre-lä!, tritt ein!
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Wie sollen wir nun das fassen, was uns bei der optischen Strukturierung des Raums anscheinend entgeht? Die traditionelle Argumentation spielt immer wieder darauf an. Die Philosophen, und inzwischen Alain, der sich als letzter in dieser Materie hervortat, indem er auf Kant, sogar auf Piaton zurückgegangen ist, verbreiten sich ohne Ausnahme über die angebliche Wahrnehmungstäuschung – und bleiben trotzdem Herr der Lage, indem sie auf den Umstand verweisen, daß die Wahrnehmung den Gegenstand da tri, wo er ist, und daß beim Kubus wegen des der Wahrnehmung zugrundeliegenden gebrochenen Raums gerade ein Scheinparallelogramm bewirkt, daß wir einen Kubus wahrnehmen. Das ganze Spiel, der Hokuspokus, der in der klassischen Dialektik um die Wahrnehmung gemacht wird, rührt daher, daß diese vom geometralem Sehen handelt, das heißt von einem Sehen, das sich in einem Raum ansiedelt, der wesentlich nicht der visuelle Raum ist. Das Wesentliche an der Beziehung zwischen Schein und Sein, zu dessen Herrn der Philosoph bei seinen Eroberungen auf dem Feld des Sehens sich so leicht aufschwingt, ist anderswo. Es ist nicht in der Geraden, es ist im Lichtpunkt/dans le point lumineux – im Strahlpunkt, in dem Rieseln, dem Feuer, dem Springquell der Reflexe. Zweifellos pflanzt sich das Licht in der Geraden fort, aber es bricht sich, es diffundiert, es übergießt, es füllt – denken wir daran, daß unser Auge eine Schale ist – aus der das Licht auch überquillt. Um diese Schale erfordert das Licht eine Reihe von Organen, Apparaten und schützenden Vorrichtungen. Die Iris reagiert nicht einfach auf Entfernung, sondern auch auf das Licht, sie beschützt, was auf dem Grund der Schale vor sich geht und was unter gewissen Umständen Schaden leiden könnte – auch dient das Augenlid bei starkem Licht zum Blinzeln, wobei es sich dann zu jener wohlbekannten Grimasse verengt. Dazu kommt, daß nicht allein das Auge lichtempfindlich ist, wie wir wissen. Die ganze Oberfläche der Haut kann – aus den verschiedensten Gründen, die durchaus nicht immer visueller Art sind -lichtempfindlich sein. Diese Dimension darf bei der Funktion des Sehens durchaus nicht vernachlässigt werden. Es gibt so etwas wie die Rohform lichtempfindlicher Organe: die Pigmentpunkte. Im Auge funktioniert das Pigment voll, allerdings, wie das Phänomen zeigt, auf unendlich komplexe Weise. Es funktioniert beispielsweise im Innern der Sehkeile in Form des Rhodopsins, es funktioniert auch in den verschiedenen Schichten der Netzhaut. Das Pigment kommt und geht, in Funktionen, die nicht alle und nicht immer unmittelbar
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klar und bestimmbar sind, die aber die Tiefe, die Komplexität und gleichzeitig auch die Einheit in den Mechanismen der Beziehung zum Licht erahnen lassen. Das Verhältnis des Subjekts zur eigentlichen Erscheinung des Lichts zeigt sich hier schon in seiner Ambiguität. Man sieht es übrigens schematisch an den beiden Dreiecken, die sich gegeneinander verkehren, sobald man sie übereinander schiebt. Sie haben da ein erstes Beispiel für jene Funktion der Verflechtung, der Kreuzung, des Chiasmus, von der ich eben gesprochen habe. Sie strukturiert den ganzen Bereich. Um Ihnen die Frage dieses Verhältnisses von Subjekt und Licht näherzubringen, um Ihnen also zu zeigen, daß diese Frage anderswo, jedenfalls nicht am geometralen Punkt, wie ihn die geometrische Optik definiert, gestellt werden muß, will ich ihnen einen kleinen Apolog erzählen. Die Geschichte ist wahr. Sie stammt aus der Zeit meiner, ich würde sagen, meiner Zwanzigerjahre – ich hatte damals, als junger Intellektueller, natürlich nichts Besseres zu tun als rauszugehen und mich irgendeiner Tätigkeit hinzugeben, die nur direkt und ländlich sein sollte, also zum Beispiel Jagd oder Fischen. Eines Tags nun war ich auf einem kleinen Boot zusammen mit einigen Leuten aus einer Fischersfamilie, die an dem kleinen Hafen zu Hause war. Damals war unsere Bretagne noch unberührt von der Großindustrie, und Fischerei im großen Stil gab es noch nicht. Die Fischer fischten in ihrer Nußschale auf eigenes Risiko und eigene Gefahr. Und eben dieses: Gefahr und Risiko wollte ich mit ihnen teilen. Nur gab es Gefahr nicht immer, es gab auch Tage schönsten Wetters. Eines Tags nun, wir warteten auf den Augenblick, wo die Netze eingeholt werden sollten, zeigt mir ein gewisser Petit-Jean, wir nennen ihn so – er ist mit seiner ganzen Familie dann plötzlich von der Tuberkulose dahingera worden, die damals tatsächlich so etwas wie die Krankheit einer ganzen Sozialschicht war – eines Tags also zeigt mir Petit-Jean ein Etwas, das auf den Wellen dahinschaukelte. Es war eine kleine Büchse, genauer gesagt: eine Sardinenbüchse, ausgerechnet. Da schwamm sie also in der Sonne, als Zeuge der Konservenindustrie, die wir ja beliefern sollten. Spiegelte in der Sonne. Und Petit-Jean meinte: -Siehst Du die Büchse? Siehst Du sie? Sie, sie sieht dich nicht! Er fand sie sehr lustig, die kleine Geschichte, ich weniger. Ich habe mich gefragt, warum ich sie weniger komisch fand. Das ist sehr aufschlußreich.
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Zunächst, wenn es einen Sinn haben soll, daß Petit-Jean mir sagt, daß die Büchse mich nicht sehe, so deshalb, weil sie in einem bestimmten Sinn mich tatsächlich anblickt, angeht1. Sie blickt mich an/me regarde auf der Ebene des Lichtpunkts, wo alles ist, was mich angeht/me regarde, und das ist hier durchaus nicht als Metapher gemeint. Was erklärt die Bedeutung dieser kleinen Geschichte, die ich dem Einfall des Gefährten verdanke, und was erklärt, daß er sie so komisch fand und ich weniger? Die Geschichte ist mir erzählt worden, weil ich in dem Moment damals – so wie ich mich geschildert habe zusammen mit diesen Leuten, die so schwer für ihre Existenz zu schuen hatten in fortgesetzem Kampf gegen etwas, was für sie rohe Natur hieß – weil ich damals also ein unsäglich komisches Bild/ta-bleau gemacht haben muß. Oder vielmehr: Ich fiel aus dem Bild heraus/je faisais tant soit peu tache/ich machte mehr oder weniger einen Fleck im Bild. Und weil mir das bewußt ist, kann nichts mich bei dieser komischen, ironischen Geschichte, die ich mich jetzt vorbringen höre, davon abbringen, sie wenig komisch zu finden. Ich nehme hier die Struktur auf der Ebene des Subjekts, diese spiegelt aber nur, was bereits im natürlichen Verhältnis von Auge und Licht vorhanden ist. Ich bin nicht einfach jenes punktförmige Wesen, das man an jenem geometralen Punkt festmachen könnte, von dem aus die Perspektive verlaufen soll. Zwar zeichnet sich in der Tiefe meines Auges das Bild/tableau. Das Bild ist sicher in meinem Auge. Aber ich, ich bin im Tableau. Was Licht ist, blickt mich an, und dank diesem Licht zeichnet sich etwas ab auf dem Grunde meines Auges – nicht einfach jenes konstruierte Verhältnis, das Objekt, bei dem der Philosoph hängenbleibt – sondern die Impression, das Rieseln einer Fläche, die für mich nicht von vorneherein auf Distanz angelegt ist. Dabei kommt etwas ins Spiel, was beim geometralen Verhältnis elidiert wird – die Feldtiefe in ihrer ganzen Doppeldeutigkeit, Variabilität, auch Unbeherrsch-barkeit. In der Tat ist eher sie es, die mich ergrei, mich in jedem Augenblick umwirbt und aus der Landscha etwas anderes macht als eine Perspektive, etwas anderes als das, was ich »Tableau« genannt habe. Das Korrelat zum Tableau, das am selben Ort zu situieren wäre wie dieses, also draußen, wäre der Blick-Punkt/le point de regard. 1 Elle me regarde: Der Doppelsinn des Französischen »sie blickt mich an« und »sie geht mich an« ist auch im folgenden zu beachten!
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Die Vermittlung beider, also das, was zwischen beiden ist, ist anderer Natur als der geometrale Raum der Optik, es spielt exakt die umgekehrte Rolle, da es nicht durchlässig, traversierbar ist, sondern ganz im Gegenteil opak – es ist der Schirm/ecran. In dem, was sich mir so als Raum des Lichts darstellt, bedeutet Blick immer ein Spiel von Licht und Undurchdringlichkeit. Es geht stets um ein Spiegeln, wie in meiner kleinen Geschichte von eben, stets ist etwas da, was mich zurückhält, an jedem Punkt, weil es Schirm ist, und so das Licht als ein Schillern erscheint, das über diesen Schirm läu. Um alles zu sagen: diesem BlickPunkt eignet stets etwas von der Ambiguität eines Juwels. Und sollte ich etwas sein in diesem Bild/tableau, dann auch in der Form dieses Schirms, den ich eben »Fleck« nannte. 2 So ist die Beziehung des Subjekts zum Bereich des Sehens. Man darf hier also Subjekt nicht im geläufigen Sinn des Wortes »Subjekt«, im subjektiven Sinn, verstehen – es geht durchaus nicht um eine idealistische Beziehung. Dieser Überflug/survol/Überblick, den ich Subjekt heiße und der in meiner Auffassung dem Tableau Beständigkeit gibt, ist nicht ein Überflug der Vorstellung nach. Die Gefahr, sich im Bereich des Schauspiels über die Subjektfunktion zu täuschen, ist groß. Sicher gibt es für die Synthesisfunktion dessen, was hinter der Netzhaut passiert, Beispiele in der »Phänomenologie der Wahrnehmung«. Merleau-Ponty führt aus einer reichen Literatur sehr bemerkenswerte Tatsachen auf, an denen sich beispielsweise zeigen läßt, daß allein der Umstand, daß man mit Hilfe eines Schirms ein Feld, das als Quelle von zusammengesetzten Farben dient, teilweise abdeckt – die Farben bestehen beispielsweise aus zwei Scheiben, Schirmen, die sich übereinander drehen und einen bestimmten Lichtton erzeugen – daß also eine einzige Intervention bereits genügt, um die betreffende Zusammensetzung ganz anders erscheinen zu lassen. Wir haben es hier in der Tat mit der rein subjektiven Funktion im trivialen Sinn des Worts zu tun, mit der Bedeutung eines zentralen Interventionsmechanismus: das Spiel des Lichts, wie es in dieser Versuchsanordnung ausgelöst wird und das wir in allen seinen Komponenten kennen, ist etwas anderes als das, was vom Subjekt wahrgenommen wird.
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Noch anders verhält es sich mit der Wahrnehmung der Reflexwirkungen, die von einem Feld oder von einer Farbe ausgehen – bei welchen wir ebenfalls eine subjektive Seite unterscheiden können, die aber jetzt anders akkommodiert erscheint. Wenn wir zum Beispiel eine gelbe Fläche neben eine blaue halten – wird die blaue Fläche, sobald auf sie Licht fällt, das von der gelben Fläche reflektiert wird, eine gewisse Veränderung erfahren. Aber mit Bestimmtheit ist alles, was Farbe ist, nur subjektiv – es gibt kein objektives Korrelat im Spektrum, das gestattete, die Farbqualität der auf der Ebene der Lichtschwingungen auretenden Wellenlänge oder Frequenz zuzuordnen. Es geht hier in der Tat um etwas Subjektives, das aber anders zu situieren ist. Ist das alles? Meine ich das, wenn ich vom Verhältnis des Subjekts zum sogenannten Tableau spreche? Gewiß nicht. Das Verhältnis des Subjekts zum Tableau ist von einigen Philosophen zwar aufgegriffen, aber, wenn ich mich so ausdrücken darf, daneben situiert worden. Lesen Sie etwa das Buch von Raymond Ruyer mit dem Titel Neo-finalisme. Achten Sie darauf, wie der Autor, um die Wahrnehmung in einer teleologischen Perspektive zu situieren, sich veranlaßt sieht, das Subjekt absolut zu überfliegen. Dabei besteht, abgesehen von einem völlig abstrakten Vorgehen, nicht" die geringste Veranlassung, das Subjekt in solch absolutem Überflug zu setzen, wenn es wie bei diesem Beispiel nur darum geht, begreiar zu machen, wie es sich mit der Wahrnehmung eines Schachbretts verhält. Das gehört wesentlich in jene geometrale Optik, deren Unterscheidung meine erste Sorge galt. Wir sind da im Raum partes extra partes, der sich in dieser Weise immer gegen ein Erfassen des Objekts sperrt. In dieser Richtung ist die Chose nicht weiter zurückführbar. Es gibt allerdings einen Phänomenbereich – von unendlich größerer Ausdehnung, als die Punkte, an denen er sich bevorzugt zeigt, annehmen lassen – der uns erlaubt, das Subjekt in seiner wahren Natur in absolutem Überflug/en survol absolu zu erfassen. Es ist nicht so, daß er nicht forderbar wäre, nur weil wir ihm kein Sein zusprechen können. Es gibt Tatsachen, die allein von der phänomenalen Dimension der Überflugs aus, wonach ich mich im Tableau als Fleck situiere, artikulierbar sind – es sind die Tatsachen der Mimikry. Ich kann mich hier nicht wirklich in die mehr oder weniger ausgearbeiteten Probleme einmischen, die durch diese Tatsachen aufgeworfen sind. Ich verweise Sie dafür auf die Spezialliteratur, die nicht nur faszinierend ist, sondern auch reiches Material für die
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Reflexion bietet. Es mag genügen, wenn ich hervorhebe, was bisher vielleicht nicht ausreichend hervorgehoben worden ist. Als erstes stelle ich die Frage nach der Bedeutung der Anpassungsfunktion bei der Mimikry. Strenggenommen kann bei bestimmten Mimikryerscheinungen tatsächlich von einer Färbung als Anpassung oder Angepaßtwerden gesprochen werden, man sieht beipielsweise – wie Cuenot mit gewisser Wahrscheinlichkeit an einzelnen Fällen zeigen konnte – daß Färbung als Anpassung an den Hintergrund nur eine Art Abwehr gegen das Licht ist. In einem Milieu, in dem von der Umgebung her grüne Strahlen vorherrschen, also etwa in einem mit grünem Gras bestandenen Wassergrund, wird ein Tierchen – es gibt unzählige, die wir als Beispiel nehmen könnten – grün, sowie ihm das Licht schädlich werden könnte. Es wird also grün, um grünes Licht abzuweisen – es stellt sich durch Anpassung in den Schutz der Wirkungen des Grüns. Bei der Mimikry indessen geht es um ganz andere Dinge. Ich bringe ein ziemlich zufälliges Beispiel – glauben Sie nicht, daß das ein besonderer Fall wäre. Ein Krustentierchen, das man Caprella nennt – es wird ihm noch ein Adjektiv beigefügt: acanthifera -imitiert, wenn es unter jenen Lebewesen an der Grenze zum Lebendigen, die man Briozoaren nennt, nistet, ja, was? – es imitiert, was bei diesen quasi pflanzlichen Lebewesen wie bei den Briozoaren ein Fleck ist. In bestimmten Phasen des Briozoaren bildet nämlich eine Einbuchtung der Eingeweide einen Fleck, in anderen Phasen tritt so etwas wie ein Farbzentrum in Funktion. An diese gefleckte Form akkomodiert sich jenes Krustentier. Es wird zum Fleck, zum Ta-bleau, es schreibt sich in das Tableau ein. Hier kann dann im eigentlichen und ursprünglichen Sinne von Mimikry die Rede sein. Die fundamentalen Dimensionen der Inskription des Subjekts im Tableau erscheinen so unendlich besser begründet, als wir bei der ersten, noch tastenden Annäherung ahnen konnten. Ich habe bereits angedeutet, was Caillois in seinem kleinen Buch Meduse et compagnie mit einer Überzeugungskra, wie sie manchmal dem NichtSpezialisten zur Verfügung steht, ausführt – seine Distanz möglicherweise gestattet es ihm, im Umriß zu erfassen, was der Spezialist nur zu buchstabieren vermochte. Es gibt Leute, die in den Verfärbungserscheinungen nur die Tatsache einer mehr oder weniger geglückten Anpassung sehen. Die Tatsachen aber zeigen, daß so gut wie nichts von der Anpassung -wie man sie für gewöhnlich versteht: als den Bedürfnissen des Über-
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lebens dienend – daß so gut wie nichts davon in der Mimikry enthalten ist, daß die Mimikry vielmehr in den meisten Fällen, ob sie nun in Wirkung ist oder nicht, strikt umgekehrt sich darstellt, als es das Vorurteil der Anpassung wahrhaben möchte. Caillois stellt drei Rubriken auf, die tatsächlich die hauptsächlichen Dimensionen sind, in denen sich die Aktivität der Mimikry entfaltet – Verkleidung, Tarnung und Einschüchterung. Hier zeigt sich nun in der Tat, in welcher Dimension das Subjekt sich ins Tableau einrückt. Die Mimikry gibt insofern etwas zu sehen, als sie von dem, was man ein es-selbst nennen könnte, das dahinter wäre, sich unterscheidet. Ihr Effekt ist Tarnung, verstanden in einem rein technischen Sinn. Dabei geht es nicht darum, daß etwas mit einem Hintergrund übereinstimmt, sondern: daß etwas auf einem buntscheckigen Hintergrund selbst buntscheckig wird – es verhält sich damit genauso wie bei den Tarnmanövern in den Kriegen der Menschen. Bei der Verkleidung geht es um eine bestimmte sexuelle Zielstrebigkeit. Wie die Natur lehrt, produziert sich diese sexuelle Absicht bei sämtlichen Effekten, die wesentlich Verkappung und Maskerade sind. Dabei entsteht ein Plan, der sich von der sexuellen Absicht als solchen unterscheidet und eine wesentliche Rolle spielt, der aber nicht allzu schnell als planvolle Täuschung erkannt werden sollte. Etwas anderes wäre die Funktion des Trugs, Köders/leurre, und wir sollten unser Urteil klugerweise zurückstellen, bis wir gesehen haben, wie dieser wirkt. Nicht anders bringt auch das Phänomen der sogenannten Einschüchterung jenen zusätzlichen Wert mit sich, den das Subjekt im Schein immer zu erreichen sucht. Auch hier sollte nicht allzu eilfertig Intersubjektivität ins Spiel gebracht werden. Immer dann, wenn es um Nachahmung geht, müssen wir uns davor hüten, sofort an einen andern zu denken, der nachgeahmt werden soll. Nachahmen heißt ganz gewiß: ein Bild reproduzieren. Aber im Grunde heißt es, daß das Subjekt sich in eine Funktion einrückt, bei deren Ausübung es erfaßt wird. Hier müssen wir vorläufig haltmachen. Sehen wir nun, was die unbewußte Funktion als solche uns lehrt, jenes Feld also, das uns für die Eroberung des Subjekts zur Verfügung steht.
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3 In diese Richtung führt uns eine weitere Bemerkung von Caillois, der uns versichert, die Tatsachen der Mimikry auf tierischer Ebene entsprächen dem, was beim Menschen als Kunst oder Malerei auritt. Das einzige, wogegen hier ein Einwand zu erheben wäre, ist, daß Rene Caillois die Malerei offenbar so klar zu sein scheint, daß er sich auf sie beziehen zu können glaubt, um etwas anderes zu erklären. Was ist Malerei? Offenbar nicht ohne Grund haben wir die Funktion, in der das Subjekt als solches sich abzeichnet, Tableau genannt. Wenn nun ein menschliches Subjekt ein Bild malen möchte, also dieses Etwas ins Werk setzt, in dessen Mittelpunkt der Blick steht, worum geht es dann? Im Bild will der Künstler, wie manche sagen, Subjekt sein. Die Malkunst unterschiede sich demnach von allen andern Künsten dadurch, daß der Künstler in seinem Werk sich uns als Subjekt, als Blick nahebringen möchte. Dagegen sagen andere, man müsse vielmehr die Objektseite eines Kunstwerks in Rechnung stellen. Etwas mehr oder minder Richtiges kommt in beiden Auffassungen zum Ausdruck, worum es aber eigentlich geht, ist damit keineswegs erschöpfend beantwortet. Ich trage die folgende ese vor – Im Bild manifestiert sich mit Sicherheit immer ein Blickhaes. Der Künstler weiß dies, seine Moral, sein Suchen, sein Spüren, seine Praxis bedeuten immer, ob er sich nun daran hält oder nicht, die Wahl einer bestimmten Blickweise. Selbst wenn Sie Bilder vor sich haben, denen der sogenannte Blick, den ein Augenpaar bildet, fehlt, Bilder, auf denen Sie keine Darstellungen der menschlichen Gestalt finden, etwa Landschaen der Holländer oder Flamen, werden Sie letzten Endes filigranha etwas sehen, das für den einzelnen Maler so spezifisch ist, daß Sie das Gefühl der Gegenwart eines Blicks haben. Das wäre hier aber nur Objekt für die Forschung, vielleicht nur Illusion. Die Funktion des Bildes – bezogen auf den, dem der Maler, buchstäblich, sein Bild zu sehen gibt – bezieht sich auf den Blick. Diese Beziehung ist nicht, wie man zunächst vielleicht meinen könnte, Blickfalle zu sein. Man könnte glauben, der Maler habe es wie der Schauspieler auf ein Hast-du-mich-gesehen abgesehen, er wünsche, betrachtet zu werden. Ich glaube es nicht. Ich glaube zwar, daß ein Verhältnis zum Blick des Liebhabers gesucht wird, aber daß dieses Verhältnis viel komplexer ist. Der Maler gibt dem, der sich vor sein Bild stellt, etwas, das für einen Teil der Malerei wenigstens in der
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Formel zusammenzufassen wäre – Du willst also sehen. Nun gut, dann sieh das! Er gibt etwas, das eine Augenweide sein soll, er lädt aber den, dem er sein Bild vorsetzt, ein, seinen Blick in diesem zu deponieren, wie man Waffen deponiert. Dies eben macht die pazifi-zierende, apollinische Wirkung der Malerei aus. Etwas ist nicht so sehr dem Blick, sondern dem Auge gegeben, etwas, bei dem der Blick drangegeben, niedergelegt wird. Ein Problem ist, daß eine ganze Seite der Malerei sich von diesem Feld absondert – die expressionistische Malerei. Der Unterschied der expressionistischen Malerei besteht darin, daß sie etwas gibt, was in Richtung einer gewissen Befriedigung geht – in dem Sinn, wie Freud von »Triebbefriedigung« spricht – befriedigt wird hier also gewissermaßen, was der Blick fordert. Es geht jetzt, anders gesagt, darum, die Frage zu stellen, was es mit dem Auge als Organ auf sich hat. Man sagt, die Funktion schaffe das Organ. Das ist eine völlige Absurdität – sie erklärt es nicht mal! Alle Organe des Organismus stellen sich immer in einer Vielzahl von Funktionen dar. Gerade beim Auge kommen die unterschiedlichsten Funktionen zusammen. So erreicht die Diskriminierungsfunktion ein Maximum auf der Ebene der Fovea als der bevorzugten Stelle des distinkten Sehens. Etwas anderes tut sich auf dem übrigen Rest der Netzhautoberfläche, den die Spezialisten zu Unrecht als den Ort der skotopischen Funktion bezeichnen. Es geht vielmehr um den Chiasmus: Dieses letzte Feld, das sozusagen geschaffen ist für die Wahrnehmung dessen, was nur unter geringer Beleuchtung steht, verscha eine maximale Möglichkeit der Wahrnehmung von Lichtwirkungen. Wenn Sie einen Stern füner oder sechster Größe sehen wollen – man spricht hier vom »Arago-Phänomen« – dürfen Sie ihn nicht direkt ins Auge fassen. Erst wenn Sie um ein geringes daneben schauen, wird er für Sie wahrnehmbar. Diese Funktionen des Auges erschöpfen nicht die Eigenheit des Organs, wie es auf der Couch auaucht und hier determiniert, was jedes Organ determiniert – Aufgaben. Was den Fehler des Rückgriffs auf den Instinkt ausmacht und so viel Verwirrung stiet, ist, daß man nicht sieht, daß der Instinkt nur die Art und Weise ist, wie der Organismus sich mit einem Organ so gut es eben geht weiterhil. Man könnte aus dem animalischen Bereich zahlreiche Beispiele anführen, die zeigen, daß ein übermäßiger Wuchs, eine Hyperentwicklung eines Organs den Zusammenbruch des Organismus zur Folge haben kann. Die vermeintliche Funktion des Instinkts im Verhältnis des Organismus zum Organ sollte also offensichtlich im
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Sinne einer Moral definiert werden. Man wundert sich über die sogenannten Präadaptationen des Instinkts. Dabei ist das eigentliche Wunder, daß der Organismus aus einem Organ überhaupt etwas machen kann. Für uns, die wir uns auf das Unbewußte beziehen, geht es um das Verhältnis zum Organ. Es geht nicht um das Verhältnis zur Sexualität, nicht einmal zum Geschlecht, wenn wir diesem Begriff überhaupt eine spezifische Beziehung beimessen können – es geht um das Verhältnis zum Phallus, sofern der Phallus einen Ausfall bedeutet hinsichtlich dessen, was an Realem in Absicht des Geschlechts erreicht werden könnte. "Weil wir es im Innersten der Erfahrung des Unbewußten mit diesem Organ zu tun haben – das beim Subjekt bestimmt ist durch die im Kastrationskomplex organisierte Insuffizienz – können wir auch erfassen, in welchem Maße das Auge von einer ähnlichen Dialektik erfaßt ist. Schon bei der ersten Annäherung sehen wir, daß in der Dialektik von Auge und Blick nicht Koinzidenz herrscht, sondern zutiefst Trug/leurre. Wenn ich in der Liebe einen Blick verlange, so ist es zutiefst unbefriedigend und ein immer schon Verfehltes, daß – Du mich nie da erblickst, wo ich Dich sehe. Umgekehrt ist das, was ich erblicke, nie das, was ich sehen will. Das Verhältnis von Maler und Kunstliebhaber, von dem ich eben sprach, ist, was immer man sagen mag, Spiel, Augentäuschungsspiel. Da ist keine Beziehung zum sogenannten Figurativen, wie man sich unpassenderweise ausdrückt, wenn man irgendwelche Beziehung auf eine zugrundeliegende Realität meint. In jenem klassischen Apolog von Zeuxis und Parrhasios gelingt es Zeuxis, Trauben zu verfertigen, die selbst Vögel zu täuschen vermögen. Wichtig ist aber dabei nicht, daß diese Trauben perfekte Nachahmungen von wirklichen Trauben dargestellt hätten, wichtig ist, daß sogar Vogelaugen sich täuschen ließen. Das zeigt sich, als Zeuxis' Gefährte Parrhasios über ihn den Sieg davon trägt, weil er auf eine Mauer einen Schleier malt, so täuschend, daß Zeuxis sich mit der Bitte an ihn wendet, er möge ihm doch zeigen, was dahinter gemalt sei. Es geht also eigentlich um die Täuschung des Auges. Über das Auge triumphiert der Blick. Wir werden hier, was die Funktionen von Auge und Blick angeht, nächstesmal weitergehen.
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Antworten M. SAFOUAN: Wenn ich recht verstehe, erholt sich beim Betrachten eines Bilds das Auge vorn Blick? j. LACAN: Ich will hier die Dialektik von Schein und Jenseits des Scheins wieder aufnehmen, indem ich sage, es gibt jenseits des Scheins zwar kein Ding an sich, aber den Blick. In dieser Beziehung situiert sich das Auge als Organ. M. SAFOUAN: Ist jenseits des Scheins Fehlen oder Blick} j. LACAN: Auf der Ebene des Sehens, sofern da der Trieb hereinspielt, haben wir dieselbe Funktion des Objektes a wie auch in den andern Dimensionen. Das Objekt a ist ein etwas, von dem als Organ das Subjekt sich getrennt hat zu seiner Konstituierung. Dieses Objekt gilt als Symbol des Mangels, das heißt des Phallus, und zwar nicht des Phallus an sich, sondern des Phallus, sofern er einen Mangel/ein Fehlen darstellt. Es muß da also ein Objekt sein – erstens abtrennbar – und zweitens mit einer gewissen Beziehung zum Mangel. Ich werde Ihnen sofort inkarnieren, was ich sagen will. Auf der Ebene der Oralität wäre es das Nichts, sofern das, wovon das Subjekt sich entwöhnte, nicht länger nichts für es ist. Bei der mentalen Anorexie ißt das Kind – das Nichts. Sie begreifen, daß das Objekt der Entwöhnung auf der Kastrationsebene als Privation fungieren kann. Die Ebene der Analität ist der Ort der Metapher – ein Objekt für ein anderes hergeben, Kot anstelle des Phallus. Sie begreifen, warum der Analtrieb die Sphäre der Opferwilligkeit, der Gabe, des Geschenks ist. Wo man zu kurz gehalten wird, wo man aus Mangel nicht geben kann, was zu geben wäre, hat man immer die Möglichkeit, etwas anderes zu geben. Hier ist der Grund, weshalb der Mensch als moralisches Wesen auf die Ebene der Analität gehört. Vor allem gilt das vom Materialisten. Beim Sehen befinden wir uns nicht länger auf der Ebene des Anspruchs, sondern auf der Ebene des Begehrens, das sich an den Andern richtet. Desgleichen auf der Ebene des Invokationstriebs/ pulsion invocante, der der Erfahrung des Unbewußten am nächsten ist.
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Generell ist das Verhältnis des Blicks zu dem, was man sehen möchte, ein Verhältnis des Trugs. Das Subjekt stellt sich als etwas anderes dar, als es ist, und was man ihm zu sehen gibt, ist nicht, was es zu sehen wünscht. Deswegen kann das Auge als Objekt a, das heißt auf der Ebene des Fehlens (-
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Was ist ein Bild/Tableau Wesen und Schein Der Trug des Schirms Blickzähmung und Augentäuschung Der Blick von hinten Gestus und Pinselstrich Zu-sehen-Geben und invidia Ich muß also heute die Wette halten, die ich abgeschlossen habe, als ich mich auf ein Terrain begab, auf dem das Ob) ekt a den Gipfel der Flüchtigkeit erreicht in der Funktion, das zentrale Fehlen des Begehrens zu symbolisieren, das ich immer einheitlich ausgedrückt habe durch den Algorithmus (-(p). Ich weiß nicht, ob Sie die Wandtafel sehen, auf der ich meiner Gewohnheit nach einiges festgehalten habe. Das Objekt a im Feld des Sichtbaren ist der Blick. Daran anschließend habe ich in einer Klammer geschrieben: J in der Natur \ wie = (-(p) Wir haben in der Tat etwas zu begreifen, was in der Natur bereits den Blick geeignet erscheinen läßt für die Funktion, die er dann in der symbolischen Beziehung beim Menschen übernehmen kann. Subjekt der Vorstellung
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Darunter habe ich die beiden Dreiecksysteme gezeichnet, die ich schon eingeführt habe – als erstes das, das im geometralen Feld an unsere Stelle das Subjekt der Vorstellung setzt, und als zweites das,
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das mich selbst zum Bild/tableau macht. Auf die Linie rechts kommt also die Spitze des ersten Dreiecks zu liegen, der Punkt des geome-tralen Subjekts, und auf eben dieser Linie mache ich mich auch, unterm Blick, zum Bild. Der Blick ist an der Spitze des zweiten Dreiecks einzutragen. Die beiden Dreiecke sind übereinandergelegt, wie es dem tatsächlichen Funktionieren des Registers des Sehens entspricht. 1 Ich muß, für den Anfang, auf dem einen Punkt bestehen – auf dem Felde des Sehens ist der Blick draußen, ich werde erblickt, das heißt ich bin Bild/tableau. Dies die Funktion, mit der sich die Institution des Subjekts im Sichtbaren zuinnerst erfassen läßt. Von Grund aus bestimmt mich im Sichtbaren der Blick, der im Außen ist. Durch den Blick trete ich ins Licht, und über den Blick werde ich der Wirkung desselben teilhaig. Daraus geht hervor, daß der Blick das Instrument darstellt, mit dessen Hilfe das Licht sich verkörpert, und aus diesem Grund auch werde ich – wenn Sie mir erlauben, daß ich mich , wie so o, eines Wortes bediene, indem ich es in seine Komponenten zerlege -photo-graphiert. Es geht hier nicht um das philosophische Problem der Vorstellung, der Repräsentation. In dieser Perspektive, wenn es um die Vorstellung geht, vergewissere ich mich meiner als jemand, der alles in allem nicht wenig weiß, vergewissere ich mich als Bewußtsein, das weiß, das es nur Vorstellung ist und daß es, darüber hinaus, das Ding gibt, das Ding an sich. Hinter dem Phainomenon das Noumenon etwa. Ich selbst kann sicherlich nichts dazu tun, denn meine transzendentalen Kategorien, wie Kant sagt, schalten allein nach ihrer Willkür und zwingen mich, das Ding auf ihre Weise zu nehmen. Und im Grunde ist es gut so – alles fügt sich glücklich. Für uns sind die Dinge nicht im Gleichgewicht durch solche Dialektik von Oberfläche und Jenseits der Oberfläche. Wir für unser Teil gehen aus von der Tatsache, daß da etwas ist, das einen Bruch, eine Zweiteilung, eine Spaltung des Seins bewirkt, mit der dieses sich in Einklang bringt, von Natur aus. Diese Tatsache ist der Beobachtung zugänglich in einer mannigfaltig abgewandelten Reihe von Erscheinungen, die sich letzten Endes unter dem Haupttitel der Mimesis zusammenfassen lassen. Dies zeigt sich deutlich bei der sexuellen Vereinigung oder im Kampf auf
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Leben und Tod. Hier tritt das Sein auf großartige Weise auseinander in Wesen und Schein, in es selbst und in diesen Papiertiger, den es zur Schau stellt. Handele es sich nun um die Parade, bei den Männchen meistens, oder um jenes grimassierende Aufplustern, mit dem das Kampf spiel zur Einschüchterung wird, das Wesen gibt von sich oder erhält vom anderen Etwas, das Maske, Doppel, Hülle, abgelöste Haut, losgelöst zur Bedeckung eines Schildrahmens, ist. In dieser von ihm selbst abgetrennten Gestalt kommt das Sein ins Spiel in seinen Lebens- und Todeswirkungen, und man kann sagen, in solcher Verdoppelung des andern oder seiner selbst verwirklicht sich jene Verbindung, in welcher in der Fortpflanzung eine Erneuerung der Wesen erfolgt. Die Täuschung spielt hier also eine wesentliche Funktion. Dasselbe fesselt uns auch auf der klinischen Ebene, wenn wir, in der Vorstellung der Anziehungswirkungen zwischen verschiedenen Polen, wonach das Männliche und das "Weibliche sich vereinen, sehen, welche hervorragende Bedeutung der Verkleidung zuzusprechen ist. Ohne allen Zweifel, mit dem Mittel der Masken begegnen sich Männliches und Weibliches in Zugespitztester Form. Nur das Subjekt – das menschliche Subjekt, das Subjekt des Begehrens, welches das Wesen des Menschen ausmacht – unterliegt, im Gegensatz zum Tiere, nicht ganz diesem imaginären Befangensein. Es zeichnet sich aus. Wie das ? In dem Maße, wie es die Funktion des Schirms herauslöst und mit ihr spielt. Tatsächlich vermag der Mensch mit der Maske zu spielen, ist er doch etwas, über dem j enseits der Blick ist. Der Schirm ist hier Ort der Vermittlung. Ich habe mich das letzte Mal auf eine Stelle in Maurice Merleau-Pontys »Phänomenologie der Wahrnehmung« berufen, wo man anhand von gut ausgewählten Beispielen aus den Experimenten von Gelb und Goldstein schon auf der einfachen Wahrnehmungsebene erkennen kann, wie dieser Schirm die Dinge wieder in ihren Realstatus einsetzt. Wenn ein Beleuchtungseffekt, der isoliert auritt, über uns zu herrschen beginnt, wenn beispielsweise ein Lichtstrahl unsern Blick leitet und uns fesselt, da er uns als ein milchiger Kegel erscheint, der uns hindert zu sehen, was er erhellt – so bewirkt schon der Umstand, daß wir einen kleinen Schirm in dieses Feld halten, der sich gegen das abhebt, was beleuchtet ist, ohne gesehen zu werden, daß das milchige Licht sozusagen wieder in den Schatten zurücktritt und das Objekt auaucht, welches von dem Licht verdeckt war. Es geht hier auf der Wahrnehmungsebene um das Phänomen einer Beziehung, die in einer essentielleren Funktion erfaßt werden muß.
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Das heißt: in ihrem Verhältnis zum Begehren erscheint die Realität nur als marginal. Schirm \
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Die Realität ist marginal
Dies ist eines der Charakteristika bei der Erschaffung von Bildern, das anscheinend noch so gut wie unbekannt ist. Dabei ist es ein fesselndes Spiel, in einem Bild die Komposition im eigentlichen Sinne wieder aufzufinden, die vom Maler angelegten Linien, die die Oberfläche aueilen, die Fluchtlinien, Kralinien, den Rahmen, der das Bild zum Bild macht – ich muß mich wundern, daß diese Dinge in einem, im übrigen bemerkenswerten, Buch als bloßes »Zimmermannswerk« bezeichnet werden. Das heißt doch, ihre wichtigste Wirkung aus dem Spiel lassen. Eine Art Ironie macht, daß auf dem Rücken eben dieses Buchs dann doch ein Bild von Rouault figuriert, das beispielhaer als andere ist und auf dem eine kreisförmige Zeichnung sich abhebt, die zeigt, worum es sich im Wesentlichen handelt. In der Tat geht es hier um etwas, dessen Abwesenheit auf einem Bild sich immer bemerkbar macht – anders als in der Wahrnehmung. Es ist das zentrale Feld, auf dem das trennende Vermögen des Auges im Sehen maximal zur Entfaltung kommt. Bei jedem Bild kann es nur abwesend sein und durch ein Loch ersetzt – letztlich ein Reflex der Pupille, hinter der der Blick ist. Folglich, und insofern das Bild in ein Verhältnis zum Begehren tritt, ist der Platz eines zentralen Schirms immer markiert. Dieser ist genau das, wodurch ich, vor dem Bild, als Subjekt aus der geometralen Ebene herausgenommen bin. Aus diesem Grunde gehört das Bild nicht ins Feld der Vorstellung. Seine Absicht und Wirkung liegen anderswo. 2 Auf dem Felde des Sehens gliedert sich alles zwischen zwei Polen, die in einem antinomischen Verhältnis zueinander stehn – auf Seiten der Dinge gibt es den Blick, das heißt, die Dinge blicken mich/gehen
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mich an, und ich wiederum sehe sie. In diesem Sinne ist das Wort des Evangeliums aufzufassen – Sie haben Augen und sehen nicht} Und sehen was nicht? – eben dies: daß die Dinge sie anblicken/angehn. Hier ist der Grund, weshalb ich die Malerei in unseren Untersuchungsbereich einließ durch das Türchen, das uns Roger Caillois auielt – niemandem ist entgangen, daß mir beim letzten Mal ein Lapsus unterlaufen ist, als ich ihn, gottweißwarum, Rene nannte -mit seiner Bemerkung, daß die Mimikry mit Sicherheit dieselbe Funktion hat wie beim Menschen die Malerei. Wir sehen uns hier keineswegs veranlaßt zu einer Psychoanalyse des Malers, was ja immer eine heikle Sache ist und beim Zuhörer eher ein Gefühl der Scham hervorru. Ebensowenig geht es um die Kritik der Malerei, und trotzdem hat jemand, der mir nahesteht und dessen Wertschätzung viel für mich bedeutet, mich wissen lassen, er sei geniert gewesen, als er mich da etwas unternehmen sah, was einer solchen Kritik sehr nahegekommen sei. Gewiß, hier können Gefahren lauern, und ich werde mich bemühen, keine Verwirrung entstehen zu lassen. Wenn man die Modifizierungen betrachtet, die die Malerei durch die Variationen der subjektivierenden Struktur im Laufe der Zeit durchgemacht hat, ist klar, daß diese unendliche Reihe von Absichten, Listen, Tricks nicht auf eine einzige Formel gebracht werden kann. Sie haben das letzte Mal sicher bemerkt, daß ich, nachdem ich gesagt hatte, daß es in der Malerei eine Blickzähmung gibt, das heißt, daß der Betrachter sich vor der Malerei immer veranlaßt sieht, seinen Blick zu senken, daß ich also da sofort korrigierend ergänzte, bestimmend für den Expressionismus sei gleichwohl ein direkter Appell an den Blick. Für die, die hier vielleicht Bedenken haben, möchte ich mit Namen verdeutlichen, was ich sagen will – ich denke an die Malerei eines Munch, eines James Ensor, eines Kubin oder auch an jene Malerei, die merkwürdigerweise geographisch zu bestimmen ist in der Malergruppe, die in unseren Tagen Paris als ihr Zentrum und ihr Lager gewählt hat. Wann wird diese Belagerung aufgehoben sein? – es ist dies, wenn ich dem Maler Andre Masson glauben soll, mit dem ich neulich gesprochen habe, tatsächlich eine sehr aktuelle Frage. Nun gut! Referenzen wie diese anzuführen, soll nicht bedeuten, daß wir in jenes unstete historische Spiel der Kritik eintreten, das bestimmen möchte, was die Funktion der Malerei ist in einem gegebenen Momente, bei einem bestimmten Autor oder in einer 1 Psalm 115,5.6 und 135,16.17.
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bestimmten Zeit. Ich für mein Teil möchte mich ins radikale Prinzip der Funktion dieser Schönen Kunst stellen. Zunächst möchte ich darauf verweisen, daß Maurice Merleau-Ponty von der Malerei ausgeht, wenn er jenes Verhältnis umkehrt, in dem seit jeher Auge und Geist im Denken gestanden haben. Daß die Funktion des Malers ganz und gar nicht in der Organisation des Vorstellungsfeldes besteht, in dem uns der Philosoph in unserem Subjektstatus festhielt, hat Merleau-Ponty auf bewundernswerte Weise dargetan, indem er mit Cezanne von jenen kleinen Blau, kleinen Braun, kleinen Weiß, wie er es nennt, ausging, jenen Strichelchen, wie sie vom Pinsel des Malers tropfen. Worum geht es hier? Was wird auf diese Weise bestimmt? Wie wird dadurch etwas bestimmt? Das nimmt bereits Gestalt und Körper an auf dem Feld, auf dem die Psychoanalyse in der Nachfolge Freuds voranrückte in einer Haltung, die bei Freud tollkühn anmutet und bei seinen Nachfolgern bald zur Unklugheit verkommen ist. Freud hat immer mit großem Respekt darauf verwiesen, daß er sich kein Urteil über die wirkliche Bedeutung künstlerischer Schöpfung anmaßen wolle. Sowohl im Blick auf die Maler als auch im Blick auf die Dichter gibt es eine Grenze, die sein Werturteil nicht überschreitet. Er vermag nicht zu sagen, er weiß nicht, worin für jedermann, für den Betrachter wie den Hörer, der Wert der künstlerischen Schöpfung besteht. Gleichwohl, beim Studium Leonardos sucht er, wir wollen es einmal so sagen, um den Weg abzukürzen, sucht er herauszufinden, welche Funktion einer Urphantasie in seinem Schaffen zugesprochen werden muß – seinem Verhältnis zu jenen zwei Müttern, die er auf dem Bild im Louvre oder auf der Londoner Skizze in einem Doppelkörper dargestellt sieht, der sich in Höhe der Taille aueilt und sich verzweigt in einem Durcheinander von Beinen an der Basis. Haben wir auf diesem Geleise weiterzusuchen? Oder ist das Prinzip der künstlerischen Schöpfung etwa darin zu sehen, daß diese – erinnern Sie sich, wie ich »Vorstellungsrepräsentanz« übersetze – etwas heraushöbe, was Stellvertreter der Vorstellung wäre. Liegt da etwa der Unterschied, auf den ich Sie hinführen möchte, der Unterschied von Bild/tableau und Vorstellung/repre-sentation? Sicher nicht – sieht man einmal ab von sehr seltenen Werken der Malerei, die manchmal zustande kommt, der Traummalerei, die äußerst selten ist und kaum in die Funktion der Malerei einzuordnen ist. Vielleicht ist hier auch die Grenze, an der wir die sogenannte psychopathologische Kunst anzusiedeln haben.
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Was der Maler scha, ist von sehr anderer Struktur. Just in dem Maße, in dem wir den Gesichtspunkt der Struktur wieder in die Libidorelation einführen, ist es vielleicht auch Zeit, fragen zu können – unsere neuen Algorithmen ermöglichen uns, die Antwort besser zu formulieren – was denn bei der Kunstschöpfung alles im Spiel ist. Für uns geht es um die Schöpfung, wie Freud sie auffaßt, das heißt die Schöpfung als Sublimation, und es geht um den Wert, den diese in einem sozialen Feld einnimmt. Auf ungefähre und zugleich präzise Art und nur den Erfolg des Werks im Auge formuliert Freud, daß, wenn eine Schöpfung aus dem Begehren, rein auf der Ebene des Malers, zu einem kommerziellen Wert wird – eine Gratifikation, die man trotzdem als sekundär bezeichnen kann – dies seinen Grund darin hat, daß ihre Wirkung etwas Nutzbringendes für die Gesellscha hat, für das, was an Gesellschalichem in ihren Bereich fällt. Bleiben wir fürs erste im Ungefähren und sagen, daß das Werk die Leute befriedet, die Leute erquickt, indem es ihnen zeigt, daß es andere Leute gibt, die von der Ausbeutung ihres Begehrens leben. Damit es aber zu einer solchen Befriedigung kommt, muß der zweite Umstand hinzutreten, daß ihr Begehren, ihr eigenes Begehren, zu schauen, hier einigermaßen sich befriedet sieht. Das hebt die Seelen, wie man sagt, das heißt, es ermutigt sie ihrerseits zur Entsagung. Sie können nicht übersehen, daß hier etwas von der Funktion anklingt, die ich Blickzähmung nannte. Wie ich letztesmal ausführte, tritt die Blickzähmung auch in Form der Augentäuschung auf. Damit gehe ich offensichtlich umgekehrt vor als die Tradition, denn diese unterscheidet die betreffende Funktion sehr genau von derjenigen der Malerei. Trotzdem zögerte ich nicht, das letzte Mal mit der Gegenüberstellung der Werke von Zeuxis und Parrhasios zu schließen und damit die Ambiguität zweier Ebenen hervorzuheben, nämlich der natürlichen Funktion der Täuschung und der Augentäuschung. Wenn die Vögel sich auf die von Zeuxis mit Pinselstrichen bearbeitete Fläche stürzten und so das Bild für Trauben ansahen, müssen wir bemerken, daß der Erfolg dieses Unternehmens durchaus nicht davon abhängt, daß die Trauben auf jene wundervolle Art wiedergegeben waren, wie wir sie etwa bei jenen Trauben beobachten können, die sich im Korb von Caravaggios Bacchus in den Uffizien befinden. Wären die Trauben von der Art gewesen, wäre es sogar sehr unwahrscheinlich, daß die Vögel sich hätten täuschen lassen, denn wie sollten Vögel in solch forcierter Malweise Trauben erkennen? Es
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liegt da in dem, was für die Vögel eine Traubenbeute darstellt, etwas, das reduzierter ist, das dem Zeichen nähersteht. Dagegen zeigt das Beispiel von Parrhasios, wenn man einen Menschen täuschen will, braucht man ihm nur das Bild eines Vorhangs vor Augen zu halten, das heißt das Bild von etwas, jenseits dessen er zu sehen /langt. An dieser Stelle zeigt uns der Apolog, aus welchem Grund Piaton „*en die Illusion der Malerei Einspruch erhebt. Es kommt nicht so S(ir darauf an, daß die Malerei ein Illusionsäquivalent des Objekts liefert, selbst wenn Piaton sich so ausdrückt, es kommt darauf an, daß die Augentäuschung der Malerei sich für etwas anderes ausgibt, als sie ist. Was verführt, was befriedigt uns an der Augentäuschung? Wann fesselt sie, wann entzückt sie uns. In dem Moment, in dem wir us durch eine einfache Verschiebung unseres Blicks bewußt wer-dfi, daß die Darstellung sich nicht mit dem Blick verschiebt und hier Augentäuschung ist. Denn sie erscheint in diesem Moment als etwas anderes, als sie sich ausgab, oder vielmehr, sie gibt sich jetzt als (gses andere. Das Bild rivalisiert nicht mit dem Schein, es rivalisiert mit dem, was Platon jenseits des Scheins uns als Idee vorstellt. Weil das Bild jener Schein ist, der behauptet, er sei das, was den Schein ojt, steht Piaton auf gegen die Malerei als eine Aktivität, die mit der senen rivalisiert. Dieses andere ist das klein a, um das ein Kampf geführt wird, dessen Seele die Augentäuschung ist. Wenn man konkret die Position des Malers in der Geschichte festhalten will, erkennt man, daß er die Quelle für etwas darstellt, das ins Reale zu gelangen vermag und das man jederzeit, wenn man so sagen kann, in Pacht nimmt. Man sagt, der Maler sei nicht mehr von adligen Mäzenen abhängig. Indessen hat sich die Situation, seitdem Bilder gehandelt werden, nicht wesentlich geändert. Der Kunsthändler ist ebenfalls Mäzen, und zwar vom selben Schlag wie der erste. Vor dem adligen Mäzen war es die Institution der Kirche, die mit dem Heiligenbild Auraggeber war. Immer gibt es um den Künstler eine Pächtergemeinscha, und immer geht es um das Objekt a, oder eher noch eingeschränkt – was Ihnen auf einer bestimmten Ebene als mythisch vorkommen mag – um ein a, mit dem, es ist dies ihr in letzter Instanz, der Maler als Schöpfer dialogisiert. Es ist aber viel aufschlußreicher, zu sehen, wie das a in seiner sozialen Brechung funktioniert. Die Wirkung von Ikonen – Christus als Triumphator über dem Haupte der Daphnis oder die bewundernswerten byzantinischen
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Mosaiken – besteht offenbar darin, uns unter ihrem Blick zu bannen. Wir könnten es hier genug sein lassen, das hieße aber wahrhaig nicht, erfassen, aus welchem Grund der Maler eine Ikone herstellt und wozu sie dient, wenn sie uns präsentiert wird. Es gibt Blick darin, sicher, dieser kommt aber von weiter her. Die Bedeutung einer Ikone ist darin zu sehen, daß auch der Gott, den sie darstellt, sie anblickt. Man glaubt von ihr, sie sei Gott wohlgefällig. Hier bewegt sich der Künstler auf einer Ebene des Opfers – indem er nämlich annimmt, es gebe Dinge, hier Bilder, die die Kra haben, das Begehren Gottes zu wecken. Im übrigen ist Gott Schöpfer, weil er bestimmte Bilder erscha – die Genesis lehrt uns dies mit dem Zelem Elohim. Und noch der Gedanke der Bilderstürmerei bewahrt davon dieses, daß es einen Gott gibt, der das nicht mag. Er ist der einzige. Ich will aber für heute nicht weiter vorangehen in diesem Bereich, der uns ins Innerste eines der wesentlichsten Elemente des Gebiets der Namen-des-Vaters führen könnte, das heißt, daß ein bestimmtes Bündnis geschlossen werden kann jenseits alles Bildhaen. Wo wir jetzt halten, ist das Bild immer noch Mittler zur Gottheit – wenn Jahwe den Juden verbietet, sich Götterbilder zu machen, so deshalb, weil sie den andern Göttern gefallen. In einem bestimmten Gebiet ist nicht Gott nicht anthropo-morph, der Mensch ist gehalten, es nicht zu sein. Aber lassen wir das. Gehen wir auf die nächste Stufe über, die ich die kommunale nennen will. Begeben wir uns in den großen Saal des Dogenpalastes, in dem alle Arten Schlachten von Lepanto und anderswo abgebildet sind. Die soziale Funktion, die sich bereits auf der religiösen Ebene abzeichnete, läßt sich hier gut verfolgen. Wer kommt an solche Orte? Diejenigen, die Retz lespeuples nennt. Was sieht dieses Volk in diesen gewaltigen Kompositionen? den Blick jener Leute, die, wenn es, das Volk, nicht da ist, in diesem Saale Rat halten. Hinter dem Bild ist ihr Blick da. Sie sehen, es ist, wie man sagen kann, immer voll Blick dahinter. Nichts Neues ist in dieser Beziehung dazugekommen in der Epoche, die Andre Malraux als moderne unterschieden hat, diejenige, in der vorherrschend wird, was er das Ungetüm ohnegleichen nennt, der Blick des Malers nämlich, der sich als einer aufzwingen möchte, der, er alleine, Blick ist. Es hat immer Blick dahinter gegeben. Jedoch -dies ist der heikelste Punkt – von wo kommt dieser Blick?
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3 Wir kommen jetzt auf Cezannes kleine Blau, kleine Weiß, kleine Braun zurück und auf das hübsche Beispiel, das Maurice Merleau-Ponty in einem Exkurs der Signes anführt, die eigenartige Wirkung eines Films in Zeitlupe, in dem Matisse beim Malen zu beobachten ist. Wichtig ist, daß Matisse selbst ganz bestürzt darüber war. Maurice Merleau-Ponty hebt das Paradox eines Gestus hervor, der uns, vergrößert mit Hilfe der zeitlichen Dehnung, die Vorstellung vermittelt, daß hier jeder Pinselstrich vollkommen überlegt sei. Er hält dies für eine Täuschung. Bei den rhythmisch vom Pinsel tropfenden kleinen Strichen des Malers geht es nicht um Wahl, sondern um etwas anderes. Dies andere sollten wir zu formulieren versuchen! Führt die Frage nicht ganz nahe an das, was ich den »Regen des Malerpinsels« genannt habe? Würde ein Vogel, der malte, nicht einfach seine Federn lassen, eine Schlange ihre Schuppen, würde ein Baum sich nicht einfach seiner Blätter entledigen, die zu Boden regneten? Was hier zusammenkommt, ist der erste Akt einer Niederlegung des Blicks. Ein souveräner Akt ohne Zweifel, denn er findet statt in einem sich Materialisierenden, das aus dieser Souveränität heraus alles ausschließt, nebensächlich und unwirksam werden läßt, was, von außen kommend, sich vor dieses Produkt hinstellen könnte. Vergessen wir nicht, daß im Pinselstrich des Malers eine Bewegung ausläu. Wir haben etwas vor uns, was dem Begriff der Regression eine neue und abweichende Bedeutung gibt – wir haben das motorische Element im Sinn einer Antwort vor uns, insofern es nämlich nach rückwärts seinen eigenen Stimulus erzeugt. Daher ist die eigentliche Zeitlichkeit, in der die Beziehung zum andern sich als distinkt situiert, hier, in der Dimension des Sehens, die eines terminalen Augenblicks. Was in der identifikatorischen Dialektik von Signifikant und Gesprochenem nach vorne projiziert wird als Hast, ist hier im Gegenteil ein Ende, was bei der Entstehung einer neuen Einsicht Augenblick des Sehens heißen könnte. Dieser terminale Moment macht es möglich, vom Akt die Geste zu unterscheiden. Durch die Geste gelangt der Pinselstrich auf die Leinwand. Daß die Geste auf dieser immer gegenwärtig ist, ist so sehr eine Wahrheit, daß es keinem Zweifel unterliegt, daß das Bild, wie der Begriff Impression oder Impressionismus schon sagt, für uns zur Geste eine weit größere Affinität hat als zu jedem anderen Typus von Bewegung. Aus diesem Grund muß uns jede auf einem Bild
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dargestellte Handlung als Schlachtszene, als theatralische Szene erscheinen, wie sie notwendig ist für die Geste. Und dieses Eingerücktsein in den Gestus ist es auch, weshalb man das Bild – figürlich oder nicht – nicht umkehren kann. Bringt man ein Diapositiv verkehrt, merken Sie sofort, wenn Ihnen die rechte Seite da gezeigt wird, wo die linke sein müßte. Die Richtung der Geste der Hand bezeichnet ausreichend diese Seitensymmetrie. Wir sehen also hier, daß der Blick in einer gewissen Absicht tätig ist, einer Begehrensabsicht ohne Zweifel, aber wie soll man dies sagen? Das Subjekt ist nicht voll da, es ist ferngesteuert. In Abänderung meiner Formel für das Begehren als unbewußtes – das Begehren des Menschen ist das Begehren des Andern – möchte ich sagen, daß es sich hier um eine Art Begehren nach dem Andern/desir ä l'Autre handelt, an dessen Ende das Zu-sehen-Geben/le donner-ä-voir steht. Wodurch befriedet dieses Zu-sehen-Geben überhaupt etwas -wenn nicht dadurch, daß es einen Appetit des Auges gibt bei einem, der schaut! Dieser Appetit des Auges, den es zu speisen gilt, macht den zauberischen Wert der Malerei aus. Wir suchen diesen auf einer viel niedrigeren Ebene, als man annehmen könnte: in dem nämlich, was es mit der wahren Funktion des Augorgans auf sich hat, das Auge voll Gefräßigkeit, das der böse Blick ist. Es ist, betrachtet man die Universalität der Funktion des bösen Blicks, überraschend, daß es nirgends auch nur die Spur eines guten Blicks, eines Auges, das Segen bringt, gibt. Was heißt das? – wohl doch, daß das Auge die tödliche Funktion in sich birgt – erlauben Sie mir, daß ich auf mehreren Registern spiele – als solches mit einer Separationsgewalt ausgestattet zu sein. Dieses Trennende geht jedoch sehr viel weiter als das distinkte Sehen. Die ihm zugesprochenen Kräe: daß es die Milch eines Tiers versiegen lassen kann, wenn auf dieses der böse Blick fällt – ein Glaube, der in unserer Zeit, in den zivilisiertesten Ländern, so verbreitet ist wie zu jeder andern – daß es Krankheit mit sich bringt, Unglück, wo könnten wir uns diese Kra besser vorstellen als in der invidia} Invidia kommt von videre. Die beispielhaeste invidia, für uns Analytiker, ist die, die ich schon seit langem bei Augustinus aufgezeigt und der ich ihre volle Bestimmung gegeben habe, die des kleinen Kindes nämlich, das seinen an der Brust der Mutter hängenden Bruder anblickt, ihn anblickt amare conspectu, mit bitterbösem Blick, der ihn dekomponiert und auf es selbst wie Gi wirkt. Um zu verstehen, was die invidia in ihrer Funktion als Blick ist, darf man sie nicht mit der Eifersucht verwechseln. Was das kleine
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Kind oder wer immer beneidet/envie, ist im eigentlichen Sinn durchaus nicht identisch mit dem, wonach es Neid verspüren könnteAwoz'r envie, wie man sich uneigentlich ausdrückt. Wer könnte sagen, daß das Kind, das sein Brüderchen betrachtet, noch das Verlangen hätte, an der Brust zu liegen. Jeder weiß, daß der Neid für gewöhnlich hervorgerufen wird durch den Besitz von Gütern, die dem, der neidet, von keinerlei Nutzen wären und deren wahre Natur dieser nicht einmal ahnt. So ist der wahre Neid beschaffen. Vor was läßt er das Subjekt erbleichen? Vor dem Bild einer in sich geschlossenen Erfüllung und davor, daß das kleine a, das abgetrennte a, an welches es sich hängt, für ein anderes einen Besitz darstellen kann, an dem dieses sich befriedigt, die Befriedigung''1'. Auf dieses Register des Auges, das durch den Blick der Verzweiflung anheimgegeben ist, müssen wir zusteuern, wenn wir in den befriedenden, zivilisierenden und verzaubernden Bezirk der Funktion des Bildes eintreten wollen. Die Grundbeziehung des a auf das Begehren ist für mich exemplarisch für das, was ich jetzt im Hinblick auf die Übertragung einführen werde. Antworten M. TORT: Könnten Sie die Beziehung genauerfassen, die Sie behauptet haben zwischen Geste und Augenblick des Sehens/instant de voir. j. LACAN: Was ist eine Geste? Eine Drohgebärde, beipielsweise? Es handelt sich nicht um einen Hieb, der unterbrochen würde. Es ist geradezu etwas, dessen Wesen es ist, einzuhalten, suspendiert zu "werden. Hinterher werde ich ihn möglicherweise zu Ende führen, aber als Drohgebärde erfolgt seine Niederschri nach rückwärts. Diese ganz besondere Zeitlichkeit, die ich terminologisch als Stokken/arret definiert habe und die hinter sich ihre Bedeutung erscha, ist der eigentliche Grund für die Unterscheidung von Gestus und Akt. Bemerkenswert – wenn Sie die letzte Pekingoper gesehen haben ist, wie da gekämp wird. Es wird da gekämp, wie zu allen Zeiten gekämp worden ist, mit Gesten viel eher als mit Hieben. Gewiß,
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bezeichnend für das Schauspiel als solches ist die absolute Beherrschung der Gesten. In solchen Balletten schlägt man sich nie wirklich, man bewegt sich in verschiedenen Räumen, in denen eine Folge von Gesten sich ausbreiten, was im traditionellen Kampf gleichwohl den Wert von Waffen hat, wobei diese Gesten als Instrumente der Einschüchterung letztlich auch ihre Wirkung tun. Jeder kennt die verzerrten, schauerlichen Masken, mit denen die Primitiven in den Kampf ziehen. Man glaube nicht, das sei Vergangenheit! Bei der amerikanischen Marine übt man, als Antwort auf die Japaner, soviel Grimassen wie diese. Unsere jüngsten Waffen könnten wir ebenfalls als Gesten beschreiben. Der Himmel wirke, daß es dabei bleibt. Was in der Malerei zutage tritt, wird in seiner Authentizität bei uns Menschenwesen durch den Umstand eingeschränkt, daß wir unsere Farben da suchen müssen, so wir sie haben: in der Scheiße. Wenn ich von den Vögeln gesprochen habe, die sich ihrer Federn entledigen können, so deshalb, weil wir eben keine solchen Federn haben. Der Schöpfer wird allemal nur an der Schöpfung eines Schmutzhäufchens, einer Reihe aneinandergesetzter schmutziger Häufchen teilhaben. Diese Dimension versetzt uns in die Sehschöpfung – die Geste als Bewegung, die man sehen läßt. Sind Sie mit dieser Erklärung zufrieden? Ist das die Frage, die Sie mir gestellt haben? M. TORT: Nein, ich hätte wollen, daß Sie Genaueres darüber sagen, was Sie über jene Zeitlichkeit ausgeführt haben, auf die Sie bereits einmal gekommen sind, und die sich, wie mir scheint, notwendig auf das bezieht, was Sie an anderem Ort über die logische Zeit behauptet haben. j. LACAN: Hören Sie, ich habe die Nahtstelle, die Pseudo-Identifika-tion hervorgehoben, die da vorhanden ist zwischen dem, was ich den terminalen Stockensmoment bei der Geste genannt habe, und dem, was ich in einer andern Dialektik, welche ich die Dialektik der identifikatorischen Hast genannt habe, als ersten Moment setze, nämlich den Augenblick des Sehens. Beides deckt sich, ist aber nicht identisch, denn das eine ist initial, das andere terminal. Sprechen wir über etwas anderes, wozu ich, mangels Zeit, die nötigen Hinweise nicht geben konnte. Jenen Moment des Blicks, den terminalen Moment, der eine Gebärde abschließt, bringe ich in direkte Verbindung zu meinen Aussagen über den bösen Blick. Der Blick an sich terminiert nicht nur die
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Bewegung, er läßt sie stocken. Nehmen Sie die Tänze, von denen ich sprach, sie sind immer interpungiert durch eine Reihe von Stockungen, wobei die Akteure in eine erstarrte Haltung fallen. Was bedeutet dieses Einrasten, dieses Stocken der Bewegung? Es geht hier um nichts anderes als um jenes faszinierende Ereignis, in dem der »böse Blick« um den Blick gebracht werden soll/deposseder le mauvais ceil du regard, damit er beschworen werden kann. Der böse Blick ist das jascinum, das, was durch seine Wirkung die Bewegung stocken läßt und buchstäblich das Leben ertötet. Im Augenblick, wo das Subjekt einhält und seine Gebärde unterbricht, wird es mortifiziert. Die Anti-Lebens-, die Anti-Bewegungsfunktion dieses terminalen Punktes ist das fascinum, und es geht hier durchaus um eine der Dimensionen, in denen der Blick seine Wirkgewalt direkt entfaltet. Der Augenblick des Sehens kann hier nur als Nahtstelle aureten, als Verbindung zwischen de Imaginären und dem Symbolischen, er wird wiederaufgenommen in einer Dialektik, in jener Art zeitlichem Progreß mit dem Namen Hast, Elan, Vorwärtsbewegung, die sich über dem fascinum schließt. Was ich hervorheben möchte, ist die völlige Verschiedenheit des Registers des Sehens in bezug auf das invozierende, vokatorische, vokationale Feld. Auf dem Felde des Sehens ist das Subjekt, im Gegensatz zu diesem andern Feld, nicht wesentlich indeterminiert. Das Subjekt ist im eigentlichen Sinn determiniert durch die Separation, die der Schnitt des a determiniert, nämlich das, was der Blick an Faszinierendem einführt. Sind Sie nun eher befriedigt? Völlig? -Nahezu. F. WÄHL: Sie haben eine Erscheinung beiseite gelassen, die man wie den bösen Blick in der mittelmeerischen Zivilisation ansiedeln kann: den bannenden Blick/l'ceil prophylactique. Er nimmt eine Schutzfunktion wahr, die eine Strecke weit wirksam ist und die nicht mit einem Stocken, sondern mit der Bewegung verbunden ist. j. LACAN: Was es da an Prophylaktischem gibt, ist, wenn man so sagen kann, allopathisch, sei dies nun ein Hörn, aus Koralle oder nicht, oder tausenderlei anderes, dessen Aussehen nichts zu wünschen übrigläßt, wie die turpicula res, die von Varro beschrieben wird, glaube ich – es ist ganz einfach ein Phallus. Weil jedes menschliche Begehren auf der Kastration basiert, übernimmt das Auge eine bösartige, aggressive Funktion, nicht bloß eine täuschende wie in der Natur. Unter diesen Amuletten gibt es Formen, die ein Gegen-Auge
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aufweisen – das ist homöopathisch. Auf diesem Umweg können wir die angesprochene bannende Punktion einführen. Ich habe mir zum Beispiel gesagt, in der Bibel müßte es Stellen geben, wo das Auge die Baraka gewähre. An einigen Stellen schwankte ich -entschieden nein. Das Auge kann abwehrende Wirkung haben, aber jedenfalls ist es nicht heilbringend, es bringt Unheil. In der Bibel und sogar im Neuen Testament ist der gute Blick nicht vorhanden, böse Blicke aber allerorten. J.-A. MILLER: Seit einigen Lektionen sprechen Sie davon, daß das Subjekt nicht in der Dimension der Quantität oder des Maßes, nicht im cartesischen Raum lokalisierbar sei. Andererseits haben Sie gesagt, daß die Forschung Merleau-Pontys mit der Ihren konvergieren würde, Sie haben sogar behauptet, er habe von Merkmalen des Unbewußten gesprochen... j. LACAN: Das habe ich nicht gesagt. Ich habe die Behauptung aufgestellt, daß die in seinen Notizen vorhandenen Spuren von unbewußtem Senf ihn möglicherweise so weit geführt hätten, auf, sagen wir, mein Feld überzuwechseln. Ich bin mir aber dessen nicht sicher. J.-A. MILLER: Ich fahre fort. Will Merleau-Ponty den cartesischen Raum unterlaufen, um den transzendentalen Raum der Beziehung auf den Andern zu erschließen? Nein, es geschieht dies, damit er an die Dimension de sogenannten Intersubjektivität herankommt oder an die Dimension der sogenannten präobjektalen, wilden, ersten Welt. Das bringt mich dazu, Sie zu fragen, ob Das Sichtbare und das Unsichtbare Ihnen eine Veranlassung gibt, irgend etwas an dem Artikel zu ändern, den Sie über Merleau-Ponty in einer Nummer der Temps Modernes veröffentlicht haben?1 J. LACAN: Absolut nichts. 11. März 1964 1 Vgl. Jacques Lacan: Maurice Merleau-Ponty. In: Les Temps Modernes, 17e ann. (1961) No 184185,245-254.
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Bildkunst und Wortkunst Wir befinden uns in der Mitte zentraler philosophischer Fragen, wenn wir uns über Wort und Bild bzw. über die Kunst des Wortes und des Bildes verständigen wollen. Es ist klar, daß ich hiermit nicht alles meine, was Bild ist – und deswegen habe ich den Ausdruck Bildkunst gewählt, damit man von mir nicht, in diesem I reproduktionssüchtigen Zeitalter, in dem wir leben, das Ganze der I mechanischen Produktionen zu finden erwartet, die gewiß auch ihre j künstlerischen Seiten haben, wie z. B. Photographie oder Film. Der t Titel »Bildkunst und Wortkunst« zeigt aber auch an, daß beide, Bild und Wort in ihrem gemeinsamen Kunstcharakter verwurzelt sind. Wir verfolgen deshalb gerade nicht die Absicht, Bildkunst und Wort-! kunst auf ihre Unterschiede hin zu untersuchen, sondern darauin, wie sie an einer Wirklichkeit teilhaben, die wir mit dem jungen Begriff »die Kunst« zu kennzeichnen gewohnt sind. Sie fordert zu \ einem Tun heraus, das wir »Lesen« nennen wollen. Es war für mich klar, daß es darauf ankommt, das Phänomen, das mich so viel beschäigt hat – und das ist die Sprachlichkeit – von den Anstößen her fruchtbar zu machen, die ich vor allem durch die Abwehr des Historismus erhalten hatte, der die herrschende Tendenz des beginnenden 20. Jahrhunderts gewesen ist (Dilthey, Troeltsch und alle, die ihnen folgten). Dann natürlich auch von der Auseinandersetzung her, welche die phänomenologische Schule mit dem historischen Relativismus geführt hat, in Gestalt der Husserlschen Wendung zur »Lebenswelt«, vorbereitet durch die Zeitanalyse von Husserl und dann von Heidegger, der mich in meinen eigenen Fragen bestätigte und auf den Weg brachte. In der Philosophie heißt dies nicht, daß man das, was man gelernt hat, einfach wiederholen oder anwenden kann. Es geht darum, Anstöße zu empfangen und Richtungshinweisen zu folgen. Heidegger hatte die Gewohnheit, als junger Dozent immer von der »formalen Anzeige« zu sprechen. Das war ein offenbar von Kierkegaard entlehnter Begriff, der sagen sollte, hier wird ohne Autorität gesprochen, hier wird nur gezeigt – und
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man muß selber sehen. Dies kann man ähnlich auch sagen, wenn man sich auf die kryptischen Epideigmata im Stile von Wittgenstein einläßt. Eine Kunst, Bilder zu gebrauchen, ist das gewiß, und die Kunst des Wortes und der Rede ist z. B. auch die Kunst, ein verständliches Deutsch zu schreiben oder zu sprechen. Dennoch, die Kunst der Rhetorik meine ich nicht, vielmehr »die Kunst« im Sinne der Literatur, der Dichtung und ihrer verschiedenen Abwandlungen. Auch die Musik und die Architektur lassen sich am Ende nicht ganz davon trennen, wenn man philosophische Fragen an die Kunst richtet. Die philosophische Frage nach Bild und Wort meint also mehr als das klassische ema, das mindestens bildungsmäßig allen bekannt ist: Lessings Laokoon, seine Auseinandersetzung mit den Grenzen der bildenden Kunst und der literarischen, sprachlichen Kunstwirkung. Das gilt ebenso für die lange nicht genügend behandelte Kritik Herders an Lessings Buch. Das sind Dinge, die mir bereits in meiner Jugend das Interesse an diesem ema geweckt haben. Dahinter verbirgt sich jedoch ein zentrales Problem, und es ist uns, wie mir scheint, durch die neuere Entwicklung unseres Jahrhunderts gewissermaßen zudiktiert worden. Wenn man überhaupt noch glaubt, durch philosophische Fragestellungen Dinge klarer zu bekommen und vorurteilsloser zu sehen, so ist sicher einer der entscheidenden Punkte, daß wir unter dem, was ist, nicht mehr bereit sind, nur eine eleatische Seinskugel zu denken, in der jede Veränderung eine Abweichung von der Wahrheit ist. Wir sehen, wie Geschichtlichkeit in das Sein selber eingedrungen ist. Darauin die Seinsfrage neu zu stellen, war in gewissem Sinne das von der Zeit gestellte ema von »Sein und Zeit«. Die Frage, die uns alle beschäigt, – ob man nun Kunst- oder Literaturhistoriker ist, oder ein Liebhaber der Künste überhaupt, oder ob man irgendeine andere historische oder philologische Disziplin betreibt – ist die Besonderheit der Kunst. Wir wissen nicht so genau, was das eigentlich alles einschließt. Die Kunst hat jedenfalls die Kra, eine Instanz der Geschichtsüberlegenheit zu sein. Sie ist etwas, das Unmittelbarkeit und Gegenwart für sich in Anspruch nimmt und diesen Anspruch einzulösen vermag. Sie nimmt einen ein, sie reicht über die Zeiten und über die Völker hinweg, wie über die individuellen Künstler und ihre Biographie. Überall finden wir diese rätselhae Präsenz, die wie ein unumstößliches Zeugnis ist: das Kunstwerk der bildenden oder der sprachlichen Kunst. Was ist es, das einem dabei so nah kommt, daß man sagt: So ist es? Es scheint, als ob wir nicht darauf verzichten können, in der Kunst einen
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Maßstab der Wahrheit zu sehen. So habe ich in meinen eigenen Untersuchungen zur Hermeneutik mit der Erfahrung der Kunst begonnen, um die Weite des Problems zu sichern, das durch die Verwissenschalichung unserer Kultur und ihrer philosophischen Hintergründe verengt war. Zwar: die wissenschaliche Kultur als solche kennt keine Enge, aber ihre Interpretation durch die Erkenntnistheorie, z. B. im neukantianischen Idealismus des 19. Jahrhunderts, hat uns genötigt, diese Frage neu zu stellen: Was ist es eigentlich mit diesem »so wahr, so seiend«? Ich zitiere hier ein bekanntes Goethewort (beim Anblick von Menschen an der Küste Venedigs). Gleichzeitigkeit und Zeitüberlegenheit liegt in dem Wort. Gleichzeitigkeit, das ist etwas völlig Rätselhaes. Wie kann über den Wandel der Zeiten und Räume hinweg das bildnerische und dichterische Werk Gegenwart und Wahrheit sein wollen? Wir haben es mit einem ema zu tun, das auch in der Philosophie zentral ist. Ist sie nicht auch über den Zeiten? Wie weit reicht dieser alte Wahrheitsanspruch der Philosophie, zwischen Sein und Anderssein, zwischen Sein und Anderswerden, eine Brücke zu schlagen, wenn wir auf die Kunst des Bildes und die Kunst des Wortes blicken? Versuchen wir, vom Wortgebrauch aus, an dieses ema heranzukommen. »Die Kunst« – das ist bekanntlich ein Ausdruck, der sich in dieser Form überhaupt erst am Ende der großen metaphysischen Tradition des Okzidents eingebürgert hat. Früher mußte man immer dazu sagen: »die schönen Künste«, um klar zu machen, was man eigentlich meinte, oder mindestens »die freien Künste«. Auch die mechanischen Künste hießen ebenso »Kunst« und der Ausdruck »Kunsthandwerk« bezeugt noch heute die enge Nachbarscha zum Kunstschaffen, etwa bei den großen Bildhauern, die nur zu ihrem Schaden das Handwerk nicht mehr lernen, wie man ehedem das Handwerk des Steinmetzberufes zu erlernen hatte. Das erste, was einem sofort zur Orientierung einfällt, ist: die Kunst und das Werk. Aber wo sagen oder sagten wir ohne falsches Pathos: »das Werk«? Sicherlich nicht in Bezug aufs Handwerk. Da reden wir vom »Werkstück«. Sofort ist klar, daß es ein anderes Machen, ein anderes Herstellen, ein anderes Darstellen ist, was durch das Handwerk geleistet wird. Das Werkstück, das man zustande bringt, und das Können, das dem entspricht, ist dadurch ausgezeichnet, daß man es immer wieder kann. Man sieht sofort, wie nahe wir an den Rätseln der Kunst sind. Das Werk ist etwas, das einmal gelungen ist, und alles Können und alle Meisterscha des bildenden Künstlers oder Sprachkünstlers garantieren nicht, daß es noch einmal und genauso gelingt.
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93 Wird es am Ende wieder ein Kunstwerk oder nur ein solides Werkstück sein? Ich darf einige semantische Illustrationen geben. Im Griechischen ist der Ausdruck für das Machen: poiesis und Sie wissen sicherlich alle, daß dieser Begriff poiesis auch Poesie heißt. Soweit wir in der literarischen Überlieferung zurückblicken können, ist poiesis beides: das Machen des Handwerkers und das des großen Bildhauers – und dann eben auch noch dieses exzellente Können, aus Nichts, aus dem bloßen flatus vocis, etwas zu machen. Was so gelingt, heißt ausdrücklich und vorzüglich »Poesie«. Wir sehen, welche weiten Dimensionen geöffnet sind, bis wir schließlich am Ende einer großen metaphysischen Tradition, etwa mit Georg Büchners Lucile »die Kunst« sagen. Was ist das eigentlich für ein neues Zauberwort? Man mag sich erinnern, daß das Kunstwerk im Unterschied zum Werkstück keinen Gebrauchswert hat und damit auch nicht verbraucht wird. Es wird nicht wie das Werkstück für den Gebrauch und damit auch den Verbrauch angeboten. Es hat diese besondere Auszeichnung, über die nachzudenken lohnt, was der Umgang damit eigentlich ist. Man darf sich jetzt nicht beirren lassen. Zunächst scheint es keine einfachere Beschreibung zu geben als die: frei zu sein vom Gebrauchsinteresse – das ist die Auszeichnung des Kunstwerks. Wenn es vor allem ein Handelsgegenstand wird und der Kunsthandel das Kunstschaffen dominiert, dann steht es nicht gut mit der Kunst. Jedenfalls kann man vor allem in diesem Sinne von >Freiheit der Kunst< reden. Natürlich meint sie nicht mehr die artes liberales der antik-mittelalterlichen Tradition. Der Name der freien Künste kommt zunächst daher, daß er die Lerngegenstände der Jugenderziehung bezeichnet, die nur Freien und nicht Sklaven zuteil wurden. Im Laufe des Altertums hat sich das schnell geändert. Da haben die Angehörigen der führenden Klassen – etwa in Rom – kaum je selber geschrieben und immer nur diktiert. Es gab natürlich gebildete Sklaven und ihnen nachfolgende Könner. Diesen sozialen Ton hören wir zweifellos kaum noch in den »freien Künsten«. Man kann es eigentlich nur eben wissen, daß dies die ursprüngliche Bedeutung der artes liberales war. Wohl aber hören wir heute darin vor allem die Freiheit vom Nutzen, von Nutznießung und Gebrauch des von der Kunst Geschaffenen. Der Ausdruck, der dafür auch verwendet wurde, war derjenige der »schönen Künste«. Für seine eigentümliche Bedeutung sollten wir unser Ohr schulen. >Schön< hat keinen blassen klassizistischen Sinn, auch nicht j enen polemischen, den wir meinen, wenn heute von den »nicht mehr
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schönen Künsten« die Rede ist. Der Begriff des Schönen, um den es geht, hat eine ganz andere Bedeutungsdimension (wie die griechische Parallele des kalon). Das Schöne ist dasjenige, was sich öffentlich sehen lassen kann. Das Häßliche, das aischron, umfaßt all jene Momente des menschlichen, auch des vegetativen Lebens, die man eher verstecken möchte, in denen man die Verborgenheit sucht. Was so ausgezeichnet ist, daß man es im Öffentlichen förmlich zur Schau stellt und anerkennt, darf man dagegen das Schöne nennen. Insofern ist es gewiß auch der freien Erziehung zugeordnet, wie das der Idealbegriff des »kalokagathos« bestätigt. Die »schöne Seele« wiederum ist ein uns aus dem 18. Jahrhundert bekannter Ausdruck, und bezeichnet im Unterschied dazu ein pietistisches Unschuldsideal. Auch in unserem heutigen Sprachgebrauch ist der Begriff des Schönen noch lange nicht auf jene Bedeutung reduziert, welche die Polemiker moderner Kunstkritik im Auge haben. »Das ist schön von dir«, »das ist nicht schön von dir« sind landläufige Redensarten, die voraussetzen, daß ein jeder eigentlich zustimmen will und kann. Verallgemeinerung in die Öffentlichkeit hinein scheint darin zu liegen, was dem Schönen eine Auszeichnung verleiht, der wir schon bei Homer begegnen, wenn er es mit der Wendung »ein Wunderwerk anzustaunen« (thauma idestai) anspricht. Es ist ein staunendes Betrachten. Man kann nicht wegsehen, wird angezogen, man verweilt davor, oder- mit Rilke zu reden – man steht »staunender«. Jeder, der staunt, steht >staunender<. Es steigert sich im Sehen. Das genaue Gegenteil dessen, was wir in moderner Informatik prämieren, wo wir nur zur schnellsten Kenntnis nehmen, was seinen eindeutigen Verwendungszweck hat. Man bleibt davor nicht stehen. Ein besonderer Zeitmodus kündigt sich an. Was mit der Kunst eigentümlich verbunden ist, meint nicht den Augenblick des Erlebnisses (worin man in der Geschichte der Ästhetik vorübergehend das Zeitlose in der Zeit zu finden geglaubt hat), sondern viel eher, die Weile und das Verweilen – eine höchst rätselhae Wirkung aller Kunst. Sie ist der Poesie und der Bildnerei auf sehr verschiedene Weise eigen. Es ist die Verweisungsfunktion des Bildes, von sich auf etwas anderes wegzuweisen, und das so völlig, daß man zugleich auf es zurückgeholt wird. Man verweilt vor dem Bilde, nicht anderswo, auch nicht etwa damit beschäigt, das Abgebildete zu suchen, das der Maler zum Modell genommen hat, oder es in der landschalichen Umwelt des Künstlers aufzuspüren. Sicherlich liegen auch darin berechtigte historische Forschungsaufgaben. Gleichwohl, das Bild ru einen zurück, zum Staunen und zum Verweilen, oder, um es gleich anzukündigen: zum
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Lesen. Alle Kunst, nicht nur die des Wortes, sondern auch die Bildnerei (transitorische wie nichttransitorische Künste), all das ist seinem scheinbaren statuarischen Fixiertsein zum Trotz zum Lesen bestimmt. Was hat sich eigentlich ereignet, als »die Kunst« zu einer eigenen »autonomen« Wirklichkeitserfahrung wurde? Wie kam es, daß man ab etwa 1800 nicht mehr »die schönen Künste« sagt, wenn man Kunst meint? Das hat eine lange Vorgeschichte. Dahinter steckt der ganze Verlauf unserer abendländischen Geschichte, den wir die Aulärung nennen, und insbesondere die Entstehung der modernen Erfahrungswissenschaen, die der Aulärung zugrundeliegt. Durch ihre Mittel der mathematischen Konstruktion, Messung und Berechnung hat die Wissenscha einen neuen Zugang zur Erkenntnis der Natur geschaffen. Natur wurde, mit Kant zu sprechen, »Materie unter Gesetzen«. Damit wurde ein Begriff von Wissenscha und von Methodik geprägt, der zur Folge hatte, daß am Ende Kants »Kritik der reinen Vernun« nur noch als Erkenntnistheorie gelesen wurde und daß die praktische Vernun ganz verschattet blieb. So wurde auch der Kosmologie ihr philosophischer Anspruch entzogen. Sie wurde selbst ein Teil der Erfahrungswissenschaen. Wir kennen und wissen es alle, daß die Naturwissenschaen, durch ihre besondere Disziplin und die Abstraktionskra ihrer Methodik gebunden, jeweils nur einen bestimmten Wirklichkeitsbereich zum Gegenstand ihrer Forschung zu machen vermögen. Im Begriff der Forschung liegt notwendig, in unbekanntes Gebiet neu vorzudringen, und das bedeutet den Verzicht, ein Wissen, um das Ganze auch nur in Anspruch zu nehmen. Soweit bleibt Kants Metaphysikkritik unwiderlegt. Es kommt zwar immer wieder ein geistvoller Visionär, wie etwa Teilhard de Chardin oder andere, die neue kosmologische Visionen hervorzaubern. Es läßt sich aber nicht übersehen, daß solche spekulativen Ausdeutungen auf einer naturwissenschalichen Gesetzeserkenntnis beruhen, die ihrerseits solche spekulativen Entwürfe nicht anerkennen kann. Für Kant war es klar, daß die aprioristische Rechtfertigung der modernen Wissenscha, wie sie die »Kritik der reinen Vernun« geleistet hat, zugleich die Entzauberung von »metaphysischen« Disziplinen bedeutete, wie es die Psychologia rationalis und Cosmolo-gia rationalis waren. Sie bleiben nicht innerhalb der Grenzen wirklicher Erfahrung. Wohl gibt es ein anderes, wahres Jenseits, und das ist das Vernunfaktum der Freiheit, das alle Erfahrung übersteigt. Dazu gehört offenbar auch das, was Kant als die Leistung der
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ästhetischen Urteilskra verteidigt und von wo aus er über das Erhabene den Überschritt zur Kunst legitimiert. Die Begründung der philosophischen Ästhetik leistete Kant dann in der dritten seiner Kritiken, der Kritik der Urteilskra. In ihr steht, für den heutigen Leser noch immer überraschend, neben der ästhetischen Urteilskra, die das Schöne in Natur und Kunst im Auge hat, die teleologische Urteilskra, in der die organische Struktur des Lebendigen zum ema wird. Für Kant war es klar, daß das organische Leben sich nicht auf der Grundlage der Kategorientafel der reinen Vernun und damit der Newtonschen Wissenscha rechtfertigen läßt. Erst Hans Driesch hat seinerzeit den Versuch einer Umbildung dieser Kategorientafel unternommen, um der Biologie Platz zu schaffen. Er kam damals aber in Wahrheit nicht über Kants Kritik der teleologischen Urteilskra hinaus. Heute könnte man wohl nicht mehr darauf bestehen, daß es keinen Newton des Grashalms je geben könne, und man wird anerkennen, daß sich insofern die Unterscheidung von organisch und mechanisch als hinfällig erweist. Aber ändert sich damit wirklich, daß es nicht mehr die teleologische Urteilskra ist, die am Werke ist, wenn man etwas Lebendiges sich verhalten sieht? Oder auch, wenn man den Primat der Gestaltwahrnehmung gegenüber aller Wahrnehmungsphysiologie verteidigt? Bleibt nicht die Erklärung durch die Wissenscha etwas grundsätzlich anderes, als das Verstehen, das etwas Fremdes, aber in sich Einleuchtendes, zur Erfahrung bringt? Wir nähern uns damit wieder unserem ema. Irgendwie'liegt es nahe, einem Kunstwerk nachzusagen, daß ihm eine organische Einheit innewohne, eine Gestalteinheit: morphe, Morphologie ist der sprachliche Hintergrund. Was für eine Art intelligibler Glückserfahrung liegt darin, daß sich die Struktur des Lebendigen mit der Schönheit und Erhabenheit von Natur und Kunst vereinigt? – Das ist eine Frage, zu der wir abschließend zurückkehren. Was bedeutet das Heraustreten der Kunst als »die Kunst« aus den Lebenszusammenhängen, denen sie entstammt und in die sie doch immer wieder zurückkehrt? Was der eigentliche Punkt ist, wird deutlicher, wenn wir uns für einen Augenblick in die griechische Vorgeschichte einlassen. Die abendländische Wissenscha beginnt als Mathematik. Der griechische Ausdruck dafür heißt: mathemata. Er bezeichnet das eigentliche Urbild von Wissen, weil man das lernen kann, ohne daß man dazu Erfahrung braucht. Niemand zählt nach, ob zwei und zwei wirklich vier ist. Dieser Wissensbegriff entstammt keiner abstrakten Ver-
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97 nunidee, sondern hat pythagoreische Hintergründe. Die Pythago-reer haben die Zahlenharmonien entdeckt und die haben sich innerhalb der Musik und innerhalb der Astronomie bewährt, und sie haben schließlich für alle ihre geometrischen Sätze Beweise gesucht und gefunden. Das ist uns allen aus unserer euklidischen Schulmathematik bekannt. Die Grundkategorien, die dabei im Spiele sind, schließen am Ende die Kunst mit ein. Es sind die Kategorien des Bestimmten und des Unbestimmten usf. Die große Entdeckung der Pythagoreer war die der himmlischen Genauigkeiten in den Tonverhältnissen wie im Sternenlauf. Mit ihr hatte sich Plato auseinanderzusetzen, als er den Erkenntniswillen des Menschen im Ausgang von der Mathematik auf das Ganze der Welt auszudehnen unternahm und seine Logik und Dialektik entwickelte. Er mußte sich nur darüber klar werden, was das Unbegrenzte (apeiron) und das Begrenzende (peras) eigentlich sind, von dem das Denken sprach. Das eine kommt offenbar ohne das andere nicht aus. Diese Einsicht verdanken wir Plato, als er zeigte, daß im Begrenzten immer beides ist. Nur im Umkreis des Unbegrenzten ist ja die Genauigkeit der Begrenztheit überhaupt möglich. In diesem Sinne kann man also wirklich sagen, es handle sich hier um Grundkategorien dessen, was wir inzwischen >Seinsordnung< nennen würden. Die Griechen nannten sie Kosmos und, vor allem, Harmonia – ein Wort, das zunächst aus der Musik gewonnen war. In ihr erfährt man dieses Wunder des Zusammenstimmens und das Verstimmtsein bis in die genannten Nuancen hinein. Plato sah das Problem des Wunders der Zahl und Aristoteles baute seine ganze Physik auf diesen Gedanken auf. Er zeigte, daß das Konkrete (das, was wir »wirklich« nennen und Aristoteles als on bezeichnete) ständig in Veränderung ist und doch eine Seinsordnung darstellt. So drückt sich Plato aus, wenn er von der Genesis, dem »Werden zum Sein« spricht. Zwar, was hier auf Erden unter dem Mond wirklich ist, ist nicht wie der Sternenlauf, sondern nähert sich immer nur mehr oder weniger dieser Harmonie des Seins an. Das Beispiel der Gesundheit kann es zeigen, wie alles, auch wenn es in seinem Bestand gefährdet und als Ordnung von Unordnung und vom Chaos umringt ist, doch dem Wunderreich des Genauen und der Welt der Zahlen entspricht. Der entscheidende Begriff, an dem wir nun den Unterschied gegenüber der modernen Wissenscha formulieren wollen, ist der des Maßes. Ich erinnere an das berühmte Wort von Max Planck, der gesagt hat, »die einzigen Tatsachen, die es gibt, sind die meßbaren«. Was aber ist Maß? Ist es wirklich nur dies, daß wir mit einem, durch
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Konvention vereinbarten Maß zwecks quantifizierender Fixierung an alle Dinge herantreten? Ob es sich nun um den berühmten Pariser Urmeter handelt, nach dem wir alle unsere Längenmaße normieren, oder ob es sich um Meßkonventionen anderer Bereiche handelt -alles sind quantifizierende Methoden, solche, mit deren Hilfe Größen abbildbar werden. Plato hat nun gezeigt, und zwar auf eine Weise, die Aristoteles offenbar zutiefst überzeugte (obwohl er sonst dessen mathematische Spekulationen verdammte), daß man in dem Begriff des Maßes das metron und das metrion unterscheiden muß. Im Dialog des »Staatsmannes« schildert das Plato. Es gibt ein Maß, das man an die Sachen heranträgt und es gibt ein Maß, das die Dinge in sich selber haben. Ein Unterschied, der etwa dem entspricht, den wir im deutschen Sprachgebrauch zwischen dem, was wir messen und dem Angemessenen machen. Für letzteres können wir »das Gemessene« sagen, womit wir dann aber nicht meinen, jemand stehe mit einem Maßstab bereit, um es nachzumessen. Wenn jemand eine gemessene Art hat, dann heißt dies, daß er über die vornehme Fähigkeit der Selbstbeherrschung und festen Entschiedenheit verfügt, so daß er sich nie ins Unangemessene oder gar ins Unmäßige verirrt. Gemessenheit in diesem Sinne ist nicht, daß man etwas gemessen hat, sondern über ein Maßhalten in sich selbst verfügt. Wir kennen es auch als Takt – ein Phänomen nicht nur der neuzeitlichen Musik. Auch außerhalb der Musik gibt es Takt- und Taktlosigkeit; z. B. im Umgang mit Menschen. Es ist etwas, von dem man absolut nicht sagen kann, was es genau ist, und doch man »weiß es ganz genau«, viel genauer als jedes mögliche Maß. So steht es nun wirklich bei Plato. Dort heißt es: auto to akribes, es ist »das Genaue selbst«, auf das es eigentlich ankommt. Ich möchte damit Plato nicht zum Hermeneutiker machen. Eher bin ich durch Plato zum Hermeneutiker geworden. Jedenfalls ist es wirklich eine entscheidende platonische Einsicht. Und sie steht nicht umsonst im Dialog über den wahren Politiker, der immer die Aufgabe der Vermittlung, das Finden des Mittleren, des allen Angemessenen zu leisten hat. Man versteht sofort, wie das mit dem Begriff der Harmonia, mit der Zusammenfügung von Disparatem zusammengeht und wie es als Musik zur Einheit eines Klanges wird. Darin ist auch etwas von dieser einzigartigen Genauigkeit, die wir alle kennen, wenn ein Orchester sich stimmt. Aus Kindertagen (es muß um das Jahr 1910 gewesen sein) ist mir eine einschlägige Anekdote erinnerlich. Ein japanischer Geschäsmann kommt nach Leipzig und wird natürlich zu einem Konzert ins Gewandhaus geführt,
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der großen Attraktion der Stadt – viele andere hatte es nicht. Schließlich wurde er gefragt, wie es ihm gefallen habe. »Es war sehr, sehr schön«. – »Was hat Ihnen denn am besten gefallen?« »Es war alles sehr, sehr schön«. »Ja aber, hat Ihnen etwas nicht besonders gefallen?« »Ja, am besten hat es mir gefallen, bevor der Mann kam, der da dirigierte«. Wir lachen – die Genauigkeit des Stimmens ist noch nicht Musik. Ich erzähle die Geschichte in voller Würdigung der Tatsache, daß – wie ein wahres Wunder – die ostasiatischen Kulturen die europäische Musik inzwischen in so hohem Maße aufgenommen haben. Was besagt die Weisheit dieses Witzes? Was ist dieses »das Genaue«, das die Mühe des Stimmens veranlaßte, die jener Mann für Musik hielt? Für ihn stimmte alles nicht recht, in der Musik, die er danach gehört hat. Sein Ohr war nicht gewöhnt, diese harmonischen Intervalle und die darauf aufgebaute Formkunst der neuzeitlichen abendländischen Musik zu verstehen. Das Auffallende an dieser Ordnungserfahrung ist, daß wir – wie beim Stimmen der Instrumente – irgendwann sagen: »jetzt stimmt's«. Oder, wie ich eingangs von der Kunst generell bemerkte: »so ist's«. So stimmt es. Es ragt heraus. Es kommt heraus. Versuchen wir einmal, diese Wendung: »es kommt heraus« auf die Kunst, sowohl des Bildes, wie des Wortes anzuwenden, was kommt heraus? Es kommt heraus, d. h. es ist so, daß man das Gefühl der zwingenden Präsenz hat, die nicht auf etwas Abgebildetes verweist, sondern im Bilde selber präsent ist, so, daß es wahrhaig heraus kommt. Aristoteles handelt davon in dem allbekannten Wort, der Unterschied zwischen Poesie und Geschichtsschreibung bestünde darin, daß die Geschichtsschreibung nur sagen könne, was •wirklich sei, die Poesie dagegen, viel philosophischer, zeige, wie es sein könnte. Die Möglichkeit gilt mehr: der Dichter galt als der Seher. Das gleiche Phänomen hatte Husserl im Auge, wenn er in einem – leider nur mündlich durch Oskar Becker überlieferten – Zeugnis bemerkte, daß in der Kunst die eidetische Reduktion »spontan erfüllt« sei. Unter eideti-scher Reduktion verstand Husserl, daß man zur Lösung philosophischer Aufgaben die Wirklichkeit einklammern müsse. Man müsse sie wie eine mögliche Welt behandeln. Dann kann man nämlich apriorische Strukturen – mit denen beispielsweise die Mathematik ständig umgeht – auch an der Lebenswelt und ihren Phänomenen finden. Das bekannteste Exempel Husserls besteht in der Beobachtung, daß zum Sehen die Abschattung gehört, mit dem Anblick eines Dinges nicht gleichzeitig seine Rückseite mitgegeben sei. Das ist ein apriorisches Gesetz, dazu braucht man nicht erst lange zu prüfen, ob es
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vielleicht doch einmal anders ist. Wenn jenes »Stimmige«, das wir an Kunst erfahren, von eben dieser Art ist, dann erklärt sich auch, warum es Anspruch auf Geltung beanspruchen kann, warum es im einzelnen Werk als Gültiges und Genaues herauskommt. Plato hat dafür den schönen Ausdruck des >Ekphainestaton<, des Herausscheinenden geprägt, dessen, was sich selbst sichtbar macht. Das gilt in der Tat für die Erfahrung des Schönen generell, daß es sich in dieser Weise selber so darstellt, so zeigt, daß wir sagen: »So wahr, so seiend«. Nehmen wir jetzt unseren Anfangsgedanken wieder auf, um ihm eine abschließende Perspektive zu geben. Wir sprachen davon, daß die Seinsweise der Kunst »Vollzug« sei. Darin unterscheiden sich Bild- und Wortkunst gerade nicht. Der zeitunabhängige Bestand des Bildes und der transitorische Zeitfluß des Textes bzw. der Musik besitzen eine Gemeinsamkeit, die im Vollzug besteht. Ich gebrauche das deutsche Wort Vollzug, das einen scholastischen Hintergrund hat. Dort unterscheidet man den actus exercitus vom actus signatus. Im Vollzug wird etwas nicht zum Gegenstand gemacht, vielmehr vollzieht es sich. Diese Unterscheidung war auch Heidegger sehr wichtig. Man erkennt, daß die Logik des Satzes und die Reflexion nie ohne Unangemessenheit sind. Der Husserlsche Terminus der Intentionserfüllung möchte dem bereits gerecht werden. Worauf es ankommt ist, daß der Vollzug keine Vergegenständlichung bewirkt. Hier werden keine Widerstände durch methodische oder experimentelle Mittel überwunden. Alle kennen wir, was sich in der Erfahrung von Kunst ereignet: Jedes Werk, das uns ergriffen hat, läßt uns mitgehen, ja, es muß geradezu in uns eingehen. Die Sprache gibt uns o Hinweise, worum es sich hierbei handelt. Plato spricht, wie wir hörten, vom Schönen als dem Hervorscheinenden. In reproduktiven Künsten sprechen wir davon, es müsse »herauskommen«. Jeder, der Musik macht, kennt das, auch derjenige, der zuhört. Denn Musik ist eigentlich ein Singen, bei dem man Mitsingen möchte. Damit bezeichnen wir keinen bestimmten Stil, auch keine besondere Gattung, wohl aber eine bestimmte Vollendung in jedem Stilgebaren, die sich darin zeigt, daß der Zuhörer (oder der Betrachter) »mitgeht«. Die Zeitlichkeit des Vollzugs präzisiert sich in der Zeitstruktur des Lesens. Gerade in der gegenwärtigen Tendenz zur Abschwä-chung der Mündlichkeit und zur Stärkung des Skriptismus wird diese Eigenart des Lesens allzusehr beschattet. Ob man vom Schreiben redet oder von der Spur, jedenfalls muß man die Schri lesen und der Spur folgen. Man muß richtig lesen. Was aber heißt das? Wieder gelangen wir zu Piatos Einsicht vom »Genauen selbst«, die
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ein Lesen meint, das einen Sinn so eingehen läßt, daß man sagt, »so ist es«. Eine Probe darauf ist der Versuch, in großem Stil geformte Sprachlichkeit zu rezitieren: im allgemeinen etwas Scheußliches. Ein modernes Gedicht gar, so vor Hunderten zu lesen, daß es allen eingeht, ist schier undurchführbar. Denn es ist eine Genauigkeit, auf die hin man hört, die niemand mit seiner Stimme erreicht. Das Lesen dagegen, ob es sich nun auf Schri oder Bild bezieht, ru einen inneren Zusammenhang auf, es artikuliert, so daß es stimmt. Die ganze Vielfalt, mit der ein Vor-leser betonen mag, muß sich am Ziel der Stimmigkeit bemessen, an der Erfahrung der Stimmigkeit überprüfen lassen. Lesen hat vielfältige Anklänge von: Zusammenlesen, Auflesen, Auslesen und Verlesen wie bei der Lese, d. h. der Ernte, die Bleibendes liefert. Aber Lesen meint auch ein ausdrückliches Tun, das gelernt sein will, was mit dem Buchstabieren anfängt. Entsprechendes gilt für das Sehen, das dann, wenn es mehr als alltägliches Bemerken sein will und sich auf subtile Phänomene bezieht (der Natur, vor allem der bildenden Kunst), ein ausdrückliches Können, d.h. ein Lesen einschließt. Darin stecken zahlreiche Anklänge, man kann z. B. ein Buch anlesen oder auslesen, man kann sich einlesen, weiterlesen, nachlesen, vorlesen – und auch diese Reihe zielt auf eine Ernte, die gesammelt ist, aus der man sich nährt. Diese Ernte ist das Sinnganze, das sich auaut, im Sinngebilde, wie im Klanggebilde zugleich. Das sind gleichsam die Bauelemente von Sinn: Motive, Bilder, Klänge. Es sind nicht etwa die Buchstaben, die Wörter, die Sätze, die Perioden oder die Kapitel. Solches gehört in die Grtmmatik und Syntax, zählt zum bloßen Skelett von Schrilichkeit und nicht unbedingt zur Formgestalt. Diese ist es, was herauskommt, dank den dichterischen oder bildnerischen Sprachmitteln, die im Fluß ihres Zusammenspiels die Gestalt auauen. Nachträglich kann das durchgegliedert werden und das mag dann dem wirklichen Sehen oder Hören, dem Vollzug zugute kommen, so daß er an Differenzierung gewinnt. Wenn ich mich auf den Begriff des Lesens konzentriere, so geschah dies, um den Unterschied zwischen der Äußerlichkeit des Daseins, etwa von Farben oder Worten oder auch Schrizeichen, klar von dem abzuheben, was der Begriff des Vollzugs hier zu leisten hat. Da muß man sich nur klar machen, was der Vollzug des Lesens ist. Lesen will keine Reproduktion von ursprünglich Gesprochenem sein. Gerade an der Musik läßt sich zeigen, daß die Interpretation nicht das nur richtige Abspielen des Notentextes ist. Beim Gedicht
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nennen wir derlei nicht Lesen, sondern »Aufsagen«. Der Begriff des Lesens und d. h. der Interpretation muß durchaus von dem, was man Reproduktion nennt, unterschieden werden. Im Zeitalter der Reproduzierbarkeit bedarf es der Erinnerung, was Interpretation eigentlich ist. Gewiß gibt es auch eine berechtigte Kritik am Begriff der Interpretation, dann, wenn sie sich gegenüber dem Kunstwerk vordrängt und von ihm abdrängt. Daß sie sich das anmaßt, ist Folge eines Wissenschasbegriffs, der ganz von der Objektivierung eingenommenist. Das, was man in einem Kunstwerk, das im Vollzug sein Sein hat, durch Objektivierung und wissenschaliche Methodik erfassen kann, bleibt notwendigerweise sekundär und insofern geradezu unwahr. Die Wahrheit, die wir in der Aussage der Kunst suchen, ist die erst im Vollzug erreichbare. Wissenschaliche Methodik läßt ein Werk der Kunst nicht in seinem eigenen Licht erscheinen. Sie muß überhellen. Jede Interpretation müsse überhellen, hat Heidegger einmal gesagt. Erst durch Zurücknahme aller vereinzelnden Vergegenständlichung kann Interpretation dem Vollzug selber dienen. So ist es jedenfalls bei einem Kunstwerk, das im Vollzug allein seinen Sinn hat. So ist es wohl aber auch in der Philosophie, wenn man Piatos siebten Brief oder Immanuel Kant folgt. Der Fluß des Lesens, in dem sich der Text artikuliert, in dem sich das Bild zeigt, das Musikstück phrasiert wird, ist ein Vollzug, kein vergegenständlichter Sachverhalt der Erkenntnis. Es ist die in den Vollzug eingegangene Mannigf altigkeit – was Aristoteles »energeia« nannte. Eine Begriffsschöpfung, die in Abhebung von der pythagoreischen Mathemati-sierung des Universums entstanden ist und für das Verständnis der Kunst einige wichtige Hinweise gibt. Aristoteles hatte nur einen Schritt über Plato hinaus zu tun, wenn er am »Werden zum Sein« das »Sein des Werdens« zum ema machte. Zu diesem Zweck führte er den Begriff der energeia ein, eine Neuschöpfung, der man die Verlegenheit noch anmerkt, die Aristoteles bei der Definition jenes Begriffes hatte. Er gebraucht die Analogie zur »dynamis«, die Plato bereits im Dialog >Sophistes< in den philosophischen Sprachgebrauch überführt hatte. Der Begriff der energeia schillert zwischen Aktualität, Wirklichkeit und Tätigkeit und öffnet einen Problemhorizont, in dem auch auf die Seinsweise des Kunstwerkes ein neues Licht fallen düre. Das zeigt sich bereits an einer benachbarten, fast synonymen Wortschöpfung des Aristoteles, nämlich »entelecheia«. Das Gemeinsame beider Wortbildungen besteht darin, daß sie etwas bezeichnen, das nicht wie ein Werk (ergon) ist, d. h. es hat nicht erst mit der vollendeten Herstellung sein Dasein. Die aristotelischen
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Begriffe, die nach dem Sein der Bewegtheit fragen, wie dynamis, energeia und entelecheia, verweisen damit auf die Seite des Vollzugs und nicht auf ein ergon. Der Vollzug hat sein vollendetes Sein, sein telos, in sich selbst. Damit wird sogleich deutlich, daß energeia nicht bloß Bewegung (kinesis) meint. Denn Bewegung ist, so lange sie im Gange ist, nicht vollendet. Das Bewegte ist nur unterwegs, ist noch im Werden. So erwähnt Aristoteles ausdrücklich und im Unterschied zur energeia, daß Werden und Gewordensein nicht zugleich sind. Wohl aber ist Sehen oder Gesehen-haben zugleich und Uber-EtwasNachdenken oder Nachgedacht-haben. Beides meint ein Verweilen bei dem Gemeinsamen, so wie wir etwa »bei der Sache sein« sagen. Es ist kein Nacheinander, sondern ein Zugleich, das dem zukommt, was die Zeitstruktur des Verweilens besitzt. So ist es, wenn wir ins Sehen, ins Nachdenken, ins Betrachten versunken sind. Die Erfahrung von Kunst ist auch kein Nacheinander, sondern vollzieht sich wie ein wartendes Verweilen, in dem das Werk der Kunst herauskommt. Was so herauskommt, »spricht uns an«, wie wir sagen, und so ist der Angesprochene mit dem, was da herauskommt, wie in einem Gespräch. Das gilt vom Sehen wie vom Hören, und so auch von jenem Lesen, von dem die Rede war. Ich könnte nun versuchen, die Strukturen der Zeitlichkeit des Lesens, der Weile, des Verweilens weiter zu entwickeln, wie uns die Dinge eingehen. Zum Mitgehen gehört aber auch- das soll man nicht verkennen – daß es einem nachgeht. Was nicht nachgeht, hat man nicht mitbekommen. Aber was ist das, nachgehen? Eine sehr schwierige Frage, die ich nur an zwei Beispielen verdeutlichen kann. Das eine ist die Dekoration, das andere die Architektur. Beide besitzen in ihrer Präsenz als wesentlichen Faktor etwas Hintergründiges, etwas Kontextbezogenes. Gewiß verweilt man bei Dekoration nicht gerade. Was als ein hübsches Muster auffällt, ist als Tapete vermutlich ungeeignet, denn bald »kann man es nicht mehr sehen«. Es geht darum, auf eine zurückgenommene, eine begleitend-hintergründige Weise zu stimmen. Was wird dies sein? Altertümlicher gesprochen: das, was wir »Geschmack« nennen. Es ist ein Oberflächensinn für das hintergründig Stimmende. Die Frage ist, wie geht das Eine in das Andere über? Tatsächlich geht es über, nicht nur in dem Sinne, daß die bildenden Künste die dekorative Gestaltung inspirieren, wir wissen ja auch von ihrem Sitz im Leben, wir wissen, daß ein Altarbild im Museum, mit Schleiermacher zu reden, immer schon Brandflecke trägt, als ob es aus einer Feuersbrunst gerettet wäre, da sein Lebensraum und seine Lebensfunktion wie untergegangen sind. Kurzum:
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das Verweilen und Hervorscheinen, das Herauskommen verweist auf einen Lebenskontext als seinen Begleitumstand. Das zweite Beispiel ist die Architektur. Der Werkbegriff ist hier eigentümlich eingeschränkt, auch wenn wir ganz davon absehen, daß es kaum einen Architekten auf der Welt gibt, der das bauen darf, was er möchte. Der Kompromiß zwischen Auraggeber und Künstler ist unvermeidlich und natürlich. Das Bauwerk, das schließlich dasteht, ist obendrein in neue Wirklichkeitsbezüge getreten. Was ist hier nun eigentlich das Werk? Das geplante, oder dasjenige, was nun dasteht, inmitten einer sich ständig neuordnenden Umwelt? Oder sieht derjenige das Werk, der in dem, was dasteht, den Plan des Architekten und die Bauidee erkennt? Nicht zufällig stoßen wir hier an die Grenze der Reproduzierbarkeit von Architektur. Man mag Abbildungen oder Projektionen bewundern, weil alles so malerisch aussieht, wie nie in Wirklichkeit. Was aber realiter dasteht, ist mehr oder minder in einen Lebenszusammenhang integriert. Ein Bauwerk wie die römische Porta Nigra in Trier, deren Bestimmung wir nicht mehr recht erfassen, bekommt fast schon etwas Unheimliches, weil man den Lebenszusammenhang spürt und ihn doch nicht sieht. Im Grunde erfahren wir das an allen Bauwerken: wir gehen an ihnen nur vorbei, auf unsere Zwecke gerichtet. Aber plötzlich geht einem etwas auf und hält einen fest. Es ist, was man auch den Silberblick genannt hat, über den jedes Meisterwerk der Architektur verfügt. Ein Blick, der einen derart zu bannen vermag, daß das Bewundern sogar den Gebrauchszusammenhang verdrängt. Wieder lehrt uns die Sprache etwas. Von jemandem, der bewundert, sagen wir, er sei ganz weg, weil er in seinem Sehen ganz aufgeht. Das ist wahrha freies Sehen, in dem sich Kunst eigentlich zeigt, zum Verweilen nötigt und Teilhabe gewährt. Es hebt sich heraus – für eine Weile. Es ist ein Wechselspiel von Zurücktreten und Herauskommen, von Verweilen und Weitergehen, aber auch von Mitgehen. So ist die Bewegung des Lebens selber. Es ist die gleiche Bewegung, die uns die Natur im Wechsel von Schlaf und Wachen spendet. Der aristotelische Gott hatte bekanntlich nicht den Vorzug, diesen Wechsel von Wachen und Schlaf zu kennen. Wir aber haben jedenfalls diesen Vorzug, das Schöne in seiner Seltenheit erfahren zu dürfen, das wir bewundern.
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Abbildung und Beschreibung Hogarths graphische Darstellungen sind tatsächlich Bücher; sie haben die vielfältige, fruchtbare, ausdrucksstarke Bedeutung von Wörtern. Andere Bilder betrachten wir – seine lesen wir. Charles Lamb, On the Genius and Ckaracter of Hogarth, Works (1818) I, 70.
I Bilder und Worte können ganz allgemein danach unterschieden werden, auf welche Weise sie ihre Gegenstände darstellen, und sie exemplifizieren – ebenfalls ganz allgemein gesagt – die beiden wichtigsten Systeme, mit denen wir die Welt darstellen. Der wiederholte Hinweis auf den allgemeinen Charakter der Unterscheidung ergibt sich aus der Tatsache, daß die Art der Darstellung, die Bilder exemplifizieren, nicht durch sie allein exemplifiziert wird, denn dieselbe Unterscheidung, die man zwischen ihnen und den Wörtern machen möchte, läßt sich auch im Bereich der Wörter selbst vornehmen, die die Welt ihrerseits durchaus in beiden Weisen darstellen können. Die tiefgreifende Unterscheidung zwischen den beiden Arten der Darstellung wäre uns also auch verfügbar, wenn die Bilder aus irgendeinem Grunde nie erfunden worden wären, und die Wörter unser alleiniges Mittel der Darstellung wären. Tatsächlich betri es nur die Wörter, wenn Piaton in Politeia 394 zwischen mimesis und diegysis unterscheidet, oder wie eine im Deutschen weithin gebräuchliche Übersetzung lautet, zwischen »Darstellung« und »einfacher Erzählung«. Sokrates, der dort die Rolle der Dichtung in der Ausbildung der Wächter skizziert, bemerkt dabei, daß es drei Klassen der dichterischen Darstellung gibt, »von der einiges ganz in Darstellung besteht, wie Du sagst, die Tragödie und Komödie, anderes aber in dem Bericht des Dichters selbst, welches Du vorzüglich in den Dythriamben finden kannst, noch anderes aus beiden verbun-
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den, wie in der epischen Dichtkunst, und auch vielfältig anderwärts.« Dementsprechend beschreibt Homer manchmal, was jemand tat, zum Beispiel, wie ein Vater fleht, man solle ihm seine Tochter zurückgeben; manchmal gibt er aber auch die Worte des Vaters, mit denen er um die Rückgabe seiner Tochter bittet, selbst wieder, so daß ein Vortragender, "wie etwa Ion, der Rhapsode, aus der Stimme des Erzählers (Diegese) in die Rolle des Vaters (Mimesis) wechseln wird, um dadurch, so kann man annehmen, in seinen Zuhörern väterliche Gefühle zu erregen. In der Mimesis sind die Worte, mit denen etwas dargestellt wird, genau dieselben, die dargestellt werden. So etwa, wenn der der Schauspieler »Ich hebe dich« sagt, wenn die Figur selbst »Ich liebe dich« sagt. Natürlich kann die Figur ihrerseits eine Geschichte erzählen, also diegetisch verfahren, während der Darsteller, der dieselben Worte benutzt, mimetisch agiert. Die Mimesis solcher Diegese ist nicht selbst Erzählung, sondern sozusagen ein Bild des Erzählens. Aristoteles nimmt dieselbe Unterscheidung in dem folgenschweren dritten Kapitel seiner Poetik auf, wo er das Wort »Mimesis« auf beide Arten von Darstellung ausdehnt, die Piaton so elegant unterschieden hatte. Das heißt, daß der Begriff der Mimesis, wie immer er erläutert werden mag, in der aristotelischen Semantik, abgesehen von einem der unter diesen Begriff subsumierten Fälle, nichts mit Ähnlichkeit zu tun hat. Man könnte vermuten, die Tatsache, daß Wörter mimetisch verwendet werden können, wie in der dramatischen Darstellung oder der oratio recta, sei von geringerer Bedeutung als die Tatsache, daß sie diegetisch benutzt werden können, weil alles, das möglicherweise mimetisch nachgeahmt werden kann, nur andere Wörter sind, wohingegen es für ihre diegetische Benutzung keine Grenze gibt, da wir nicht nur von Sprechakten und dergleichen erzählen, sondern von Handlungen aller Art und auch von Vorkommnissen in der Natur. Aber das könnte eine gewisse semantische Einfallslosigkeit unsererseits verraten. Wittgenstein unterstellte – zumindest im Tractatus -, daß Wörter, wenn sie zu Sätzen zusammengestellt werden, Bilder ergeben, die mimetisch die ganze Welt darstellen, was soviel heißt wie alle Tatsachen, die es gibt. Mit Hilfe solcher bildhaer Sätze können wir alles darstellen, was darstellbar ist, und daher ist das Darstellungsvermögen der beiden Systeme äquivalent. Natürlich sagte er auch, daß man bestimmte Dinge nur zeigen, aber nicht sagen kann, was bedeutet, daß die Mimesis eigentlich noch reicher ist als die Diegese, aber mein Interesse an dem ema wäre schon befriedigt, wenn sich erweist, daß alles, was gesagt, auch gezeigt werden
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kann, sogar wenn es darüber hinaus Dinge gibt, die gezeigt, aber nicht gesagt werden können. Die überraschende Erweiterung, die Wittgenstein dem mimetischen Charakter von Worten gibt, wird nicht sonderlich beeinträchtigt, wenn man erkennt, daß es Bilder gibt wie die von Hogarth, von denen Lamb sagt, sie könnten gelesen werden, und die zweifellos die Kra von Texten haben, da sie uns (wie es später Filme tun werden) in Sequenzen die Geschichte einer Hochzeit, den Niedergang eines ausschweifenden Menschen oder den Verfall und den Tod einer Prostituierten zeigen. Der reiche Gehalt dieser Kupferstiche muß jedoch herausgebracht werden, indem man über sie spricht. Es war also nicht nur künstlerisches Unvermögen, das Lichtenberg veran-laßte, über die Bilder zu schreiben, anstatt einen Kommentar in der Form von Bildern abzugeben. Und hier stellt sich die Frage, die ich vorerst nur unklar formulieren kann, ob man nämlich alles, was Hogarths Bilder uns erzählen, allein durch die Ausübung einer rein piktoralen Kompetenz herausfinden könnte. Der Kunsthistoriker Leo Steinberg hat o die Unfähigkeit seiner Kollegen beklagt, Bilder zu betrachten, da sie sich ihnen im Bann vorgefaßter Beschreibungen zuwenden, durch die sie fast blind werden für das, was "wirklich auf ihnen zu sehen ist. Aber könnte jemand sehen, was Steinberg uns zu sehen lehrte, ohne Steinberg gelesen zu haben – oder könnte er es sehen, ohne so viel wie er gelesen zu haben? Wenn, um Wittgensteins Bild zu verwenden, die Leiter weggeworfen wurde, werden wir keine Diegese mehr haben, um unsere mimetische Sprache zu verstehen. Und die Frage, die ich stelle, ist die, ob dennoch alles, was zuvor gesagt wurde, jetzt noch gezeigt werden kann. Kann eine Semantik des Bildes allen unseren Anforderungen an die Darstellung Genüge tun, ohne eine wie auch immer geartete Einschränkung des Darstellbaren? II Piatos Programm der Zensur der Dichtung liegt unausgesprochen eine eorie zugrunde, wonach die Mimesis nicht so sehr darin besteht, daß eine Darstellung einen externen Gegenstand, dem sie ähnlich ist, nur abbildet, sondern darin, daß sie diesen auf eine interne Weise verkörpert, so daß der Gegenstand selbst in seiner mimetischen Darstellung wieder gegenwärtig wird – re-präsentiert im wahrsten Sinne des Wortes. Da die Worte des Feiglings im Munde
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des Schauspielers, der den Feigling darstellt, in diesem buchstäblichen Sinne gegenwärtig sind, scheint es klug, den Bereich der Mime-sis ausschließlich auf die Worte der Guten und Tapferen zu beschränken. Diese Konzeption der Darstellung von etwas als einer Wieder-vergegenwärtigung in einem anderen Medium, wird abgeschwächt in der mittelalterlichen Tradition aufgenommen, wenn gesagt wird, daß die Dinge entweder in re oder in intellectu oder in beidem existieren, oder, um es in der Terminologie der dritten Meditation von Descartes auszudrücken, daß sie entweder eine objektive oder formale Realität haben. Descartes schreibt in seiner Erwiderung auf die Einwände gegen diese Meditation: »...daß die Idee der Sonne die im Verstände – zwar nicht formal, wie am Himmel, aber doch objektiv, d. h. in der Weise, wie die Objekte im Verstände zu sein pflegen – existierende Sonne selbst ist.«1 Diese Redeweise ist heute noch anwendbar. Bei der Betrachtung einer Zeichnung, die Alberto Giacometti von seinem Atelier gemacht hatte, fiel mir die Skulptur eines Pferdes auf, die ich vorher nie gesehen hatte. Auf meine Frage sagte mir der Eigentümer, daß »sie nur in den Zeichnungen existiere«, da Giacommetti sie zerstört habe. Hinter der Selbstverständlichkeit und Geläufigkeit dieser Ausdrucksweise verbirgt sich allerdings eine eorie der Darstellung, die weitaus mysteriöser ist als alle, die wir heute noch ernstha vertreten können. Denken wir an die Auseinandersetzungen des großen Bilderstreites, der das Byzantinische Reich unter Leo dem Isaurier erschütterte! Die Verehrer der Bilder sprachen wie selbstverständlich von der mystischen Gegenwart des Heiligen im Bild, so daß die Zerstörung des Bildes diesem ein weiteres Martyrium bereitete. Die Bilderstürmer hatten eine eorie, die dem gar nicht so unähnlich ist: Christus ist auf komplexe Weise Mensch und Gott zugleich, ein Bild seiner göttlichen Natur sei jedoch unmöglich und ein Bild seiner menschlichen Natur zerstöre die Einheit seiner Person2. Konstantin der Fünfte, der ein Ökumenisches Konzil einberief, um diese Fragen zu beraten, argumentierte, daß »ein Bild aus der selben Substanz gemacht ist wie das Original,« was, wie ich meine, genauso auch die ese der Bilderverehrer war. Man mag es akzeptieren, daß Brot und Wein des Sakramentes im buchstäblichen Sinne 1 Descartes: Meditationen. Übers, v. A. Buchenau. Berlin 1915, S. 92 2 Vgl. Steven Runciman: Byzantine Style and Civilization (London: Penguin, 1975), S. 87.
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Christi Substanz sind, aber für Konstantin wäre es dann doch ein wenig unfromm gewesen, wenn Holzstücke und Glas in einem ebenso buchstäblichen Sinne substantiell mit Christus identisch hätten sein sollen. Darauin näherten sich die Bilderverehrer einer eorie der Nachahmung, die für uns vertrauter, um nicht zu sagen, annehmbarer ist. Demnach sind Nachahmung und Original nicht von gleicher Substanz, sondern erstere verhält sich zu letzterer -einer hilfreichen Bemerkung des Johannes von Damaskus zufolge -wie ein Schatten. Jedenfallls hat die eorie eine lange und andauernde Geschichte. »Die Verehrung seines Bildes war die Verehrung des Kaisers«, so schreibt Kurt Bauch in seiner faszinierenden Studie Imago1. Der Kaiser nahm in seinen Bildern eine Art transpolitischer Existenz an, da er an allen Punkten seines Herrschasbereiches zugleich anwesend war. Dasselbe kann man von der Ikone sagen, die – fast wie eine Reliquie – die mystische Kra des Heiligen in sich enthielt. Wie der Kaiser in seinen Bildern eine transpolitische Identität annahm, so hatten bestimmte Ereignisse, wie die Kreuzigung, eine übergeschichtliche Identität, so daß man in Gegenwart der entsprechenden Darstellung der geheimnisvollen Präsenz des Ereignisses selbst gewärtig wurde. Einer solchen Vorstellung zufolge besteht die Fähigkeit des Künstlers nicht so sehr im Realisieren einer äußeren Ähnlichkeit, die nur aus einem technischen Geschick resultiert, sondern im Erfassen von Personen und Begebenheiten in Darstellungen, die man ernstlich degradieren würde, wenn man sie (nur) als Kunstwerke betrachtete. Dazu werden sie erst, wenn die imma-nentistische eorie der mimetischen Darstellung verblaßt und man die Bilder nicht länger betrachtet, als seien sie von heiligen Existenzen erfüllt, sondern in ihnen nur noch äußerliche Darstellungen in bildlicher Form zu sehen vermag. Die Grenzen der Kirche fungieren dann nicht mehr als Schwellen heiliger Bezirke, und die sakrale Architektur verwandelt sich in ein Museum bildender Kunst. (In der Franziskanerkirche in München steht ein Schild mit der beschwörenden, aber vergeblichen Aufschri: »Dies ist kein Museum«.) Es ist jedenfalls kein Kuriosum, daß Bilder einst in der Wunderkammer* zu Hause waren, zusammen mit dem Hörn eines Einhorns und verschiedenen Körperteilen von Heiligen, von denen man annahm, daß sie darin gegenwärtig wären- obwohl schon Aristoteles bemerkt hatte, daß eine abgeschlagene Hand gar keine Hand mehr sei. Erst 1 Kurt Bauch: »Imago«, unten, S. 275-299, S. 281.
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wenn der Immmanentismus verblaßt, verringert sich parallel dazu auch die Energie, mit der die Kontroversen zwischen den Bilderstürmern und ihren Gegnern geführt wurden. Der Immanentismus, so vermute ich, ist sprachlich immer noch wirksam, wenn wir vom Inhalt der Bilder oder Geschichten sprechen (denn man kann auch eine immanentistische eorie der Die-gese ausarbeiten). Unter dem Inhalt verstehe ich das, wovon das Bild ein Bild ist oder worüber eine Geschichte handelt, im selben Sinne, wie wir vom Inhalt eines Sackes oder einer Schachtel sprechen. Ein Bild des Herzogs von Wellington hat eben den Herzog zu seinem Inhalt, und zwar in einer Weise, die sich grammatisch nicht davon unterscheidet, daß eine Flasche Rum eben den Rum zu ihrem Inhalt hat. Das mag kauzig klingen, aber ich behaupte, daß das »wovon« in beiden Fällen in der Tiefenstruktur präpositional ist, und nicht, wie es scheinen mag, die Oberflächenerscheinung eines tiefenstrukturellen Genitivs. Der Rum ist in der Regel nicht der Rum der Flasche. Die Flasche ist nur das Gefäß oder das Werkzeug für ihren Inhalt. Auch »Das Bild des Herzogs von Wellington« stellt keinen wirklichen Genitiv dar. Zumindest bleibt eine Zweideutigkeit zwischen diesem und der präpositionalen Form, denn man kann darunter entweder »das Bild, das dem Herzog von Wellington gehört« oder »das Bild, das den Herzog von Wellington darstellt« verstehen. Im Falle des Porträts, das Goya vom Herzog von Wellington angefertigt hat und das sich in der Sammlung des Apsley Hauses befindet, tri sogar beides zu. Stellen wir uns die Enttäuschung von jemanden vor, der viel von einem Buch mit dem Titel Die Geschichte der O. gehört hat, darin aber folgenden Anfang findet. »Es waren einmal drei Bären .. « – wobei das nur insofern die Geschichte der O. ist, weil diese sie den anderen Sexsklavinnen in Roissy erzählen will. So unschuldige Dinge nach all dem, was man davon gehört hat! (Es wäre eine umgekehrte Enttäuschung für den Sammler von Erinnerungsstük-ken, der einen »Kupferstich vom Vater unseres Landes« ersteigern will und so in den Besitz einer Dollarnote gelangt.) Obwohl ich dafür keine historische Evidenz erbringen kann, möchte ich behaupten, daß der Begriff des Mediums mit diesem, das Inhaltsverhältnis ausdrückenden, »von« verbunden ist. Farbe wäre dann beispielsweise ein Medium wie Äther oder Wasser, worin dieses oder jenes verborgen ist – was vielleicht der Absicht Pygmalions zugrundeliegt, dem Marmor eine Frau zu entreißen wie einen Fisch dem Wasser. Indem ich, wie immer, mit Vergnügen seine philosophische Sug-gestivität anerkenne, entnehme ich diese Strukturen einigen Hinwei-
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sen aus Nietzsches Geburt der Tragödie. Er spricht dort von der bemerkenswerten Wandlung im Charakter der dionysischen Riten, die ursprünglich in der Hoffnung gefeiert wurden, daß der Gott selbst wieder gegenwärtig werde, die sich später aber in eateraufführungen verwandelten, wobei der Gott nur noch in dem ganz alltäglichen und prosaischen Sinne vergegenwärtigt wurde, daß eben ein Mensch von nebenan die Rolle des Dionysos spielte. Um die philosophische Aussage abzurunden, die ich hier treffen möchte, betone ich, daß dieselbe Polarität, die das Konzept der mimetischen Darstellung durchdringt, nämlich einerseits des Immanentismus und andererseits des ganz externen Sinnes, in dem etwas dem, das es darstellt, nur ähnlich sieht, auch in einem anderen, nahe verwandten Konzept zu finden ist, nämlich dem der Erscheinung. In der Tat können wir Nietzsches erstaunliche eorie auch mit Hilfe dieses Konzeptes umformulieren: Im dionysischen Ritus herrschte die Hoffnung, auf dem Höhepunkt werde der Gott selbst erscheinen, während man sich in der künstlerischen Transformation der Riten mit einer bloßen Erscheinung des Gottes zufriedengab. Während man im ersten Fall glaubte, der Gott selbst werde erscheinen, wird die Erscheinung im zweiten Fall in einen Kontrast zur Wirklichkeit gesetzt, so wie man es erst erwarten kann, wenn sich die Konzeption des eaterspieles stabilisiert hat. Nur in letzterem Fall können wir sagen, daß Erscheinungen täuschen. Im ersteren Falle ist die Erscheinung die Wirklichkeit selbst. Uns sind beide Ausdrucksweisen geläufig: Die Sonne erschien am Himmel in einem wunderbaren Glanz, oder, dort war ein Licht am Horizont, das die Sonne zu sein schien, in Wirklichkeit aber das brennende Parlamentsgebäude war. Wir haben die zweite Ausdrucksweise im Sinn, wenn wir etwa in gewichtigen Worten bemerken, daß alles, was wir kennen, Erscheinungen sind. Denn wenn damit die erste Ausdrucksweise gemeint sein sollte, wäre es gar kein Problem, von der Erscheinung zur Wirklichkeit zu gelangen, denn die Erscheinung wäre nichts anderes, als die sich selbst manifestierende Wirklichkeit selbst. So wäre es gegenüber der ersten Position, welche Schwächen sie auch immer haben mag, auch völlig irrelevant, darauf hinzuweisen, wie der alte Schulmeister J. L. Austin es gegenüber A. J. Ayer tat, den er wie einen Dummkopf behandelte, daß es auch j ene Bedeutung von Erscheinung gibt, in der ein Rhinoceros am Rande des Dschungels erscheint. Denn Ayer hatte die andere, genauso gebräuchliche Bedeutung im Sinn. Beide Bedeutungen finden sich, zur völligen Verwirrung der Kommentatoren und zweifellos auch seiner eigenen, in Piatos eorie der
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Formen. Die Form ist der Klasse ihrer Erscheinungen immanent -die Form hat an ihren Manifestationen teil -, dann aber werden diese Manifestationen in bloße Erscheinungen aufgelöst, die sich in ihrem Seinsgehalt deutlich von dem der Formen unterscheiden. Piaton hält sich also beides offen, und die Spannung seines Systems verdankt sich zum Teil dem Changieren zwischen den beiden möglichen Sichtweisen. In dem Ausdruck »Erscheinung von« kommt das bereits angesprochene verwirrende »von« auch vor, wenn wir etwa von dem diskreten und seltenen Erscheinen der Garbo sprechen, oder von ihren vielen Erscheinungen in Filmbildern, Garbo-Imitaten, Greta-GarboPuppen und dergleichen. III Das Verbot, etwas beim Namen zu nennen, das aus der Angst vor der Macht dessen, der den Namen kennt, entsprang, galt ebenso für die Abbildung der betreffenden Dinge. Das zeigt, daß man sich die Beziehung zwischen dem Namen und seinem Träger ebenso mystisch vorgestellt haben muß wie die Beziehung zwischen Bildern und abgebildeten Dingen. Aber davon abgesehen und ungeachtet solcher Ausdrücke wie »etwas in Worte fassen«, ist der Immanentismus im Falle der Sprache, also die eorie, daß Sprache mit der Welt verbunden ist, weil sie die Welt in sich enthält, keine sehr verführerische eorie. Das liegt nicht daran, daß die metaphysische Überschwenglichkeit in der gegenwärtigen Semantik zunehmend versickert – denken Sie nur an die muntere Vermehrung möglicher Welten, die Philosophen betrieben haben, um aus der wirklichen Welt semantisch etwas herauszuschlagen. Es liegt wohl eher daran, daß die Beschäigung mit Sätzen, im Unterschied zu der mit Namen, noch ziemlich jung ist. Man kann durchaus verstehen, daß Wittgenstein, für den der Satz im Tractatus die zentrale Rolle spielte, versucht war, Sätze in einem bildlichen Sinne zu verstehen, einfach weil so eine immanentistische eorie verfügbar war. »In Bild und Abgebildetem muß etwas identisch sein«, schreibt er in 2.161, »damit das eine überhaupt ein Bild des anderen sein kann.« Und an anderer Stelle: »Der Satz teilt uns eine Sachlage mit, also muß er wesentlich mit der Sachlage zusammenhängen.« Gadamer gibt dazu die Warnung: »Daß nur am Anfang der Geschichte des Bildes, sozusagen seiner Prähistorie angehörig, der magische Bildzauber steht, der auf der Identität und Nichtunterscheidung von Bild und Abgebildetem
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beruht, bedeutet nicht, daß sich ein immer differenzierter werdendes Bildbewußtsein, das sich von der magischen Realität zunehmend entfernt, je ganz von ihr lösen kann.« Und er fährt fort: »Vielmehr bleibt die Nichtunterscheidung ein Wesenszug aller Bilderfahrung.«1 Daß wir dieser Nichtunterscheidung im Herzen von Wittgensteins eorie im Tractatus begegnen, ist eine ernsthae Bestätigung von Gadamers Gedanken. Denn die Semantik des Tractatus geht tiefer, als nur eine bloße Ähnlichkeit zwischen dem Bild und der Tatsache anzunehmen, auch – wie ich glaube – deswegen, weil die Ähnlichkeit, wie Goodman kürzlich darlegte, eine konventionelle Angelegenheit sein kann, und Wittgenstein vermutlich die eorie einer nichtkonventionellen Beziehung zwischen Sprache und Welt angestrebt hat. Tatsächlich gibt er eine metaphysische Erklärung, wie sie platonischer kaum sein könnte. »Was das Bild mit der Wirklichkeit gemein haben muß, um sie ... abbilden zu können, ist seine Form der Abbildung.« (2.17). Und überdies (in 2.18): »Was jedes Bild, welcher Form immer, mit der Wirklichkeit gemein haben muß, um sie überhaupt – richtig oder falsch – abbilden zu können, ist die logische Form, das ist, die Form der Wirklichkeit.« Demnach ist die Form dem propositionalen Bild und der bildhaen Tatsache immanent: Sie hat an beidem teil, wie die Form des Bettes (bei Piaton) den Betten und den Bildern von Betten immanent ist. Es ist einigermaßen verblüffend, daß Wittgenstein, als bestimmte Dinge ihn zur Aufgabe dieses Piatonismus führten, weil sie – wie etwa Sraffas neapolitanische Geste – einer logischen Form zu entbehren schienen, nicht nach einer anderen Erklärung dafür suchte, wie die Sprache und die Welt zusammenpassen. Er gab die Idee, daß die Sprache zur Welt passen könnte, vielmehr ganz auf. Statt dessen betrachtete er den Gebrauch von Sätzen in verschiedenen Lebensformen, so als ob eine (sprachliche) Darstellung der Welt nur dann möglich wäre, wenn sie mit dieser in der Form übereinstimmt, wie es eben bei Bildern der Fall ist. Und wenn das nicht zutri, dann scheitert die Darstellung eben ganz und gar. Zwar könnte die Sprache auch bildha, aber trotzdem nicht immanentistisch mit der Welt verbunden sein, aber meiner Ansicht nach müssen es gerade die immanentistischen Möglichkeiten gewesen sein, die Wittgenstein zu seiner sicherlich erstaunlichen eorie gebracht haben, und ich 1 Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode (Tübingen: J. C. B. Mohr, 1965), S. 132. »Diese Dinge«, schreibt Kurt Bauch, a. a. O., S. 284, »sind heute so aktuell wie vor 1200 Jahren. Und die >Ikonen< sehen so aus wie damals.«
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möchte erwägen, was seine Motive waren. – Ich nehme an, hinter seiner Zustimmung steckt mehr als eine Art »Residuum«, um mit diesem Begriff von Pareto die Möglichkeit zu benennen, die Gada-mer suggerierte. – Wenn j ene Motive erst einmal erfaßt sind, dann ist vielleicht auch zu der umfassenderen Frage, mit der ich diesen Essay begann, nur noch wenig zu sagen. (1) Eine Hauptthese (ese 4) des Traktatus ist: »Der Gedanke ist der sinnvolle Satz«. Seit Frege muß man mit der Annahme vorsichtig sein, ein Autor meine mit »Gedanke« etwas Psychologisches. Ein Gedanke kann auch nur das sein, was ein Satz besagt, anstelle von etwas Psychologischem, was der Satz vermittelt – aber da das »ist« eine gewisse Identität unterstellt, sollten wir die vierte ese so lesen, daß die logische Form des Gedankens mit der logischen Form des Satzes eins ist. Nach einer ese von Aristoteles verhält sich der Gedanke so zur Sprache, wie diese sich zum Schreiben verhält, und obwohl, wie Aristoteles feststellt, weder alle Menschen dieselbe Lautsprache noch dieselbe Schrisprache benutzen, ist es dennoch möglich, daß ein gesprochener und ein geschriebener Satz dieselbe Form wie der Gedanke haben. Nun ähneln sich ein geschriebener und ein gesprochener Satz zwar nicht, denn der eine besteht aus Geräuschen und der andere aus Markierungen auf einer bestimmten Fläche, aber in einer formalen Hinsicht stimmen sie doch überein, weil sie mit dem Gedanken übereinstimmen. Diese Aussage können wir treffen, obwohl man zu wenig über Gedanken weiß, um sicher zu sagen, was es eigentlich bedeutet, daß eine Reihe von Markierungen oder Geräuschen einem Gedanken ähnlich ist. Wir können also feststellen, daß dieselbe Form sozusagen in drei verschiedenen Medien verkörpert wird, dem Medium des Gedankens, des Schreibens und des Sprechens. Es stellt sich nun die Frage, warum Wittgenstein sich die Beziehung zwischen der Welt und der Sprache nicht wie die Beziehung zwischen Sprechen und Schreiben oder wie die zwischen diesen beiden und den Gedanken vorstellte (Aristoteles stellt ungefähr dieselbe Beziehung her zwischen mentalen Zuständen, Sprechen, Schreiben und den »Dingen von denen unsere mentalen Zustände Bilder sind«.). Die Welt wäre dann ein zusätzliches Medium, in dem dieselben Formen wie im Sprechen und im Schreiben gefunden werden könnten, und die Wirklichkeit wäre keine fremde und äußere Angelegenheit, deren Verhältnis zur Darstellung rätselha bleibt, sondern eine sozusagen noch handfestere Verkörperung der Sprache oder des Denkens, was ja schließlich seit jeher die Lehre des Idealismus war, z. B. indem er die Welt als die sichtbare Sprache
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Gottes auffaßt. Die Implikationen einer Abbildtheorie der Sprache, des Gedankens und der Wirklichkeit sind philosophisch allerdings so enorm, daß es sich lohnt, kurz darüber zu reflektieren, ob die eorie wahr sein kann. Abgesehen davon, daß es falsch ist, liegt der springende Punkt dabei nicht darin, einige Sprachen, wie das Chinesische, als bildha zu charakterisieren. In der Tat ähneln gewisse Zeichen der chinesischen Schri in ihrer Gestalt dem, was sie bezeichnen, und zumindest die älteren und weniger komplexen Zeichen haben mit dem von ihnen Bezeichneten in gewissem Sinn die Form gemeinsam. Aber hier ist ausschlaggebend, daß es nicht die Wörter als solche sind, die für Wittgenstein bildha sind, sondern die Sätze (oder Propositionen), und aus der Tatsache, daß eine Reihe von Bildern in einer Bilderschri einen Satz bildet, folgt nicht, daß der Satz selbst ein Bild ist. Denn dann müßte man einen Unterschied machen zwischen einem zusammengesetzten Bild (einer Verkettung von Piktogrammen) und einem Satz, und das wäre ebenso schwierig wie die Entscheidung der Frage, ob Schimpansen, die eine Reihe von Zeichen produzieren, wirklich einen Satz oder nur ein zusammengesetztes Zeichen hervorgebracht haben. Ebenso wird eine Differenz erforderlich zwischen einem einzelnen bildhaen Zeichen und einem vollständigen Satz, der aus diesem Zeichen besteht, wobei es unklar wäre, ob das letztere ein Bild ist, auch wenn ersteres eines ist, und darüber hinaus wäre es unklar, ob die Form j ener Satzeinheit dieselbe ist wie die Form des Zeichens, die es nach unserer Annahme mit dem von ihm Bezeichneten teilt. Für die Frage, ob eine Sprache bildha ist, ist es allerdings noch wichtiger, daß nicht nur die geschriebenen, sondern auch die gesprochenen Formen der Sprache bildha sein müßten, wie es auch Gedanken sein müßten, wenn Denken im Medium der Sprache geschieht und nicht einfach (wie Watson meinte) ein stilles Sprechen wäre. Für die generelle ese bedeutet es also wenig, daß bestimmte Zeichen bildha und bestimmte Töne onomatopoetisch, also akustische Nachahmungen sind. Auch aus Wittgensteins eigenem, eher unbedachten Hinweis auf die Hieroglyphen in 4.016 gewinnen wir nicht viel Einsicht: »Um das "Wesen des Satzes zu verstehen, denken wir an die Hieroglyphenschri, welche die Tatsachen, die sie beschreibt, abbildet.« Diese Aussage über die Hieroglyphenschri ist generell falsch. Die Hieroglyphen sind eine Art bildlich verfaßtes Silbenarsenal, wobei die Zeichen selten das darstellen, dessen Bilder sie vermeintlich sind, sondern durch ihren phonetischen Wert funktionieren, ungefähr -
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aber nur ungefähr – wie ein Rebus. Wenn das Bild einer Maus als Hieroglyphe erscheint, dann deshalb, weil wir den Laut [maus], benötigen, nicht das Wort »Maus«. Es wäre, um ein Beispiel zu konstrieren, so als ob wir die Silbe »Maus« in dem Wort Mausoleum durch das Bild einer Maus ersetzen würden1. Obgleich hier das Bild erscheint, hat das Wort »Mausoleum« doch keinerlei Verbindung mit Mäusen. Daher bildet das Bild der Maus als ein hieroglyphisches Wort überhaupt nichts ab, obwohl es in einer komplexen Beziehung mit dem gesprochenen Wort steht, das Mäuse bezeichnet. Auch das gesprochene Wort ist kein Bild in irgendeinem nennenswerten Sinne. Allerdings dient das Bild einer Maus manchmal wirklich dazu, Mäuse zu bezeichnen, denen es auf der Basis der ägyptischen Konventionen zudem auch ähnlich sieht. Aber wenn das Zeichen so als ein Bild benutzt wird, dann muß eine spezielle Markierung hinzutreten, ein Bilderstrich, etwa in der Art von Freges Inhaltsstrich'''', der anzeigt, daß es auf diese Weise benutzt wird. Kann man nun sagen, daß dieser Strich in irgendeiner Hinsicht Teil des Bildes ist? Offensichtlich nicht, denn er ist eine Art Operator, der seinen Operanden in ein Bild umwandelt, also in etwas, als das es als bloße Hieroglyphe eben nicht unmittelbar zu erkennen ist. (In ähnlicher Weise verwandeln meiner Ansicht nach Anführungsstriche das, was sie einschließen, in ein bloßes Bild einer Reihe von Wörtern). Wittgenstein selbst benötigt eine Art Bilderstrich, vor allem angesichts der bekannten Kritik, daß es keinen guten Grund dafür gibt, die Tatsache nicht als ein Abbild des Satzes zu bezeichnen, also Judy als eine Abbildung ihres Photos, da ja alles, was erforderlich ist, um etwas zu einem Bild von etwas anderem zu machen, nur die Gemeinsamkeit der Form ist, diese Gemeinsamkeit sich aber auf beide Seiten in gleicher Weise erstreckt. Folglich wird ein Kriterium nötig, um zu zeigen, welcher Teil eines gleichförmigen Paares den anderen nun eigentlich darstellt. Schließlich stellt üblicherweise weder ein gesprochener Satz einen geschriebenen dar, noch umgekehrt – vielmehr sind sie beide ein und derselbe Satz, worin auch immer das Identische, das ihnen beiden zukommt, bestehen mag. Dieses Identische teilen sie, nach der Konzeption des Tractatus, darüber hinaus auch noch mit dem Gedanken, den demnach keiner von beiden darstellt. Auf der Basis jenes Identischen, das uns von einem Medium zum anderen begleitet, wird zudem keines dieser Medien zur Darstellung einer Tatsache. Um etwas als Darstel1 Im Original werden die Worte »cat« und »catalogue« als Beispiele benutzt [Anm. d.U.]
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lung eines anderen zu bestimmen, müssen wir auf etwas anderes als die gemeinsame Form ausweichen, etwa eine Konzeption wie die der Denotation. Dann aber öffnet sich zwischen dem Bild und dem Abgebildeten eine Klu, die den Immanentismus und vielleicht jede eorie der Darstellung, sogar die der bildlichen Darstellung, immer unplausibler werden läßt. Es scheint, daß der Wandel vom Immanentismus zur symbolischen Darstellung noch einmal rekapituliert werden muß, so als ob wir seit den Griechen nicht viel gelernt hätten. Das Bild ist dann eine Darstellung, die uns eine gewisse Art von Information über das gibt, was es bezeichnet (und dem es ähnlich sieht), aber diese Information erfordert keine interne Verbindung. Sie kann auch durch Beschreibung gegeben werden. Man kann sich dabei nicht durchmogeln mit dem, was Wittgenstein mit dem Begriff »zeigen« dunkel im Sinn hatte, etwa wenn er sagt: Ein Bild bzw. ein Satz »zeigt die logische Form der Wirklichkeit« (4.121). Denn die Wirklichkeit zeigt gleichermaßen die logische Form der Sätze. Nein: Wenn etwas ein logisches Bild ist, mag es zwar die logische Form dessen, was es darstellt, zeigen, aber es vermag nicht zu zeigen, daß es selbst ein Bild ist, wenn »zeigen« bedeutet, daß die Form sich als Form kenntlich macht, – denn man müßte ja schon wissen, daß diese sich überhaupt zeigt. Das heißt, die Sätze können nicht zeigen, daß sie Bilder sind. Das kann nur, um Wittgensteins Ausdruck zu benutzen, »von außen«, durch eine zusätzliche Bestimmung geschehen. Darum sagte ich, es sei so etwas wie ein zusätzlicher »Strich« nötig (Ich übergehe hier das Problem, daß etwas einem anderen exakt ähneln kann, ohne notwendigerweise dessen logische Form zu haben, oder irgendeine Form überhaupt, da es in einer Weise entstand, die es logisch formlos machte.1). Sobald wir nun eine Klu erzeugen zwischen Darstellungen -Reden, Inschriften und Gedanken – auf der einen Seite und Tatsachen auf der anderen Seite, werden die ersteren Eigenschaen haben, die sie mit den Tatsachen (oder Dingen), trotz einer möglicherweise gemeinsamen Form, nicht teilen, und zwar über alle Eigenschaen hinaus, die sie als Medien unterscheiden. Die Darstellungen werden einen semantischen Wert erhalten. Sie werden wahr oder falsch sein. Vielleicht werden sie dann wahr sein, wenn sie tatsächlich dem 1 Dieses Problem habe ich ausführlich behandelt in: e Transfiguration of the Com-monplace (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1981) [deutsch als: Die Verklärung des Gewöhnlichen Eine Philosophie der Kunst. Übers, von Max Loo-ser, (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984).
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Bezeichneten ähnlich, bzw. formal äquivalent sind, aber was auch immer der Fall sein mag, jedenfalls benötigen wir einen semantischen Apparat, der mehr leistet als das, was der spärliche Begriff einer gemeinsamen, vielleicht sogar logischen Form erfassen kann. Dieser Apparat müßte ausreichen, um den Begriff der Darstellung zu analysieren. Der Begriff des Bildes entfällt daher, zumindest benötigen wir genau denselben semantischen Apparat, um zu klären, wodurch Bilder etwas darstellen, da es nicht genügt, daß sie einfach nur Bilder sind. Warum nimmmt Wittgenstein also an, daß Sätze Bilder sein müssen? Was mögen seine Gründe sein? Das bringt mich zu einer zweiten Gruppe von Fragen zum Problem der bildlichen Darstellung, die psychologischer Natur sind. (2) »Einen Satz verstehen, heißt, wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist« (4.024). Auch wenn Sätze keine Bilder sind, läßt sich der Begriff des Verstehens leicht auf das Verstehen von Bildern ausdehnen. Wie auch immer wir entscheiden mögen, daß Bilder wahr sein können: Ein Bild verstehen heißt wissen, was der Fall ist, wenn es wahr ist. Es mag nun, wie Elliot Sober vorschlägt, »einen Begriff der piktoralen Kompetenz« geben, »der dem gebräuchlicheren Begriff einer sprachlichen Kompetenz streng analog ist.«1 Es ist allerdings fraglich, ob der Begriff in dieser Erweiterung eine allgemeine Form mimetischer Kompetenz umfassen kann, der die piktorale Kompetenz als einen Sonderfall einschließt, denn nicht jeder Fall einer Imitation kann einen semantischen Wert wie wahr aufnehmen. Es ist ein nicht-semantischer Sinn von »falsch«, wenn wir einen Butterersatz als falsche Butter, oder eine Lederimitation als falsches Leder bezeichnen. Wenn Baptiste in Les enfants du Paradis einen kleinen Diebstahl mimt, so ist das nicht ein Fall von Ersatz -Taschendiebstahl, sondern eine den Umständen entsprechende, wahre Darstellung eines wirklichen Taschendiebstahls. Da mimetische Nachahmungen als eine Gattung der Darstellung aber die angemessenen Werte von Wahrheit und Falschheit aufnehmen können, muß es auch ein entsprechendes Verstehen geben, das dem sprachlichen Verstehen entweder entspricht oder nicht. In einer gewissen Weise zeigt die Mimesis, wovon sie eine Darstellung ist, und das ist es, was die immanentistische eorie ermöglicht. Sofern Sätze mimetisch sind, tun sie dasselbe wie Sätze, die uns sagen, was der Fall sein muß, wenn sie wahr sind, aber sie tun es auf eine so verschiedene Weise, daß von 1 Elliot Sober, »Mental representation«, Synthese 33 (1976), 101-48.
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Anfang an Zweifel auommen, ob piktorale Kompetenz wirklich wie sprachliche Kompetenz strukturiert ist. Sober bestimmt bildliches Verstehen als die Kompetenz, Bilder in Sätze umzuformen, wobei das sprachliche Gegenstück zu einem Bild eine Hypothese ist, die »eine Person aus einem Bild ableiten würde, indem sie allein ihre piktorale Kompetenz gebraucht« (114). Es mag richtig sein, daß Personen, die Bilder verstehen, fähig sind, in Worte zu fassen, was ein Bild zeigt. Aber ich bin skeptisch, ob das bildliche Verstehen hierin besteht. Denn damit würde bildliches Verstehen sprachliches Verstehen erfordern, und unsere allgemeine Frage, ob es eine mit einer deskriptiven Sprache äquivalente bildliche Sprache geben kann, wäre damit sofort negativ zu beantworten. Vielleicht ist sie für Sober bereits negativ beantwortet, denn der Umfang der Hypothesen, die man aus Bildern ziehen kann, »indem man allein die piktorale Kompetenz nutzt«, muß enger sein als der Umfang aller möglichen Hypothesen, und daher muß man etwas über die »piktorale Kompetenz allein« hinaus in Anspruch nehmen, um diese Diskrepanz zu erklären. Aber dann stellt sich in aller Schärfe die Frage, wie nah piktorale und sprachliche Kompetenz wirklich verwandt sind. Ich möchte das in Verbindung mit den Vorschlägen des Trac-tatus klären. Die meisten Argumente des Tractatus liefern lediglich Gründe dafür, warum es nicht auszuschließen ist, daß Sätze Bilder sein sollen. Aber in 4.021 findet sich eine bemerkenswerte Beobachtung: »Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit: Denn ich kenne die von ihm dargestellte Sachlage, wenn ich den Satz verstehe. Und den Satz verstehe ich, ohne daß mir sein Sinn erklärt wurde.« Diese Passage hat in unserer gegenwärtigen linguistischen Diskussionslage gewiß eine Implikation, die sie 1922 kaum gehabt haben düre, vor allem deswegen, weil es ein weithin akzeptiertes Kriterium sprachlicher Kompetenz ist, daß jemand, der sie besitzt, neue Sätze in seiner Sprache versteht, ohne daß ihm ihr Sinn erklärt werden muß – ohne also zu lernen, was ihr Sinn ist. In dem Maße, in dem dies auch auf Bilder zutri – und zweifellos tri es ja (in einer gewissen Weise) zu -, kann man zumindest eine starke Analogie zwischen piktoraler und sprachlicher Kompetenz annehmen. Die Analogie konnte von Wittgenstein selbst kaum beabsichtigt sein, es sei denn, wir halten ihn für einen noch sehr viel weitsichtigeren Denker, als zu seinen Ehren bisher schon angenommen wurde, denn jenes Kriterium wurde erst sehr viel später von Chomsky artikuliert. Tatsächlich muß die Erklärung dessen, was auch immer in 4.024 an
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Wahrheit stecken mag, mehr oder weniger auf bestimmten Tatsachen der Psychologie des Bildverstehens beruhen, die ihrerseits manche Zweifel aufkommmen lassen, ob die parallelen Fakten in der pikto-ralen und der sprachlichen Kompetenz wirklich irgendeine weitere Parallelität zwischen den Kompetenzen anzeigt, denn jene Tatsachen erfordern jeweils ganz verschiedene Erklärungen. Die Psychologie sieht so aus: Es scheint, daß wir Bilder von x genauso kodieren, wie wir x selbst kodieren, so daß wir den Unterschied zwischen dem Erkennen eines weiteren Vorkommnisses von etwas, das wir bereits wahrgenommen haben, und dem Erkennen eines Bildes des nämlichen Dinges gering veranschlagen müssen. Kinder benutzen dieselben Wörter, um die Bilder von Dingen und die Dinge selbst zu identifizieren, und Julian Hochberg1 hat o den Fall eines Kindes angeführt, das in einer Umgebung ohne Bilder aufwuchs, aber keine Schwierigkeiten hatte, seinen Wortschatz, den es an den Objekten selbst erworben hatte, auf die Bilder dieser Objekte zu übertragen, als ihm später solche Bilder gezeigt wurden. Hochberg schreibt: »Wenn die Fähigkeit, Umrißzeichnungen zu verstehen, vollständig erlernt wird (wobei diese auch angeboren sein mag), dann kann dieses Lernen nicht als isolierter Vorgang erfolgen, sondern nur im normalen Verlauf des Erlernens dessen, was man braucht, um die Konturen von Objekten in der Welt zu erkennen.« Der Psychologe, R. J. Herrnstein2 aus Harvard hat gezeigt, daß Tauben Bilder mit einem gemeinsamen Gegenstand (Wasser, Bäume, das Gesicht einer einzelnen Person) mit ungefähr derselben Erfolgsrate wie Menschen herausfinden können, wobei es bemerkenswert ist, daß sie das nur bei der Vorlage von Photographien, nicht aber von Zeichnungen tun konnten. (Hochbergs Kinder hatten dagegen 1 Julian Hochberg, »e Representation of ings and People«, in E. H. Gombrich et al., Art Perception, and Reality (Baltimore: John Hopkins, 1972) p. 70. [deutsch als: Die Darstellung von Dingen und Menschen in: E. H. Gombrich, J. Hochberg, M. Black: Kunst, Wahrnehmung und Wirklichkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977] 2 Robert Herrnstein, et al., »Natural Concepts in Pigeons«, Journal of Experimental Psychology: Animal Behaviour Processes, II, 4, (1976), S. 285-302. Es gibt Anhaltspunkte dafür, daß die Fähigkeit, Dinge wahrzunehmen, zur Hardware des Gehirns gehört und vielleicht ein evolutionäres Produkt ist. Obwohl Tauben Photographien von Individuen identifizieren können, versagen sie bei Zeichnungen, etwa von Charlie Brown. Aber sie versagen auch bei Photographien bestimmter künstlicher Gegenstände wie Automobilen. So kann man sich fragen, ob sie überhaupt Automobile wahrnehmen können, aber die damit thematisierte Beziehung von Sehen und Wahrnehmen ist zu schwierig, um hier diskutiert zu werden.
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weder mit Zeichungen noch mit Photographien Schwierigkeiten.) Ich werde diese hier zur Diskussion stehende Art von Lernen nichtassoziativ nennen. Lernen, daß etwas ein Bild von x ist, ist von der gleichen Art, wie lernen, ein x selbst zu erkennen. Daher muß man im gegebenen Fall nicht lernen, das Bild von x mit x zu assoziieren, wie es bei der Zuordnung von x zu seinem Namen geschieht. Das Lernen von Namen ist assoziatives Lernen, weil hier kein interner Bezug gegeben ist, so wie Kratylos ihn sich erträumte, und dessen Fehlen ihn verstummen ließ. Etwas Ähnliches bemerkt Wittgenstein im Tractatus einige Absätze später: »Die Bedeutungen der einfachen Zeichen (der Wörter) müssen uns erklärt werden, daß wir sie verstehen.« (4.026) Das bedeutet, so meine ich, daß wir Sätze zwar dadurch verstehen, daß wir die Wörter verstehen, aus denen sie zusammengesetzt sind, daß die Beziehung zwischen den Sätzen und dem, was ihren Wahrheitsbedingungen Genüge tut, sich aber von der Beziehung zwischen Wörtern und ihren Bedeutungen unterscheidet. Die letztere ist arbiträr, etwa so wie Saussure sich das dachte. Dagegen könnte die Beziehung im ersten Fall auch nicht arbiträr sein, und sie kann bei Bildern und dem, was sie tatsächlich abbilden, wohl kaum arbiträr sein, wenn die Mechanismen mit denen beides wahrgenommen wird, bei beiden tatsächlich identisch sind. Sober möchte das Wiedererkennen von Individuen (in dem Sinn, daß man ihre Namen angeben kann) aus der piktoralen Kompetenz ausschließen, obwohl er sogar zugesteht, daß die meisten von uns »Napoleon« sagen würden, falls sie aufgefordert werden, ein Bild des berühmten Gesichtes zu identifizieren. Aber hier gerät er meiner Meinung nach in Schwierigkeiten, indem er sprachliche Kompetenz als Bedingung piktoraler Kompetenz voraussetzt. Die Bedeutung eines Namens zu verstehen, ist noch nicht Teil der sprachlichen Kompetenz, da die Bedeutung von neuen Namen uns erklärt, also durch assoziatives Lernen vermittelt werden muß. Aber einzelne Individuen und Bilder von diesen Individuen wiederzuerkennen, lernen wir offensichtlich nicht durch Assoziation, wie das ja auch Herrnsteins Tauben bezeugen. Ein Bild wird genausowenig wie ein Satz durch Assoziation mit Sachlagen verstanden, beides sind Arten von nichtassoziativem Lernen. Aber es ist fraglich, ob wir irgendetwas im Verstehen von Sätzen namha machen können, das den perzeptuellen Mechanismen beim Verstehen von Bildern entspricht. Die Frage ist also, ob es wirklich eine strukturelle Parallele zwischen der piktoralen und der sprachlichen Kompetenz gibt. Und in dieser Frage bin ich mir überhaupt nicht darüber im klaren, wie man vorgehen sollte. Wenn es wahr ist,
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daß dieselben »Verfahrensweisen« benutzt werden, wenn man lernt, Bilder von Dingen zu erkennen, deren Umrisse man in der Wahrnehmung der Dinge selbst zu erkennen lernt, und wenn dieselben Verfahrensweisen in der Wahrnehmung von zwei Vorkommnissen desselben Dinges oder des selben Dinges in verschiedenen Umständen aktiviert werden, in der Wahrnehmung des Dinges also genauso wie in der seiner Zeichnung oder Photographie, dann ist es schwierig, zu sehen, wie sich piktorale Kompetenz, von dem unterscheidet, was man Wahrnehmungskompetenz nennen könnte. Es scheint mir dabei keine Rolle zu spielen, ob man im Lernvorgang von den Objekten zu deren Bildern übergeht, wie im Falle von Hochbergs Kind, oder von Bildern zu Objekten, wie im Falle von jemanden, der, um den Eiffelturm erkennen zu können, nichts weiter benötigt, als das, was er beim Erkennen von dessen Abbildung gelernt hat. Es gibt natürlich Dinge, die, wie Einhörner, aufgrund von zoologischen und künstlerischen Zufällen nur auf Bildern existieren. Aber wenn sie existierten, dann würden Einhörner mit denselben Verfahrensweisen wiedererkannt werden wie ihre Bilder, und es könnte unseren Begriff des Einhorns nicht verändern, wenn jemand behauptet, er habe eines in Tierra del Fuego entdeckt, das tatsächlich dieses Hörn in der Mitte hat, aber andererseits Stummelfüße und einen Rüssel, einen Körper wie ein Walroß und Schweinsäuglein. Was man entdeckt, wäre nur dann ein Einhorn, wenn es weiß ist, einem Roß gleicht und zugleich gefährlich und sanmütig ist. Sein Bild sagt uns, von welcher Art es sein muß, falls es existiert. Und ebenso sagen uns die Dinge der Welt, von welcher Art ihre Bilder sein müssen, selbst wenn sie topologisch umgewandelt und verzerrt werden. All das wir ein besonderes Licht auf Sobers ese. Bilderverstehen ist ein Interpretieren, das aus solchen Schlußfolgerungen besteht, die eine Person allein aufgrund ihrer Wahrnehmungskompetenz ziehen kann. Da es jedoch kein ema in der Philosophie gibt, das durch begriffliche Konflikte so vernebelt worden ist wie das Problem, auf welche Art und Weise wir etwas wahrnehmen, ist es schwierig, hier weiter zu kommen. Aus der Tatsache, daß kein weiteres Lernen erforderlich ist, um ein Bild von x wahrzunehmen, wenn einmal jemand gelernt hat, x wahrzunehmen, folgt nun nicht, daß das Wahrnehmen von x selbst kein Lernen erfordert. Trotzdem ist es schwer zu erkennen, was es mit Wahrnehmungs- und damit piktoraler Kompetenz auf sich hat, wenn diese nichts damit zu tun haben soll, was die Wahrnehmung ohne ein besonderes Lernen uns erschließt, wenn sie also darauf beruhen soll, was – in Paraphrase eines berühmten Wortes – das Auge
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der Person ihrem Gehirn mitteilt. Es ist zweckmäßig, dies anhand von Prädikaten zu erläutern, die auf ein Objekt angewandt werden können, ohne dabei auf irgendetwas außerhalb des Wahrnehmungsfeldes Bezug zu nehmen. Wir können zum Beispiel ein Paar Schuhe erkennen und sogar, daß sie bereits abgetragen sind. Aber abgetragen ist etwas nur dann, wenn es eine Geschichte des Tragens gegeben hat. Also verweist das Prädikat »abgetragen« doch auf etwas außerhalb des Wahrnehmungsfeldes. Unter Wahrnehmungskompetenz könnte man so die Fähigkeit verstehen, ein Objekt unter einer solchen Beschreibung wahrzunehmen, die keine Schlüsse impliziert, die nicht unmittelbar aus den Tatsachen des Wahrnehmungsfeldes gezogen werden können, denn Prädikate, die solche Schlüsse einschließen, erfordern ja eine bestimmte Form von Lernen. Solch komplexe Interpretationen, die ein Gelehrter wie Edgar Wind von einem solch komplexen Meisterwerk wie Giorgiones La Tempesta gibt, enthalten demnach einiges, was über die piktorale Kompetenz hinausgeht. Nach meiner Vermutung stellte sich Wittgenstein jene Bilder, deren Bedeutungen uns nicht erklärt werden müssen, als bildliche Darstellungen von Dingen vor, deren Bedeutungen uns deshalb nicht erklärt werden müssen, weil wir sie als solche ohne eine besondere Unterweisung wahrnehmen. Man kann sie als bildliche Gegenstücke zu den mythischen Basissätzen, den Protokollsätzen aus der erkenntnistheoretischen Legende des Logischen Positivismus charakterisieren. Diese Sätze, die durch die sinnnliche Erfahrung oder Introspektion vollständig verifizierbar sind, erfordern für ihre Verifikation nichts, was über die unmittelbare Erfahrung hinausgeht, und sie bilden die Grundlage für alles, was man wissen, verstehen oder vernünigerweise glauben kann. Die eorie des Verstehens, die Wittgenstein im Sinn gehabt haben muß, wird also die bekannte eorie der Verifizierbarkeit in der einen oder anderen ihrer Tarnungen gewesen sein. Doch niemand kann ernstha behaupten, daß wir La Tempesta verstehen, ohne daß uns seine Bedeutung erklärt werden müßte, oder Rafaels Verklärung Christi oder e Marriage ä la Mode von Hogarth. Die Grenze, die solche Bilder von denen trennt, die wir einfach durch den Gebrauch unserer Wahrnehmungskompetenz verstehen, ist genau jene, die die Mimesis von der Diegese trennt. Folgen wir für einen Moment der eorie der Basissätze so weit, daß wir unterstellen, daß wir einen solchen Satz verstehen, wenn wir wissen, was in der Wahrnehmung der Fall sein muß, wenn er wahr ist. Könnten wir ernstha annehmen, daß ein und dieselben Verfah-
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rensweisen uns erlauben, sowohl den Satz zu verstehen, als auch zu erkennen, ob er wahr ist – so wie es bei Bildern der Fall wäre, die man Basisbilder nennen könnte? Erfordert das Verständnis von Sätzen nichts als die Wahrnehmungskompetenz? Würde ein Kind, das in einer Umgebung aufgewachsen ist, die zwar frei von Sätzen, aber sozusagen voll von Tatsachen ist, spontan Sätze verstehen, wenn sie irgendwann gesprochen werden, einfach, weil es in seinem tatsa-chenübersäten Universum wahrnehmungsmäßig erfolgreich zurecht gekommen ist? Die Frage ist rein rhetorisch, denn ich wäre erstaunt, wenn jemand sie mit »Ja« beantworten würde. Ein Grund hierfür liegt darin, daß Sätze, anders als Bilder, sprachlich verfaßt sind, und sich von Sprachgemeinscha zu Sprachgemeinscha so sehr unterscheiden, daß man auf die Notwendigkeit von Lernprozessen verweisen muß, um diese Unterschiede erklären zu können. Vielleicht lag Wittgensteins Obsession für eine bildliche Sprache nicht nur darin begründet, daß diese eine natürliche, sozusagen kausale eorie der Semantik erlaubte, sondern darin, daß sie für alle Wesen mit einem vergleichbaren Wahrnehmungsvermögen universelle Geltung besäße, weil keine zusätzlichen Lernprozesse erforderlich wären, um jene Sprache zu verstehen. So könnte zugleich mit dem Problem der Darstellung auch das Problem der Kommunikation, dem Wittgenstein später so viel Aufmerksamkeit widmete, gelöst werden. Eine Bildersprache könnte in diesem Sinn tatsächlich universal sein. Aber was sie darstellen könnte, wäre auf das beschränkt, was man ohne weitere Lernvorgänge wahrnehmen könnte. Eine Sprache, deren Gehalt darauf reduziert wäre, hätte freilich nicht viel zu sagen. Und Bilder, die nur so viel zeigten, würden nicht viel zeigen. Aber wenn wir darüber hinaus gehen, wird sehr viel mehr als eine piktorale oder Wahrnehmungskompetenz erforderlich sein. Es ist also zweifelha, ob eine bildliche Sprache die Möglichkeiten der Darstellung einer diskursiven Sprache erreichen kann, ohne Hilfe von der diskursiven Sprache in Anspruch zu nehmen. IV Wenn bildbezogene Kompetenz eine Art kognitiver Bonus ist, sozusagen mit der Wahrnehmungsfähigkeit gegeben ist, dann folgt daraus, daß ein erkennbarer Grad von Übereinstimmung zwischen Bildern von x und x existieren muß, unabhängig von der kulturellen Determiniertheit des Bildermachens. Diese Übereinstimmung ver-
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M5 lieh den magischen eorien des Immanentismus ihre ehemalige Plausibilität, und sie nimmt Professor Goodmans eorie der bildlichen Darstellung ihre Plausibilität, da diese dafür keinen Raum hat. Goodman nimmt an, daß bildliche Darstellung mehr oder weniger erschöpfend durch die Denotation erklärt wird. Aber Denotation ist der äußerlichste semantische Begriff, weil alles für alles stehen kann, und wenn alles Abbilden nur in Denotation bestünde, dann wären Bilder wie Namen. Namen aber erfordern assoziatives Lernen. Goodman benutzt natürlich einen anderen Begriff: das Prädikat »x-Bild« klassifiziert die Art von Bild, die es ist, so wie »Louis XVI« Möbelstücke einer bestimmten Sorte klassifiziert. Aber da er keine weitere Verbindung zwischen Denotation und Klassifikation angibt, kann etwas ein x-Bild sein und doch alles mögliche bezeichnen. Wir verlangen aber zumindest, daß es bezeichnet, was es bezeichnet, weil es die Art von Bild ist, die es ist. Damit kommen Eigenschaen der Entsprechung ins Spiel. Wenn es die nicht gäbe, müßte uns die Bedeutung jedes Bildes neu erklärt werden, und nicht nur die Bedeutung von diegetischen Bildern, wenn man sie so nennen darf, die dem, was sie bezeichnen, wenig oder gar nicht entsprechen. Ebenso ist die Entsprechung ja auch in der Semantik der Sätze völlig bedeutungslos, denn diese entsprechen dem, was sie bezeichnen, ja eigentlich nur, wenn sie als Zitate gebraucht werden. Auffällig ist, daß die Wahrnehmungskompetenz uns bei solchen Sätzen befähigt, das, was sie bezeichnen, wiederzuerkennen, ohne daß wir verstehen, was diese Sätze überhaupt bedeuten. Wenn die sprachliche der piktoralen Kompetenz gliche, wäre das sprachliche Verstehen also gar nicht mehr zu erklären. Und das macht es plausibel, daß die Psychologie der piktoralen und die der sprachlichen Kompetenz ganz verschieden sein müssen. Im Hinblick auf das, was den Bildern zu entsprechen hat, haben Philosophen der Abbildung verschiedene Grenzen gesetzt, die natürlich nicht Grenzen der Darstellung als solcher sind. Descartes behauptet, er könne weder eine Vorstellung noch ein Bild von sich selbst formen, weil das, was abgebildet wird, räumlich ausgedehnt ist, und, da er die Existenz von allem räumlich Ausgedehnten, nicht aber seine eigene Existenz bezweifeln könne, sei er selbst logischerweise unabbildbar. Ähnlich argumentiert Berkeley, er könne keine Vorstellung von sich selbst formen, da er ein geistiges Wesen sei, und geistige Wesen zwar Vorstellungen haben, aber selbst keine Vorstellungen sind; und Bilder sind immerhin eine Unterklasse der Vorstellungen. Trotzdem nimmt er an, daß er sich darstellen kann, nament-
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lieh durch das, was er einen »Begriff« nennt. Sartre kommt auf vergleichbare Weise zu dem Schluß, daß er kein Objekt für sich selbst sein kann und daß sein Bewußtsein von sich selbst daher vom Selbstbewußtsein unterschieden wäre. Leo der Isaurier sprach ein Verbot der Trugbilder aus, weil Gott keine Grenzen hat, wohingegen Bilder solche haben müssen, so daß alle Bilder von Gott falsch sind und sicherlich nicht angebetet werden sollten. Darauf wurde erwidert, daß Gott in der Inkarnation eine menschliche Form angenommen habe (was immerhin verständlich macht, wie ein Mensch ein Bild Gottes sein kann) und daß er daher in dieser inkarnierten Form eben doch dargestellt werden könne. Aber – um es noch einmal zu betonen – nicht einmal die ikonoklastische eorie setzt eine generelle Grenze für die Darstellung Gottes, außer vielleicht eine episte-mologisch begründete. Es gibt noch weitere berühmte Grenzziehungen in der philosophischen Literatur, wenn die eoretiker des 17. Jahrhunderts beispielsweise behaupteten, wir könnten kein Bild eines Chiliagon formen, obwohl "wir einen Begriff davon haben können (da wir andernfalls gar nicht wissen könnten, wovon wir kein Bild formen können). – Und Berkeley argumentierte umgekehrt, daß wir keine abstrakte allgemeine Vorstellung eines Dreieckes bilden können, da jedes Bild eines Dreiecks immer nur diese oder jene besondere Spezies erfasse. Berkeley hätte vielleicht von einem Kursus in Byzantinischer Bildtheorie profitiert, aber ich muß der Versuchung widerstehen, hier mehr zu tun, als dem Leser die Grenzen des Bildermachens ins Gedächtnis zu rufen, die keineswegs die Grenzen der Darstellung überhaupt sind, ja, nicht einmal die Grenzen des Bildermachens, außer für jene Klasse von Basisbildern, bei denen der Vergleich mit dem, was sie abbilden, schon psychologisch eine so zentrale Rolle spielt. Es wäre faszinierend, sich mit diesen Begriffen den berühmten Unaussprechlichkeiten des Tractatus – »Worüber man nicht sprechen kann, usw.... « – zu nähern. Es wäre faszinierend herauszufinden, ob diese Unaussprechlichkeiten für alle Sprachen gelten, oder ob sie nur beschränkte Unaussprechlichkeiten sind, die nur etwas mit der bildhaen Darstellung zu tun haben, oder der Bildersprache, wenn es denn so etwas gibt. Der Tractatus macht nie klar, ob die ideale Sprache ebenso gesprochen wie geschrieben werden soll, aber wenn beides zutri, können wir uns sicher kaum auf die »Verfahrensweisen« berufen, mit Hilfe derer wir 4.021 kommentiert haben. Schreiben mag sich zum Sprechen verhalten, wie sich Bilder in der Byzantinischen eorie der bildlichen Darstellung zu ihren Proto-
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typen verhalten, nach der wir durch das Sichtbare zu dem aufsteigen, was nicht sichtbar ist, in einem notwendigen, aber transitorischen Schritt, der einer ese von Jacques Derrida, derzufolge das Schreiben dem Sprechen vorausgehe, schließlich doch etwas Sinnvolles verleiht, wenn auch vielleicht nicht genug Sinn, um uns von dem Gedanken abzuhalten, die Bildtheorie um jeden philosophischen Preis retten zu wollen. Es gibt ein weiteres Problem, das zu tiefgreifend ist, um hier am Ende mehr als erwähnt zu werden. Die Struktur eines Satzes ist nicht schon aus sich selbst heraus deskriptiv, obwohl Sprachphilosophen manchmal eine eorie vertreten haben, nach der die Struktur unserer Grammatik eine Struktur auf die Welt projiziert, die wir dann als eine Metaphysik zurückerhalten. Aber wenn die Sprache abbildend wäre, würde man eine Bedingung der Übereinstimmung voraussetzen, sobald die Einheiten dieser Sprache wahr sind, so daß die Struktur der Bilder und die Struktur der Welt dieselbe wäre. Die Tiefenstruktur der Welt könnte dann an der Oberfläche ihrer Darstellung abgelesen werden. Ich weiß nicht, ob es negative Bilder gibt, aber wenn es sie gibt, dann muß es – sofern die Bilder der Welt entsprechen – auch in der Welt beheimatete Negationen geben, Negationen, die in den Bildern abgebildet werden. Wenn das aber nicht der Fall ist, wenn es also so etwas wie eine Operation der Negation in allem geben muß, was wir eine Sprache zu nennen bereit sind, dann ist über das, was abgebildet werden kann, hinaus noch etwas weiteres erforderlich, und die Möglichkeiten einer bildlichen Sprache, wie der Mimesis im allgemeinen, erweisen sich als inadäquat für unsere sprachlichen Bedürfnisse – und sei es auch nur deshalb, weil die Negation als Teil der Logik oder der Grammatik – als solche eben nicht beschreibend oder darstellend ist. In diesen Bahnen würde ich die Frage beantworten, mit der ich diesen Essay begann, ob das, was gesagt werden kann, auch gezeigt werden kann. Wenn das der Fall wäre, gäbe es hinsichtlich ihrer Darstellungsfähigkeit zwischen mimesis und diegysis nicht viel zu wählen. Es mag natürlich Gründe geben, die mimetische Darstellung der diegetischen vorzuziehen, wie es auch Gründe geben mag, analoge über digitale Kodierung in der Informationsverarbeitung zu stellen. Aber diese Fragen hier weiter zu verfolgen, überschreitet meine derzeitigen analytischen Fähigkeiten.
MICHAEL POLANYI
Was ist ein Bild? An der Decke der Kirche San Ignazio in Rom befindet sich ein eigenartiges Gemälde. Es ist das Werk des Jesuiten Andrea Pozzo, entstanden am Ende des siebzehnten Jahrhunderts. Das Bild zeigt, neben einer Anzahl Figuren, eine Reihe von Säulen, die die Pilaster, die das Gewölbe tragen, fortzusetzen scheinen. Aber diese Bildgegenstände sieht man in ihrer normalen Form nur, wenn man als Betrachter in der Mitte des Schiffs steht. Entfernt man sich von diesem Punkt auch nur um wenige Meter, so scheinen die Säulen gekrümmt zu sein und sich in einem Winkel zum Kirchengebäude zu senken. Wenn man die Mitte des Schiffs umkreist, scheinen sich auch die gemalten Säulen ringsum zu bewegen, wobei sie ständig vom eigenen Standpunkt wegzusinken scheinen. In einem Aufsatz im Journal de Psychologie normale et patholo-gique, 1963, lieferte Henri Pirenne eine interessante Erklärung dieses Phänomens, und in einem kürzlich bei Cambridge University Press
Andrea Pozzo, Deckenfresko S. Ignazio, Rom, 1691-1694
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erschienenen Buch, Optics, Paintingand Photography, baute er seine Argumentation aus. Ich glaube, seine Gedanken haben wichtige Konsequenzen. Zunächst scheint das Pozzo-Phänomen wenig Anlaß zur Diskussion zu bieten. Wir wissen, daß ein perspektivisches Bild seinen Gegenstand von einer zentralen Position aus darstellt; wenn es aus einem Winkel zu der so festgelegten Richtung betrachtet wird, muß es also verzerrt erscheinen. Pozzo selbst erklärte so die Verzerrung seines Bildes, sobald es aus einem Winkel zur Perspektivachse gesehen wird. Doch mit dieser Erklärung wird lediglich eine viel umfassendere Frage aufgeworfen. Denn es folgt daraus, daß alle perspektivischen Bilder in einem vergleichbaren Maß verzerrt sein müßten, wenn sie aus einem Winkel zu ihrer perspektivischen Achse betrachtet werden. Das ist jedoch nicht der Fall. Man kann zum Beispiel in einer Galerie an den Bildern entlanggehen, ohne daß die Bilder so wie Pozzos Gemälde verzerrt würden. Tatsächlich müßte die Verzerrung j a hier viel größer sein, da die Abweichungen von der Perspektivachse beim Vorbeigehen an den Bildern stärker sind als die, die aureten, wenn wir das Gewölbe einer Kirche von einem Standpunkt ein paar Meter seitlich von der Mitte des Schiffs betrachten. In seiner allgemeinen Form ist das Problem natürlich bekannt. Daß die Wahrnehmung einer perspektivischen Zeichnung auch dann virtuell unverändert bleibt, wenn sie aus einem weit von der Perspektivachse abweichenden Winkel gesehen wird, ist o bemerkt worden. Doch man scheint sich diesem Problem nur oberflächlich gewidmet zu haben, vielleicht weil man die Größe der zu erwartenden Verzerrungen vernachlässigt hat. Wie dem auch sei – und ich werde darauf zurückkommen -, der Fall Pozzo konfrontiert uns mit dem ganzen Ausmaß des Problems. Er zwingt uns, danach zu suchen, welches der starke Faktor ist, der gewöhnliche Bilder vor der Verzerrung bewahrt und der in Pozzos Bild, das somit gegen die Verzerrung bei winkelverschobener Betrachtung wehrlos ist, fehlt. Pirenne nimmt an, daß der Faktor, der gewöhnliche perspektivische Bilder vor Verzerrung schützt, in unserem begleitenden Bewußtsein der Tatsache liegt, daß sich Bilder gewöhnlich auf einer flachen Leinwand befinden. Nach Pirenne hemmt unser Wissen von der Leinwand die Tiefenwirkung eines perspektivischen Bildes und schützt es so gegen den Verzerrungseffekt bei der Betrachtung aus einem seitlichen Winkel. Pozzos Gemälde ist nach dieser eorie der Verzerrung unterworfen, weil bei
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ihm die Perspektive nicht durch ein Bewußtsein des Grundes, auf dem es gemalt ist, aufgewogen wird. Ist dem so, dann wäre zu erwarten, daß Pozzos Gemälde anders aussieht als ein gewöhnliches Bild, auch wenn man sie beide korrekt entlang ihrer perspektivischen Achse betrachtet. Sie sehen in der Tat verschieden aus, und zwar eben so, wie es Pirennes eorie vorhersagt. Wenn es von seinem perspektivischen Zentrum aus betrachtet wird, hat das Gemälde von Pozzo eine Täuschungsqualität; seine Säulen erscheinen als reale Fortsetzung der Kirchenarchitektur: das Bild wird vollständig dreidimensional wahrgenommen. Gewöhnliche Bilder sehen anders aus. Sie sind nicht täuschend, sind nicht voll dreidimensional. Ein Stilleben von Cezanne verwechseln wir nicht mit echten Früchten und Gemüsen, die in einer Nische in der Wand der Galerie aufgestellt wären, und in Manets »Dejeuner sur Fherbe« glauben wir nicht, zwei unbekleidete Frauen zu sehen, die in Begleitung ihrer bekleideten Gefährten auf einem Rasenstück im Übergang zur offenen Landscha sitzen. Nach Pirenne tritt unser begleitendes Bewußtsein dessen, was die Leinwand ist, zum Eindruck der perspektivischen Erscheinung hinzu und erzeugt so ein normales Bild, das keinerlei illusionäre Anwesenheit der von ihm dargestellten Gegenstände suggeriert. Die Anfälligkeit eines Bildes, in der Betrachtung aus einem Winkel verzerrt zu werden, ist also an seine Täuschungsqualität gebunden; ein begleitendes Wissen von der Leinwand schützt das Bild vor winkelbedingter Verzerrung und verhindert zugleich seine Täuschungsqualität. Der Deckenmalerei Pozzos eignet also, in anderen Worten, sowohl die winkelbedingte Verzerrung als auch die Täuschungsqualität, weil wir ihren tragenden Grund nicht bemerken, während im Fall eines normalen Bildes unser Wissen von seiner Leinwandoberfläche die Verzerrung verhindert und die Täuschung vereitelt. Soweit Pirennes eorie. Aber bauen wir hier nicht zu sehr auf die Beweiskra eines einzigen Gemäldes, des Pozzoschen Gewölbes mit seiner eigentümlichen halbzylindrischen Form? Pirenne antwortet auf diesen Einwand mit einem zusätzlichen Argument, das er aus dem Modell der Anaglyphen gewinnt. Anaglyphen kombinieren zwei stereoskopische Bilder mit je verschiedenen Farben, die, wenn sie durch ein korrespondierendes Paar von gefärbten Gläsern betrachtet werden, ein völlig dreidimensionales Bild ergeben. Aus anderen Winkeln gesehen, zeigt ein solches täuschendes Bild eine starke Verzerrung -wie es nach Pirennes eorie zu erwarten ist.
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Wir können jedoch noch ein zusätzliches Argument für ein weiteres Element dieser eorie anführen. Offenkundig wird bei seitlicher Sicht die perspektivische Struktur eines gewöhnlichen Bildes verzerrt, wenn die Verzerrung nicht durch die Wahrnehmung der Flachheit des Bildes ausgeglichen wird. Wir stellen fest, daß die Photographie eines Gemäldes, die aus einem Winkel aufgenommen wurde, stark verzerrt ist, weil die Kamera die Leinwandpräsenz, die sonst die Verzerrung ausgleichen würde, nicht einbezieht. Aber kehren wir zu den geläufigen Erklärungen des Phänomens, daß die Erscheinung eines Bildes bei der Betrachtung aus einem Winkel nicht gestört wird, zurück. E.H. Gombrich erwähnt dieses Problem in seinem Buch Kunst und Illusion^ einige Male und rechnet es jener Klasse von Fällen zu, wo wir ein Bild in einer besonderen Weise sehen, weil dies für uns einen Sinn ergibt. Diese Tendenz ist der Weise verwandt, wie wir einen Gegenstand als konstant erkennen, auch wenn er sich uns in verschiedenen Abständen, unter verschiedenen Winkeln und in wechselnder Beleuchtung zeigt. Man kann unter diesem Aspekt versuchen, Pirennes eorie als Bestätigung dafür anzusehen, daß die Erscheinung eines Bildes auch seitlich gesehen konstant bleibt, vorausgesetzt, daß seine Wahrnehmung das begleitende Bewußtsein von seiner Leinwand einschließt, während es anderenfalls durch seitliche Sicht verzerrt wird. Wir könnten so die Täuschungsqualität mit der Winkelverzerrung verbinden, ihr Fehlen jedoch fnit der angulären Stabilität. Und so könnte man Pirennes eorie in Begriffen, die schon früher, wenn auch unscharf, geläufig waren, ausdrücken. Aber gerade jetzt, da alles seine Ordnung zu haben scheint, wir die moderne Zurückweisung des traditionellen Begriffs von Malerei neue Probleme auf. Erinnern wir uns, welcher Art die esen waren, die die moderne Malerei gegen Ende des vorigen Jahrhunderts inaugurierten. Whistler charakterisierte seine Malerei als Anordnung von Farben und Tönungen auf der Leinwand. In Frankreich erklärte Maurice Denis einige Jahre später, ein Bild sei »wesentlich eine Oberfläche, die mit Farbe in einer bestimmten Anordnung bedeckt ist«. Das zwanzigste Jahrhundert begann in Italien, der Schweiz, in Frankreich, Deutschland und Rußland mit einer Reihe von neuarti1 E. H. Gombrich, Art and Illusion – A Study in tbe Psycbology of Pictorial Representation, Oxford 1960. Deutsch: Kunst und Illusion – Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, übersetzt von L. Gombrich, Köln 1967, S. 307-336.
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gen Werken, die alle bezeugten, daß jedes Streben nach Naturnachahmung radikal verworfen wurde. Pirennes ese vom unveränderlichen Wissen um die Leinwand scheint auf den ersten Blick mit dieser modernen Bewegung, die die ganze Malerei als Pinselstriche auf einer Leinwand definiert, übereinzustimmen. Das ist jedoch ein Irrtum. Pirenne spricht von unserem begleitenden Bewußtsein der Leinwand, und zwar unter Hinweis auf meine Schrien, in denen ich zwischen begleitender Wahrnehmung und fokussierender Wahrnehmung eines Gegenstandes scharf unterscheide. Diese Unterscheidung – die Unterscheidung zwischen einer begleitenden und einer fokussierten Wahrnehmung – ändert die Situation durchaus. Ich werde dies zeigen, indem ich das Experiment in Erinnerung rufe, das Sir Kenneth Clark vor ungefähr zwölf Jahren in Betrachtung der »Meninas« von Velasquez angestellt hat. Aufgrund seiner skizzenhaen Struktur muß »Las Meninas« aus einer gewissen Entfernung betrachtet werden. Clark wollte nun beobachten, wie sich das Bild, durch allmähliche Annäherung des Betrachters, in Fragmente auflöst. Er hoe, einen stufenweisen Übergang zu finden -doch er fand ihn nicht. Er schrieb: »Ich wollte an einem möglichst weit entfernten Punkt, wo die Illusion vollständig war, beginnen, und allmählich näherkommen, bis plötzlich, was bis dahin eine Hand, ein Band oder ein Stück Samt gewesen war, sich in ein Durcheinander von schönen Pinselstrichen auflöste.«1 Wenn uns jetzt die beiden Fragen gestellt würden: 1) Welche Ansicht bestand aus Leinwand plus Pinselstrichen? und 2) Welche Ansicht zeigte das Bild?, so wäre die Antwort, daß die Sicht aus naher Distanz eine Leinwand plus Pinselstrichen zeigte, und die Ansicht aus weiter Distanz das Bild. Wir können nur die eine oder die andere dieser beiden Möglichkeiten sehen, niemals beide zugleich. In der Tat zieht Gombrich diesen Schluß aus einer solchen Beobachtung. Er sagt, daß wir entweder eine Leinwand und Flecken oder ein Bild sehen, aber niemals beides zugleich {Kunst und Illusion, S. 311). Die Situation ändert sich jedoch, wenn wir bedenken, daß es zwei verschiedene Weisen gibt, einen Gegenstand zu betrachten. Die Gestaltpsychologie hat längst festgestellt, daß durch den Blick auf 1 Sir Kenneth Clark, »Six Great Pictures«, in: e Sunday Times (London), 2. Juni 1957. Auf das Zitat wurde ich durch E. H. Gombrich, Kunst und Illusion, aufmerksam.
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die Teile eines Ganzen die Erscheinung dieses Ganzen zerstört werden kann. Lassen Sie mich einen Fall dieser Art erwähnen, der an die Experimente von Sir Kenneth Clark erinnert. Als man mit dem Fliegen begann, entdeckten die Piloten die Spuren antiker Stätten, über die man jahrhundertelang hinweggegangen war, ohne sie zu sehen. Auf dem Boden jedoch verloren auch die Flieger die Spuren dieser antiken Stätten. Es wäre natürlich Unsinn zu behaupten, wir sähen, sobald wir uns in eine Distanz begeben, eine Zusammensetzung von Teilen nicht mehr in Teilen, sondern als ein Ganzes. Vielmehr sehen wir die Teile jetzt in einer anderen Weise, nämlich eben als Teile eines Ganzen. In meinen eigenen Begriffen: die Teile einzeln zu sehen, heißt sie fokussiert zu sehen, während zu sehen, wie sie zusammen ein Ganzes bilden, ein Sehen mit begleitender Wahrnehmung bedeutet. Und eine solche Struktur ist es, die Pirenne dem normalen gegenständlichen Bild zuschreibt. Das heißt, daß sie eine begleitende Wahrnehmung der Leinwand mit einschließt. Und diese begleitende Wahrnehmung unterscheidet das normale Bild sowohl von der fokussierten Wahrnehmung von Leinwand plus Pinselstrichen, bei der das Bild auseinanderfällt, als auch von der völligen Nicht-Wahrnehmung der Leinwand, wo ein Täuschungseffekt erzielt wird wie bei der Pozzoschen Decke. Dies läßt sich in einem Diagramm illustrieren. fokussierte Wahrnehmung von:
begleitende Wahrnehmung von:
keine Wahrnehmung von:
fokussiert gesehenes Ergebnis:
-
Farbflecken
Leinwand
Täuschung
-
Leinwand + Farbflecken
-
normales gegenständliches Bild
Leinwand + Farbflecken
-
-
bedeutungslose Fragmente 1
1) Fangen wir unten an mit den fokussiert gesehenen Bildteilen. In Nahsicht zerfällt das Bild in Pinselstriche und Leinwand – in ein bedeutungsloses Aggregat von Teilen. 2) Auf der oberen Ebene finden wir die Struktur der illusionistischen Malerei, wie bei Pozzos Decke. Ein solches Bild ist voll von 1 Fokussiert betrachtet könnten Leinwand plus Farbe ein abstraktes Bild abgeben, und ein Übergang von gegenständlicher zu abstrakter Malerei könnte durch ein schrittweises Zunehmen der Flächigkeit im Bild möglich sein.
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Bedeutung, geradezu übervoll davon. Es vermittelt die Bedeutung der mit begleitender Wahrnehmung erfaßten Farbflecke, ungehindert von jeder Wahrnehmung der Leinwand oder irgendeines anderen die Malerei tragenden Grundes. 3) Zwischen diesen beiden Ebenen – der unteren, wo das Bild der Bedeutung beraubt ist, und der oberen, die überfließt von absurden und instabilen Bedeutungen – finden wir die Ebene des normalen Bildes. Hier finden wir eine begleitende Wahrnehmung sowohl von Leinwand und von Farbe, die die Qualitäten dieser beiden vereint. Wir können jetzt erkennen, inwiefern die Kontroverse über die Natur der Malerei in die Irre gegangen ist. Zu sagen, ein Bild sei »wesentlich Leinwand plus Pinselstriche«, ist falsch, wenn man sich auf die fokussierte Wahrnehmung dieser beiden, aber richtig, wenn man sich auf ihre begleitende Wahrnehmung bezieht. Sagt man (mit Gombrich), man sehe entweder Leinwand plus Flecken oder ein Bild, so übergeht man, daß wir in einem Bild Leinwand plus Flecken begleitend und nicht fokussiert sehen. Solch ein Bild umfaßt sowohl die perspektivische Tiefe seiner Malerei als auch die Flachheit seiner Leinwand, wobei diese beiden kontradiktorischen Eigenschaen als eine verbundene Qualität gesehen werden; und in der Tat ist eben diese Qualität für ein normales Bild charakteristisch. Diese Qualität ist perspektivisch, doch die Perspektive ist gedämp durch einen Überzug von Flachheit. Und es ist diese Qualität von Tiefe-wzt-Flä-che, die ein normales Bild davor bewahrt, täuschend zu werden und es vor Verzerrung bei Seitenansicht schützt. Durch diese Beobachtungen wird unsere Frage, was ein Bild ist, mehr oder weniger beantwortet. Doch aus der Nähe wird eine Inkongruenz sichtbar. Wir haben gesehen, daß die Fragmente, in die ein Bild aufgelöst wird, wenn man es aus der Nähe betrachtet, zu einem kohärenten Bild vereinigt werden, wenn man einen Abstand einnimmt; ich habe das mit der Entdeckung von antiken Stätten durch Überfliegen mit dem Flugzeug verglichen. Ich sagte, daß die Gestaltpsychologie eine Erklärung für diese Transformation von Teilen zu einem Ganzen hat. Rudolf Arnheim entwickelte diese Beziehung in Kunst und Sehen (engl. 1954; dt. Berlin 1965), indem er die Kohärenz eines Bildes in Begriffen der Gestaltpsychologie erklärte. Doch gibt es in der Art, wie die Bildung der Gestalt beim Bild vor sich geht, etwas Eigentümliches, das Arnheim nicht erwähnt. Es handelt sich nicht um eine Einheit aus komplementären Teilen, sondern um eine Fusion aus kontradiktorischen Grundmo-
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menten. Die Flachheit der Leinwand wird mit einer perspektivischen Tiefe verbunden, die genau das Gegenteil von Flachheit ist. Eine solche Integration von Inkompatiblem ist in der Psychologie nicht unbekannt. Binokulares Sehen basiert auf der Fusion von Inkompatiblem. In der stereoskopischen Photographie ist dieser Vorgang noch augenfälliger. Stereoskopische Bilder werden mit ungefähr 10 cm Abstand aufgenommen. Auf den ersten Blick sehen sie fast gleich aus, aber tatsächlich unterscheiden sie sich in jedem Punkt. Wenn wir sie in Verbindung betrachten und dabei für jedes je ein Auge benutzen, fusionieren sie zu einem einzigen Bild, indem sich ihre inkompatiblen Züge zu einem verblüffenden, neuen Anblick vereinen. Eine tiefe, dreidimensionale Erscheinung wird durch die Fusion zweier konfluierender Flächen erzeugt. Diese Fusion bewirkt eine radikale Erweiterung unserer Sehfähigkeit, aber die Integration von Leinwand und perspektivischer Zeichnung treibt diese Innovation noch viel weiter. Die binokulare Integration stärkt wunderbar unsere Kräe wahrzunehmen, was schon da ist, aber die Integration von Inkompatiblem in einem Bild eröffnet uns etwas völlig jenseits von Natur und menschlicher Praxis: denn was wir sehen, ist eine flache Oberfläche mit einer tiefen Perspektive. Diese Qualität der flachen Tiefe, die ein normales Bild kennzeichnet, kann man transnatural nennen. Wie häufig bemerkt, kommen die Farben und Töne, die dem Maler zur Verfügung stehen, nicht der Vielfalt gleich, die wir in der Natur antreffen; doch der Besitz einer flachen Tiefe geht weit über die Natur hinaus. Wir stehen nicht einfach vor einem bloßen Mangel eines Bildes, der seine Naturnachahmung einschränkt, sondern vor einer besonderen Qualität, die in der Natur gänzlich fehlt. So verstehen wir, daß der Maler von Anfang an ein Bild anstreben muß, das wesentlich von der Natur verschieden ist. Diese Fähigkeit, inkompatible Züge eines Artefakts zu ganz neuen Qualitäten zu verschmelzen, ist durch die moderne Malerei erweitert worden. Ich habe bereits die seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts wiederholt geäußerte Ansicht erwähnt, ein Bild sei im wesentlichen eine Leinwand mit darauf angeordneten Pinselstrichen. Diese Ansicht war falsch, aber in ihr drückte sich das Bestreben der Zeit aus, zum Kern der Sache vorzustoßen. In der Malerei geschah das durch die Reduzierung der Nachahmung und die damit einhergehende gesteigerte Bedeutung der Fläche. Kubismus und Expressionismus zum Beispiel steigerten durch Reduzierung der Nachahmung die Bedeutung der Fläche erheblich, und die Abstrak-
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tion brachte es bis zu völliger Flachheit, indem sie alle Darstellung vermied. Meine eorie der Integration von Inkompatiblem schließt alle diese Möglichkeiten, die den Weg zur modernen Kunst in ihren verschiedenen Zweigen geöffnet haben, ein. Aber bevor ich diese Idee des Transnaturalen noch weiter entwickle, möchte ich die Basis meiner Argumentation noch verbreitern, indem ich sie auf andere Arten der darstellenden Kunst ausdehne. Poesie und Drama werden weitere Argumente zugunsten meiner Auffassung von Malerei liefern. Zunächst das Drama. Der Schauspieler auf der Bühne ähnelt dem Maler, denn er will etwas nachahmen, ohne daß die Nachahmung mit Täuschung zu tun hätte. Wenn er den Hamlet spielt, muß der Schauspieler so tun, als ob er Polenius töten und von Laertes getötet würde, doch wenn eine dieser Handlungen den Eindruck erweckte, es würde wirklich jemand auf der Bühne getötet, würde das die Aufführung beenden. Was die Nachahmung des Schauspielers von der Täuschung trennt, ist eine dieser entgegenwirkende Kra, die seiner Kunst eigentümlich ist. Der Gegensatz zur Nachahmung, im Fall der Malerei ihre Flachheit, besteht bei einem eaterstück im Apparat der Bühnenkunst. Indem der Dramatiker, der Regisseur, die Bühnenbildner und die Schauspieler zusammen ein Stück produzieren, schränken sie die Rolle der Nachahmung ein. Die selbstwidersprüchliche flache Tiefe eines Bildes hat hier ihr nicht weniger paradoxes Gegenstück in eatermorden und anderen Bühnenszenen. Die Kunst scheint in Malerei und Schauspiel gleichermaßen in der Darstellung eines Gegenstandes in einem künstlichen Rahmenwerk zu bestehen, das den Darstellungsaspekten widerspricht, und ich glaube, wir finden diese Struktur in allen darstellenden Künsten. Im Hinblick auf die Dichtung hat I.A. Richards diese Ansicht von darstellender Kunst vorweggenommen. In Prinzipien der Literaturkritik (engl. 1924) schrieb er über das Versmaß in der Poesie: »Indem das Metrum die poetische Erfahrung von den Zufällen und Trivialitäten der alltäglichen Existenz gerade durch seine scheinbare Künstlichkeit isoliert, erzielt es den >Rahmen-Effekt< am wirkungsvollsten.«1 Aber das Versmaß ist nur eine Künstlichkeit des Gedichts unter 1 I.A. Richards, Prinzipien der Literaturkritik, übers, u. eingel. v. J. Schlaeger, Frankfurt 1972, S. 188.
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L57 anderen. Reim, expressiver Klang, charakteristische grammatische Konstruktion, fremdartige Konnotationen und vor allem die Metapher bilden weitere Momente der poetischen Gestaltung. Sie alle bilden Hilfsmittel, die, zusammen mit dem auch in Prosa übersetzbaren Inhalt, die Bedeutung des Gedichts ausmachen. Nehmen wir Shakespeares Sonett XVIII (»Soll ich vergleichen dich mit einem Sommertag?«). Dieses Gedicht von höchster Kra sagt in Prosa nicht viel mehr als: »Du bist schön, aber du wirst verwelken und sterben, wenn du nicht in meinem unsterblichen Vers erinnert wirst.« Kra und Schönheit dieses Gedichts liegen im begleitenden Rahmenwerk, welches eine einfache Idee einfaßt. Als darstellende Kunst können wir daher Bilder, Handlungen oder Aussagen innerhalb eines inkompatiblen künstlichen Rahmenwerks bestimmen. Bilder, die Gegenstände darstellen, sind daher entschieden derselben Klasse zuzurechnen wie Spiele, die Handlungen darstellen, und Gedichte, die eine Aussage treffen. Sie alle sind Kunstwerke, die durch die Verbindung ihres Inhalts mit einem inkompatiblen Rahmen von einer Qualität sind, die mit der Natur und den Dingen des menschlichen Lebens nichts zu tun hat. Nun scheint nichts Greiares mehr übrig zu bleiben, das uns ein Kunstwerk zu sagen hätte. Das ist in der Tat nicht weit von der Wahrheit. Das Kunstwerk enthält wenig Mitteilung, sein Hauptzweck ist es, unsere Teilnahme an seiner Äußerung zu erwecken. Wieder ist diese Wirkungsweise zunächst an der Dichtung festgestellt worden. LA. Richards hat der Inkohärenz und Verschwommenheit unserer eigenen Erfahrung die streng umrissenen Aussagen eines Gedichts entgegengestellt. Und T. S. Eliot sprach ebenso von der ordnenden Kra der Dichtung: »...die Erfahrung des gewöhnlichen Menschen«, schrieb er, »ist chaotisch, regellos, fragmentarisch. Jemand verliebt sich, oder er liest Spinoza, und diese beiden Erfahrungen haben nichts miteinander zu tun, nichts mit dem Geräusch der Schreibmaschine, nichts mit dem Geruch des Essens. Im Geist des Poeten aber formen diese Erfahrungen neue Ganzheiten.«1 Aus unserem gewunden dahinfließenden Leben, aus den Dingen, an denen wir vorübergehen, rufen Gedichte, eaterstücke und Bilder ungewisse Erinnerungen wach und übertragen sie in dicht verwebte und wohlorganisierte Strukturen. Und so wie der Künstler für die emen, die er gestaltet, aus seiner eigenen schweifenden 1 Zitiert von Philip Wheelright, Metaphor and Reality, 1963.
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Erfahrung schöp, so wenden wir, sein Publikum, uns seinen Werken zu, damit ihr Anblick unseren eigenen flüchtigen Erfahrungen einen Sinn gibt. Durch das Mittel des, mit seinem Gegenstand strikt inkompatiblen, Rahmenwerks zieht uns ein Kunstwerk in eine Erfahrung hinein, die jenseits des Reichs sowohl der Natur wie der menschlichen Praxis liegt, und das Verstehen und die Aufnahme von Kunst besteht eben darin, daß wir uns von ihr in ihren eigenen transnaturalen Bereich führen lassen. Die Kunst informiert uns nicht über ihren Gegenstand, sondern läßt uns in ihm leben, so wie ihr Schöpfer in ihm lebte – manchmal viele Jahrhunderte früher. Diese Art der Teilnahme erklärt aber noch nicht die Leidenscha, die atemberaubende Wirkung, die ein Gedicht, ein Stück oder ein Bild hervorrufen kann. Vielleicht können andere Gebiete eine Erklärung liefern. Am naheliegendsten wäre hier der Vergleich mit der Musik, aber das würde uns von den darstellenden Künsten zu den abstrakten Kunstarten führen, die hier nicht mein ema sind. Ziehen wir statt dessen den Vergleich mit dem Triumph der wissenschalichen Entdeckungen. Als Johannes Kepler seine Entdeckung verkündete, daß das Quadrat der orbitalen Umlaufperioden der Planeten proportional ist zur dritten Potenz der entsprechenden Abstände zur Sonne, schrieb er 1619: »Vor achtzehn Monaten erschien die Morgendämmerung, vor drei Monaten das Licht des Tages, und jetzt bin ich tatsächlich seit einigen Tagen in die wunderbarste Betrachtung eingetreten – nichts hält mich. Ich schwelge in heiliger Raserei.« Diese Leidenscha gleicht der, die ein großes Kunstwerk erzeugt, mit dem einen Unterschied: die Emotionen der Entdeckung werden nicht an den Schüler weitergegeben. Dieser erlernt die Proportionalität von Quadraten und Potenzen im Planetensystem, ohne von diesem ema weiter tief bewegt zu werden. Der Unterschied ist wohl darauf zurückzuführen, daß die Gefühle, die durch ein Kunstwerk hervorgerufen werden, auch im Betrachter eher existentiell denn intellektuell sind. Kepler selbst machte eine triumphale Verwandlung durch, als seine Entdeckung das Bild des Universums veränderte, aber diese Erfahrung mußte auf ihn beschränkt bleiben. Vielleicht finden wir aber auch im volkstümlichen Gefühlshaushalt eine Analogie zu der Weise, wie man von großen Kunstwerken hingerissen wird. Sehen wir uns an, wie der patriotische Bürger eines Landes – oder vielleicht nur jemand, der sich dort zu Hause fühlt – durch das Entfalten der Flagge bewegt werden
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kann. All die fragmentarischen und unspezifischen Erfahrungen, die bei einem Menschen die nationalen Erinnerungen ausmachen, werden durch den Anblick der Nationalflagge, die vor einer großen Menschenmenge zum Gruß entfaltet wird, mobilisiert. So kann eine eng umgrenzte Struktur, das einfache Schema einer Flagge, aus dem diffusen Lebensraum eines Menschen eine intensiv konzentrierte Emotion erzeugen. Man ersetze die Flagge durch ein "Werk der darstellenden Kunst, und man wird denselben Mechanismus am Werke sehen. Aus den verschwommenen Erfahrungen des Lebens ziehen die klaren Äußerungen der Kunst eine leidenschaliche Antwort. Zuerst tut dies die Kunst im Geist ihres Schöpfers, dann in dem ihres Publikums. Man könnte die Vermittlung einer aus Erfahrung gewonnenen Materie für eine Sachmitteilung halten; doch das ist nicht richtig. Sobald eine unserer Erfahrungen in ein inkompatibles Artefakt überführt ist – sei es im Gedicht, im eaterstück oder in Malerei -, verwandelt sich unsere Erfahrung in etwas, das keinen Vorgänger in der Natur oder der menschlichen Praxis hat. Wenn die Kunst solche transnaturalen Stoffe in uns evoziert, dann wird uns damit nichts gesagt, was wahr oder falsch sein kann; es wird keine Information über Fakten vermittelt. Das bedeutet nicht, daß die Wirkung der darstellenden Kunst völlig außerhalb unserer Beziehung zur Natur oder zur menschlichen Praxis liegt. Kunstwerke können gewisse Fakten beinhalten, und diese können überzeugend oder irreführend scheinen. Kunst kann sogar bewußt Ideen ausdrücken, und diese können "wahr oder falsch sein. Aber die Wahrheit seiner Ideen macht nicht das wahre Kunstwerk aus, so wenig deren mögliche Falschheit – auch wenn sie anstößig ist – ihre Verkörperung in einem Kunstwerk entwerten würde. All das mag im Falle von Poesie und Drama ziemlich offensichtlich sein, nicht ganz so offensichtlich ist es aber im Bereich der Malerei. Ich möchte noch einmal betonen, daß es auch für die Malerei zutri, sogar in allen traditionellen Formen, die auf Nachahmung aus waren. Das normale Gemälde, egal aus welcher Zeit, gehört zur selben Klasse wie Poesie und Drama, weil es einen künstlichen Rahmen besitzt, der seinem Stoff widerspricht, und doch so eng mit diesem Stoff verbunden ist, daß die Verbindung von beiden eine eigene Qualität annimmt, eine Qualität, die in der Natur und in der menschlichen Praxis ohne Beispiel ist. In dieser künstli-
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chen Verfremdung ihres Gegenstandes liegt die Kra von aller Malerei, Gegenstände, die aus der Erfahrung stammen, in einer Form darzustellen, die alle natürliche Erfahrung übersteigt. Und darin liegt auch die Kra jeder darstellenden Kunst. Ein paar Worte noch über die Einbildungskra. Unsere Einbildungskra ist vor allem für ihr zielloses Umherstreifen bekannt; dennoch ist sie auch unser wichtigster Führer zur Wirklichkeit. Die Wahrnehmung arbeitet innerhalb unserer Einbildungskra, und wenn es schwierig wird, auszumachen, was wir sehen, so lassen wir unsere Einbildungskra stoßweise nachforschen, was wir wohl vor uns haben mögen. Und so, wie die Einbildungskra fähig ist, die Wahrheit herauszufinden, so kann sie sich natürlich auch irren: sie kann Illusionen hervorbringen. Meistens scheint unsere Einbildungskra augenblicklich zu arbeiten, doch ihr Suchen kann auch lange dauern. Und wie die Wahrnehmung stufenweise arbeiten kann, so auch die Illusion. Es gibt Stufen der Wahrnehmung und Stufen der Illusion: Stufen der Wahrnehmung führen zum Erkennen von Gegenständen, die wirklich vor uns sind, Stufen der Illusion zum Anblick von Dingen, die nicht da sind. Da die darstellenden Künste uns von Dingen erzählen, die nicht da sind, sind diese Künste als Illusionen klassifiziert worden. Und die einer solchen Kunst zugeschriebenen Illusionen wurden dann nach dem Grad der Illusion eingestu. Aber das ist ein Irrtum. Die Künste zeigen nicht Dinge, die wirklich da sein könnten, aber nicht da sind; sie zeigen Dinge, die so beschaffen sind, daß sie nicht existieren können, weder in der Natur noch in der Menschenwelt. Ich sagte, daß Wahrnehmung und Illusion beide Werke der Einbildungskra sind. Das Schaffen eines Bildes, eines Stücks oder eines Gedichts ist auch ein Werk der Einbildungskra, aber auf eine sehr andere Weise. Wir sind diesem Unterschied schon begegnet, als wir die Integration von Teilen zu einem Ganzen, durch die wir Naturtatsachen erkennen, mit der Integration inkompatibler Elemente verglichen, durch die ein neues, in der Natur nicht bekanntes Ding ins Dasein gerufen wird. Die Verbindung von Teilen, von denen man annimmt, daß sie von Natur aus zusammengehören, erzeugt entweder eine Wahrnehmung oder eine Illusion, während die Integration von künstlerischen Elementen, die als inkompatibel entworfen wurden, transnaturale Dinge wie Bilder, Stücke oder Gedichte hervorbringt. Dies ist das Werk einer künstlerischen Einbildungskra. Die moderne Kunst hat die Integration von Inkompatiblem zu immer neuen Kunstarten ausgeweitet. Der grenzenlosen Erfin-
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dungsgabe unserer Technologie entspricht die Erfindungsgabe unserer Künste. Wir haben auch gelernt, die Kohärenz und den Wert der Kunst von ihrem frühesten Beginn bis zu den künstlerischen Experimenten der Gegenwart zu sehen. Das ist die Leistung unserer modernen Einbildungskra. Hat man diese Kräe der künstlerischen Einbildungskra in vollem Umfang erkannt, dann erweist sich die weitverbreitete Charakterisierung der Malerei als Illusion als klarer Irrtum. Ein Gemälde gehört sowenig in die Klasse der Sinnestäuschungen, wie die Wurzel einer negativen Zahl in die Reihe der natürlichen Zahlen. Die negative Quadratwurzel nennt man imaginäre und nicht illusionäre Zahl, denn sie gibt nicht vor, etwas zu sein, was sie nicht ist. Daraus folgt, daß Dr. Johnson, der davor warnte, der Illusion eines Schauspiels zu erliegen, und Coleridge, der die freiwillige Suspension unseres Unglaubens an die Kunstillusion propagierte, beide irrten. Da eine solche Illusion nicht existiert, sind Anweisungen zum Umgang damit gegenstandslos. Ich stimme also mit Professor Richard Wollheim überein, wenn er die Form, in der Gombrich von der Sinnestäuschung in normalen Gemälden spricht, kritisiert. Wenn Gombrich von Sinnestäuschung spricht, dann sollte man, so meine ich, dies nur als eine Aussage über die/imitativen Elemente bei einem Bild verstehen, und nicht über ein Bild als ganzes. Andererseits unterscheidet sich das begriffliche Rahmenwerk, das Professor Wollheim in seinen diversen Aufsätzen benutzt, so weit von den von Pirenne eingeführten und von mir weiterentwickelten Begriffen, daß ich nicht weiß, ob Professor Wollheim irgendwelche Gedanken, die ich vorgebracht habe, vorweggenommen hat und wie weit ich von seiner Sicht der Dinge abweiche.1 Natürlich stimme ich im wesentlichen auch mit H. Osborne überein, wenn er die Meinung, die perfekte Sinnestäuschung sei der vollendete Eindruck des Kunstwerks, zurückweist,2 kann aber seine Ansicht, unsere Kunstbetrachtung solle auf einer begrenzten, von ihm »Nahillusion« genannten Illusion beruhen, nicht teilen. Die »Integration von Inkompatiblem« erinnert an A. Koestlers Begriff der »BiSoziation«. Aber ich ziehe es vor, von Integration zu 1 Richard Wollheim, »Art and Illusion«, in: e British Journal of Aesthetics, vol. 3, No. 1, 1963; On Drawingan Object, 1964; Art and his Objects, 1968. 2 H. Osborne, »On Artistic Illusion«, in: e British Journal of Aesthetics, vol. 9, Nos. 2 and 3, 1969.
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sprechen, weil dies eine Verbindung zu meiner eigenen Analyse geistiger Leistungen herstellt, die ich seit dem Jahre 1946 anstelle.1 Ich glaube, daß der Anteil der Sinnestäuschung in der Malerei zuerst 1963 von Pirenne durch die ese aufgeklärt wurde, daß der imitative Gehalt eines Bildes durch die Verbindung mit einer begleitenden Wahrnehmung der Leinwand eingeschränkt wird. Diese eorie habe ich j etzt mit der Ansicht ergänzt, daß Kunstwerke ganz allgemein durch die Integration von zwei inkompatiblen Elementen gebildet werden, deren eines eine versuchte Mitteilung ist, und deren anderes eine künstlerische Struktur, die der Mitteilung widerspricht. Die harmonische Verbindung, die diese beiden Elemente eingehen, hat Qualitäten, die weder in der Natur noch im menschlichen Leben zu finden sind, und darum kann das Kunstwerk auch keine realen Fakten mitteilen. Aber es kann aus unseren formlosen Erinnerungen schöpfen, sie in seiner eigenen Struktur verkörpern und dabei tiefe Gefühle in uns hervorrufen. Die Leidenschaen, die der Künstler beim Schaffen seines Werks durchlebt hat, erzeugen so in uns, die wir ihm folgen, ihr Gegenstück. So kommt es, daß künstlerische Strukturen, die essentiell von der Natur und der menschlichen Praxis losgelöst sind, uns stärker ergreifen können als unsere eigenen Erinnerungen. 1 Science, Faith and Society, 1946.
GUNTER WOHTFART
Das Schweigen des Bildes Bemerkungen zum Verhältnis von philosophischer Ästhetik und bildender Kunst »O ist das Schweigen das Weiseste, was der Mensch ersinnen kann« PINDAR, Nem. V,18
Zu Beginn meiner Ausführungen1 mit dem Titel »Das Schweigen des Bildes« möchte ich an den Anfang einer berühmten Geschichte erinnern: sozusagen als Beweis dessen, daß auch unzulängliche, ja kindische Mittel zur Rettung dienen können: »Um sich vor den Sirenen zu bewahren, stope sich Odysseus Wachs in die Ohren und ließ sich am Mast festschmieden. Ähnliches hätten natürlich seit jeher alle Reisenden tun können, außer denen, welche die Sirenen schon aus der Ferne verlockten, aber es war in der ganzen Welt bekannt, daß dies unmöglich helfen konnte. Der Sang der Sirenen durchdrang alles, und die Leidenscha der Verführten hätte mehr als Ketten und Mast gesprengt. Daran aber dachte Odysseus nicht, obwohl er davon vielleicht gehört hatte. Er vertraute vollständig der Handvoll Wachs und dem Gebinde Ketten und in unschuldiger Freude über seine Mittelchen fuhr er den Sirenen entgegen. Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem Gesang geret1 Bei folgenden Bemerkungen, die am 3. Februar 1988 im Rahmen der Ringvorlesung »Bild und Wort« des kunsthistorischen Seminars der Universität Basel vorgetragen wurden, habe ich mehrfach Bezug genommen auf das 3. Kap. meines Buches Der Punkt, Ästhetische Meditationen. Freiburg i.Br./München 1986. Der Text wurde in geringfügig veränderter Gestalt am 27. April 1988 im Rahmen des IX. Hochschul-Colloquiums an der Universität Wuppertal vorgetragen.
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ELMAR SALMANN
Solche der Offenbarungsreligion wie der Kunst gemeinsame Leidenscha wie die von Hegel und Benjamin erahnte Struktur-Verwandtscha beider haben mich ermutigt, die Formen der Offenbarung mit den Augen moderner Kunst anzuschauen, sozusagen ihr geheimes Wasserzeichen, ihre Maserung und Grundformen genauer zu dechiffrieren – und umgekehrt das Ende der klassischen und die Herauun der nachromantischen Kunst als einen Vorgang zu betrachten, der möglicherweise mehr von christlichen Grundeinsichten und -perspektiven zehrt, als man gewöhnlich vermeint. Diesem Kreislauf wollte ich nachspüren und ihm, so gut es geht, Kontur verleihen. Mehr konnte und sollte hier nicht angedeutet und versucht sein.
BERNHARD WALDENFELS
Ordnungen des Sichtbaren 2.um Gedenken an Max Imdakl Rätselha ist nicht erst das Unsichtbare, sondern schon das Sichtbare. Bei Merleau-Ponty, dem die Phänomenologie der Malerei viele Anregungen verdankt, heißt es: »Nichts ist schwerer zu wissen, als was wir eigentlich sehen« (1966, 82). Gibt es also ein unbewußtes Sehen, das nicht weiß, daß und was es sieht, oder ist Sehen erst wirklich Sehen, wenn es sich in ein Bewußtsein des Sehens verwandelt? Hat Piaton recht, wenn er sagt: »Die Seele sieht vermittelst der Augen«, oder hat Nietzsche recht, wenn er repliziert: »Das Auge sieht«? Die Sache bleibt rätselha, auch dann, wenn wir uns in die Werkstatt des Bildkünstlers begeben, der nicht bloß sieht, sondern sichtbar macht. Giacometti äußert sich wie folgt: »Ich weiß nicht genau, was ich sehe. Es ist zu komplex. So muß man einfach versuchen, das Sichtbare zu kopieren, um sich darüber Rechenscha zu geben, was man sieht«. Der Künstler macht offensichtlich nicht nur sichtbar, sondern er macht auch sehend, und zwar andere und zunächst sich selbst. All dies weist hin auf einen Spalt zwischen Sehen und Wissen, der weder durch selbstverständliche Alltagsmeinungen zu schließen ist noch durch das, was der Philosoph Reflexion nennt. Gäbe es diesen Spalt nicht, so gäbe es vielleicht nicht den Maler, der in Farben und Linien sichtbar macht, und vielleicht gäbe es auch nicht den Philosophen, der mit Worten und Sätzen stets mehr zeigt, als er ausdrücklich sagt und weiß. Wenn im folgenden von Ordnungen des Sichtbaren die Rede ist, so wird einmal vorausgesetzt, daß es einen autochthonen »Logos der ästhetischen Welt« (Husserl) gibt, daß also die sinnliche Erfahrung als solche bereits strukturiert, artikuliert, gestaltet und organisiert ist; die Ästhetik bleibt damit zurückgebunden an eine genuine Aisthesis. Zum anderen wird vorausgesetzt, daß dieser Logos der Sinneswelt im Plural auritt, in der Form von Logoi, von wechselnden Ord-
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nungen, die eine eigentümliche Zerstreuung der Sichtbarkeit zur Folge haben. Die Relation zwischen dem Sichtbarwerden in der Wahrnehmung und dem Sichtbarmachen in der bildenden Kunst wird den Leitfaden abgeben für unsere Überlegungen, in denen die Philosophie der bildenden Kunst nach ihrem Gegenstand sucht.1 I. Kunsttheoretisches Vorspiel: Sehendes und wiedererkennendes Sehen Das methodische Schlüsselkapitel in Max Imdahls Giotto-Buch (1980), das sich mit Ikonographie, Ikonologie und Ikonik befaßt, gruppiert sich um eine methodische Unterscheidung, die jeweils zwei Deutungsweisen mit zwei Sehweisen und Bildaspekten in Beziehung setzt. Das wiedererkennende Sehen von Gegenständen, die uns bereits vor der Bilderfahrung vertraut sind, berücksichtigt den inhaltlichen Bildsinn, die Semantik des Bildes: das, was gemeint und gezeigt wird. Dieses Sehen gilt als heteronom, weil die Gesetze des Sichtbaren nicht dem Bild selbst entstammen. Dem entspricht die ikonogra-phisch-ikonologische Interpretationsmethode, wie sie beispielha von Erwin Panofsky ausgeübt wurde. Nehmen wir etwa Giottos Bild der Gefangennahme, das sich in dem Freskenzyklus der Arena-Kapelle in Padua befindet. Die Bildmittel bestehen in der Anordnung von Figuren in perspektivischer Projektion und szenischer Choreographie. Das vorikonische Verständnis konfrontiert uns mit einer Ansammlung von Figuren, die bewaffnet sind, bestimmte Kleidung tragen, über denen ein Heiligenschein schwebt usf. Auf der 1 Der vorliegende Text geht zurück auf eine Vorlesung im Rahmen einer Vorlesungsreihe, die vom kunstgeschichtlichen Institut der Universität Bochum in Erinnerung an Max Imdahl veranstaltet wurde. Ergänzend verweise ich auf meinen Aufsatz »Das Rätsel der Sichtbarkeit«, erschienen im Kunstforum, Bd. 100 und wiederabgedruckt in Der Stachel des Fremden (1990), in dem ich die Perspektiven einer Phänomenologie der Sichtbarkeit und Bildhaigkeit entwickle, mit Blickrichtung auf die moderne Kunst; ferner verweise ich auf meine Ausführungen in Ordnung im Zwielicht (1987), in denen die hier verwendete Ordnungskonzeption ausführlich erörtert wird. In der Suche nach einer eigentümlichen Bildlichkeit treffe ich mich mit Gottfried Boehms Bemühungen um eine genuine »Hermeneutik des Bildes« (s. Gadamer/Boehm 1978), die – ähnlich wie meine eigenen Bemühungen -eine deutliche Nähe zu|Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung und der Malerei aufweisen. Vgl. unsere beiden Beiträge in dem Merleau-Ponty gewidmeten Sammelband Leibhaige Vernun (Metraux/Waldenfels 1986).
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ikonographischen Ebene helfen uns die Evangelientexte weiter, die von Jesus auf dem Olberg, vom Judaskuß und ähnlichen Vorgängen berichten. Auf der ikonologischen Ebene setzt schließlich das emotionale Miterleben ein, das den Betrachter teilnehmen läßt an Jesu Machtlosigkeit oder am Erdulden des Leidens. Man sieht und erlebt im Bild also, was man schon kennt. Das sehende Sehen, das zunächst einer ästhetischen Ernüchterung entspringt, die in der Folge in ästhetische Bewunderung umschlagen mag, berücksichtigt den formalen Bildsinn, die Syntaktik des Bildes: die Art und Weise, wie etwas dargestellt ist. Dieses Sehen kann man als autonom betrachten, weil hier die Gesetze des Sichtbaren dem Bild selbst entstammen. Dem entspricht die formale Interpretationsweise, wie sie etwa von Konrad Fiedler propagiert wird. Wo in der Malerei noch Gegenstände aureten, sind sie als solche gleichgültig; sie bilden das bloße >Sujet<. Die entscheidenden Bildmittel bestehen hier in der planimetrischen Komposition, im Auau eines autonomen Blick- und Bildraumes mit Hilfe von Linien, Farben und Ebenen. Diesen beiden extremen Zugangsweisen setzt Imdahl eine vermittelnde Ikonik entgegen, in der beide Sehweisen und Bildaspekte zusammentreffen in der »Anschauung einer höheren, die praktische Seherfahrung sowohl einschließenden als auch prinzipiell überbietenden Ordnung und Sinntotalität« (S. 92f.). So läßt sich im Falle der Gefangennahme die Schräge, die von der rechten Bildhäle zur Bildmitte hin ansteigt, ausgehend von der Zeigegeste eines Pharisäers und über den Kopf von Judas hinweg auf das Antlitz Jesu hindeutend, auch in umgekehrter Richtung betrachten, nämlich als Blicklinie, die von Jesus zu Judas hin abfällt; auf diese Weise sind in ein und derselben Bildlinie zwei Bedeutungsmotive, nämlich die gleichzeitige Unterlegenheit und Überlegenheit Jesu, miteinander verklammert. Szenische Komplexität und syntaktische Komposition wechseln miteinander ab wie ema und Horizont. Der gemeinte Bildsinn realisiert sich in der Bildstruktur auf eine Weise, daß das Gemeinte auf neue Weise gesehen wird; damit geht die »Leistung ikonischer Sinndichte« über die Sprache hinaus (vgl. auch Boehm 1978). Die Synthese von wiedererkennendem und sehendem Sehen liegt also darin, daß Bekanntes (Gehörtes, Gesehenes) sowohl in den Bildsinn eingeschlossen ist als auch durch einen komplexen und verdichteten Bildsinn überboten wird. Innerhalb der Phänomenologie entspricht diese doppelte Sichtweise der Abkehr von der direkten, >natürlichen< Blickrichtung, die zunächst in der Welt der Dinge
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befangen ist. Auch diese Abkehr führt nicht zu einer anderen Welt, etwa einer Welt bloßer Formen oder bloßer Erlebnisse, sondern sie bewirkt eine andere Einstellung zur Welt; diese unsere Welt erscheint als andere, nicht mehr als fertig bestehende Welt, sondern als Welt im Entstehen (vgl. Merleau-Ponty 1984, 84). Imdahl beschränkt seine methodische Betrachtung nun keineswegs auf Bilder wie Giottos Freskenzyklus oder Breughels »Blin-densturz«, die eine reiche ikonographische und ikonologische Ausstattung aufweisen, sondern er sieht darin einen »grundsätzlichen methodischen Ansatz«, der sich auch auf moderne Malweisen wie die des Kubismus anwenden läßt%wo die »Entzweiung« in »partielle Gegenstandssignale« wie Gitarre, Krug, Pfeife oder Musiknoten und »frei erfundene Sehdaten« wie Flächenformen, Geraden oder Schrägen eine Unterscheidung zwischen wiedererkennendem und sehendem Sehen geradezu erzwingt (S. 122). Nun stellt sich allerdings die Frage, unter welchen Bedingungen eine solche Unterscheidung überhaupt durchführbar ist. Die Unterscheidung zwischen wiedererkennendem und sehendem Sehen erinnert an die spinozistische Unterscheidung von natura naturata und natura naturans, die auch in MerleauPontys Unterscheidung von parole parlee und parole parlante anklingt. Merleau-Ponty wendet in seiner »Phänomenologie der Wahrnehmung« die sprachtheoretische Distinktion auf den Bereich der »Wahrnehmungssyntax« an, indem er zwischen einer sekundären und einer originären Form der Wahrnehmung unterscheidet (1966, 58, 66). Wir werden im folgenden zu zeigen versuchen, wie Imdahls methodisch gedachte Unterscheidung durchaus die >Sache des Sehens< berührt und zu einer ontologischen Unterscheidung hindrängt, so daß die Ordnung des Bildhaen sich in der Ordnung des Sichtbaren spiegelt. Wenn darüber hinaus zutri, daß diese Ordnung nur im Plural auritt, so werden wir auf den Weg einer historischen Vervielfältigung gewiesen, die durch die Wahl eines »grundsätzlichen Ansatzes« zu schnell vereinheitlicht würde. Die historische Rückbesinnung, die sich hier anbietet, ist allerdings selbst wiederum doppelbödig. So wie Husserl in seinen Überlegungen zur Krisis der europäischen Wissenschaen zwischen der modernen Wissenschaspraxis und ihrem Selbst(miß)-verständnis unterscheidet, so wäre im Falle der Kunst zu unterscheiden zwischen der Kunstpraxis selbst und ihrem Selbst(miß)verständ-nis. So kann man durchaus annehmen, daß in Giottos Malerei ein »sehendes Sehen« am Werk ist, obwohl dies in jener Zeit, in der man sich an vorgegebene natürlich-religiöse Ordnungen hielt, im eigent-
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liehen Sinne nicht denkbar "war. Hier führt die Geschichtsbetrachtung zu einer »rückläufigen Bewegung des Wahren« (Merleau-Ponty 1986, 243f.), was freilich voraussetzt, daß keine Zeit ein adäquates Verständnis ihrer selbst entwickelt. IL Phänomenologische Anhaltspunkte: Sichtbarkeit der Dinge im Bild Fragen wir uns, was über den Sonderfall der Malerei hinaus ein sehendes Sehen bedeutet, das nicht bloß wiedererkennt, so müssen wir einen Unterschied machen zwischen der Möglichkeit, Neues zu sehen, und der Möglichkeit, auf neuartige Weise zu sehen. Im erstgenannten Falle ist das Neue ein Was: eine Umarmung, ein Helm, ein Abendmahl, das sich durch den unbestimmten Artikel als Fall eines Allgemeinen zu erkennen gibt. Jede neue Tatsache verweist bereits auf eine Bekanntheits- oder Regelstruktur, die ein Wiedererkennen ermöglicht. Im zweiten Falle handelt es sich um ein neuartiges Wie, um eine neue Struktur, Gestalt oder Regel, die es erlaubt, das Bekannte mit anderen Augen und in einem neuen Licht zu betrachten. Die Sehart, ob alt oder neu, verweist also auf eine bestimmte Sehordnung. Die jeweilige Sehordnung etabliert sich wiederum auf zwei Stufen der Sichtbarkeit, auf der Stufe der sichtbaren Dinge, die sich selbst zeigen und sehen lassen, und auf einer Stufe der sichtbaren Bilder, die sich selbst und zugleich etwas anderes zeigen und sehen lassen. Auf der Stufe der sichtbaren Dinge stellt sich das, was sich sehen läßt, immer schon in einem bestimmten Wie dar. Es ist eingelassen in die Skalen bestimmter Sehordnungen. Es erscheint in bestimmter Gestalt, vor einem bestimmten Hintergrund, in einem bestimmten Licht, im raum-zeitlichen Kontext einer bestimmten Szene oder Sequenz, in einer bestimmten Betonung und mit einem bestimmten Gewicht: eines zentral, das andere marginal, eines hervortretend, anderes zurücktretend. Das Hervor- und Zurücktreten bildet ein Sehrelief, in dem Sehenswürdiges sich von weniger oder gar nicht Sehenswürdigem abhebt. Hier kommt ein Sehbegehren ins Spiel, das dem Sehen seine Spannung verleiht. Referenz ist nicht zu denken ohne eine wenigstens minimale Präferenz. Ein bloßes Sehen, das durch kein Sehbegehren in Gang gehalten würde, müßte in der Monotonie eines Nichtsehens enden.
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Auf der zweiten Stufe der sichtbaren Bilder, die sich selbst und anderes sehen lassen, verweist das Sehen >im Bild< auf ein Wie zweiter Ordnung, nämlich auf bestimmte Bildordnungen. Das beginnt bereits mit einer Bildhaigkeit der Dinge. Ein Ding erscheint als Bild des anderen im Falle der Wiederholung, wo >dasselbe< an einem anderen Ort, zu anderer Zeit, in einem anderen Medium oder Zusammenhang auaucht. Ohne solche Vor- und Nachgestalten, die wir aus der Gestalttheorie kennen, gäbe es kein Sehenlernen und Kennenlernen, sondern nur ein Mosaik einmaliger Eindrücke. So sind für Piaton die Spiegelungen der Dinge im Wasser und auf der Oberfläche glatter Gegenstände Vorgänge, die der Erzeugung künstlicher Spiegelwerkzeuge vorausgehen. – Von der Bildhaigkeit der Dinge sind zu unterscheiden die künstlich geschaffenen Bilddinge. Sie zeigen eine Doppelgestalt: das Bild als Ding, das sich mitzeigt, und das Bild als Bild, das die Aufgabe hat, anderes zu zeigen. Die vorübergehende Bildauffassung verfestigt sich also in einer Bildverfertigung, die einer bestimmten Ordnung folgt. – Auf einer weiteren Stufe haben wir es schließlich mit künstlerischen Bildwerken zu tun, mit Kunstwerken im weitesten Sinne, das heißt mit Bildern, die nicht nur sichtbar sind und nicht nur etwas sichtbar machen, sondern die Sichtbarkeit als solche mit sichtbar machen. Der poetischen Funktion der Sprache, die sich laut Roman Jakobson auf das sprachliche Medium als solches bezieht, entspricht eine pikturale Funktion des Bildes, die sich auf das Bildmedium als solches bezieht. Das künstlerische Bild zeigt also eine spezifische Form der Selbstbezüglich-keit, eine Art von pikturaler Reflexion, die in einer »Reflexion des Sinnlichen« (Merleau-Ponty 1984, 21) gründet, diese aber zugleich übersteigt. So wie die Intentionen des Schreibens und Lesens durch das Sprachmedium hindurch auf das Besprochene gehen oder aber sich in der Dichte der Sprache verfangen (vgl. Husserliana IV, S. 240), so kann der Bildblick durch das Bildmedium hindurch auf das Abgebildete zielen oder in der Dichte des Bildes hängenbleiben. Das künstlerische Bild bewegt sich also zwischen den Extremen eines puren Fremdbildes und eines puren Selbstbildes; auf diese Weise entsteht ein Bildraum, der dem Sprachraum bzw. dem espace litte-raire entspricht.1 1 Vgl. hierzu Eckhard Lobsiens Reflexionen zum literarischen Feld (1988); in dieser »Phänomenologie der Literaturwissenscha« wird deutlich, wie sehr die Ordnungen des Sichtbaren und des Sagbaren, allen Differenzen zum Trotz, strukturell aufeinander verweisen und materiell sich verschränken.
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Wir stehen also abermals vor der Frage: Unter welchen Voraussetzungen kann es ein sehendes Sehen geben, das auf neue Weise sieht? Verwandt damit ist die andere Frage: Unter welchen Umständen kann es ein Bild geben, das als Medium eines sehenden Sehens fungiert, und speziell ein künstlerisches Bild, das nochmals einen eigenen Rang behauptet? Eine Antwort auf diese Fragen führt uns wiederum auf die Ebene der sichtbaren Dinge mitsamt der entsprechenden Sehordnung zurück. III. Kritische Differenz: Entstehende und bestehende Seh- und Bildordnung Solange die Art und Weise, wie etwas sich sehen läßt, anfänglich und endgültig bestimmt ist durch das, was das Sichtbare ist, mit anderen Worten, solange die Sehordnung in einer vorgegebenen Ordnung der Dinge gründet, kann es im Grunde kein sehendes Sehen geben. Alle Neuartigkeit des Sehens ist dann eine bloße Neuartigkeit für uns, bezogen auf einen bestimmten Entdeckungsstand, während eine Neuartigkeit an sich ausgeschlossen ist. Das Sehen wäre im Grunde nur ein wiedererkennendes Sehen, eingebettet in eine vorgegebene Ordnung, die immer schon Sichtbarkeit verleiht und verbürgt. Das klassische Vorbild für diese Sicht der Dinge finden wir in Piatons Lehre von den Ideen. Was Piaton idea oder eidos nennt, bedeutet den • wahren Anblick der Dinge. Im Rahmen der Ideen besagt Erkennen Wiedererinnerung an bereits Geschautes, das mit der Verkörperung der Seele >vergessen< wurde, und eine Bildkunst, die dem wahren Sein der Ideen gerecht werden will, wird die »wirklich bestehenden Maß Verhältnisse« abbilden und nicht solche, die bloß »als schön erscheinen« (Sophistes 236 a). Spuren dieses Piatonismus finden wir bis heute, in Husserls Phänomenologie so gut wie in Gadamers Hermeneutik. Die unverbrüchliche Ordnung des Sichtbaren wir ihre Schatten, wie schon angedeutet, auf die Ordnung des Bildhaen. Die bildhae Wiederholung mit ihrer Oszillation zwischen Vor- und Nachbild verfestigt sich zur Differenz von Urbild und Abbild, die ein eindeutiges Gefälle aufweist. Die Einschätzung dieser Differenz schwankt zwischen zwei grundsätzlichen Polen. Man kann den Abstand betonen: das Abbild als bloßes Abbild eines Abgebildeten, das sich hinter das Bild zurückzieht. Man kann umgekehrt aber auch die Teilhabe betonen: das Abbild als Art und Weise, wie das Urbild im Bild selbst
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anwesend ist. Diese: schwankende Bestimmung erklärt den Bilderstreit, der bis zur Bildbekämpfung, zur Bildzertrümmerung und bis zum Bildverbot anwachsen kann. Zu verhindern ist eine Verwechslung von Urbild und Abbild, sei es in Form von religiösen Götzenbildern oder von sophistischen Scheinbildern, die sich selbst als Bilder unkenntlich machen. Schatten fallen schließlich von der Ordnung in den Dingen auch auf das künstlerische Bild. Solange die Ordnung fest in den Dingen verankert ist, gewinnt das Bild keinen eigenen Stand, und von eigenständiger Kunst, wie wir sie in der Moderne wie selbstverständlich voraussetzen, kann nicht die Rede sein. Der Künstler nähert sich einmal dem Seher, der von einer anderen Welt kündet, das andere Mal dem Handwerker, der für diese Welt Nützliches scha. So wie in dieser Tradition die Poesie ihren unsicheren Ort hat zwischen platonischem Enthusiasmus und aristotelischer Herstellungskunst, so gerät auch das Bild einerseitsin den Sog der abzubildenden Ideen, andererseits in den Sog der abzubildenden Bilddinge. Eine Ordnung, die im Bilde entsteht und nirgends sonst, tritt so nicht ans Licht. Die Ordnung in den Dingen, die sich in der Bildordnung spiegelt, bezieht sich auf verschiedene Aspekte. Sie betri die innere Anordnung des Sichtbaren, die dazu führt, daß Eidos und Morphe als Wesensgestalt alles Beiläufige und Zufällige von sich abstreifen. Hinzu kommt die Einordnung in ein Ganzes, innerhalb dessen etwas sich als es selbst entfalten kann. Schließlich kommt es zu einer Über-und Unterordnung, die dazu führt, daß etwas mehr oder weniger sehens- und bildwürdig ist und daß das Sehbegehren gezügelt wird durch eine Hierarchie des Sichtbaren. Sofern die Ordnung sich durchsetzt, haben wir es mit einem zentrierten, allseitig geöffneten und zugleich zielgelenkten Blick zu tun. Das Wie der Bildverfertigung ist letzten Endes eingebunden in ein Was und Wozu. Dabei bleibt es relativ gleichgültig, ob diese Ordnung in den Dingen verankert ist, in den ewigen Kreisläufen des Kosmos, in einem provi-dentiellen Heilsgeschehen, in einer säkularisierten Form der Fortschrittsgeschichte – oder aber in der formalen Ausstattung eines menschlichen Geistes, der eine Ordnung vor den Dingen entwir. Max Imdahl, der doch dem sehenden Sehen einen so wichtigen Platz zuweist, bezieht sich in seinem Giotto-Buch, im Anschluß an klassische Interpreten, unvermindert auf eine Synthese von Natur-und Heilsordnung, wenn er schreibt: »Die Sichtbarkeitsoffenbarung der sonst verborgenen Gesetzlichkeit in der Natur und die Sichtbarkeitsoffenbarung der Providenz heilsgeschichtlicher Ereignisse sind
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in den Arenafresken ein und dasselbe und gleichermaßen geleistet durch die eine und selbe Bildkomposition ...« (S. 28), was bedeutet, daß Vorsehung (providentia), Anordnung (dispositio) und Zufälligkeit (contingentia) in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen (vgl. S. 122). Doch alles spricht dafür, daß es ein sehendes Sehen nur geben kann, wenn die Ordnung des Sehens nicht materia-liter und formaliter vor dem Sehen und Bilden gegeben ist, sondern mit dem Sehen und Bilden zugleich entspringt. Das Sehen wäre in diesem Sinne produktiv und nicht bloß reproduktiv, und es gäbe eine Differenz von Wie und Was, die durch keine Ordnung zu überbrücken wäre. IV. Historische Zwischenbetrachtung: Ästhetische Kontingenz-hewältigung Aus historischer Sicht läßt sich die moderne Ordnungskonzeption charakterisieren durch eine Kontingenz, die nicht nur auf der untergeordneten Ebene von Zweitursachen ihr Spiel treibt, sondern der Ordnung selbst zugehört. Dies besagt, daß die Ordnung jeweils auch eine andere sein könnte und daß der >Wirklichkeitssinn< mit einem >Möglichkeitssinn< durchsetzt ist. Wie sehr die moderne Kunst, speziell auch die moderne Malerei, an diesem Prozeß beteiligt ist, hat Max Imdahl in seinen bekannten Überlegungen zur Identität des Bildes und zu den ästhetischen Grenzüberschreitungen in der bildenden Kunst meisterha gezeigt. Eine solche Potentialisierung und Pluralisierung der Ordnung bedeutet, daß die eindeutige und definitive Anordnung der Dinge wechselnden Konstellationen weicht, daß das allumfassende Ganze sich in begrenzte Felder zerteilt und daß die Hierarchie der Zwecke sich in widerstreitende Dominanzen auflöst. Wo die Ordnung variiert, gibt es Selektionen, Exklusionen und unausbleibliche Konflikte bis hinein in den Bereich des Sehens, Bildens und Deutens. Auf diese Situation können Kunstpraxis und Kunsttheorie auf verschiedene Weise antworten. Es bietet sich einmal die Möglichkeit einer Ästhetisierung der Kunst an, eine begrenzte Art von Ästheti-sierung, die mit der Neutralisierung des Blickes einhergeht. Was sich absondert, ist ein formaler Schein, der sich als subjektiver Ausdruck von universalen Ansprüchen freihält und sich als Spiel von Möglichkeiten vom Druck der Realitäten befreit. Diese Ablösung des Wie vom Was und Wozu bedeutet, traditionell gesprochen, eine Ablö-
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sung des Schönen vom Wahren und Guten. Die Kompromißformel lautet: »Kunst in den Grenzen der reinen Vernun«, einer Vernun, in deren Eigenbereich nach wie vor das Wiedersehen den Ton angibt. Diese Begrenzung der Befugnisse der Kunst führt zu deren gleichzeitiger Entlastung und Entmachtung. Die Kunst gerät in eine labile Zwischenlage. Der Rückzug auf den interesselosen schönen oder auch bösen Schein kann die Dynamik des Bildens, einschließlich des Seh- und Bildbegehrens, nicht absorbieren. Weitergehende Möglichkeiten eröffnet die Ästhetisierung des Lebens, eine verallgemeinerte Form von Ästhetisierung, die bis zur Entfesselung des Blickes führt. Welt und Leben erscheinen als Produkte einer Welt- und Lebenskunst, die mit Formen und Formeln spielt, Möglichkeiten erprobt und im Extremfall zu einer: Auebung des Was und Wozu im Wie führt, bis hin zum Spiel von Simulation und Selbstsimulation, das von Jean Baudrillard mit solcher Suggestion beschworen wird. Diese Entgrenzung des ästhetischen Bereichs müßte zu einer Aufweichung der Kunst führen derart, daß ihr die Widerlager fehlen, auf die sie sich stützen und von denen sie sich abstoßen könnte. Denkbar ist, daß das Sehen sich verwandelt in ein Sehen ohne Wiedersehen, in ein Sehen, das sieht, ohne etwas zu sehen, sowie auch ein öffentliches Reden und Tun zu gewärtigen ist, dessen Gehaltlosigkeit durch immer gekonntere Arrangements wettgemacht wird. V. Linguistische Einlage: Bild als Leichen Der drohenden Ästhetisierung von Kunst und Leben kann man gewiß nicht begegnen mit einer erneuten Einbindung des Wie ins Was und Wozu, die zu einer gewaltsamen Rückbindung des Blickes führen würde. Denkbar ist aber ein Spiel an den Grenzen eingespielter Ordnungen, ein Widerspiel von Wiedersehen und Neusehen, ein Balancieren zwischen Was und Wie, das nicht mehr auf ein Ganzes und auch nicht auf ein allgemeines Gleichgewicht abzielt. Erläutern läßt sich diese Möglichkeit im Rückgriff auf das bekannte Sprachmodell von Karl Bühler, das sich nicht bloß auf Wortzeichen, sondern mutatis mutandis auch auf Bildzeichen anwenden läßt. Es genügt, wenn wir in diesem Zusammenhang an die wichtigsten Aspekte dieser Sprachtheorie erinnern, (a) Den Zeichen werden drei Funktionen zugemessen, die Darstellungsfunktion im Hinblick auf die Sache, die Ausdrucksfunktion im Hinblick auf den Sprecher und
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die Appellfunktion im Hinblick auf den Hörer; auf diese Weise gliedert sich das Sprechen auf in die Trias von Besprechen, Sichaussprechen und Ansprechen, (b) Innerhalb des Zeichens ist zu unterscheiden zwischen dem Bezeichneten, an dem die Funktionalität des Zeichens hängt, und dem Bezeichnenden, das die Materialität des Zeichens ausmacht, (c) Die Bezüge zwischen den Zeichen werden schließlich durch die Regeln eines Sprachsystems bzw. durch den Zusammenhang eines Sprachtextes hergestellt. Dieses Zeichenmodell ist von Anfang an bei Bühler selbst, aber auch schon in der traditionellen Semiotik, mit einer Hypothek belastet. Das Zeichen wird verstanden als, Werkzeug, als Organon, wie es im Anschluß an Piaton heißt; damit dient es aber lediglich der Wiedergabe und Weitergabe von Sinn. Dies entspricht dem wiedererkennenden Sehen, das sich auf die Anwendung von Wahrnehmungsschemata und Wahrnehmungsrezepten beschränkt. In diesem Falle bewegen wir uns auf dem Boden einer vorgegebenen Ordnung, wo die Instanzen des Was (Sache), des Wer (Sender) und des Wem (Empfänger) zumindest umrißha vorgezeichnet sind. Dieses Werkzeugmodell versagt aber, wenn der Ordnungsboden zu schwanken beginnt, und wir mit einem Sprechoder Sehereignis konfrontiert werden, das dem sehenden Sehen entspricht. In diesem Falle werden die Instanzen des Was, Wer und Wem neu bestimmt. Im strengen Sinne wird hier nichts wieder- oder weitergegeben, weil es in solchen Umbruchsituationen gar nichts gibt, was wieder- oder weiterzugeben wäre. Das sehende Sehen wohnt der Entstehung des Gesehenen und Sehenden bei, die im Ereignis des Sehens, Sichtbarwerdens und Sichtbarmachens mit auf dem Spiel steht. Dem Sehereignis entspricht ein Bildereignis, das nicht bloß sichtbar macht, was zuvor hier, dort, anderswo oder an sich schon sichtbar ist, sondern was unter neuentstehenden Bedingungen zugleich sichtbar und unsichtbar wird. Da es aber keine allumfassende Seh- und Bildordnung gibt, verschiebt sich die Unsichtbarkeit, ohne deshalb zu verschwinden. Das Ereignis des Sehens und Bildens, das ein Feld der Sichtbarkeit eröffnet, findet nicht selbst seinen Platz in dem Feld, das es eröffnet -als wäre das sehende Sehen Teil des Gesehenen oder als könnte das Bilden selbst noch in das Bild eingehen. Wenn in diesem Zusammenhang so häufig von Unsichtbarkeit die Rede ist, so handelt es sich keineswegs um eine Sichtbarkeit höherer Ordnung, sondern um das »Unsichtbare dieser Welt« (Merleau-Ponty 1986,198), das ihr zugehört, indem es sie überschreitet. Streng genommen besteht das Fiktive dann nicht darin, das Unsichtbare
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sichtbar zu machen, »sondern sehen zu lassen, wie unsichtbar die Unsichtbarkeit des Sichtbaren ist«.1 Diese und ähnliche Formeln, so auch Lyotards Rede von der »Darstellung des Nichtdarstellbaren«, laufen allerdings Gefahr, eine bestimmte Grenzkunst, etwa die von Barnett Newman, zu kanonisieren. Ich denke, um solche Formeln in einer differenzierten Diagnose einzusetzen, müßte man sich auf eine vielfältige Seh- und Darstellungsarbeit beziehen, die in mancherlei Hinsicht einer Begriffs- oder auch einer Trauerarbeit gleicht. VI. Moderne Kunst: Seh- und Darstellungskunst Wenn sich die moderne Kunst durch einen Grundzug auszeichnet, so vielleicht dadurch, daß ihre Seh- und Darstellungsarbeit sich als vielfältige Bearbeitung von Grenzen zu erkennen gibt. Dies ist nicht zufällig so; wenn nämlich die Kunst sich nicht in einem Rahmen vorgegebener Ordnungen hält, sondern neue Seh- und Darstellungsweisen erprobt, so beginnen die Ordnungsmarken zu schillern. Wer wen was in welcher Form, mit welchen Mitteln und nach welchen Regeln sehen läßt, steht nicht fest, es steht in Frage. Das Rütteln an bestehenden Grenzpfählen führt zu einem Grenzverfahren, das stets die Gefahr der Selbstauflösung oder die der Erschlaffung überspannter Kräe mit sich bringt. Auch das Scheitern künstlerischer Anstrengungen ist von historischen Spuren gezeichnet. Im folgenden versuchen wir einige Proben solcher Grenzarbeit anzudeuten, indem wir uns heuristisch an verschiedenen Aspekten des oben erwähnten Sprachmodells orientieren. (1) Bildmaterial und Bildgestalt. – Die Abkehr von einem vorgegebenen Referenten führt zu einem doppelten Grenzgang, der sich bereits in Kandinskys bekannter Unterscheidung von »großer Abstraktion« und »großer Realistik« ankündigt. Die Differenz von Abbildendem und Abgebildetem kehrt sich nach innen. So nähert sich das Bild dem Ding, einem Bild-Ding eigentümlicher Art, in dem das Bild selbst dinghae Züge annimmt. Dies gilt für Collagen und Assemblagen, aber auch für die tellurische Malerei von Tapies, für 1 Vgl. M. Foucault, Penser du dehors, dt. Üb.: 1979, S. 137. Imdahl spricht von einer »Sichtbarmachung des an sich Unsichtbaren«, wobei er etwa mit Delaunay an ein »mouvement vital du monde« denkt, das in den Simultankontrasten einer »forme mobile totale« sichtbar wird (1980, 111). Die Rede von einer »an sich unsichtbaren Wirklichkeit« läu allerdings Gefahr, die Unsichtbarkeit erneut zu verabsolutieren, statt >unsichtbar< in relationaler Weise als >un-sichtbar< zu lesen.
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die Leinwandeinschnitte von Fontana oder auch schon für den pastosen Farbaurag, der das Bild einem Relief annähert. Vollends gilt dies für die modernen Skulpturen, die sich bei Brancusi oder Giacometti in Rundplastiken verwandeln, in Plastiken also, die nicht nur einen Platz im Raum einnehmen, sondern Raum schaffen bis hin zur Neuakzentuierung eines Stadtraumes.1 Der traditionelle Bildrahmen wird gesprengt, der frontale Blick gerät auf neue Blickbahnen. Umgekehrt nähert sich das Ding dem Bild, einem Ding-Bild, das bildhae Züge gewinnt. Das reicht von Duchamps oder Broodt-haers' Readymades und Objets trouves bis zu Environments, Gebäudeverpackungen und den Arrangements der Land Art. Dieser doppelte Grenzgang wird ermöglicht durch einen ursprünglichen Chiasmus von Wirklichkeit und Bildhaigkeit, der in einer gleichzeitigen Dinghaftigkeit der Bilder und Bildhaigkeit der Dinge gründet; die totale Verschmelzung von Form und Materie ist dadurch ebenso ausgeschlossen wie die Verdampfung der Wirklichkeit im Symbol. Wenn allerdings der Grenzgang bis zu dem Extrem eines reinen Dinges oder reinen Bildes getrieben wird, so schwindet die Differenz zwischen dem Was, dem Wie und dem Worin der Sicht-und Darstellbarkeit. Mit dem Schwinden dieser pikturalen Differenz verschwände das Bild selbst; es ginge auf in einer Allbildlichkeit. Zurück bliebe höchstens eine subjektive Bildauffassung, eine Art von privater Bildsprache, die sich nicht eigentlich realisieren und materialisieren ließe. (2) Bildschri und Schribild. – In diesem Zusammenhang lohnt es sich, hinzuweisen auf eine eigentümliche Verschränkung von Bildzeichen und Schrizeichen, die auch durch paläontologische Funde bezeugt wird (vgl. LeroiGourhan 1984, Kap. VI). Die strenge Unterscheidung zwischen einem ikonischen Zeichen, das auf einer Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem beruht, und einem symbolischen Zeichen, das in einer konventionellen Zuordnung von Bezeichnendem und Bezeichnetem gründet, wurde in der Semiotik und Linguistik längst abgeschwächt; man nimmt an, daß dem Ikon konventionelle Züge anhaen, während umgekehrt das Symbol nicht frei ist von bildlichen Aspekten.2 So 1 Vgl. hierzu das eindrucksvolle Skulptur-Projekt 1987 in Münster, das von philosophischer Seite mit einem nachdenklichen Kommentar versehen wurde unter dem Titel Sehen und Denken (Gerhardt 1990). 2 Roman Jakobson spricht im Anschluß an Peirce von einer relativen Hierarchie zwischen den verschiedenartigen Zeichen; vgl. »Die Suche nach dem Wesen der Sprache«, in: Jakobson 1974.
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überrascht es nicht, daß auch in der Malerei der Chiasmus von Ding und Bild durch einen Chiasmus von Bild und Schrizeichen verstärkt wird, so etwa, wenn bei Paul Klee Pfeile und Buchstaben auauchen als Signifikantensplitter, die selbst eine Bildfunktion ausüben, oder wenn bei Magritte der Bildkommentar »Dies ist keine Pfeife« im Bild erscheint wie ein gemaltes Verkehrsschild.1 Auch die geläufige Signierung des Bildes durch den Künstler bedeutet eine auffällige Markierung, die jeder Illusionskunst zuwiderläu; denn das sophistische Blendwerk, das Piaton zu decouvrieren bemüht ist, besteht gewissermaßen aus Bildern ohne Unterschri, die ihre Künstlichkeit verleugnen. Den Schrizügen im Bild entspricht auf der anderen Seite eine Bildlichkeit der Schri, so vor allem in Schrien wie dem Chinesischen, das sich gegenüber der phonetischen Linearisierung eine pikturale Mehrdimensionalität und Strahlenförmigkeit bewahrt hat (Leroi-Gourhan 1984, 263). Das Piktogramm geht hier fast nahtlos in ein Kalligramm über mit vielen stilistischen Varianten. Wenn zeitgenössische japanische Kalligraphen mit Hilfe des Schribildes Gedichttexte visualisieren, so berühren sie sich mit den exzeptionellen Versuchen der konkreten Poesie, die auf den Spuren von Mallarme und Apollinaire einen eigentümlichen Schriraum entwir. Diese Verschränkung von-Malen und Schreiben, Betrachten und Lesen verstärkt sich, wenn schon die Ordnung der sichtbaren Dinge Momente des Artifiziellen und Konventionellen zeigt, so daß Natürlichkeit und Künstlichkeit wie zwei Seiten einer Medaille erscheinen und Kultur- und Naturgeschichte »sich im Bilde kreuzen« (Boehm 1986, 300). (3) Sehereignis und Regelwerk. – Die Potentialisierung und Plu-ralisierung jeglicher Ordnung macht die Versöhnung von Freiheit und Gesetz, den Gedanken also, man könne sich ganz und gar mit all seinen Bestrebungen in einer Ordnung wiederfinden, illusorisch. Daraus resultiert eine weitere Polarisierung. Auf der einen Seite finden wir Versuche, mit informellen, improvisierten oder automatisierten Malweisen oder Darstellungsformen wie dem Happening eine Performanz zu erreichen, die sich dem Druck der geregelten Kompetenzen entzieht und Spielräume zurückgewinnt. Doch wenn 1 Das Vertrackte dieses Bildkommentars liegt darin, daß er die Selbstverständlichkeit des natürlichen Blicks durchbricht, indem er Selbstverständliches sagt – jeder weiß, daß eine gemalte Pfeife, wenn angezündet, nach Papier riecht und nicht nach Tabak – und eben damit die Frage »Was dann?« heraueschwört, und daß er ferner diese Hemmung des Bildsehens selbst ins Bild einzeichnet als eine pikturale Unruhe.
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wir die Farbgeflechte von Pollock oder die Tuschbänder von Mi-chaux betrachten, finden wir Bildrhythmen, Farbsequenzen und Lineamente, die keineswegs form- oder regellos sind, wohl aber ein offenes Formenspiel vorführen, diesseits der Schwellen, auf der ein bestimmtes Etwas einem bestimmten Jemand entgegentritt. Daß gerade Happenings zur Ritualisierung neigen, ist bekannt. Ein reines, einmaliges Ereignis wäre wie ein Choc, der sich von anderen Chocs nur noch durch seinen Stärkegrad unterschiede und dessen Steigerung zur Abstumpfung führen müßte. Auf der Gegenseite gibt es Versuche wie die der Pop Art, die dem Schein des Immer-Neuen das Immer-Gleiche von Konservenreihen, Keep smiling und Bildklischees entgegenhalten, aus dem jede individuelle Handschri und jeder individuelle Augenaufschlag verschwunden ist. Oder es verwandeln sich Bilderreigen in Totenreigen, Photorahmen in Grabgehäuse, Bildergalerien in Ahnengalerien, so etwa in den Nekropolen von Christian Boltanski, wo die Wiederholung Totgeborenes erzeugt, als wäre jeder der Ahne seiner selbst. Im äußersten Falle fänden Wiederholungen statt, in denen sich nichts wiederholt. Die reine Wiederholung wäre das Gegenstück zum reinen Ereignis. Doch zwischen solchen Grenzmarken bewegt sich das halbanonyme Spiel des Sehens und Bildens, das niemand sich ganz und gar zusprechen, aber auch niemand sich ganz und gar absprechen kann, ohne sich selber Lügen zu strafen. Was sichtbar wird, ist immer schon mehr als das, was ich sehe, mehr aber auch als das, was ein Kanon des Sehens zu sehen gestattet. (4) Darstellungs- und Ausdruckspol. – Es besteht weiterhin eine Spannung zwischen Darstellung und Ausdruck, zwischen Sachbezug und Selbstbezug, die sich deutlich an der Kunst der Perspektivik ablesen läßt. Diese hat es zu tun mit der Vielfalt und Einheit von Gesichtspunkten. Solange die Welt mit Leibnizschen Augen betrachtet wird wie eine Stadt, die sich unter verschiedenen Blickwinkeln als dieselbe spiegelt, bleiben Einheit und Vielfalt im Gleichgewicht. Dieses Gleichgewicht gerät durcheinander, wenn mehrere Blickordnungen miteinander streiten, ohne daß eine mit der anderen kompossibel wäre.1 Die Wahl eines einheitlichen Gesichtspunktes, der sich in Gestalt eines funktional-reduzierten Sehsubjektes in der 1 Zu Merleau-Pontys Gedanken einer Simultaneität des Inkompossiblen und seiner Verwirklichung in der modernen Malerei vgl. meinen Beitrag »Das Zerspringen des Seins«, in: Metraux/ Waldenfels 1986.
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Zentralperspektive »mitverbildlicht« (Imdahl 1979, 193), bedeutet eine unaufhebbare Einseitigkeit. Ihr entgeht zumindest eines, nämlich der Ort, von dem aus das Gesichtsfeld sich so und nicht anders konstituiert; dieses »absolute Hier« ist ein »Nullpunkt«, der sich niemals völlig einordnen läßt, da er in jedem Einordnungsversuch bereits vorausgesetzt ist (vgl. Husserliana IV, S. 158f.). Das Eigene schließt sich nicht bruchlos zu einem Ganzen zusammen. So zeigt Ernst Mach in seiner bekannten Darstellung des eigenen Gesichtsfeldes, wie die Kopf- und Augenpartie förmlich aus dem Rahmen fällt. Foucaults Analyse von Velazquez' »Hoffräulein« läu in ähnlicher Weise darauf hinaus zu zeigen, daß die Repräsentation nicht selber Teil des Repräsentierten ist. So wie Augustinus von einer Enge des Geistes spricht, die es ihm verwehrt, sich selbst zu umfassen (Confessiones, X, 8), könnte man von einer Enge des Bildes sprechen. Die Flucht ins Gegenextrem einer Allseitigkeit der Darstellung würde nicht nur an die Grenzen des eigenen Sehens stoßen, sondern an die des Sehens überhaupt. Der allseitig gesehene Würfel wäre, wie Merleau-Ponty feststellt, kein wirklich gesehener Würfel mehr, sondern bloß ein ideell gedachter (Merleau-Ponty 1966, 239f.; 1986, 259f.). Die Concept Art, die sich soweit wie möglich von den Vertraulichkeiten und Vertrautheiten des Erfahrungsfeldes entfernt, muß zumindest Sehanweisungen geben, sonst hätten wir es mit puren Schrizeichen zu tun. Wenn also weder das Eigene noch das Ganze noch beides zusammen unvermindert zu haben sind, so öffnet sich der Fächer der Darstellungsmöglichkeiten. Das reicht von der kubistischen Polyperspektivik, der Beachtung heterogener Perspek-tivierungsformen, die nach Zeiten, Kulturen und Entwicklungsalter variieren, bis zum Verzicht auf jene räumliche Tiefe, die dem Betrachter einen Standort diesseits der Bildwelt suggeriert. Die Polarität zwischen Sach- und Selbstbezug betri aber auch das Verhältnis von Expression und formaler oder funktionaler Sachlichkeit. Die Spannung, die daraus für die moderne Malerei erwächst, erinnert in mancherlei Hinsicht an Husserls doppelte Frontstellung gegen Psychologismus und Logizismus; Husserl wehrt sich bekanntlich dagegen, daß die >Sache selbstx aufgelöst wird entweder in private Ausdrucksgehalte oder in leere Formalitäten. Der bloße Ausdruck wäre im äußersten Falle nur noch Ausdruck seiner selbst, er wäre gleichsam ein Bildschrei, während umgekehrt die allen subjektiven Beiwerks entkleidete Sachlichkeit eine triviale Tatsache wäre ohne das Pathos der Sachlichkeit, das auf mehr gerichtet ist als auf das Vorhandene. Nur als Korrektive behalten Extreme ihre Spann-
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kra; das Schicksal des Funktionalismus in der deutschen Nachkriegsarchitektur spricht diesbezüglich eine deutliche Sprache. (5) Darstellungs- und Wirkungspol. – Sofern Bilder nicht nur Sachliches darstellen und Eigenes verwenden, sondern auch auf den Betrachter wirken, kommt schließlich eine zusätzliche Appellfunktion ins Spiel. Wirkung ist eine rhetorische Kategorie; diese Wirkung erwacht ebenfalls zum Eigenleben, wenn das Suchen, Reden und Tun nicht mehr teleologisch auf ein wahres Ganzes hingeordnet ist, wenn die Dinge der Erfahrung miteinander rivalisieren und einander unseren Blick streitig machen (Merleau-Ponty 1984, 74), wenn also immer wieder eine Sehordnung und Sehweise sich gegen die andere durchsetzt, ohne deshalb schlechthin wahrer zu sein als die andere. Ein Beispiel für die Spannung zwischen Darstellung und Wirkung findet sich bei Max Imdahl. In seinen Überlegungen zu ästhetischen Grenzüberschreitungen in der Kunst führt er die Überlange der Mareesschen Figuren an, die von manchen Kritikern als pure Deformation behandelt wird, da sie die ausdruckshae »Wirkungsform« durch eine rein sachliche »Daseinsform« ersetzte; diese Kritiker verlieren aus dem Auge, worauf es dem Maler gerade ankommt, nämlich durch Streckung der Figuren die Gelenkstellen sichtbar zu machen (Imdahl 1968, 497). Eine Wirkung, die sich nicht mehr in eine pure Wirkung der Wahrheit sublimieren läßt, führt aber nicht nur ein Eigenleben, sie kann sich auch derart verselbständigen, daß im äußersten Falle das Bild nur Anlaß oder Mittel ist, um eine Wirkung zu erreichen, die sich auch auf anderem Wege erzielen ließe. Wie schmal der Grat ist, der Bildkunst von bloßer Tendenzkunst scheidet, zeigt sich etwa in der Zeit nach der russischen Oktoberrevolution, wo politische Plakatkunst, die sowohl im Künstlerischen wie im Gesellschalichen neue Formkräe mobilisiert, begleitet wird von der Herstellung revolutionärer Devotionalien, die nicht davor zurückschreckt, Rotarmisten als porzellane Nippesfiguren feilzubieten. Wie neu ist ein Wein, der in alten Schläuchen auewahrt wird? Für dienvestliche Welt ließe sich eine andere Rechnung aufmachen, die den Weg vom Bild zum Image markiert, zu einer Form von Selbstdarstellung also, in der das Selbst wirkungsgerecht produziert wird. Das alte Bilderverbot schlägt in dieser bildgesteuerten Praxis in ein Bildergebot um, und es müßte mit merkwürdigen Dingen zugehen, wenn dies an der Kunst spurlos vorüberginge. (6) Varianten innerhalb der Darstellungsdimension. – Die mannigfache Grenzarbeit, die wir bisher skizziert haben, führt schließlich auch zu Spannungen innerhalb der Darstellungsdimension, wo
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nach dem Schwinden eines ordnungsgerechten Wiedererkennens das Widerspiel von Wiedersehen und Neusehen besonders virulent wird. Darstellung bedeutet dann nicht mehr Darstellung von etwas, das außerhalb des Bildes gegeben ist, es bedeutet vielmehr, daß etwas im Bild in Erscheinung tritt, daß etwas entsteht, indem es sich verbildlicht. Das Schwinden eines maßgebenden Referenten eröffnet ein Feld von Möglichkeiten, von denen einige hier zum Schluß angedeutet werden sollen. Man kann einmal von einem Spiel mit dem Referenten sprechen. Spiel bedeutet hier ein Durchspielen von Seh- und Bildmöglichkeiten. Dabei kann es sich um Variationen handeln wie bei Monets Kathedrale von Rouen oder seinen Heuhaufen, um überschießende Möglichkeiten wie bei den Simultankontrasten von Delaunay und bei dem Bildgeflimmer in den Farbquadraten von Albers oder schließlich um sichtbare Unmöglichkeiten wie in den Metamorphosen von Escher, in den Gestaltsprüngen bei Vasarely oder in den syntaktischen Abweichungen der Minimal Art, wo eine Linie plötzlich zur Kante wird, weil ein Rechteck sich optisch ausbeult. Die »offene Form« verhindert, daß der Blick in einer einzigen Bildwirklichkeit zur Ruhe kommt (Imdahl 1968, 505). Diese Beunruhigung, die den »Möglichkeitssinn« anstachelt und im Bild eine »Potentiali-tät« freisetzt (Boehm 1978, 451), legt sich, wenn das Spiel mit dem Referenten in Beliebigkeit ausartet. Wenn alles gleichermaßen möglich ist, wird das Vielerlei zum Einerlei; bestenfalls handelt es sich dann noch um Sehetüden und Blickübungen, die den Fingerübungen des Pianisten gleichen. Weiterhin können wir von einer Arbeit am Referenten sprechen. Die Verwandlung der vertrauten >Sache< kann die Form einer Verfremdung annehmen, so etwa im Münchener Kreuzigungs-Trypti-chon von Francis Bacon; die Darstellung knüp hier an das Genre des Andachtsbildes an, doch in einer Weise, daß die Grenzen zwischen Opfer und Henker sich verwischen und Beter sich in Voyeure verwandeln (vgl. Zimmermann 1986). Ferner ist an eine Unterwanderung des Referenten zu denken. Das Dingliche tritt, wie schon bei Cezanne, in den Schatten eines »Vordinglichen« (Imdahl 1979, 204), eines Vorwirklichen, eines Magmas, aus dem Formen auauchen, ohne feste Gestalt anzunehmen, so etwa in den Texturen und Graffiti von Dubuffet, Tapies oder Anselm Kiefer. Die art brut weist hin auf das etre brut, von dem der späte MerleauPonty spricht. Dieses rohe Sein ist kein bloßes Rohmaterial mehr, sondern enthält ein Potential, das durch keine E-rudition auszuschöpfen ist. Eine Ausweitung des
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Referenten führt schließlich dazu, daß das Bezugsobjekt sich in ein Bezugsfeld verwandelt, wo nicht nur Bilder in einen Bildraum treten, sondern umgekehrt auch Räume sich verbildern. Die moderne Trennung zwischen einem Was und einem Worin, zwischen dem Ding und seinem neutralen Behälterraum weicht räumlichen Konfigurationen, in denen der Betrachter selber Platz findet. Diese Zugehörigkeit des Beobachters zum Beobachtungsfeld untergräbt den eingeübten Frontalblick eines Subjekts, das einer Bildtafel gegenübertritt und durch das Bild hindurchblickt wie durch ein Fenster (vgl. Boehm 1986,291ff.). Was sich hier abzeichnet, ist eine Topologie und Ökologie des Bildes, die mit einem-Umdenken der Natur durchaus zusammengeht. VII. Ausblicke: Sehen und Darstellen als Antworten Die vorausgehenden Bemerkungen sollten zeigen, wie ein-sehendes Sehen sich im Gegenzug zum-wiedererkennenden Sehen-ins Bild setzt. Diese Möglichkeit gewinnt erst ihre volle Kra, seit die großen Ordnungen des Sichtbaren, diese umfassenden Weltanschauungen und Weltbilder, im Zerfall begriffen sind und bewegliche, begrenzte Ordnungen ihren Platz einnehmen. Diesen Übergang als >Verlust der Mitte< beklagen, hieße vergessen, daß diese Mitte stets Erzwungenes an sich hatte. Das Spiel mit den Möglichkeiten, der Wechsel von Tuschieren und Retuschieren, dieses pentimento1, das im neuen Strich den alten durchschimmern läßt und verflossenen Möglichkeiten nicht endgültig entsagt, gehört zu jeder Kunst, die ihre Gestalt sucht und nicht schon hat. Je deutlicher diese Ausgangslage ist, umso mehr kann die bildende Kunst als eine Art Sehlabor fungieren, das zwischen Welteinnahme und Rückzug aus der Welt seine Operationen vollführt. Daß die Kunst deshalb nicht gegenständlich zu sein hat, liegt auf der Hand; man könnte sie überall dort, wo sie das gewohnte Sehen durchbricht, als vorgegenständlich bezeichnen, selbst wenn sie figurativ verfährt. Doch in ihrer Vorgegenständlichkeit bleibt die Kunst weit- und lebenshaltig, selbst wenn sie sich auf die Prüfung elementarer Sehbedingungenzurückzieht. 1 Zum pentimento (wörtlich: Reue), einer Retuschiertechnik in der Zeichenkunst, bei der die Hand sich zögernd vortastet, bei der Alternativen einander überdecken, ohne einander auszulöschen, und Linien sich erinnern, vgl. den Katalog Repentirs, hg. von F. Viatte, Paris 1991.
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Allerdings droht ebensosehr die Gefahr, daß der Schwund der großen Ordnungen aufgefangen wird durch pure Ersatzformen, in denen das Spannungsgefüge der Kunst sich lockert. So kann es, wie bereits angedeutet, zu einer bloßen Ausdruckskunst kommen, in der das >Subjekt<, das von Gesellscha und Geschichte enttäuscht ist, seinen Unterschlupf sucht, oder zu einer bloßen Formkunst, deren Designs sich auf Verschönerungskünste im Stile des »Schöner Wohnen« beschränken, oder zu Reizkünsten, die mit den Steuerungsmechanismen von Propaganda und Reklame verschmelzen. Solche Surrogate beziehen die Sehens- und Bildwürdigkeit ihrer Produkte von irgendwoher, jedenfalls beziehen sie diese nicht aus einem sehenden Sehen und sichtbarmachenden Darstellen, in dem es etwas zu sehen und darzustellen gibt, in dem es ein »Zu-Sehendes« gibt, das unseren Blick immer wieder verfremdet und herausfordert, bis hin zur »Überforderung« des Auges.1 Ohne ein Sehen und Darstellen, das angefacht, angestachelt und angesprochen wird durch das, worauf es antwortet, würden Bildbetrachtung und Bildverfertigung sich in einer fertigen Ordnung des Sichtbaren einrichten oder diese ständig umbauen. Ob eher das eine oder das andere zutri, wäre eine Frage des Geschmacks oder der Mittel: manche mögen es älter, manche neuer. Aber vielleicht zeigt der aufmerksame Gang durch die Ateliers der modernen Kunst, daß es nach wie vor eine >Sache des Sehens< gibt, die sich nicht in wechselnden Spektakeln erschöp. Vgl. Imdahl 1986, 503f. Ähnlich wie Wolfgang Iser von einer »Appellstruktur« des Textes spricht (1970), könnte man von einer Appellstruktur des Bildes sprechen. Zur Responsivität als einem Grundzug menschlichen Verhaltens vgl. meine diesbezüglichen Überlegungen in: Antwortregister (1994).
MEYER SCHAPIRO
Über einige Probleme in der Semiotik der visuellen Kunst: Feld und Medium beim Bild-Zeichen Mein ema sind die nicht-mimetischen Elemente beim Bild-Zeichen und ihre Rolle bei der Konstitution dieses Zeichens. Es ist nicht klar, in welchem Maße diese Elemente willkürlich sind und in welchem Maße sie zu den Grundbedingungen der Produktion und der Wahrnehmung von Bildern gehören. Manche von ihnen, wie der Rahmen, haben sich historisch entwickelt und unterliegen starken Veränderungen; obwohl sie offensichtlich konventionell sind, muß man sie dennoch nicht erlernen, um ein Bild zu verstehen; sie können sogar einen semantischen Wert annehmen. Wir sehen heute die rechteckige Form des Blattes Papier und seine klar definierte, glatte Oberfläche als eine unerläßliche Grundlage des Zeichnens und Schreibens an. Einem solchen Feld entspricht jedoch nichts in der Natur oder der Einbildungskra, in der die Phantasiegebilde des visuellen Gedächtnisses in einem unbestimmten Raum ohne Grenzen auauchen. Wer sich mit prähistorischer Kunst beschäigt hat, weiß, daß das regelmäßige Feld ein fortgeschrittenes und künstliches Produkt ist und bereits eine lange Entwicklung voraussetzt. Die Höhlenmalereien der Altsteinzeit haben keinen präparierten Bildgrund, sondern wurden unmittelbar auf die nackte Höhlenwand aufgetragen, so daß die Unregelmäßigkeiten von Erde und Stein im Bild sichtbar sind. Der Künstler arbeitete damals auf einem Feld ohne feste Grenzen und betrachtete die Oberfläche so wenig als eigenständigen Grund, daß er seine Tierfigur häufig über ein bereits gemaltes Bild setzte, ohne dieses zu entfernen, so als ob es für den Betrachter gar nicht sichtbar wäre. Wenn er jedoch sein Werk an eine Stelle an der Wand setzte, die, aus rituellen oder traditionellen Gründen, für sukzessive Malereien reserviert war, so wie man Jahr für Jahr an derselben Feuerstelle über der alten Glut Feuer macht, dann betrachtete er offensichtlich diesen Ort nicht im
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trennen. Eine dickere Umrißlinie läßt die Figur massiver aussehen; eine dünne Linie kann ihre Feinheit und Grazie betonen; eine gebrochene Linie öffnet die Form für das Spiel von Licht und Schatten mit all seinen ausdrucksmäßigen Implikationen für die Auffassung der Dinge. Auf entsprechende Weise trägt die Sichtbarkeit der Pigmentflecken in einem impressionistischen Werk zur allgemeinen Wirkung des Leuchtenden und Luigen bei. Beide Pole der Substanz, der alte und der moderne, tragen zur visuellen Manifestation des Ganzen bei und vermitteln Eigentümlichkeiten des Aussehens und Gefühls ebenso wie subtile Bedeutungsinhalte von Zeichen. Solche Variationen des »Mediums« machen die Poesie des Bildes aus, seinen musikalischen mehr als seinen mimetischen Aspekt. Trotzdem hat Georges Braque, ein großer moderner Maler, im Hinblick auf das Figurative in der poetischen Sprache in paradoxer Weise von den in den Stilleben dargestellten Gegenständen als der Poesie der Malerei gesprochen. Diese Bemerkung wird uns durch sein eigenes Werk verständlich, in dem uns o der Erfindungsreichtum bezaubert, mit dem er stark markierten Strukturen von gemalten Linien, Flecken und Farben das Aussehen von Gegenständen gibt, während umgekehrt seine Gegenstände überraschend als Quellen oder Träger originaler Formbildungen erscheinen. Auch wenn das Ästhetische des Werks, seine besondere formale Struktur und sein Ausdruck, in den Elementen des Mediums und deren Eigenschaen wurzelt, verdanken diese ihre Entwicklung und Vielfalt großenteils ihrem Dienst an der Darstellung. In der abstrakten Malerei ist das System von Markierungen, von Strichen und Flecken und gewissen Möglichkeiten, sie im Feld zu verbinden und zu verteilen, für einen arbiträren Gebrauch verfügbar geworden, unter Verzicht auf ihre Korrespondenz als Zeichen. Die daraus resultierenden Formen sind keine vereinfachten, abstrahierten Formen von Gegenständen mehr. Dennoch enthalten die in einem nicht-mimetischen, nicht-interpretierten Ganzen eingesetzten Elemente noch viel von den Qualitäten und formalen Beziehungen der vorhergehenden mimetischen Kunst. Diese wichtige Verbindung wird von denen übersehen, die die abstrakte Malerei als eine Art Ornament oder als Regression auf eine primitive Stufe der Kunst ansehen. Die impressionistische Malerei, in der die Teile von der Regel der genauen Übereinstimmung mit den Einzelheiten eines Gegenstandes befreit sind, ist bereits ein Schritt hin zur modernen abstrakten Malerei, obwohl die folgende Generation den Impressionismus zu realistisch fand.
KURT BAUCH
Imago »Man sagt von einem Gleichnis auch, daß es ein Bild sei. Und ebensogut ließe sich von jedem Bild sagen, daß es ein Gleichnis wäre. Aber keines ist eine Gleichheit. Und eben daraus, daß es einer nicht nach Gleichheit, sondern nach Gleichnishaf-tigkeit geordneten Welt angehört, läßt sich die große Stellvertretungskra, die heige Wirkung erklären, die gerade ganz dunklen und unähnlichen Nachbildungen zukommt...« MUSIL, Der Mann ohne Eigenschaen, S. 1188
as wir »Bild« nennen, erscheint heute in Frage gestellt. Vielleicht ist eine unserer Hauptfragen, was Bild noch bedeutet. Sie wurzelt so tief in unserer Geschichtlichkeit, daß wir erst in der Schicht des Mittelalters auf die Entscheidungen treffen, die das Bild bestimmen, das heute fragwürdig erscheint. Damals ist alles Frühere verwandelt, alles Folgende begründet worden, bis heute. Bild »Bild« hat als Wort mancherlei Bedeutungen angenommen. Die heute gebräuchlichste bezieht sich auf ein Werk der Malerei oder seinen Ersatz. Die ursprüngliche spricht aus vielen Zusammensetzungen: Bildhauer, Bildschnitzer, Bildwerk, Bildnerei, Standbild, Bildsäule, Bildstock, Reiterbild, Götterbild, Götzenbild. Im Niederländischen, das aus einer deutschen Mundart zur Selbständigkeit erwachsen ist, hat »beeld« noch die alte (im Hochdeutschen bis ins 17. Jahrhundert bestehende) Bedeutung: Bildwerk in stofflich greiarer Gestalt, heute »Plastik« oder »Skulptur«.1 Während ein Ge1 Noch Sandrart sagt, der Maler Andries Both habe seinem Bruder Jan »die Bilder in
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mälde körperhae Gegenständlichkeit nur vortäuscht, doch selber nicht besitzt, ist ein Bild im eigentlichen Sinn selber etwas, es hat stofflich greiare Gestalt wie das, was es wiedergibt. So spiegelt es das Dargestellte nicht wider, sondern entspricht ihm nur.1 Davon geht also die heutige Bedeutung aus, vor allem die der angeführten Zusammensetzungen und der Übertragungen wie Sinnbild, bildha, bildlich (was daher etwa »allegorisch« heißt im Gegensatz zu symbolisch, »zeichenha«). »Denkbeeld« ist das niederländische Wort für »Idee«. In der Sprache des Mittelalters heißt Bild imago. Es ist die Übersetzung von EIKCÖV, dessen Bedeutung von ebenfalls dem »Zutreffenden«, »Gehörigen«, »Entsprechenden« über »Gleichkommendes«, »Ähnelndes« dann jede Art von Darstellung, ob Bildwerk oder Gemälde, bezeichnet, mit Neigung, sich auf »Bildnis« einzuengen. Imago scheint jedoch seinem Ursprung nach anders angelegt zu sein. Im alten Latein soll es mit einem »imor« »gleich sein«, zusammenhängen (dazu »imitor« nachahmen) und bedeutet jede Nachbildung, ohne Rücksicht auf Formund Stoff, besonders aber auch Ahnenbild, nämlich die Nachbildung Gestorbener (durch Schauspieler in den alten Gewändern und Masken) im Totengeleit, heißt also allgemeiner »Wiedergabe«, ebenfalls mit Neigung auf »Bildnis«. Die römische Übersetzung des griechischen Wortes, das auch selbst als Fremdwort (icon) übernommen wird, ist offenbar etwas enger und einfacher im Sinn. Im Mittelalter ist dies das Wort für Bild. Zwar kommen auch andere vor, wie Walter Paatz in einer sehr aufschlußreichen Zusammenstellung gezeigt hat.2 Das antike »signum« als Götterbild wird zwar gar nicht, »simulacrum« offenbar gerade als heidnisches Bild gebraucht, »effigies« dagegen wie im Altrömischen meist als Bildnis. Häufiger ist verständlicherweise »figura« (in der Antike ungedie Landschaen gemacht«, also die Figuren, die menschliche »Staffage«. J. von Sandrart, Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste von 1675, hg. v. R. Peltzer 1925, S. 185. – Das hollandische Wort für unser »Bild« im heutigen Sinn, Gemälde, ist bekanntlich schilderij = Schilderung (von Schildmalerei). 1 Dazu würde die sprachgeschichtliche Herkun des Wortes stimmen. Die erste Bedeutung wäre nach Kluge-Götze geradezu das Gehörige, das Passende, – das Entsprechende. Als verwandt wird »billig« in seiner eigentlichen Bedeutung von »entsprechend, passend« (Gegensatz »Unbill«) angeführt. 2 Walter Paatz, »Von den Gattungen u. vom Sinn der gotischen Rundfigur«, in: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaen, phil.-hist. Klasse, 1951,3,1951. Seine Abhandlung ist eine der Grundlagen für diese Arbeit, besonders S. 18ff.
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*77 bräuchlich), doch dreimal so o und überhaupt bei weitem am meisten erscheint »imago«. Natürlich sagen die bloßen Bezeichnungen über die Werke selbst direkt nichts aus, dagegen manches über die Quellen und ihren Stil, also auch darüber, als was überhaupt ein Bildwerk angesehen worden ist. Imago heißt jede Art von Bild. Es wird sich aber erweisen, daß Bild als Bildwerk seine besonderen Fragestellungen hat und daß sich an dieser Unterscheidung mancherlei Geister geschieden haben. Jedenfalls handelt es sich immer um das Bild in Menschengestalt. Dies ist das einzige ema der mittelalterlichen Kunst. Ob einzeln oder in der »Historie«, ob als Bildwerk oder Relief, ob in den Gemälden der Wände, der Bücher, der Fenster – nichts anderes als der Mensch ist dargestellt. Was sonst abbildbar wäre: Tiere, Pflanzen, Gegenden, kommt, wenn überhaupt, nur am Rande oder als menschliches Attribut vor, nie im eigenen Sinn, immer nur anthropologisch.1 Der Bildhauer heißt im Ägyptischen »der, der am Leben hält«. Einen Menschen darstellen, heißt, ihn über ihn hinaus, über seine Einmaligkeit, sein bloßes Leben hinausheben, indem er noch einmal da ist, – als könnte er über seine Menschlichkeit hinaus verewigt werden. In alledem ist etwas von Zauberei. Jedenfalls – das Bild, das sich der Mensch von sich macht, – die Gestalt, der er zu entsprechen hat, ist etwas anderes, Höheres, als nur Mensch. Umgekehrt wird der Gott unter dem Bilde des Menschen vorgestellt und dargestellt, jeder Gott. Ob in den urweiblichen Idolen der Altsteinzeit oder den Menhiren des Neolithikons, insofern sie das Aufgerichtete als Mann darstellen, oder in den germanischen Holzriesen der Eisenzeit oder auch in den gewaltigen Menschenblöcken der Osterinseln, der Gott ist als Mensch gebildet, der Mensch in sein übermenschliches Wesen als Bild erhoben. Alle Magie ist dann geläutert in die alles verkörpernde reine Anschauung des Göttlichen in der hellenischen Religiosität, die »nicht von Propheten oder Prie1 Mit französisch »image«, das dem deutschen »Bild« entspricht, werden gewöhnlich ebenfalls Götter und Heiligenbilder, jedenfalls Menschendarstellungen, gelegentlich aber auch Ornamente bezeichnet. Von »image«, das offenbar ebenso Gemälde wie Bildwerk bedeutet, leiten sich dann viele Ausdrücke ab: imagerie (bildlicher Schmuck z. B. eines Portals); imaginer (bildhauerisch darstellen); imaginement, imaginure, imaginerie, dim. imaginet(te), imagele, imagine (bildliche Darstellung); imagier, imageur, imaginaire, imagineur, imaginateur, imaginier (bildender Künstler); allmählich ist imagier allein Bildhauer. Erst im 16. Jahrhundert wird dieses Wort, offenbar vom Italienischen her, ersetzt durch sculpteur. – Entnommen der sehr sorgfältigen und ergebnisreichen Arbeit von Dora Hartwig, Der Wortschatz der Plastik im französischen Mittelalter, Diss. München 1936.
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stern« (Otto), sondern (mit den Dichtern) von Bildhauern erschaffen ist in den höchsten Schöpfungen menschlichen Bildens überhaupt. Das Mittelalter hat eine hohe Bildnerei; aber diese im Göttlichen gipfelnde Einheit von Wesen und Erscheinung fehlt. Das Bild ist ausschließlich religiös zu verstehen, getragen von einer reichen Gläubigkeit tritt es hervor aus dem Grund einer umfassenden, lük-kenlos durchdachten Gotteslehre – dadurch zugleich im Innersten in Frage gestellt. Denn das Christentum ist Wort. Es erwächst historisch aus der jüdischen, über alles Stoffliche hinaus vergeistigten Gottesfurcht, die die menschliche Gestalt für den unnennbaren Gott ausschloß. Das alttestamentliche Bilderverbot ist ein Grundsatz auch des Christentums.1 Es wurde, wie Zwingli gegen Luther hervorgehoben hat, im Neuen Testament ausdrücklich wiederholt.2 Dem entsprach ja andererseits die christliche Beurteilung des Körperlichen überhaupt, dessen grundsätzliche Abwertung und Ablehnung mußte dem Bilde sein eigenstes Element entziehen. Von hier aus gesehen besaß Wirklichkeit, also göttliches Wesen nur das Wort, das Buch, die Offenbarung. In ihr allein wird der Mensch Gottes ansichtig. Dieses christliche Grundgebot ist selbst nie in Frage gestellt worden; es gilt bis heute. Immer wieder und bis in unsere Tage ist es in seiner ganzen Schärfe wieder zur Geltung gekommen. Dennoch hat das Christentum das Bild in höchster Fülle und Schönheit geschaffen. Ja, es hat bei seiner Ausbreitung mit als erstes immer das Bild verbreitet. »Crucem pro vexillo ferentes et imaginem domini salva-toris in tabula depictam«, so kamen 597 die Bekehrer nach England. Sie kamen aus Rom. Von dort stammten die Riten, die sie verbreiteten, ihre Sprache (die nicht die Sprache Christi war, sondern seiner Todfeinde, und die doch die seiner Kirche geworden ist) – und das Bild. Daher heißt das christliche Bild imago. Danach, wie dann Bild aufgefaßt worden ist, hätte man vielleicht eher das Wort figura erwarten sollen, das jedoch weit seltener gebraucht wird. Allein imago ist beibehalten worden; es betont mehr die Ebenbildlichkeit, 1 Für seine Vorgeschichte vergleiche man die umfassenden Forschungen Hubert Schrades, Der verborgene Gott. Gottesbild und Gottesvorstellung in Israel und im alten Orient, 1949. 2 Siehe hierzu Hans Frhr. von Campenhausen, »Zwingli und Luther zur Bilderfrage«, in: Das Gottesbild im Abendland, 1957, S. 139ff.
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die Herkun von einem Urbild.1 Denn es konnte nur der Heiligen Schri entnommen werden. In der Schöpfungsgeschichte (Gen. 1, 26-27; 5, 1 und 9, 6) aber heißt es, daß Gott den Menschen sich zum Bilde, zum Bilde Gottes, als Gleichnis seiner selbst geschaffen habe. Diese Stelle gewinnt wie das ganze Alte Testament volle Deutung und eigentlichen Sinn erst vom Neuen Testament her: von der Ebenbildlichkeit Christi mit dem Vater und doch auch mit dem Menschen, dessen Gestalt er annimmt. Die Selbstabbildung des Gottes in einem Sterblichen als Halbgott, der zum Heros erhobene Ptolemäerfürst als eiKcdv Aidg, dieser Gedanke ist schon dem hellenistischen Zeitalter bekannt, wie E. Buddeberg hervorhebt.2 Andererseits war Piatons ritttf^-Begriff, der schließlich die Erscheinungswelt überhaupt meint als Abbild einer höchsten, nur einem geistigen Auge schaubaren Urgestalt; von Po-seidonios auf den Menschen übertragen: er ist – in geistigem Sinne -ein Bild des Gottes. Allgemein besagt E'IKCÜV schon bei Piaton Gleichnis, was Philon in seiner allegorisch spiritualisierenden Konstruktionsweise nochmals verallgemeinert. »Bildlichkeit« wird zu einem Grundbegriff und Grundprinzip geistiger Vermittlung zwischen den einzelnen Sphären seiner Begriffswelt. Der KÖCTjUog und der menschliche vovg sind jetzt eiKÖveg e'iKovog, Bilder des Bildes, nämlich des Logos als Schöpfung Gottes, die ihrerseits die Erscheinungen hervorbringt. Mit dieser Lehre von der Gleichnishaigkeit alles Denkbaren hat der hellenistische Rabbiner den Grund für die christliche eologie bereitet, für die dann alles Körperliche nur Bild und dieses Bild nur Gleichnis ist. Dem entsprechend ist das geschichtliche Bild des evangelischen Christus und überhaupt der Bibel-Offenbarung theologisch entstofflicht und zergliedert worden im Dienste einer Lehre, die alles Bildhae gleichnisha interpretiert und systematisiert. 1 Auf diese »Ursprungsbeziehung« in dem Terminus imago wird hingewiesen in dem inhaltsreichen Werk von W. Dürig, »Imago. Ein Beitrag zur Terminologie und eologie der römischen Liturgie«, in: Münchner theologische Studien II, 5, 1952. Die Arbeit geht in dem herangezogenen Material über die Grenzen des emas hinaus und ist hier weitgehend zugrunde gelegt. In ihrer Einleitung fußt sie auf der lehrreichen Schri von H. Willms, Eikon. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zum Piatonismus, I. Philon, Diss. Münster 1935. Die Einzelbelege sind in diesen beiden wichtigen Arbeiten gegeben. 2 E. Buddeberg, »Friedensfeier«, in: Hölderlin-Jahrbuch, IX, 1955/56, S. 49ff.
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Ablehnung des Bildes In der Vulgata kommt imago in allen Bedeutungen vor, die »Bild« haben kann: als Bildwerk, das Götter oder Menschen darstellt, als Schatten- oder Traumbild, als Gleichnis. Dann aber erscheint es auch im Sinne der Ebenbildlichkeit eines Nachkommen zum Stammvater und in Übertragung davon als Ebenbildlichkeit Christi mit Gottvater, als Ebenbildlichkeit des Erlösten mit Christus und als Ebenbildlichkeit des erschaffenen Menschen mit Gott, dem Schöpfer. Dieser letzte Gedanke wird, wie Dürig weiter zeigt, in der frühchristlichen eologie immer wieder umformuliert. Hatte noch Paulus ganz direkt vom Manne als EIKCOV ßeov gesprochen (während ihm die Frau nur als 86£,a, Abglanz des Mannes, gilt), so wurde die Unerreichbarkeit und Unvergleichbarkeit Gottes allmählich immer stärker in den Vordergrund gestellt. In diesem von Philon mitbestimmten Sinne haben Tertullian, Ambrosius, Augustinus u. a. »imago«, »similitudo« und »ad imaginem« zu unterscheiden gesucht, um im Sinne christlicher Demut die Mittelbarkeit aller Ähnlichkeitsbeziehung zu betonen. Die Problematik der »zwei Naturen« Christi wird vermieden, wie Campenhausen zeigt, »seine Menschlichkeit wird sozusagen nicht erwähnt, sie wird überstrahlt, verwandelt und verschlungen von der himmlischen Glorie«.1 Hieraus schon, ebenso wie aus der spiritualistischen Auflösung des Bild-Begriffes erklärt es sich, daß in den ersten Jahrhunderten das göttliche Wesen (aber überhaupt jedwedes Bild) in menschlicher Gestalt ausgeschlossen worden ist. Zwar hat Johannes Kollwitz gezeigt, daß etwa in der Praxis der Katakombenmalerei, aber auch nach Äußerungen von eologen »Historien« geduldet und schon als didaktisch gerechtfertigt worden sind.2 Aber gegen ein Bild Christi hat sich die frühe eologie, so noch Eusebius, aufs heftigste widersetzt. Epiphanios erklärt es für eine Beleidigung, auch nur Heilige oder die körperlosen Engel malen zu wollen. Dies ist ein christlicher Grundsatz geblieben und immer 1 Viel verdanke ich dem Aufsatz von Hans Frhr. von Campenhausen, »Die Bilderfrage als theologisches Problem der alten Kirche«, in: Das Gottesbild im Abendland, 1957, S. 77ff. 2 Die wichtigen Arbeiten von Joh. Kollwitz, die hier zugrunde gelegt sind: »Zur Frühgeschichte der Bilderverehrung«, Vortrag 1952 in Freiburg i.Br., ersch. in: Römische Quartalschri für Christi. Altertumskunde und Kirchengeschichte, 48, H. 1/2, 1953, und die Artikel »Bild« und »Christusbild« im Reallexikon für Antike und Christentum. Ferner: »Zur Frühgeschichte der Bilderverehrung«, in: Das Gottesbild im Abendland, 1957, S. 109.
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wieder geworden. Immer ist das Bild tief fragwürdig. In allen Stadien, allen Lagern, allen Herden des geschichtlichen Christentums bricht diese Grundfrage wieder auf, – besonders in Zeiten einer vertieen, suchenden, kämpfenden Gläubigkeit, die zu den Ursprüngen zurückstrebt. Nach den Kämpfen der Verfolgungszeit, in den inneren Streitigkeiten beim Übergang zur Volks- und Staatskirche des monarchischen Imperiums, dann im Bilderstreit, durch den Kaiser und Papst, Ost und West auseinanderfielen, darauf beim Übergang auf die Völker des Nordens mit ihren anderen Überlieferungen und Forderungen, im Mittelalter in den ständigen Reformstößen der strengen Mönchsorden gleichzeitig mit den Katharer-und Sektenbewegungen, wiederum in den schweren Erschütterungen durch die Reformation, ihre Vorboten und Nachwirkungen mit der äußersten Forderung Calvins, dessen bildloses Christentum im 19. Jahrhundert die Welt erobern sollte, im Jansenismus und der Aufklärung bis zur heutigen Bilderlosigkeit in ihrer ganzen kirchlichen, religiösen, geistigen Bedeutung. Damals aber in der Verfolgungszeit hatte das alles eine besondere Schärfe und Gefahr. Die christliche Kirche hatte sich ja innerhalb der antiken Geistigkeit durchzusetzen. Diese beruhte auf der griechischen Bildwirklichkeit, die an Fülle und Größe ihresgleichen nicht hat: im Bild des Gottes vollendet sich Erscheinung und Wesen. Mochte diese einzigartige Einheit seit Jahrhunderten in Fragen zerdacht sein, die schon eine Antwort wie die des Christentums zu ermöglichen und zu ersehnen schienen, so beherrschte jene leuchtende Wirklichkeit des Bildes doch immer noch die Welt. Erst in Jahrhunderten hat die christliche Wirklichkeit des Jenseitigen dem Bilde das Körperliche entzogen (die Verkörperung menschlich-geistiger Ganzheit in ihrer völligen Geltung) und so jene reiche Bildwelt von innen her zum Absterben bringen können. Der Kampf ging um das Bild, theologisch und praktisch. Dafür sind die Märtyrer gestorben: indem sie dem heidnischen Bild des Gottes oder des Kaisers Opfer und Verehrung verweigerten, vergingen sie sich gegen eine Grundwahrheit des antiken Geistes: die volle Wirklichkeit des Bildes, seine Geltung. Die Verehrung seines Bildes war die Verehrung des Kaisers. Sein Bild war Hoheitsabzeichen, es stand seit seiner ronbesteigung bis in die fernsten Provinzen in den Amtsräumen auf dem mit einem Tuch bedeckten Tisch zwischen Kerzen. In vollgültiger Stellvertretung hatte es Anspruch auf religiöse Verehrung, auf Lorbeerbekränzung, Weihrauch, Kerzen, Kuß, Kniefall.
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Mittelpunkt aller Religiosität konnte nichts anderes sein als das Kultbild. Nicht nur der vergöttlichte Kaiser, auch die alten großen Gottheiten waren darin vergegenwärtigt, aber nicht nur sie. Auch für die vergeistigte Andacht der vielfältigen Bildungsreligionen war das Kultbild selbstverständlich und unentbehrlich. Das Bild Virgils wurde an seinem Tag im Kerzenschein verehrt. Auf den Altären der Gnostiker standen die Bilder der Religionsstier und Geisteshelden der Vergangenheit: Orpheus, Pythagoras und Piaton, Apollonios und – Christus! Doch die Christen duldeten keinerlei menschliche Mittlergestak zum Geistig-Göttlichen, keinerlei Kultbild. Ihre Gottesdienste gingen ohne Bild vor sich. Das mußte, wie Kollwitz zeigt, den Heiden (und wohl gerade den frommen) völlig leer und unverständlich, ja gottlos vorkommen. Aber während die Christen mit allen Mitteln bekämp wurden, während sie selbst für die Überwindung der Bilderverehrung stritten und litten, – bahnte sich daneben etwas ganz anderes an. Von unten her, aus den breiten Schichten des gläubigen Volkes kam es herauf: das Bedürfnis nach dem Bild, nach Anschauung, erwies sich als unüberwindlich. Mag es ein menschliches Anliegen überhaupt sein, sicherlich war es durch die antike Überlieferung bestimmt. So machte sich der Wunsch geltend, wenigstens etwas, wenigstens »äußerlich« etwas von den verhaßten Bildtraditionen zu erlauben. Ihm wurde Rechnung getragen. Eins der großartigsten Prinzipien römischen Herrschens war die »interpretatio romana« gewesen. Nach ihr ist von der neuen Kirche verfahren worden: das Fremde und Feindliche wurde übernommen und dadurch angeeignet, daß man es mit neuen Inhalten füllte. So werden schon die Formen der Kaiserhoheit aufgenommen. Wie Kollwitz im einzelnen historisch nachweist, haben die alten Riten, die Tracht und das Bildnisrecht in die christliche Kirche Eingang gefunden. Die Liturgie hängt vom Hofzeremoniell ab. Die Bischöfe erhalten das Recht, ihr Bild aufzustellen, sie versenden es in die Kirchen ihrer Diözese. Sie tragen die Tracht der hohen Reichsbeamten: Pallium, Stola, Schuhe, Stab. Auch sie haben Anspruch auf den ron, das Voraustragen von Lichtern, auf Weihrauch und Kniefall. Noch heute seit dem 7. Jahrhundert hängt das Bildnis des jeweiligen Titularbischofs in seiner römischen Kirche und in allen Kirchen der Stadt das Bildnis des Papstes. Aber auch das Bild Christi muß seit dem 4.- 5. Jahrundert, offenbar anschließend an die von den Gnostikern verehrten Bildnisse in der christlichen Kirche erschienen sein, ebenfalls mit der rituellen
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Hoheit, die dem Kaiser zugekommen war. Die Hauptelemente der späteren Christusikonographie gehen darauf zurück: Christus im Purpur mit der Krone, auf dem ron mit Szepter und Globus, mit erhobener Hand, auch mit Kreuznimbus, auf Löwe und Drachen tretend, gekrönt von der göttlichen Hand aus der Himmelswolke, als Friedefürst in der Majestas – alles stammt aus dem religiösen Kaiserkult. Die Konkurrenz mit dem Kaiser, der ja zunächst das Haupt auch der christlichen Kirche ist und seine Würde vor der des imperialen Christus geschwächt sieht, hat ja vielleicht den äußeren Anlaß zum Bilderstreit des 8. Jahrhunderts gegeben.1 Doch lagen die Gründe im Religiösen selber. Denn diese Bilder Christi und der Heiligen werden verehrt. Das Bedürfnis nach Bildern schließt das Bedürfnis nach Verehrung und nach Wundern ein. Damit setzt eine Bewegung ein, die ebenfalls – wie die Gegenbewegungen – bis heute nicht abgeschlossen ist. Der radikalen Vergeistigung des Bildgedankens widerspricht der stete Wunsch nach Anbetung und Opfer vor einem Bilde. Auch den Bildern Christi und der Heiligen wird Licht und Weihrauch, Kuß und Kniefall zuteil. Ja, sie werden – der antiken Gepflogenheit entsprechend – gesalbt und gewaschen. Schrade zitiert den Bericht, daß in der Mitte des 8. Jahrhunderts Papst Stephan II. ein gemaltes Bild Christi in einer Prozession selbst auf dem Rücken trägt. Während dieses Weges (der seinerseits aus antiken Festaufzügen stammt) werden dem Bilde zweimal die Füße gewaschen.2 Dem Bilde wird Heilkra zugesprochen, es soll Fruchtbarkeit bringen, es soll die Rückkehr entlaufener Sklaven erwirken. Man schwört bei einem Bilde, es wird Pate, es blutet, es erscheint lebendig. Das Bild ist heilig, zum mindesten (Kollwitz) etwas Höheres. Ja, es tauchen die eiKoveg äxeipoKoirjtoi auf. Auch dies ist ein antiker Gedanke, wie Schrade feststellt: auch das Athene-Bild, das Anchises mit auf die Flucht nimmt, ist »nicht von Menschenhand 1 Nach Campenhausen a. a. O. (Bilderfrage) S. 94. – Vorsichtig und sehr genau hat E. Kitzinger die Voraussetzungen und Möglichkeiten zu diesen Entwicklungen (Grabar, Ladner) dargelegt, siehe seinen umfassenden Aufsatz »e cult of images in the age before iconoclasme«, in: Dumbarton Oaks Papers, 8, 1954, S. 384. – G. Ostrogorski sieht die inneren Gründe für den Bilderstreit mehr in der neuen Berührung mit dem Orient, den Arabern und Juden. (Gesch. d. byzantin. Reiches, 2. Aufl. München 1952 u. »Les debuts de la Querelle des Images«, in den: Melanges Charles Diehl, 1930, S. 235ff.) 2 Hubert Schrade, Die frühromanische Malerei, 1958, S. 47, mit vielen geistesgeschichtlich wichtigen Materialien und Gedanken.
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gemacht«. Jetzt beansprucht das Bild einen ähnlichen Rang wie die göttliche Offenbarung. Ikonen zu malen wird eine Art Gottesdienst, ein Werk der Frömmigkeit, das Exkommunizierten verboten wird. Es kommt (Campenhausen) zu einem religiösen Materialismus, zu einem Aberglauben der Bilderverehrung. Jedenfalls, in allen Werkstätten hängt das Bild Simons, des Säulenheiligen. Handwerker, Frauen, Mönche sind es nach den Quellen, die das Bild, die Anbetung, das Wunder wollen.1 Diese Dinge sind heute so aktuell wie vor 1200 Jahren. Und die «Ikonen» sehen so aus wie damals. eologie der Bilderverehrung Was im Bilderstreit des 8. Jahrhunderts zur Rechtfertigung des christlichen Bildes und seiner Verehrung gesagt worden ist, hat heute noch Gültigkeit, volle Gültigkeit für die Ostkirche, für den Westen gilt sie mit den Einschränkungen, die Rom in seinem Bereich durchgeführt hat. Die Argumente, überhaupt die Sphäre der Diskussion waren vom Neuplatonismus vorbereitet, der von Plato, Philo und vom frühen Christentum herkommend, seinerseits durch Plotin und Dionysios Areopagita die christliche eologie des Mittelalters bestimmt hat. Mit seiner vielschichtigen Aufspaltung der ößoicößaza, der Ähnlichkeiten und Vergleichbarkeiten, konnte sie dem Bilde jetzt eine geistige Wirklichkeit zusprechen, die früher unmöglich gewesen wäre. Ein Grundbegriff ist die Hypostasis, die Übertragung. Das Bild ist von dem Dargestellten zwar der Substanz nach verschieden, hypostatisch aber, nach Sinn und Bedeutung, gleich. Hierauf kommt es wesentlich an. Das Bild ist etwas anderes, nicht jemand anders (Campenhausen). Wie das Kaiserbild als der Kaiser bezeichnet werden kann (nach Athanasios sind Kaiser und Bild £v n = etwas Eines), – so ist das Christusbild in seiner Bedeutung Christus. Er ist in der Ikone in seiner ganzen Gott-menschlichen Gestalt vergegenwärtigt und wird als solcher in ihr verehrt. Denn, »die Ehre, die dem Bilde bezeigt wird, geht auf den Dargestellten über« (Johannes Damasze1 Über die Herkun der ersten kleinen, für die private Andacht bestimmten Heiligenbilder aus dem spätantiken Totenbildnis vgl. jetzt Ad. Weis im Rom. Jahrbuch für Kunstgeschichte 8,1958, S. 17ff.: ein vorjustinianischer Ikonentypus in S. Maria Antiqua.
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nus nach Basilius). Da Typ und Prototyp in der einen Hinsicht der Ähnlichkeit gleich sind, kommt dem Bilde jene Kra und Gnade zu, die der Heilige auf Erden hatte. Denn die Gnade (%äpig) des Heiligen bleibt auch nach dem Tode in seinem Leibe, seine Gestalt in den heiligen Bildern, nicht der Substanz nach, sondern der Gnade und Wirkfähigkeit nach. Durch solche Bestimmungen wird die Ikone fast etwas wie die Reliquie. Sie weist nicht nur auf die göttliche Wirklichkeit hin, sondern hat an ihrer mystischen Gegenwart Anteil. »Wie das göttliche Wort die leibliche Anwesenheit des Herrn, so ersetzt hier das körperliche Bild das Original«. Damit hat, wie Schrade feststellt, das Bild die Fähigkeit des Mysteriums, Christus gegenwärtig zu machen, die sonst nur das Sakrament hat. Es handelt sich fast um eine Incarnation.1 Die Ikone ist Christus, wie die Oblate Christus ist. Das Konzil von Nicea 787 billigte ausdrücklich, bei der Ikonenverehrung zu sagen: dieses ist Christus, Gottes Sohn. Wenn »alles Bild ist«, so ist diese mystische Gleichsetzung möglich. Allein dabei sind zwei Voraussetzungen zu machen. 1. Das Bild steht nicht auf dem Altar, ist also nicht mit dem Opfer verbunden, es bleibt außerhalb der zentralen gottesdienstlichen Handlung. 2. Das Bild ist immer nur gemalt, nicht Bildwerk. Dieses Maß der Wirkkra ließ sich nicht auf einen greiaren Gegenstand, ein Bildwerk übertragen, das wäre der Idolatrie doch zu nahe gekommen. Zwar gab es av/ußoAa, Standbilder kleinen Formates, den »guten Hirten« oder den »lehrenden Philosophen« oder »Daniel in der Löwengrube«, die ihrerseits auf Christus hinweisen. Aber sie stellten ihn nicht selber dar. Auch gibt es Marmorikonen, die antike Gewandstatuen auf die Fläche projizieren, und kleine Elfenbeintäfelchen, die in feinstem Relief die Muttergottes oder Heilige, auch Christus darstellen, – aber sie haben offenbar keinen Platz in der Kirche. Auf die bildhauerische Darstellung wird überhaupt Verzicht geleistet. Sie gilt als zu »materiell« (wie Instrumentalmusik in der Ostkirche als zu materiell gilt). Doch scheint – trotz aller neuplatonischen Gleichnishaigkeit – eher die Verehrung zu materiell, um sich noch auf ein greiar gegenständliches Bildwerk aus Stein etwa richten zu dürfen. So gibt es bis heute in der Ostkirche keinerlei Bildhauerkunst. Dagegen hat ja diese Heiligsprechung der Ikone auch ihre Form 1 Dieser Gedanke besonders von Kitzinger eindrucksvoll belegt, schon im Jahrhundert vor dem Bilderstreit, a. a. O., S. 142ff.
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eigentlich unantastbar gemacht. Diese Malerei ist ihrem göttlichen Ursprung entsprechend unwandelbar geblieben. Ihre Weihe erhielt die Ikone nicht durch ihr Aussehen, sondern durch feierliche Salbung und das Aufmalen des Namens. Da aber doch Menschen sie anfertigten, ist sie in hieratische Erstarrung und schematische Verkrustung verfallen. Wie die ganze oströmische Kultur in ihrer Form sakrosankt und daher menschlich geschichtlicher Erneuerung entzogen war, erstarrt und entleert, so auch diese Bilder. Beim Übergang in andere Völker (Balkan, Rußland) gibt es leichte Wandlungen; aber sie widersprechen eigentlich dem kanonischen Wesen dieser Form und erreichen auch nicht ihren Kern. Vielmehr geht alles in der Sphäre frommer Volkskunst auf. In dieser Volkstümlichkeit liegt schließlich Macht und Wesen dieser Bilder seit 1000 Jahren. Rom im Bilderstreit Vor dem Bilderstreit gehörte Rom zum byzantinischen Reich und zur byzantinischen Kunst. Freifiguren scheint es auch hier nicht gegeben zu haben. In den Riesenbasilisken waren die Wände mit biblischen Historienbildern bedeckt. An den Sarkophagen wurde die altrömische Sitte der Reliefdarstellung mit christlichen Motiven unter großem Aufwand und mancherlei Wandlungen fortgesetzt. Überhaupt blühte die Relieunst mit christlichen »Historien« in Elfenbein, Gold, aber auch in Marmor.1 Innerhalb der byzantinischen bewahrt die italienische Kunst eine Sonderstellung. Doch auch in ihr setzt sich unter starken Vorstößen und Rückgriffen die Entkörperlichung des antiken Bildes fort (besonders erkennbar an der Bildniskunst, die hier nicht einbezogen wird). Im Bilderstreit ist Rom gegen die Ablehnung des Bildes, aber auch gegen seine Kanonisierung. Wenn Johannes Damaszenus (und Ni-kephoros) den Gesichtssinn für den ersten der Sinne erklärte, so hat Rom damals das Wort dem Bild nicht nachgeordnet. Es hat vielmehr die Bilder vom Wort her, als Lehre aufgefaßt und sie damit in praktischer Weise gerechtfertigt. Bilder, so sagtjPaulinus von Nola, 1 Auch die Goldbildwerke, die Keller im damaligen Rom erwähnt, sind nach Kollwitz' Vermutung eher als Reliefarbeiten anzusehen. Das gleiche düre für die aus englischen Quellen nachgewiesenen gelten. Vgl. den wichtigen Beitrag Harald Kellers in der Festschri für Hans Jantzen 1951, S. 91ff., »Zur Entstehung der sakralen Vollskulptur in der ottonischen Zeit« mit genauen Belegen und Literaturangaben.
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287 seien die Lehrbücher der des Lesens Unkundigen, und dieser Gedanke wird immer wieder ausgesprochen, am bekanntesten durch Gregor den Großen. Doch lobt Gregor den Bischof von Marseille, der gegen die Bilderverehrung vorgegangen war. Das Mysterium und die Verehrung bleiben also praktisch dem Bilde aberkannt. Auch im 6. Jahrhundert, als die Verehrung in den ersten Ansätzen beginnt, die Kollwitz aufgewiesen hat, findet sich keine Anerkennung dieser Tendenzen, die im Osten dann allmählich sanktioniert werden. Die mehr praktische Stellungnahme zum Nutzen des Bildes bezieht sich wohl hauptsächlich auf die »Historien«, sie umgeht die ganzetief sinnige griechische eologie und läßt sie eigentlich unbeachtet. Rom löst sich nach der Bilderkrisis des Ostens und begründet das römische Kaisertum im Norden neu an Stelle des oströmischen. Im Norden ist dann die Antwort des Westens auf die byzantinischen Entwicklungen gegeben worden, von einer neuen Basis aus und in überraschend neuer Weise. Die Bücher Karls des Großen„Jibri carolini (um 790), von Schrade ausführlich gewürdigt, setzen dem Gedanken der oströmischen eologie zwei genau formulierte Positionen entgegen: 1. Der Gebrauch der Bilder darf und kann den Büchern des Heiligen Geistes nicht gleichgestellt werden. 2. Der Gedanke der mystischen Stellvertretung des Dargestellten durch das Bild wird abgelehnt. Erstaunlich frei und selbständig sind die Begründungen. Das Bild stamme eigentlich aus heidnischer Uberiieferung und habe früher dem Gedächtnis von großen Männern, Königen, Erfindern, Städtegründern, auch von Familienangehörigen gedient. Allmählich jedoch hätten sich Dämonen eingemischt und darauf hingewirkt, daß die Dargestellten als Götter erklärt und verehrt würden. Die Heiligendarstellung auf den Bildern stamme aber keineswegs »ex quadam religione«, sondern lediglich »ex artificis operatione«. Ja, für den Künstler – einer vollbringe schönere, der andere formlosere Bilder – mache es zunächst gar keinen Unterschied, ob er ein Marienbild oder ein Bild der Venus mit Aeneas fertige. Erst mit der Bezeichnung des Dargestellten, wäre ja die Möglichkeit, es zu verehren, gegeben. Dem Bilde wird also das Mysterium und die Verehrung durch den Gläubigen abgesprochen. Dagegen wird beides zugebilligt den Reliquien, der Heiligen Schri, den heiligen Gefäßen und dem Kreuz, also geweihten Symbolen ohne Bildcharakter. Offenbar ist die Gestalt des Gekreuzigten kein Grund für, aber auch keiner gegen eine Verehrung des Kreuzes.
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Doch wird nur die Verehrung, keineswegs das Bild selbst verboten. Zwar wird (gegenüber Rom) gefragt, ob das Bild wirklich als Belehrung von Nutzen sei. Doch wird einfach anerkannt, daß es Brauch sei, Bilder zu haben. Sie sollen als Historien dem Gedächtnis dienen und – dem Schmuck der Kirchen. Alles das wird mit Schristellen belegt. Es zeigt sich eine fast an Erasmus erinnernde Freiheit, Grundgedanken und Grundwerte zu wahren, ohne Tiefsinn, vielmehr aus einem praktischen Sinn für das Bedeutende und das Bedenkliche des Überkommenen. Die Klarheit in der Abgrenzung gegenüber Ostrom und die Eindeutigkeit der Formulierungen wird später nicht aufrecht zu erhalten sein. Das Auommen des christlichen Bildwerks Ganz im Sinne der libri carolini urteilt um 1007-20 ein Kleriker aus Angers, Bernhard, als er auf einer Reise in die Auvergne plötzlich doch in den Kirchen Bildwerke stehen sieht und die Verehrung, die sie genießen. Er betrachtet das als Götzendienst, fühlt sich an heidnische Götteridole erinnert. Sogar im auvergnatischen Bergland Mittelfrankreichs, das wohl kaum zu den schöpferischen Stätten der Kunst ottonischer Zeit rechnet, war diese Bilderverehrung schon verbreitet. Von den bedeutenden Gegenden des damaligen Frankreichs fehlt eine solche zufällige Nachricht. Aus Deutschland, vom Rhein und aus Niedersachsen ist jedoch Ähnliches bekannt. Diese Bildwerke sind Freifiguren. Sie sind aus Gold oder über einem Holzkern mit Gold überzogen, – diese Ersatztechnik ist vielleicht bezeichnend. Da es sich dabei um mehrere, weit verstreute Denkmäler handelt, scheint sich allgemein ein Übergang aus dem Feinhandwerk der Goldschmiede in die Kunst der Bildhauer zu vollziehen. Das noch mittlere Format könnte dem entsprechen. Der Werkstoff spielt jetzt eine andere, nicht mehr die Hauptrolle. Es sieht aus, als begänne hier im Norden etwas Neues. Diese Figuren stehen auf dem Altar oder bei ihm. Sie werden verehrt. Wiederholungen aus früher Zeit und an anderen Orten verraten, daß es sich um Gnadenbilder gehandelt hat. Also gelten die Bilder vielleicht als wundertätig, zogen vielleicht Wallfahrten an. Dargestellt sind vor allem die Muttergottes auf dem ron, sodann Heilige, – außer ihnen nur Christus am Kreuz.
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Das hatte es vorher noch nicht gegeben. Was aus früheren Zeiten an vergleichbaren Bildwerken bekannt ist, sind Werke der Goldschmiedekunst. Nur der jGekreuzigte ist schon aus früherer Zeit nachgewiesen, in Metz schon in merowingischer Zeit erwähnt. Um 600 scheint seine Nacktheit noch Befremden hervorgerufen zu haben (Keller S. 73). Jedenfalls ist die Rechtmäßigkeit dieses Christusbildes nie angezweifelt worden, vielmehr wird sie von Bernhard von Angers, von den libri carolini, auch in dem Werk »de cultu imaginum« von Jonas Aureliacensis aus der Mitte des 9. Jahrhunderts ausdrücklich bestätigt. Das Kreuz gehörte zum Altar, der Körper Christi, meistens sein Kopf, enthielt die Hostie. Der Körper des sterbenden Christus war die äußere Hülle für die Eucharistie, die eben diesen Leib bedeutete. Damit war auch seine Verehrung gegeben. Aber auch die übrigen Bildwerke hatten einen Inhalt, der die Verehrung erlaubte; sie enthielten, soweit wir wissen, ausnahmslos Reliquien. Was wir aus den 100 Jahren um 1000 von Bildwerken an weit verstreuten Plätzen besitzen oder erfahren, hat in jedem Falle Reliquien. Statt des Schreins, der die Gebeine enthält, wird das Bild des Verstorbenen verehrt, doch trägt es in sich noch den Rest von seinem Leib als materiellen Kern, den die ottonische Zeit (mit dem Grabkult ihrer großen Kryptenanlagen) noch braucht. Die Bildwerke stellen aber nicht immer diejenigen Heiligen dar, von denen ihre Reliquien stammen. Die Verehrung der Reliquien, die in jenen Jahrhunderten blühte, war in den libri carolini auch ausdrücklich geboten. Dennoch ereifert sich Bernhard von Angers anfangs. In der Tat ist hier etwas Neues entstanden. Nicht die historiae (die im frühen 9. Jahrhundert der Bischof von Turin noch am liebsten abgekratzt und zu Staub zerrieben hätte, – Schrade), auch nicht die kostbaren Goldschmiedewerke in Rom oder England, auch nicht bloße Reliquiare, sondern körperhae Bildwerke, Darstellungen von Körpern, Gegenwart von Leibern, vor denen das Knie gebeugt und die Weihrauchfässer geschwungen wurden, damit hat das neue Jahrtausend eingesetzt, das die Kunst der Gotik bringen sollte.1 In den libri carolini ist zuerst vom Künstler als einem wesentli1 Schrade betont in einem ergebnisreichen Aufsatz »Zur Frühgeschichte der mittelalterlichen Monumentalplastik« in: Westfalen, 35, 1957, S. 33ff., daß nicht die Reliquien das Agens zur Entstehung der neuen Bildwerke seien. Dies ist richtig; doch scheint ebenso richtig, daß eine Freifigur in jener Zeit ohne Reliquien-Inhalt noch nicht möglich war.
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chen Faktor für ein Bildwerk die Rede. Bei Bernhard von Angers spielt der Gedanke an ihn eine ziemliche Rolle. Das Bild erscheint als eine künstlerische Vergegenwärtigung. Eines Tages wird es überflüssig, ja sinnwidrig sein, dieser Gültigkeit noch durch die sakramentale Wirkkra der Reliquie Leben und Verehrungswürdigkeit einzupflanzen. Das ottonische Bildwerk in seiner komplexen Gebundenheit wird in der »romanischen« Kunst dem reinen Bildwerk des Heiligen weichen, mit andern, nicht mehr mit materiell-myste-rienhaen Rückhalten. Gotik Imago – das körperliche Bild des Menschen als Bild des Göttlichen oder des Heiligen, das ist in unserer Geschichte seit dem Altertum nirgends so hoheitsvoll verwirklicht worden wie in der Gotik. Sie hat damit etwas so Unvergleichliches geschaffen, daß es ein Hauptgedanke jener schöpferischen und nachdenkenden Zeit sein müßte, was ein Bild ist. Direkt über diese Frage ist jedoch offenbar wenig geäußert worden. Die Quellen sind noch immer fast ausschließlich kirchlich. Trotz gelegentlicher Abweichungen bleiben sie bei aller Strenge des Denkens einseitig und einheitlich. Die reiche und leidenschalich ausgreifende Geistigkeit außerhalb der Kirche bleibt, was direkte Aussagen etwa der Dichtung zu jener Frage anlangt, offenbar unergiebig. Ohnehin läge das Schwergewicht auf dem Religiösen, dem Kirchlichen, dem eologischen. Allein auch diese eologie hat einen anderen Charakter angenommen. Vielleicht spiegelt sich die Auffassung der Kirche selber am ehesten in der Liturgie wider. In den liturgischen Gebeten steht Alt-Überkommenes neben Aktuellem. So wird es, während nicht mehr Gültiges ausscheidet, innerhalb des Gottesdienstes vor der Gemeinde vertreten, für die diese Gebete gesprochen werden. Die sorgfältige Untersuchung von W. Dürig ermöglicht einen Überblick, sie gibt für jede der angeführten Stellen die genauen Belege. Es gibt Gebete für die Weihe von Bildwerken. Jedoch ist es von Bedeutung, daß sie sich bis ins hohe Mittelalter nicht auf Christusbilder beziehen, sondern nur auf Heiligenbilder. Ein aus früher Zeit stammendes Gebet sagt: »Du verbietest es nicht, Bilder oder Bildnisse (imagines seu effigies) Deiner Heiligen zu schnitzen oder zu malen«. Hier scheint eine überwundene Problematik oder Polemik nachzuklingen. »Segne dieses zur Ehre und zum Gedächtnis des hl.
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Martin gemalte oder geschnitzte Bild (imaginem seu sculpturam)«. In der liturgischen Feier, die ja selbst bildlich zu verstehen ist, entspricht die sichtbare imago der mit dem geistigen Auge zu schauenden Gestalt des geschichtlichen Heiligen. Denn imago wird schon in Texten aus dem 7./8. Jahrhundert geradezu in der Bedeutung von »Zeichen« oder »Symbol« gebraucht, etwa für das Zeichen des Kreuzes, das die Hand des Priesters macht, oder als bildlicher Vollzug: »Was wir unter dem Bilde des Sakramentes (in imagine sacramenti) vollziehen, bitten wir einst im wirklichem Genuß zu erhalten.« Hier bedeutet Bild nicht nur die rituelle Handlung, sondern darin schon die substantielle Teilhabe, ja das Unterpfand (ߣTo%rj, pignus).1 Auch kommt imago in der Liturgie als Ebenbildlichkeit Christi vor, die dem Erlösten in der Gnade zuteil wird. Doch am häufigsten bedeutet imago die Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott gemäß den drei Genesis-Stellen. Es wird dabei unterschieden zwischen »imago Dei« und »ad imaginem Dei«. Der Mensch ist Nachbild Gottes, aber nicht des Vaters, sondern des Sohnes.2 Doch werden die Unterschiede zwischen imago und simi-litudo, die die frühe philonisch-gnostisch beeinflußte eologie mit ihrer Zwischenstellung des Logos zwischen Gott und Welt eingeführt hatte, und die in der Dogmatik eine Rolle spielten, in der komplex vereinfachenden Sprache des Gebetes nicht mehr gemacht. Der Mensch ist Herr der Schöpfung als Bild Gottes, so wie ein irdischer Herrscher sein Bild als Hoheitszeichen aufrichtet. Ja, der Leib (und z. B. die Hand) des Menschen wird in den Gebeten als Geschöpf Gottes bezeichnet im Gegensatz zu der abwertenden Auffassung des Leiblichen in der Spätantike. »Adam ad specimen Dei decoris animatus« – darin liegt wohl in der Sprache des Mittelalters eine Anerkennung menschlicher Schönheit. Neben neueren Formulierungen bleibt o die biblische oder patristische Sprache des Altertums in den Sätzen der liturgischen Gebete stehen. Bestimmte andere, nicht mehr gültige Wendungen werden fortgelassen. So wird im Gegensatz zur Ostkirche niemals etwas von einer Wunderkra des Bildes erwähnt. Läßt die Verwendung des Wortes »imago« in der Liturgie mancherlei Rückschlüsse zu, so gibt omas, die höchste Autorität gotischer Geistigkeit, direkte theologische Bestimmungen. Vergli1 Siehe Dürig a. a. O., S. 63ff. (imago im Kultmysterium). 2 Siehe Dürig a. a. O., S. 92.
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chen etwa mit der Eindeutigkeit der libri carolini sind seine Formulierungen jedoch überraschend andersartig. omas zerlegt und überträgt nach Möglichkeit »imago«. Der Begriff wird entkräet als »vollkommene Ähnlichkeit« und ersetzt durch »figura substantiae eius« (insofern figura und substantia ihre eigene vielschichtige Bestimmung und ihren bezeichnenden Platz im Ganzen des Systems haben). Die Lehre von der Schöpfung wird entsprechend, ohne daß sie übrigens zwischen »ad imaginem« und »similitudinem nostram« Gen. 1, 27 unterscheidet, unter Ausschaltung des »imago«-Begriffes verstanden. Eine »Gleichheit« könne (anschließend an Augustins ähnliche Aufspaltung von »imago«) nicht in Betracht kommen, da ja das Urbild das Nachbild unendlich überstrahle (wie es bei den frühen eologen schon heißt). Es handle sich vielmehr um ein Verhältnis ähnlich dem Bilde des Königs auf einer silbernen Münze, eine »repraesentatio speciei«. In all diesem sieht Kollwitz, dem ich hier folge, eine Aufnahme von Gedanken der griechischen eologie, wie sie ja auch Johannes Damaszenus übernimmt, den omas neben den griechischen Vätern anführt. In anderer Weise hat omas imago als Begriff entwertet, indem er »die Bilder« nur anerkennt, insofern sie das Gemeinte bezeichnen (significare). Ein Bild stellt für omas nicht dar, sondern bezeichnet nur (so wie etwa ein Symbol, also ein Zeichen, etwas bezeichnet). Das Bild wird zum bloßen signum (natürlich in ganz anderem Sinne als das antike signum = Götterbild, aßa). Sodann wird der Ähnlichkeitsbegriff nochmals abgeschwächt, indem er auf das Wort übertragen wird: Bilder sind anzuerkennen, insofern sie dem Worte ähneln. Somit sind beide Verkündigung, beide dienen der Vertiefung des Glaubens. Auch in der Frage der Bilderverehrung grei omas in auffälliger Weise zurück. Dem Christusbilde gebührt sogar die adoratio! Ihm gebührt die gleiche Verehrung wie Christus selber. Die Einschränkung »dem Bilde nicht als Sache, als Stück Holz, sondern als Bild«, führt an dem Problem vorbei und wieder zurück auf das Bild (denn auch einen Menschen verehre ich nicht als Knochen und Fleisch, sondern als Menschen), wo die Frage erst eigentlich beginnt. Auch hier denkt omas griechisch, wie Kollwitz feststellt. Das Wort des Basilius, das die libri carolini ausdrücklich abgelehnt hatten, dient ihm zur Begründung: »die Ehrung eines Bildes bezieht sich auf das Urbild«. Das Bild hat nicht die Wirkkra des Heiligseins, kein eigenes numen. Doch kann es, aber nur das Bild Christi, im Sinne der »vollkommenen Ähnlichkeit« verehrt werden.
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omas denkt hier ähnlich theoretisch wie Augustin, doch enthält sein zergliederndes Denken eine konstruktive Richtung. Nicht die Einzelaussage, sondern ihre Stelle und Funktion im Auau des Systems ist entscheidend, von daher gewinnen die einzelnen Begriffe ihren ganzen Beziehungsreichtum. Auch die mancherlei Übernahmen von Früherem und Fremdem sind in diesem Sinne durchdacht. So schließen seine abschließenden Formulierungen ebenfalls an die praktisch-lehrhaen Gedankengänge früherer Zeiten an, doch in einem durch ihre systematische Stellung gewandelten Sinn. omas erkennt das Bild an 1. »ad instructionem rudium« und grei damit auf die römische Praxis, auf Gregor den Großen, Paulinus, Nilus zurück, (die aber keine Verehrung zugelassen hatten!), 2. zur Stärkung des Gedächtnisses: »die Mysterien der Menschwerdung und das Beispiel der Heiligen wirkten kräiger, wenn sie täglich vor Augen ständen« (die immer anerkannte Historiendarstellung) und 3. »ad excitandum devotionis affectum«, denn Frömmigkeit werde stärker durch Geschautes als durch Gehörtes angeregt. Er konnte sich hier auf Germanos von Konstantinopel (Campenhausen), auf Nikephoros (Schrade), auf Johannes Damaszenus berufen, ebenso wie Bonaventura es tat, indem er sagte, die Malerei bewege den Sinn stärker als die Schri. Bonaventura stimmt in seinen Anschauungen ziemlich weitgehend mit omas überein, auch was die Verehrung des Christusbildes betri. Die Liturgiker der Gotik hat Kollwitz untersucht, besonders den spätesten der bedeutenden, Durandus (f 1296). Bei ihm wird, was Philon begonnen hatte, zu einem künstlerisch-denkerischen Gesamtgefüge, in dessen Zusammenklang alles Einzelne aufgeht. Nicht das Christusbild selbst, nicht das avßßoAov, die Ikone und ihre Fragen werden berührt, sondern ihre Teilnahme an der Vergegenwärtigung der gesamten Heilsgeschichte, die gleichzeitig Weltgeschichte ist. Alles erscheint kunstvoll und vielschichtig, analogisch und typologisch verflochten in mehrgliedrigen, o dreifachen Zusammenhängen und Beziehungen. Das Einzelne, damit auch das Bild, auch das Evangelium selbst gliedert sich auf in das systematisierende Denken der Gotik, in das kosmologischheilsgeschichtliche Beziehungsnetz. An die Stelle des Bildes und auch des Textes ist die Interpretation getreten, Deutung und Anwendung in der Weise des Neuplatonismus, doch architektonisch konstruiert. Dieser universalen summa getreu folgend hat Male seine Kathedrale und ihren Bilderschatz beschrieben, als sei eine solche bloß dichterisch-denkerische Deutung schon Grund und Kern des Bildes in der gotischen Kunst.
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Ein sehr altes Marienbild, das von Wallfahrern verehrt wurde, war der Kern der großen Kathedrale in Chartres. Wallfahrerstraßen waren eine jener internationalen Regionen gewesen, (auch die einzelnen Orden waren solche Regionen) in denen die »romanische« Kunst sich entfaltet hatte, – bevor dann die Gotik alles in die eine Schöpfung zusammenfaßte. Die Kathedrale nahm die alten Bilder in sich auf, die wundertätigen Ortsheiligen, die aus der Ferne stammenden »schwarzen Madonnen« und die ehrwürdigen strengen Bilder des Gekreuzigten hoch über dem Altar. Manchen von ihnen gab sie auch eine neue Gestalt. Aber all dieses Überkommene ließ sie aufgehen in ihrer eigenen Schöpfung der Kathedrale und ihrer großen Bildwerke außen vor der Kirche. Dies ist das Bild, das sie selbst hervorgebracht hat. Auch außen erscheint Christus, er thront in der Majestas der apokalyptischen Vision schwebend zwischen den vier Wesen oder strafend und lohnend inmitten des Jüngsten Gerichts. Doch stammten die Bogenfelder über den Portalen noch aus der Vergangenheit, aus der Flächenkunst, vielleicht letztlich aus der Malerei. Im Mittelalter, das im symbolischen Sinne materiell denkt, macht es einen tiefen Unterschied, ob das Bild in den »umbrae« der Malerei, dem Schattenhauch flächiger Darstellung oder als Bildwerk gearbeitet ist. Allerdings sind die Christustympana der Gotik schon herausgehoben durch Geist und Gestalt der bildnerischen Monumentalität, die sich unter ihnen beiderseits der groß geöffneten Portale zeigte. Denn jetzt gab es das monumentale Bild, das Denkmal in Menschengestalt, darin besteht die Schöpfung der Gotik. Christus oder die Gottesmutter, auch wohl ein Heiliger stehen überlebensgroß am Mittelpfosten des Hauptportals. Sie werden nicht verehrt. Zusammen mit dem Chor der großen Gestalten neben ihnen, den Vorfahren Christi, Heroen des Alten Testamentes, den Propheten, den Aposteln gehören sie zum Ganzen der Kathedrale. Aus den Gliedern ihrer Architektur – verbunden mit ihnen – treten sie hervor. Dies ist das »Bild« in der Gotik. Keins dieser Bilder, weder die gotisch erneuerten Gnadenbilder noch die steinernen Gestalten am Äußeren haben Reliquien in sich. Das war in der Kunst schon vor der Gotik überwunden, eine der Voraussetzungen, auf denen die Gotik auaute. Wenn die ottoni-sche Zeit das einzelne Bildwerk schaffen konnte, so nur als menschliche Gestalt der Reliquie im Inneren, als Menschenbild, dessen Kern immer noch der von jeher anerkannte Gegenstand der Verehrung war, die Reliquie. Es hatte in seiner Neuartigkeit offenbar noch
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dieses materiellen Kerns bedur. Das ist jetzt überwunden. Zwar gibt es zahlreiche gotische Bildwerke mit Reliquien, das gehört zu den alten, im Volkstümlichen bewahrten Elementen, die die lebendig sich wandelnde Geistigkeit der Kirche mit sich trägt und behält. Aber ihrem Wesen nach wird die Verehrung der Reliquie, des tatsächlichen Restes, des Knochenteils, der die Anwesenheit des Verehrten symbolisch materiell verbürgt, in der Gotik vergeistigt. An die Stelle der Reliquie tritt das Bild.1 Wesen als Bild, als künstlerische Verwirklichung in menschlicher Gestalt, gibt dem Gedächtnis Leben und Gegenwart. Zwar gibt es immer wieder Zeiten einer Zuwendung zu den Reliquien. Doch so wie die Krypta in der Gotik abgescha wird (und damit der Kult des Grabes mit den tatsächlichen Gebeinen der Heiligen), so hat die Gotik den Reliquienkult überwunden. Ihre Frömmigkeit geht mehr in die Höhe als in die Tiefe. Die hl. Anna im Chartreser Nordportal (Abb. 1) ist wahrscheinlich – etwas außerhalb des Marienprogramms – aufgestellt zu Ehren einer Reliquie von ihrem Schädel, die der Kathedrale einige Jahre vorher aus dem Osten mitgebracht und gestiet worden war. Nicht in ihr ist dieser geweihte Rest. In ihrer edlen Erscheinung vergegenwärtigt sie vollgültig die Mutter der Gottesmutter. Ihre Gestalt ist eng mit byzantinischen Reliefs etwa der Jahrtausendwende zu vergleichen und mittelbar wohl nicht ohne derartige Voraussetzungen entstanden (Abb. 2). Das monumentale Bild des Menschen der christlichen Gotik ist in einer Begegnung mit dem Menschenbild des Altertums entstanden, die ungeheure Entfaltung des 12. Jahrhunderts hat das ermöglicht. Ob über die Provence, über die von den Kreuzfahrern gebrachten Reliefs in Elfenbein oder Edelmetall oder über die byzantinisch geschulte Goldschmiedeplastik an Rhein und Maaß, – was alles von antiken Werten im Byzantinischen auewahrt war, ist damals plötzlich wieder sichtbar und wirksam geworden. Damals ist ja auch Aristoteles – aus der jüdisch-arabischen Überlieferung – plötzlich wieder aufgenommen worden, zum ersten Male nicht bloß zitiert, sondern denkerisch bewältigt und angeeignet. Das geschah nicht im Sinne eines in sich selbst gegründeten Wissens um Natur und Geist, einer aus sich selbst verständlichen Wissenschaslehre, vielmehr durchaus umgedeutet und eingearbeitet in das unantike, anti-antike Denksystem der Scholastik. Ähnlich sind die neuen Elemente des Altertums von der Gotik eingefügt in eine Bildnerei, 1 Einen ähnlichen Vorgang (doch innerhalb einer anderen Ebene) sieht Grabar (Mar-tyrion II 343ff.) im 6./7. Jahrhundert, vgl. Kitzinger a. a. O., S. 115.
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die ihrerseits völlig aus Eigenem erwachsen war, nämlich aus dem Gesamtgebäude der Kirche, schrittweise sich aus dem Relief und aus der Säule lösend innerhalb eines rein mittelalterlichen Vorgangs. Die antikischen Formen erscheinen jetzt an einer gotischen Bildsäule ohne eigene Basis, ohne eigenen Stand und eigene Verständlichkeit, vielmehr aus einer neuen plastisch-architektonischen Gesamtform her entwickelt. Auch omas nimmt in seine Gedankengänge über das, was Bild ist, immer wieder griechische Formulierungen auf. Das, was »imago« heißt, hatten die »libri carolini« für die westliche Geistigkeit begründet, die sich im Norden entfalten sollte. Dies war inzwischen in einer Fülle und Weite geschehen, daß omas in seinen Bestimmungen weitmaschig und unsubstantiell wird, indem er den ganzen Reichtum der neuen Bildung und Kunst in seine religiöse Deutung faßt. So hebt er die klar gefaßten Gegensätze auf und bringt alles in eine Richtung, in das Gesamtsystem seiner Lehre. Seine einzelnen Bstimmungen haben ihren Sinn in erster Linie als Funktion innerhalb des ganzen anagogischen, aufwärts gerichteten Systems. Dieser komplexe Geist deutet die Fülle und Macht der gotischen Bildschöpfung. Es ist nicht so, daß eine in sich vollständige Geistigkeit vorläge, als deren Auswirkung oder Abglanz die Kunst entstände. Was damals – gegen Katharer und Zisterzienser – in und an der Kathedrale errichtet wurde, ist mindestens ebenso originär schöpferisches Christentum wie die Scholastik oder überhaupt die eologie. Die Bereiche sind miteinander nur in der Analogie zu verknüpfen. Unmittelbar sagt omas wenig zu der großen Bildkunst seiner Zeit, so wenig wie die Musiklehre damals von der kirchlichen Musik selber etwas aussagt. Allein seine Denkweise spiegelt die Gotik wider, und nicht nur deren kirchliche Baukunst: ihr kunstvoll und kühn aufsteigendes Gefüge, die Zergliederung und Überhöhung, die ständige Übertragung und Verstrebung, die Entstofflichung und Vergeistigung alles Einzelnen, seine Verknüpfungen und Steigerungen über sich hinaus, die vielerlei Entsprechungen und Ähnlichkeitsbeziehungen. Mystik und Ratio, Glauben und Denken scheinen sich gegenseitig im Scheitelpunkt alles Zusammenhängens zu treffen und zu sichern. Bildlos war die Kunst des Orients und bildlos die der nordischen Völker gewesen. Die alte Vereinigung mit dem Römischen, historisch aber erst der neue Rückgriff darauf ließ aus dem eigenen Stamm das Bild als Bildwerk erwachsen zu eigener Gestalt. So ruht Eigenes
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und Altes in dieser Geistigkeit, in der gotischen Bildkunst sowohl wie im Denken darüber. Darin liegt die Aktualität, die heutige Dialektik all dieser Fragen. Der Wunsch des frommen Volkes nach Anbetung, nach Wunder, nach Anschauung, hat seine eigenen Gesetze – auch wenn das Bild »beim Vollzug der Mysterien unseres Heils keine Aufgabe hat« (Dürig). Auch heute wird das Bild durch den Liturgen offiziell »durch Gruß verehrt« und werden »Altarbilder, auch wenn sie ohne Reliquien sind, inzensiert«. omas weitgespanntes Denken schließt dies nicht aus, – eine Synthese nicht nur von Nord und Süd, sondern eben auch von West und Ost. So konnte aus Christus der Beau Dieu der Kathedralen werden, der das Christusbild noch der Gegenwart bestimmt. Luther hat dieses Bild bestehen lassen, erst Calvin hat den strengeren Anspruch der alten Lehre wieder erhoben und durchgesetzt. Das Denkmal Farels, des Bilderstürmers, steht in Neuenburg, die zertretenen Bilder unter den Füßen. Aber jede religiöse Bewegung lebt auch in den anderen als Möglichkeit, als Zweifel, Frage oder Wunsch. So hat diese protestantische Religiosität dann im 19. Jahrhundert Christus undarstellbar gemacht in allen Kirchen. Für die katholische Kirche liegen hier ja ebenfalls keine theologischen Fragen mehr. Seit im Trienter Konzil omas' Positionen ungefähr aufrecht erhalten und – infolge der Angriffe mit genauerer Begrenzung – neu bekräigt worden sind, wird das Problem theologisch nicht mehr behandelt. Seit dem 19. Jahrhundert sind dies praktische Fragen, die sich aus der Entbildlichung der Welt überhaupt und andererseits aus der historischen Restauration ergeben. Vorstöße der liturgischen Bewegung, das Bild ganz aus der Kirche zu entfernen, die wieder ein Bereich symbolischer Geltung werden soll, hat Pius XII. abgewiesen. Die alten Bilder sind vorhanden und ihnen wird schon wegen ihres Alters, wegen ihrer Weihe, die ihnen die geschichtliche Überlieferung verleiht, die geschuldete Ehrfurcht zuteil. Bisweilen, wie in dem durchaus gegenwärtigen Kultbau von Ronchamp wird die Fragwürdigkeit solcher Traditionen aktuell: das alte Bild dort läßt sich in diesen Bau nicht wirklich aufnehmen. Wie aber ein neues Bild erscheint, das ist heute mehr eine Frage des Geschmacks oder der Wirkung statt der religiösen und künstlerischen Wirklichkeit.
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Ikonik Bilder und ihre Anschauung ema der Ikonik ist das Bild als eine solche Vermittlung von Sinn, die durch nichts anderes zu ersetzen ist. Über diese Unersetzbarkeit läßt sich nicht abstrakt diskutieren. Um sie zu gewahren und sich ihrer bewußt zu werden, bedarf es der konkreten Anschauung eines Bildes, und zwar ist eine spezifisch ikonische Anschauungsweise unerläßlich. Der folgende Beitrag liefert einige Beispiele dafür. Die Beispiele sind figürliche Bilder, ein Landschasbild und Bilder der sogenannten gegenstandslosen Kunst. Das Figurenbild, von dem zunächst die Rede sein soll, ist eine in der Zeit um 980 gemalte Miniatur (Abb. 1). Dargestellt ist die Bitte des Hauptmanns von Kapernaum. Die Miniatur befindet sich im Codex Egberti, einem für den Erzbischof von Trier geschaffenen und mit zahlreichen kleinformatigen Bildern ausgestatteten Evangelienbuch, sie ist eines der Hauptwerke der ottonischen Malerei. Grundlage der Darstellung sind Verse aus dem Matthäus-Evangelium (Kap. 8): »Da aber Jesus einging zu Kapernaum, trat ein Hauptmann zu ihm, der bat ihn und sprach: Herr, mein Knecht liegt krank zuhause und ist gichtbrüchig und hat große Qual. Jesus sprach zu ihm: Ich will kommen und ihn gesund machen! Der Hauptmann antwortete und sprach: Herr, ich bin nicht wert, daß Du unter mein Dach gehest, sondern sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund. – Denn ich bin ein Mensch, der Obrigkeit untenan, und habe unter mir Kriegsknechte, und wenn ich zu einem sage, gehe hin, so geht er (...) Da Jesus das hörte, wunderte er sich und sprach zu denen, die ihm nachfolgten: Wahrlich ich sage euch, solchen Glauben habe ich in Israel nicht gefunden (...) Und Jesus sprach zu dem Hauptmann: Gehe hin, Dir geschehe, wie Du geglaubt hast.«
IKONIK 301 Afofe. Z Codex Egberti, Stadtbibliothek Trier, Der Hauptmann von Kapernaum
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Man sieht in der Miniatur – auch durch abgekürzte Schrizeichen benannt -links einige Apostel und Petrus, man sieht Jesus, und man sieht den Hauptmann und dessen Gefolge. In Jesus und dem Hauptmann zeigt die Miniatur zwei in ihrem Rang unterschiedene Hauptfiguren. Hauptfiguren sind beide, weil sie – wenngleich in verschiedenen Abständen – jeweils von ihrem Gefolge abgerückt sind, und Hauptfiguren sind beide, weil sich ihre Kleidung in sachlicher und auch formaler Hinsicht in ihrem Gefolge jeweils wiederholt. Sogar herrscht eine gewisse Symmetrie, insofern jedes Gefolge eine Vierergruppe ist. Unterschieden sind die Hauptfiguren dagegen in ihrer Körpergröße, vor allem aber in der dynamischen Aktivität, welche die Jesusfigur auszeichnet. Während sich nämlich der Hauptmann auf Jesus richtet als auf den Adressaten seines Bittens und Sprechens, wendet sich Jesus belehrend den Aposteln zu, indem er zugleich auf den Hauptmann zeigt- »Wahrlich ich sage euch, solchen Glauben habe ich in Israel nicht gefunden«. Dieser eigentliche Augenblick der verbildlichten Szene erfordert eine vielfache Richtungsorientierung der Jesusfigur: Vorherrschend ist die Figur in Dreiviertelansicht nach rechts hin gewendet, der Kopf ist in Dreiviertelansicht rückwärts nach links gerichtet, und in klarer Seitenansicht weist der Arm nach rechts. Die Haltung der Jesusfigur (Abb. 2) ist kompliziert, aber dennoch klar geregelt durch eine Anzahl formaler Bildwerte: Man sieht, daß die deutliche Rundform der (von uns aus) linken Schulter auf die Rundung des Heiligenscheins anspielt, daß die Kurven des erhobenen Arms und des Schulterwurfs der Toga einander durchdringen, daß die unterhalb des Arms herabfallenden Säume der Toga als Schwunglinie und als Gerade harmonisch kontrastieren, daß sich die Fußspitzen mit einer Linie verbinden lassen, welche die Richtung der zeigenden Hand wiederholt. Das alles sind abstrakte, rein for-
Abb. 2 Detail
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male Entsprechungen, gerade sie aber verknüpfen die vielfältigen Bewegungsrichtungen der Jesusfigur zu einer einheitlichen und insgesamt überschaubaren Gestalt. Die Figur Jesu ist -wenngleich von ganz geringen tatsächlichen Ausmaßen – eine Monumentalfigur. Warum aber hat der Maler seine Miniatur so komponiert und nicht anders, und bringt gerade die so und nicht anders komponierte
tza cz3 crs crs ES ca eaarsra ea taue* cautf Abb. 3 Montage der Abbildung (Verschiebung der Figur Christi nach links)
Miniatur etwas zur Anschauung, das nur durch ein Bild zu veranschaulichen ist? Besser als durch Worte läßt sich der Sinn des Bildanschaulichen durch Experimente erklären, welche die Miniatur in ihrem Auau verändern. Ein Vergleich dieser Änderungen mit der Miniatur selbst läßt die folgenden, sowohl formalen als auch inhaltlichen Unterschiede erkennen, er kann bewußt machen, daß die formalen und inhaltlichen Qualitäten des Bildes nicht voneinander zu trennen sind. Mit anderen Worten: Syntax und Semantik bedingen einander. In Abb. 3 besteht eine Zweierstruktur. Die Figur Jesu ist nach links gerückt und vor allem der Gruppe der Apostel zugeordnet. Strukturell geurteilt verhält sie sich ähnlich zu den Aposteln, wie sich der Hauptmann zu seinem Gefolge verhält. Die Sonderstellung der Jesusfigur ist gemindert. Dadurch zerfällt die innere Spannung der Komposition wie auch der verbildlichten Szene.
304 MAX IMDAHL Abb. 5 wie Al>^. 1
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In Abb. 4 besteht eine Dreierstruktur. Die Figur Jesu ist in die Mitte gerückt, sie ist deutlich als Einzelfigur ausgesondert und den Figurengruppen beiderseits übergeordnet. Die seitlichen Gruppen kommen nurmehr als flankierendes Begleitpersonal der Jesusfigur zur Geltung. Auch dadurch zerfällt die innere Spannung der Komposition wie ebenso der verbildlichten Szene. In Abb. 5 – der unveränderten Miniatur – besteht eine Durchdringung von Zweier- und Dreierstruktur. Wohl ist die Figur Jesu als Einzelfigur ausgesondert, aber als Einzelfigur ist sie dennoch – in unterschiedlichen Abständen und jeweils besonderer Weise – auf die Apostel und auf den Hauptmann mit seinem Gefolge bezogen. Die Durchdringung von Zweier- und Dreierstruktur ist eine solche, in der Jesus als Einzelfigur den seitlichen Gruppen sowohl zugeordnet als auch übergeordnet ist. Gerade diese Durchdringung von Zweierund Dreierstruktur macht die innere Spannung der Komposition und der verbildlichten Szene aus, und zwar erscheint Jesus in die Szene einbezogen wie eben so über sie erhoben, er erscheint zugleich in der Geschichte und über der Geschichte. Veränderungen der Komposition – gerade das sollten die Experimente zeigen – verändern den Sinn der verbildlichten Szene. Wer allein die an Jesus gerichtete Bitte des Hauptmanns von Kapernaum erkennt und sich damit begnügen wollte, gewahrt nicht eigentlich das Bild – er sieht, was ohnehin im Bilde selbst schrilich angedeutet ist. Aber er verfehlt die bildgestiete Anschauungseinheit, in der – aus Anlaß des Ereignisses der Bitte des Hauptmanns -Jesus zugleich und gleichermaßen sichtbar dargestellt ist als der in der Geschichte Handelnde und als der über die Geschichte Erhobene. Man kann fragen, ob jene im Bilde gegebene Durchdringung von Zweier- und Dreierstruktur auch die ästhetische Qualität der Bildkomposition begründet. Dazu ein weiteres Experiment: Vor vielen Jahren habe ich einigen befreundeten gegenstandslosen Malern zwei maßstäblich übereinstimmende Fotos vorgelegt – das eine enthielt nur die Figur Jesu und das andere nur die Gruppe beiderseits. Die Maler kannten die gesamte Miniatur nicht, auch nicht deren Sujet. Sie waren aufgefordert, nach eigenem Dafürhalten die Figur in die Lücke zwischen den beiderseitigen Gruppen einzuordnen. Nach einigem Hin und Her setzten die Maler die Figur an die richtige Stelle, ohne jene semantischen Konsequenzen dieser syntaktischen Positionierung in Betracht ziehen zu müssen. Man könnte sprechen von einem Gespür für ikonische, bildimmanent evidente Konstellationen.
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Die Interpretationslehre von Erwin Panofsky unterscheidet an einem Bilde zwischen dessen vorikonographischer, ikonographi-scher und ikonologischer Sinnebene. Man kann diese verschiedenen Sinnebenen erläutern an der Darstellung der Gefangennahme Jesu (Abb. 6) – auch eine Miniatur im Codex Egberti, aber von anderer Hand. Auf der Stufe eines vorikonographischen Verstehens werden die linearen und koloristischen Phänomene des Bildes als Figuren und Dinge begriffen. Dagegen bedarf es zur Gewahrung des ikonographischen Bildsinns unerläßlich der Kenntnis der Evangelien. So ist bei Matthäus, Lukas und Markus die Rede davon, daß Jesus von Judas geküsst und von einer großen Menge mit Schwertern und Stöcken ergriffen wird, daß aber auch Petrus im Begriffe ist, dem Malchus ein Ohr abzuschlagen und Jesus dies seinem Jünger verbietet. Johannes erwähnt den Judaskuß nicht. Während aber Johannes die Ergreifung Jesu erst auf die Aktion des Petrus und Jesu Befehl an diesen folgen läßt, liegt sie nach Matthäus diesen Vorgängen voraus. Lukas berichtet sowohl die Aktion des Petrus als auch die Heilung des Malchus durch Jesus und danach die Ergreifung. Anders ist wiederum die zeitliche Abfolge nach Markus: zuerst der Judaskuß, dann Jesu Ergreifung, dann die Aktion des Petrus ohne direkten Befehl an diesen, dann die Rede Jesu von der Erfüllung der Schrien und zuletzt die Flucht der Apostel – sie ist auch von Matthäus erwähnt. Jeder dieser Evangelientexte zur Gefangennahme gibt eine Chronologie von Ereignissen an, wobei allerdings die Chronologien differieren. Gleichwohl ist zur Gewahrung des ikonographischen Bildsinns die Kenntnis der Evangelien unumgänglich, und gerade insofern ist der ikonographische Bildsinn ein Inhalt des Wissens. Dagegen besteht der ikonologische Bildsinn – unter Einschluß des ikonographischen Wissens und über dieses hinaus – in der Funktion des Bildes als einer Ausdrucksform für solche historisch bedingten Geisteshaltungen, die zur Entstehungszeit des Bildes in der Malerei wie auch sonst in religiösen, philosophischen und poetischen Ideen hervortreten. So ist es im Hinblick auf die Miniatur ikonologisch relevant, daß Jesus als der Ergriffene doch nur wie mit Judas bekleidet erscheint und zugleich auch als der selbst Handelnde, indem er mit großer Entschiedenheit dem Petrus gebietet. Ikonologisch relevant sind diese Fakten, insofern sie die frühdeutsche Jesusvorstellung als die Vorstellung von einem heroischen Jesus bezeugen – wie diese in karolingischer Zeit im Heliand und in ottonischer Zeit beispielsweise in den Carmina Cantabriginesia niedergelegt ist. Auch die Figur Jesu in der Miniatur mit der Bitte des Hauptmanns ist eine
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307 Abb. 6 Codex Egberti s. o., Gefangennahme Christi
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heroische Jesusfigur. Der ikonologische Bildsinn erweist den geistesgeschichtlichen Geltungswert eines Bildes, er ist nicht ein Inhalt des Wissens, wohl aber – in Würdigung des historisch Besonderen – ein Inhalt durchschauender Deutung. Panofskys vorikonographisch-ikonographisch-ikonologisch gestufter Interpretationsanspruch ist für die Sinnbestimmung eines Bildes wie der ottonischen Miniatur unverzichtbar. Es gibt aber auch einen ikonischen Bildsinn. Dessen Inhalt ist die Anschauung als eine Reflexion über das Bildanschauliche wie ebenso über das nur Bildmögliche selbst. Man kann diese ikonische, auf das Bildanschauliche selbst bezogene Anschauungsweise Ikonik nennen (Ikonik zu Eikon wie Logik zu Logos oder wie Ethik zu Ethos). In der Anschauung der Miniatur erweist sich jedwede szenische Chronologie als irrelevant, vielmehr ist die textgegebene Sukzession in evidente szenische Simultaneität transformiert. Es wäre sinnlos, die verbildlichte Szene sozusagen narrations-logisch nach sukzedie-renden Ereignismomenten differenzieren zu wollen – zuerst die Umarmung, alsdann die Ergreifung, alsdann Jesu Hinwendung zu Petrus oder auch umgekehrt diese noch vor der Ergreifung -, sogar müßte eine solche Differenzierung das Sinnganze des Bildes zerstören. Keineswegs ist die evidente szenische Simultaneität selbstverständlich oder bereits gegeben mit der materiellen Totalpräsenz des Bildes, sie ist vielmehr eine auf sehr besonderen Strategien beruhende dramaturgische Leistung, die weder durch sprachliche Narration ersetzt werden kann noch auch in der Empirie eines Geschehens ein Vorkommen hat. Demgemäß läßt sich die verbildlichte und zweifellos nur bildmögliche Simultaneität der Szene auch nicht mehr in Narration oder in Empirie oder gar in nur fiktionale Empirie zurückübersetzen. Die Miniatur macht szenische Simultaneität evident vor allem in der Figur Jesu. Die Sprache muß aufzählen, was in einem zu sehen ist: Man sieht, daß Jesus von Judas umarmt und an beiden Armen von Juden ergriffen ist, man sieht, daß Jesus im Egriffensein mit entschiedenem Gestus dem Petrus befiehlt, man sieht, daß Jesus sich widerstandslos in die Passion ergibt – unübersehbar ist der Unterschied seiner kralos-passiv herabhängenden linken Hand zum Be-fehlsgestus seiner Rechten, aber auch zu der Schreckensgebärde des Malchus -, und man erkennt in der auffälligen Erhobenheit der Arme Jesu eine mögliche, vielleicht sogar zwingende Vorausweisung auf die Kreuzigung. In der ottonischen Miniatur ist die Figur Jesu Ausdruck und
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Bedingung einer äußersten Geschehensdichte, sie ist – wenn diese nur schwer zu ersetzende Bezeichnung erlaubt ist – eine szenische Konfigurationsfigur. Denn in dieser einen Figur sind verschiedene und nach Maßgabe der Evangelientexte wie auch immer sukzedie-rende Ereignismomente im Geschehen der Gefangennahme zu anschaulicher Simultaneität verdichtet und im eigentlichen Sinne des Wortes konfiguriert. Figur und sukzessionsüberwindende szenische Konfiguration sind ein und dasselbe. In der Figur Jesu ist die in Gleichzeitigkeit und Allgegenwart überführte Sukzessivität der verschiedenen Ereignismomente personifiziert: Wie sollte man einen solchen Satz sinnvoll, mit dem Anspruch auf intersubjektive Verständlichkeit und sogar in Bindung an eine Art sachlicher Augenscheinlichkeit überhaupt aussprechen können, wenn nicht in der Anschauung ebendieser Figur. Zweifellos ist im Kontext jener vergleichzeitigten Ereignismomente die Beziehung zwischen dem handelnden, befehlenden Jesus und dem in seiner Aktion augenblicklich innehaltenden Petrus in besonderer Weise thematisch. Schon durch ihre größenmaßstäbliche Gleichheit sind die Figuren Jesu und Petri aufeinander bezogen, und ebendieser Bezug ist noch verdeutlicht durch die Stellung der Bäume. Denn diese bilden sozusagen ein Bild im Bilde, das die Jesus-Petrus-Szene als beherrschend hervorhebt. Und dennoch ist – wie ähnlich im Bilde mit der Bitte des Hauptmanns – die Figur Jesu zugleich aus allem noch so vergleichzeitigten und in sich selbst auch noch so hierarchisierten szenischen Kontext herausgehoben. Gerade auch das zeigt die Bildkomposition in ihrer Totalität, sowohl vermöge ihrer planimetrischen Ordnung als in ihrer räumlichen Disposition. Im Ebenenauau des Bildes überragt die Figur Jesu mit ihrem Nimbus die Köpfe aller anderen Figuren, und ebenso unübersehbar ist der Raum, den die Juden, aber auch Petrus und Malchus, wie jeweils zurückgedrängt freigeben. Man könnte von einer Aura oder gar von einem Raumnimbus der Jesusfigur sprechen. Die in welcher Chronologie auch immer als geschichtlich überlieferten und im Bilde simultaneisierten Geschehensmomente, die Umarmung, die Ergreifung und als besonderte Szene Jesu Befehl an Petrus und dessen Reaktion darauf – das alles im einzelnen wie ebenso das Ereignis der Gefangennahme insgesamt als Attribution! Und nochmals: Wie sollte man auch davon sprechen können ohne die Anschauung ebendie-ses Bildes? Wir könnten uns ohne die Anschauung des Bildes selbst von dieser hochkomplexen Sinnstruktur, in welcher die Figur Jesu handelnd und Handlungen erleidend sowohl das szenisch Ungleich-
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zeitige in sich vergleichzeitigt als auch aus allen szenischen Umständen herausgehoben ist, wohl kaum ein Bild machen. Diese Sinnstruktur läßt sich nicht als Vorgang erzählen, weil sie sich von narrativer Sukzession wie ebenso von empirischer Geschehenserfahrung unterscheidet. Und sollte von dieser Sinnstruktur die Rede sein, so wäre bereits von einem Bilde oder doch jedenfalls von einer Bildvorstellung die Rede, welche selbst derjenigen gleicht, die der Miniatur zugrundeliegt. Jene hochkomplexe Sinnstruktur bedarf des Bildes, und sie bezeugt zugleich die spezifische Vergegenwärti-gungskra von Bildlichkeit. Gerade diese der ikonischen Anschauungsweise offensichtliche Erkenntnis erzwingt eine besondere Reflexion über das Verhältnis zwischen Bild und Sprache. Einerseits ist nicht zu bezweifeln, daß das Bild auf Texten, das heißt auf sprachlicher Narration beruht und deren notwendige Sukzessivität in evidente szenische Simultaneität verwandelt. Als heilsgeschichtliches Ereignisbild kann die ottoni-sche Miniatur ohne die biblischen Texte nicht sein. Was sie aber als hochkomplexe szenische Simultaneität zur unmittelbaren Anschauung vergegenwärtigt, ist im Medium der Sprache weder als empirische Tatsache zu beschreiben noch auch als imaginierte Vorstellung zu erzeugen. Andererseits ist der Nachweis ebendieses Sachverhaltes selbst ein Akt der Sprache – wie die Interpretation eines jeden Bildes an Sprache, das heißt an sukzessive Beschreibung und mehr noch an sukzessive Argumentation gebunden bleibt: Wenn – zum Beispiel -in der Miniatur der Gefangennahme die Figur Jesu eine szenische Konfigurationsfigur ist, dann verhalten sich die so konfigurierten Einzelszenen sämtlich in Gleichzeitigkeit und attributiv zu dieser Figur. Aber auch die das Bild beschreibende Sprache muß die Einzelszenen sämtlich und nacheinander benennen. Ein Äquivalent für jene den besonderen Bildsinn stiende szenische Konfigurationsfigur liefert die Sprache nicht. Einerseits ist die Sprache als Narration dem Bilde vorgegeben, andererseits ist das Bild die Vorgabe sprachlicher-unvermeidlicherweise sprachlicher- Interpretation. Was indessen das Bild als solches ist, widersetzt sich aller sprachlichen Substitution. Denn wie sich das Bild in der Evidenz einer hochkomplexen szenischen Simultaneität von den narrativen Evangelientexten unterscheidet, so ist es auch von seiner notwendig sprachlichen Interpretation nicht einzuholen, was immer diese zum Bildverständnis beiträgt. Als ein originaliter auretender Sachverhalt selbst aber ist jene anschaulich gegebene szenische Simultaneität sprachlich nicht herstellbar.
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Abb. 7 Giotto, Arena-Kapelle Padud, Gefangennahme Christi
Spezifisch ikonisch ist auch die szenische Dichte in Giottos Arenafresko der Gefangennahme (Abb. 7). Ikonographisch referiert das Bild, nicht anders als die ottonische Miniatur, auf Texte der Bibel, und ikonologisch ist es – über jene ikonographische Bindung hinaus – durchschaubar als ein Ausdruck der franziskanischen, vor allem das Gefühl ansprechenden Heilsverkündung, wobei auch diese selbst als das Symptom eines damals herrschenden allgemeinen An-thropozentrismus verstanden werden kann. Alledem kommt zugute, daß der Maler die Körperlichkeit des Figürlichen betont und sie in repräsentativen Ansichten vorführt, denn das Bild vereinigt Figuren in Seitenansicht, eine Figur in Dreiviertelansicht und eine andere in Rückenansicht. Unter wiederum ikonographischem Aspekt bezieht sich diese Rückenfigur auf das LukasEvangelium. Sie hält ein schlaff herabhängendes Gewand fest, und zwar das Gewand eines Jünglings, der Jesus gefolgt ist und gefaßt werden sollte: »Er aber ließ das
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Linnen fahren und floh nackt.« In der Orientierung auf die visuelle Empirie und deren exemplarischer Systematisierung ist der Figurenstil Giottos neuzeitlich und von der Bildtradition des Mittelalters unterschieden. Der Beschauer soll zum Augenzeugen der Szene werden. Was die Passion betri, so ist er besonders zu miterlebendem, sympathetischem und nicht admirativem Verhalten aufgerufen, zu Mitangst und Mitleid. »Habe Erbarmen mit Ihm« – so heißt es in den Meditationes vitae Christi des sogenannten Pseudo-Bonaventu-ra. Und ferner zur Gefangennahme: »Wie geduldig er es zuläßt, selbst gefaßt, gebunden, geschlagen und wild getrieben zu werden, als wäre er ein Verbrecher und tatsächlich ohnmächtig, sich zu verteidigen.« Solche emotionale Einstimmungen enthalten die Evangelientexte nicht. In Giottos Bild ist die Figur Jesu nicht wie mit Judas bekleidet, und es fehlt auch die befehlende Hinwendung zu Petrus. Dagegen ist Jesus von Judas umfangen, sogar gefangen oder geradezu vereinnahmt und in dieser Vereinnahmung wie ohnmächtig dem Judas unterlegen. Zur Rechten weist mit entschiedener Gebärde ein Pharisäer auf Jesus als auf den Gesuchten hin, und links im Bilde erhebt ein Scherge eine Keule gegen Jesus. Auch diese Aktionen bezeugen Jesu Ohnmacht. Ikonisch relevant ist es indessen, daß vermöge besonderer Bildkomposition Jesus sowohl als der Unterlegene wie auch als der Überlegene erscheint. In hoheitlicher Überlegenheit blickt Jesus auf Judas herab, und zwar ist die Schräge dieses Blickgefälles ein das Bildganze beherrschender Richtungswert, indem sie sich in der Keule des Schergen und im Zeitgestus des Pharisäers über die Bildbreite erstreckt: Man sieht, als eine Art Übergegensätzlichkeit, Jesu Macht in seiner Ohnmacht und diese in jener. Die Sprache liefert kein Wort, das Unterlegenheit und Überlegenheit in einem bezeichnet. Zur Erfahrungsevidenz einer solchen Ineinssetzung bedarf es des Bildes und seiner spezifisch ikonischen Anschauung. Ein Text kann diese Erfahrungsevidenz nicht erzeugen, und überdies ist sie weder durch ein Passionsspiel noch auch – woran man vielleicht heute denken möchte – durch einen Film zu ersetzen. Vielmehr bedarf sie eines statischen, unbewegten Bildes. Wie also sollte man den semantischen Erkenntnisertrag einer auf ikonische Sachverhalte gerichteten ikonischen Anschauung wirklich ignorieren? Panofsky zufolge lassen die Verständnisperspektiven von Ikonographie und Ikonologie erkennen, »wie unter wechselnden historischen Bedingungen wesentliche Tendenzen des menschlichen Geistes durch bestimmte emen und Vorstellungen ausgedrückt wurden« – zum
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Abb. 8 Jacob van Ruisdael, Die Mühle von Wijk (um 1670), Amsterdam, Rijksmuseum
Beispiel durch das ema der Gefangennahme -, und Panofsky zufolge offenbart sich einer solchen Erkenntnis der »eigentliche Gehalt« eines Bildes.1 Dagegen kann die Ikonik als die Anschauung spezifisch ikonischer Gegebenheiten dazu verhelfen, die Imaginationskra des menschlichen Geistes in der Stiung von Bildern bewußt zu machen, das heißt von Phänomenen, deren Informationsdichte sonst nicht zu erreichen ist und die es vermögen, ein eigentlich Unanschauliches anschaulich zu repräsentieren. Panofsky hat das System aus vorikonographischen, ikonographi-schen und ikonologischen Sinnebenen vor allem an Ereignisbildern oder auch an figürlichen Darstellungen entwickelt, deren Sujets vornehmlich auf literarische Quellen Bezug nehmen. Gleichwohl kann sich dieses System auch am Landschasbild bewähren, und zwar wiederum derart, daß jene vorikonographischen, ikonographi-schen und ikonologischen Verständnisperspektiven in einer ikoni1 Erwin Panofsky, Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance. In: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (Meaning in the Visual Arts), Köln 1978, S. 48
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sehen aufgehen. Selbstverständlich liegt – zum Beispiel im Anblick von Ruisdaels Bild der Mühle von Wijk (Abb. 8) – eine vorikono-graphische Gegenstandsidentifikation allem weiteren Bildverständnis voraus. Sodann läßt sich als ikonographischer Inhalt veranschlagen, daß Ruisdaels Bild eine Porträtlandscha ist. Die dargestellte Mühle von Wijk hat es tatsächlich gegeben. Sie stand am Ufer des Lek, sie war eine Kornmühle und ihr Turm war – wie sich aus den noch erhaltenen Fundamenten errechnen läßt – gegen 20 m hoch. Andere im Bilde zu sehende Gebäude existieren noch heute. Wie sachlich genau die Darstellung Ruisdaels ist, bezeugen die Uhren am Kirchturm ganz rechts im Bilde. Sie wurden erst im Jahre 1668 angebracht – womit sie denn auch ein Indiz für die Datierung des Bildes sind. Ikonologisch und also über die bloße Faktizität der Mühle von Wijk hinaus bedeutsam sind indessen die Vorstellungen, die sich während des siebzehnten Jahrhunderts in Holland mit jedweder Windmühle verbanden. Man erblickte in ihr ein Symbol für den kreuztragenden Christus, wie in ähnlicher, christlich fundierter Spi-ritualisierung eine Kornmühle auf Erlösung und Eucharistie verwies. Zweifellos sind diese Anmutungen historisch bedingt, sie haben heute wohl kaum noch Geltung. Man wird daher die Verbildlichung einer Windmühle – bereits ihre Bildwürdigkeit als solche -mit jenen damals aktuellen, christologischen Geltungen verknüpfen können, aber auch dies wiederum damit, daß im damaligen Bewußtsein in Holland die empirischen Dinge die empirischen Dinge sind, aber auch anderes und mehr als nur die empirischen Dinge. Doch schließlich ist unabhängig von diesen historisch bedingten Sinnbestimmungen, wenn auch gewiß nicht gegensätzlich zu ihnen, die von Ruisdael verbildlichte Mühle von Wijk – eigentlich eine Mühle wie andere Mühlen auch – bis auf den heutigen Tag exemplarisch für die Darstellung einer Windmühle überhaupt. Ebendiese ikonische Qualität erweist sich einer ikonischen, auf die Struktur des Bildes gerichteten Anschauung, und einer solchen Anschauung kann auch nicht entgehen, worin jene Exemplarität sich begründet. So ist es ganz unverkennbar, daß Ruisdaels Bild verschiedene Perspektiven in sich enthält, indem die Darstellung der Mühle von der Darstellung der Landscha sich unterscheidet. In Ruisdaels Bild ist der Mühlenturm aus Untersicht gesehen verbildlicht. Die Untersicht ist bezeugt durch die stark herabgebogenen Ränder der Mühlenempore und des Mühlendaches, und zwar resultiert dieses optische Abwärts aus einem Aufwärts des Blicks,
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31* welches selbst eine kleine Augendistanz zum Fußpunkt des Turmes zu seiner Bedingung hat. Die Mühle ist dargestellt als eine solche, zu der man aufschaut. Unbestreitbar sind dadurch die Mühle und der Beschauer in einen Direktbezug zueinander gebracht. Als das aus naher Distanz Gesehene ist die von Ruisdael gemalte Mühle von Wijk nicht nur eine porträtgenaue abgebildete Sachwirklichkeit, vielmehr wird sie – eben als diese – zum Gegenstand einer unmittelbaren Erlebniswirklichkeit und womöglich erlebbar in der Rolle eines Bildhelden. Denn auch dies bestimmt die besondere Präsenz der Mühle von Wijk in Ruisdaels Bild: Als das aus naher Distanz in Untersicht Gesehene erscheint die Mühle im Kontext einer weithin entbreiteten Landscha, die aus größerer Entfernung und von einem höheren Standpunkt aus gesehen ist. In diesem landschalichen, weiträumigen Kontext fungiert die Mühle als normgebender Wert räumlicher Orientierung. Nicht umsonst hat der Maler das andere Ufer des Lek unterschlagen. Es ist unmöglich, in der Realität mit einem Blick oder auch bei nur geringer Blickbewegung zu erfassen, was Ruisdaels Bild zugleich überschaubar macht. Der Beschauer sieht seinen eigenen Aulick zur Mühle integriert in die Überschauung einer offenen und sogar potentiell unbegrenzten landschalichen Weite. In identischer Bilderscheinung existiert die Mühle in jeweils besonderem und jeweils thematischem Verhältnis sowohl zur Weite der Landscha als auch zum Bildbeschauer, und sie ist – als Bildheld – eine Vermittlung zwischen diesem und jener. Vor allem das ist es, was Ruisdaels Bild vor anderen Mühlenbildern auszeichnet und zum exemplum eines Mühlenbildes überhaupt erhebt – gewiß auch in Erwägung des historischen Umstands, daß die Mühle von Wijk wie jedwede andere Kornmühle damals ein Symbol für Erlösung und Eucharistie war: Was sich der Anschauung des Bildes wie ein für allemal offenbart, ist jenes Doppelverhältnis der Mühle zur Landscha und zum Bildbeschauer – zur Welt sowohl als auch zum Individuum. Wie immer Ruisdaels Darstellung der Mühle in deren religiösem Symbolwert fundiert und wie immer dem Bildbeschauer dieser Symbolwert bewußt ist oder auch nicht, in der Anschauungsgegebenheit des Bildes ist jenes Doppelverhältnis als es selbst evident und aktuell gegenwärtig. Das Bild »Angles droits concentriques« von Fran§ois Morellet, gemalt im Jahre 1956, ist ein quadratisches, weißes und von einer Vielzahl schwarzer Linien überdecktes Feld (Abb. 9). Die Linien bilden rechte Winkel. Kategorial geurteilt ist Morellets Bild ein Werk
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Abb. 9 Frangois Morellet, Angles droits convergents, 1956
der gegenstandslosen Kunst. Es entfällt jede auf gegenständliche Dinge bezogene Abbildlichkeit, und in Hinsicht auf Panofskys Interpretationsschema bedeutet dies, daß auch jeder Anspruch auf eine vorikonographische und selbst gegenstandsbezogene Identifikationsleistung des Bildbeschauers entfällt. Signifikant und Signifikat fallen in eins. Man kann einen rechten Winkel nicht abbilden, ohne ihn herzustellen – wie man ebenso einen Buchstaben nicht abbildet, sondern schreibt. Man kann vermuten, daß diese Koinzidenz von Signifikant und Signifikat gegeben ist mit der Flächenexistenz des einen wie auch des anderen. Wie das Bild eine faktische Ebene ist, so ist auch ein rechter Winkel nur wirklich als eine Ebenenrelation von Richtungswerten. In Morellets Bild sind die rechtwinkligen Linien im Verhältnis zum Quadrat des Bildes diagonal orientiert. Die rechten Winkel
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3J7 halten sämtlich denselben Abstand voneinander, und ihre Seiten erreichen sämtlich die Grenzen des Bildquadrats. Von Linien unbetroffen jedoch sind die Ecken des Quadrats, sie bleiben ausgespart und offen. Deutlich erkennbar sind also vier Systeme aus rechten Winkeln, und folgt man einer möglichen Hinführung des Blicks hin zur Mitte des Quadrats, so stellt sich eine neue, bisher vorenthaltene Erfahrung her: Dem Beschauer ist die Möglichkeit eröffnet, nunmehr von der Mitte aus ein diagonal gestelltes griechisches Kreuz zu gewahren, dessen Arme bis zu den offenen Ecken des Quadrats reichen, aber nicht breiter und nicht schmaler sind als die sämtlichen Abstände der sämtlichen Linien voneinander. Wegen der Gleichheit der sämtlichen Abstände ist es für den Beschauer eine Mühe und Anstrengung, die Gewahrung des diagonalen Kreuzes in der Anschauung des ganzen Bildes durchzuhalten. Das diagonale Kreuz ist eine für die Anschauung sich bildende wie auch sich verlierende Form, der sich – wie einem normativen Schema – die vielen und in gleichen Abständen wiederkehrenden Winkellinien zu- oder auch unterordnen lassen. Zudem konkurriert das diagonale Kreuz mit einem anderen orthogonalen, welches aus den Scheiteln der sämtlichen Winkel resultiert und das Quadrat des Gemäldes potentiell vierteilt. Ist aber jenes diagonale Kreuz einmal gesehen und nicht ohne Anstrengung im Bewußtsein des Beschauers festgehalten als eine mögliche Figur – als was ist er dann aber selbst zu deuten? Lassen nämlich jene vier gleichen Winkelsysteme das diagonale Kreuz nur übrig wie einen leeren Rest, oder sind sie, in geradezu umgekehrter Geltung, ursächlich auf das Kreuz bezogen, als wären sie nichts anderes als dessen vielfach echohae Abstrah-lung? Figurieren die sich wiederholenden Winkel in ihrem Vordringen von außen nach innen das diagonale Kreuz, oder figuriert das diagonale Kreuz jene sich wiederholenden Winkel als ein Echo seiner selbst in einer Richtung von innen nach außen? Beide Lesarten sind als solche jeweils klar und rational, jedoch konkurrieren sie mit absoluter Chancengleichheit. Der Sachverhalt ist schwer zu beschreiben, es sind aber auch die Alternativen, die er enthält, nicht zu entscheiden. So läßt sich auch nicht entscheiden, ob die vier Winkelsysteme jeweils als sie selbst bildeinwärts oder bildauswärts orientiert sind. Weniger strittig ist es dagegen, daß die sämtlichen Linien über die faktischen Grenzen des Bildquadrats hinweg in eine Sphäre von unbestimmbarer Weite weitergedacht werden können, wobei jedoch wiederum fraglich bleibt, ob sie von einem unbestimmbar entfernten Woher ins Qua-
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drat eindringen oder in ein unbestimmbar entferntes Wohin aus dem Quadrat hinausführen. Wie soll man entscheiden, und mit welchem Recht? Es ist nicht zu bezweifeln, daß sich die Komplexität des Bildes nur einer intensiven, ikonischen Anschauungsweise erschließt. Die bloße Feststellung, daß vier Winkelsysteme zu sehen sind, verfehlt den ikonischen Gehalt des Bildes – wie wenn man in Ruisdaels Gemälde nichts anderes als ein Abbild der Mühle von Wijk erkennen würde. Sogar kann im Falle des modernen Bildes die bloße Feststellung der vier Winkelsysteme – so wahr sie auch ist – die bildliche Gegebenheit auf eine bloße Trivialität reduzieren, zumal die Winkelsysteme nichts anderes ins Bild bringen als das, was sie sind. Dagegen ist die ikonische Anschauung ein kreatives und selbst unabschließ-bares Durchspielen des im Bilde gegebenen Strukturierungspotenti-als. Gerade im Durchspielen jener im Bilde enthaltenen Kontravalenzen wird sich der Beschauer seiner eigenen Strukturierungsakti-vität, aber auch seiner eigenen Verfügungsohnmacht bewußt, und zwar in der sehr besonderen Erfahrung, daß jede Strukturierung, die er vollzieht, in ein und demselben Phänomen fundiert, daß aber auch keiner der möglichen Strukturierungsakte dazu führt, dieses Identische endgültig zu vereinnahmen und zu beherrschen. Wie anders als in der Anschauung eines visuellen Modells sollte eine solche auf inkompatible Strukturierungen hin angelegte Identität überhaupt gegenwärtig sein, und wie anders als in einem statischen, in sich selbst unbewegten Phänomen – einem Bild. Das Gemälde von Fran§ois Morellet ist ein in seiner Einfachheit hochkomplexes Anschauungsangebot voll von Ungewißheit und Unentscheidbarkeit. Sogar wird im Lichte des Einfachen, Simplen, die Ungewißheit zu einer Gewißheit. Das Bild ist ein von Grund aus erfundenes Anschauungsmodell für die Erfahrung einer unüber-windbaren Verfügungsohnmacht, und man kann und muß sich -gerade heutzutage und mithin im Bewußtsein einer modernen historischen Situation – fragen, wie sich die im Bilde programmierte Gewißheit von unserer Ungewißheit verhält zu pragmatischer, fortschrittsbewußter Erkenntnisorientierung? Ist jene durch das Bild provozierte Erfahrung der Unverfügbarkeit – wer kann es schon wissen – eine Unterbietung oder eine Ausschöpfung unserer Einsichtsfähigkeit? Vielleicht aber ist das Bild auch eine Repräsentationsform für etwas anderes, nämlich das Anschauungsmodell für eine jedem unmittelbaren wie auch endgültigen Zugriff sich entziehende Wirklichkeit überhaupt, auf die es als ein Sichtbares hindeutet
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und die selbst kein Aussehen hat. Grundsätzlich steckt die Leistung eines jeden Bildes von Rang in der Erschaffung einer solchen stellvertretenden Repräsentationsform, die in ihrer Augenscheinlichkeit nur als das System eines Bildes bestehen und somit selbst durch nichts anderes vertreten werden kann. Es ist die Identität des Bildes, als jene stellvertretende Repräsentationsform selbst durch nichts anderes repräsentierbar zu sein. Faktisch ist jedes Bild eine Fläche. Als faktische Fläche unterscheidet es sich von Werken der Plastik wie überhaupt von allem Räumlichen und Körperlichen. Dreidimensionale Gegebenheiten können in beliebig vielen Ansichten gesehen werden. Dagegen legt die Flächengegebenheit eines Bildes die Ansichtigkeit des im Bilde zu Sehenden fest. Zum Problem wird, ob diese Festlegung des zu Sehenden auf nur eine Ansicht eine bloße Reduktion in der Erfahrung der visuellen Welt oder ob sie die Vermittlung eines sonst nicht zu vermittelnden Sinns ist. Dies setzt voraus, daß jede auch nur vorstellbare Sichtbarkeitsalternative des im Bilde zu Sehenden jenen vermittelten Sinn vernichtet, daß also das zu Sehende in seiner fixierten Einansichtigkeit sich erfüllt. Darin steckt ein prinzipieller Unterschied zu aller natürlichen Wahrnehmungsvielfalt der visuellen Welt, was wiederum bedeutet, daß das im Bilde zu Sehende – wie immer es auf die außerbildliche visuelle Welt hinweist oder auch nicht – außerhalb des Bildes keine Existenz hat und insofern mit dem Bilde selbst identisch ist. Man kann nicht bestreiten, daß im Falle der ottonischen Miniatur mit der Bitte des Hauptmanns von Kapernaum (Abb. 1) die sinnstiende Durchdringung von Zweier- und Dreierstruktur allein durch die Flächendisposition der Figuren besteht, welche selbst unveränderlich ist; daß in der Miniatur der Gefangennahme (Abb. 6) die Flächendisposition der Bäume die Jesus-PetrusSzene hervorhebt und zugleich die Besonderheit der Jesusfigur im Verhältnis zu anderen Figuren wie auch ihre Geltung als szenische Konfigurationsfigur durch ihre Frontalität bedingt ist; daß in Giottos Arenafresko der Gefangennahme (Abb. 7) das Blickgefälle von Jesus auf Judas herab durch einen Richtungswert in der Ebene -von links oben nach rechts unten – auf das gesamte Bildfeld erstreckt ist; daß es in Ruisdaels Bild (Abb. 8) der gegen alle Perspektiven grundsätzlich indifferenten Ebene bedarf, um die nahsichtige, aus geringer Distanz gesehene Mühle in eine fernsichtige, aus großer Distanz gesehene Landscha zu integrieren und überhaupt simultan überschaubar zu machen, was sonst nur verschiedenen Blickrichtungen zugänglich wird: Wie
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sollte man in diesen genannten Fällen veranlaßt sein, statt jener sinnstienden Bindungen des zu Sehenden an die prinzipiell unräumliche Kontinuität einer Ebene andere oder sogar wechselnde perspektivische Ansichten herbeizuwünschen – unter Verlust des Bildsinns? Und in Morellets Bild (Abb. 9) ist bereits in der Gegebenheit der rechten Winkel die Ebene als Bedingung der Winkel mitgegeben, allein die Präsenz der dem Auge fortdauernd evidenten Ebene kann die kontravalenten und immer nur vorendgültigen Verständnisversionen des linearen Systems ineinander verschränken. So mag es zum Schluß unserer Abhandlung und gerade auch in Rücksicht auf die o thematischen Mehrdeutigkeiten in Schöpfungen der modernen Kunst nicht sinnlos sein, zwischen Bildern und Plastiken, also zwischen zweidimensionalen und dreidimensionalen Werken zu unterscheiden – im Rahmen eines Buches läßt sich naturgemäß nur an Reproduktionen exemplifizieren. Verglichen werden Werke von Norbert Kricke, die Zeichnung »76/10« (Abb. 10) und die »Raumplastik – 1975/K VI« (Abb. 11). Ähnlichkeiten sind unverkennbar, aber gerade sie werfen die Frage nach der Identität der Zeichnung gegenüber der Plastik auf: Wie also sind Zeichnung und Plastik in Hinsicht auf ihr jeweiliges Vergegen-wärtigungspotential voneinander zu unterscheiden, und ist, möglicherweise, die mit der zweidimensionalen Zeichnung gelieferte visuelle Information komplexer noch als die Information des plastischen, dreidimensionalen Gebildes – sogar auch dann, wenn man die gezeichnete Linie nicht ohne Kenntnis jener Raumplastik wahrnimmt und folglich mit der Zeichnung ein dreidimensionales Gebilde assoziiert. Diese Assoziation ist nahezu unvermeidlich, wobei jedoch – im gegebenen Vergleichsfall – zu bemerken bleibt, daß man wohl kaum umgekehrt das im Foto gezeigte und eigentlich dreidimensionale Gebilde auf eine zweidimensionale Zeichnung reduziert. Denn schon ein erster, flüchtiger Blick gibt zu erkennen, daß das Foto der Raumplastik diese selbst nur in einer unter anderen möglichen Ansichten zeigt, daß also das Foto nicht ist, was es zeigt. Von dieser Differenz läßt sich nicht absehen, und dieser Differenz entspricht das bereits im Anblick des Fotos geweckte Bedürfnis, das gezeigte Gebilde zu umschreiten, es – wie man sagt – in Wirklichkeit zu sehen, um mehr und anderes zu sehen als nur den Verlauf, den das Foto sichtbar macht. Wohl ist das Foto informativ, es ist dem Gebilde als einer dreidimensionalen Verlaufsfigur aber nicht eigentlich angemessen, weil sich der Sinn des Gebildes nicht in nur einer Ansicht erfüllt. Wir sind zurückgeführt auf ein die ästhetische eorie seit
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Abb. 10 Norbert Kricke, 'Zeichnung 76/10
langem beschäigendes Problem, welches innerhalb der bildenden Kunst die kategoriale Bestimmung des Leistungsvermögens von zweidimensionaler Bildlichkeit und dreidimensionaler Tatsächlichkeit betri, sei es zugunsten des einen oder zugunsten des anderen. Im Vergleich der Zeichnung »76/10« mit der »Raumplastik- 1975/K VI« stellt sich dieses Problem aufs neue, und es zwingt dazu, die
322 MAX IMDAHL Abb. 11 Norbert Kricke, Raumplastik, 197WK VI
jeweils ermöglichten Wahrnehmungsmodalitäten bewußt zu machen. Deren Verschiedenheit läßt sich bestimmen nach den Relationen zwischen Anschauung und Bewußtsein und zwischen Anschauung und Imagination, und zwar unter der Bedingung, daß die Anschauung im Falle der Plastik eine immer nur jeweilige sein kann, im Falle der Zeichnung dagegen eine einzige ist. In ihrer Gesamtheit wie auch in den unregelmäßigen, bald entschiedeneren und bald zögerlichen Passagen ihres Verlaufs ist die gezeichnete Linie ein Sichtbarkeitswert von hoher Sensibilität und als dieser zugleich die Spur einer gleichermaßen sensiblen Handbewegung, insofern man – mit dem Philosophen eodor Lipps -sagen möchte, daß eine Linie ihren Charakter der Hand verdankt, die sie gezogen hat. In diesem Verständnis ist die Linie die Spur einer Gebärde. Wo aber beginnt die Linie, führt sie von links nach rechts oder von rechts nach links ? Diese Frage stellt sich unweigerlich, auch angesichts dessen, daß die Linie die direkte Spur einer Handbewegung ist. Daß sie dies ist, macht einen nicht unwichtigen Unterschied zu der Verlaufsfigur der Raumplastik aus, auch wenn sich dort dieselbe und ebenso wenig zu beantwortende Frage nach dem Woher-Wohin stellen kann. Aber natürlich ist die dreidimensionale Verlaufsfigur der Raumplastik nicht gezogen wie eine Linie, wohl
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aber ist sie aus einem bereits vorgegebenen Draht gebogen – wenn auch der Blick des Beschauers sie gleichsam nachzieht. Der Sachverhalt ist selbstverständlich, aber doch bedenkenswert: Das Aussehen der gezeichneten Linie resultiert unmittelbar aus einer entsprechend gebärdenhaen Bewegung der zeichnenden Hand, dagegen ist das Lineare der plastischen Verlaufsfigur das Produkt einer Manipulation, welche in wohl keiner Hinsicht selbst eine Gebärde ist. Und nicht weniger bleibt überdies zu bedenken, daß sich die Verlaufsfigur der Raumplastik niemals ungetrübt zeigt als das, was sie wirklich ist. Man sieht sie – immer wieder anders – aus diesen und jenen Blickwinkeln, o sogar so, daß von der einen Ansicht auf die unendlich vielen möglichen anderen Ansichten gar nicht zu schließen ist. Es gibt keine Hauptansicht und auch keine Erfahrung ein für allemal, wie sich ebenso wenig der Raum – das ema der Plastik – einem einzigen Standort erschließt. Mit der gezeichneten Linie verhält es sich wiederum anders: Unmittelbar und ein für allemal zeigt sie sich zur Gänze als das, was sie ist. Aber sieht man nur eine Linie, oder könnte es sich nicht auch um die Verbildlichung eines schwebenden Gebildes handeln, nicht also nur um eine gezogene Linie auf der Fläche eines weißen Blattes, sondern auch um ein schwebendes Gebilde im Raum, aber wo im Raum, nahe oder fern im Raum? Und sind die Enden des verbildlichten Gebildes uns näher als dessen mittlerer Bogen, oder ist es umgekehrt? Wir können das nicht mehr entscheiden, und wir können auch nicht mehr unterscheiden zwischen der weißen Fläche des Blattes und dem Raum, in dem wir das Gebilde schwebend vermeinen. Was aber ist das für ein Raum, jener Raum nämlich, dem sich die Fläche des Blattes anverwandelt und in dem die konkave Kurvung eines ebenso nahen wie fernen Gebildes anschauungsgleich ist mit dessen konvexer Kurvung? Diese sämtlichen offenen, eigentlich nicht zu vereinbarenden und dennoch in Anschauungsgleichheit gebrachten Möglichkeiten eines Hier und Dort sowie eines Vor und Zurück charakterisieren die faktische Fläche des Blattes als ein aller metrischen Systematisierung entzogenes Worinnen, welches selbst ohne die Präsenz einer alle Tiefenerstreckung ausschließenden Ebene nicht anschaulich repräsentierbar ist. Krickes Zeichnung veranschaulicht somit nicht nur eine auf ein weißes Blatt gezogene Linie, wiewohl sie zweifellos diese ist. Und nur als diese ist sie unmittelbar, zur Gänze und durch keinerlei Perspektive verändert vor Augen. In Rücksicht auf jene schon angedeuteten Relationen zwischen Anschauung und Bewußtsein sowie zwischen Anschauung und Ima-
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gination kann sich nunmehr das folgende Vergleichsschema ergeben: Die dreidimensionale Raumplastik ist je nach Standort des Beschauers als ein immer wieder anderes Phänomen anschaulich, wobei die faktische, gegen alle wechselnde Ansichtigkeit sich durchhaltende Identität des Gebildes selbst ein Inhalt des Bewußtseins ist. Dagegen ist die Zeichnung ein für allemal anschaulich als das, was sie faktisch ist, wobei die Verbildlichung eines räumlichen, aber auch im Räume gar nicht zu verortenden Gebildes ein Inhalt der Imagination ist. Im Falle der Plastik bezieht sich das Bewußtsein auf das faktisch Anwesende, im Falle der Zeichnung bezieht sich die Imagination auf das faktisch Abwesende, das allerdings zu seiner imaginierten Präsenz des faktisch Anwesenden – der tatsächlichen und ein für allemal anschaulichen Linie – notwendig bedarf und auch fortdauernd deren Anschauung erfordert. Man wird schwerlich bestreiten können, daß der vom Bewußtsein geleistete Rückschluß auf ein faktisch Anwesendes nicht dasselbe ist wie die Imagination eines faktisch Abwesenden. Indem der Beschauer der Zeichnung angesichts der einen und selben Linie veranlaßt sein kann, ein vielfach Verschiedenes, das Verschiedene eines konkaven oder konvexen Verlaufs in alternativem Wohin-Woher wie ebenso das Verschiedene eines Nahen oder Fernen als ein potentiell Unterschiedsloses zu imaginieren, wird ihm auch die weiße Fläche des Blattes imaginierbar als eine Allheit, die das Verschiedene in Auebung seiner Unterschiedenheit in sich enthält. Es ist eine freie, selbstreferentielle, nämlich ursprünglich auf nichts figürliches oder dingliches Dreidimensionales bezogene Linie, die eine Imagination bewirkt über alle Spielräume empirischer Kommensurabilität hinaus.
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Die Bilderfrage I Bilder haben Konjunktur: seit den Achtzigerjahren sind sie zu einem kulturellen »Paradigma« aufgerückt, dessen Signale auch in einer entfernteren und weiteren Öffentlichkeit bemerkt werden. Die Verabschiedungen der sogenannten »Gutenberg-Galaxie« – der Norm der Schri und der Epoche des Buches – sind noch in lebhaer Erinnerung, ein Abschied, von dem gesagt wurde, er bereite einer neuen Aktualität des Mediums Bild den Boden. Wir erinnern an die Hochkonjunktur der Simulationstheorie, welche die Suggestionskra elektronischer Bildtechniken als Beginn eines ikonischen Zeitalters interpretiert. An die menschlichen Körperreaktionen dicht angeschlossene Bildgeneratoren, genannt Cyberspace, wurden im Sinne weitreichender erkenntnistheoretischer oder kulturkritischer Konsequenzen befragt: einer »Agonie des Realen« (Baudrillard), einer »wilden Ontologie« (Foucault), d. h. eines Zusammenbruchs aller Referenzen etc. Seit der wilden Malerei der Achtzigerjahre breitete sich eine öffentliche Bildeuphorie aus, die in einer denkwürdigen Welle von Museumsneugründungen – im wörtlichen Sinne – versteinerte. Allenfalls unter Vorzeichen des Historismus, der wilhelminischen oder josephinischen Gründerzeit hat es eine vergleichbare öffentliche Hochschätzung der Bilder gegeben – neben der hierzulande stets dominierenden eater- und Musikkultur. Diese erstaunlichen Gcgenwartsphänomene sind längst noch nicht hinreichend eingeordnet und verstanden. Den vielen kulturkritischen Bilanzversuchen möchten wir im folgenden freilich keinen weiteren hinzufügen, schon deshalb, weil wir uns schwer damit tun, die eingetretenen zivilisatorischen Veränderungen jetzt bereits zu gewichten. Dennoch liegt sehr viel daran, in die Realität des Bildes tiefer einzudringen. Denn, während sich die Sprache, besonders seit der Romantik, einer intensiven theoretischen Debatte erfreute, die sich in Sprachphilosophie, allgemeiner Sprachwissenscha, Linguistik,
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Übersetzungstheorie etc. institutionalisierte, wurde dem Medium des Bildes keine vergleichbare Aufmerksamkeit zuteil.1 Vergeblich fahnden wir nach einer entwickelten »Bildtheorie« oder »Bildwissenscha« und die kunsthistorische Ikonologie, die das gesuchte Programm einer »bildlichen Logik« scheinbar im Namen führt, baut doch primär auf sprachliche Referenzen des Bildes und kaum auf seine visuelle Präsenz. Dieser rudimentäre Status der Bildreflexion hat seine Gründe sicherlich auch darin, daß allein die Sprache eine Meta-Instanz repräsentiert. Auch über Bilder verständigen wir uns redend. Eine stumme, strikt visuelle Reflexion des Bildnerischen ist zwar nicht ausgeschlossen, wie die Geschichte – insbesondere der modernen Kunst – zeigt, sie bleibt aber am Rande. Das enorme Arbeitsfeld einer Wissenscha von Auge und Bild, welches sich vor uns abzeichnet, läßt sich jetzt nur andeuten und probeweise erkunden. An diesem Arbeitsfeld haben die verschiedensten Disziplinen teil, es übergrei bestehende Zungrenzen. Die Prämissen der hier skizzierten Überlegungen sind weniger in den bildtheoretischen Vorstößen dieses Jahrhunderts, bei Merleau-Pon-ty, Hans-Georg Gadamer, Ernst Cassirer, oder Nelson Goodman zu suchen, sondern zunächst in jenem kunsthistorischen Faktum, das mit dem Bewußtseinswandel der Moderne eintrat. Seit Cezanne, Duchamp, Malevich, Mondrian, Newman u. a. sind Bilder alles andere als selbstverständlich. Bevor ein Künstler dieses Jahrhunderts gestaltet und indem er gestaltet, muß er die Frage stellen und beantworten, was für ihn überhaupt »Bild« sein soll: wie es wovon handelt? Die Stationen dieses Prozesses markieren den Verlauf der Kunstgeschichte dieses Jahrhunderts. Sein sachliches Spektrum zeigt sich denkbar weit. Es reicht vom kubistischen Bildobjekt über Du-champs ironischen Abschied von der Malerei bis zum Entgrenzungsprogramm Pollocks, Newmans oder Beuys'. In Ausstellungen der letzten Jahre wurden diese Aspkete breit vorgestellt und diskutiert.2 Als Resume läßt sich festhalten: wie immer das Verhältnis von Kunst und eorie vor der Moderne ausgesehen hat, unter modernen Vorzeichen werden die Reflexion und die produktive Verwandlung des Bildes notwendige Bestandteile der bildnerischen Arbeit selbst. Die Werke bekunden diesen veränderten Status. 1 Vgl. den einleitenden Aufsatz dieses Bandes und die Bibliographie. 2 Die Kataloge der Ausstellungen: Transform. BildObjektSkulptur im 20. Jahrhundert, Kunstmuseum Basel 1992, und: Das offene Bild, Münster/Leipzig 1993 geben davon eine Anschauung.
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Wie ein Verlust an Selbstverständlichkeit bzw. Tradition o, so zeigt sich auch der jetzt eingetretene folgenreich und schmerzlich. Die Moderne war deswegen nicht nur das Terrain künstlerischer Konzepte und Gedankenarbeit, sondern auch und ebensosehr, verzweifelter Versuche diese wieder abzuschütteln, ursprünglich und natürlich zu werden, und sei es auf dem Wege einer surrealistischen Seelenwanderung oder eines künstlerischen Aktionismus.1 Kurz gesagt, ein Wandel im ikonischen Bewußtsein hat stattgefunden. Wir behandeln ihn im folgenden als Prämisse. Sie zwingt uns, gründlicher zu erkunden, was Bilder sind, woraus sie bestehen, wie sie funktionieren und was sie mitteilen. Die moderne Kunst bietet sich als eine unvergleichliche Werkstatt der Erkenntnis an, die uns gestattet, den konventionellen Bildbegriff kritisch zu befragen. Er orientiert sich an der Idee des Abbildes: eine vorausgesetzte Realität spiegelt sich (in welcher stilistischen Verzerrung auch immer) nachträglich in den Bildern. Was wir wissen und kennen begegnet uns noch einmal unter entlastenden visuellen Vorzeichen. Das Wesen des Abbildlichen besteht jedenfalls in einer Verdoppelung. Ein Sachverhalt soll sich im Bilde noch einmal zeigen. Keine Frage, daß Abbilder ihren Sinn nicht in sich besitzen, sondern in jenem Inhalt, den sie spiegeln. Dieser Bildbegriff breitet sich dank der Reproduktionsmedien unauörlich aus, gleichwohl verkürzt er das Phänomen auf unzuträgliche Weise. Weder die ältere noch die moderne Kunst läßt sich nach diesem gängigen Modell verstehen, noch viel weniger die Rolle der Bilder in den frühen Hochkulturen. Wir halten uns statt dessen offen für die staunenerregende Realität des Ikonischen. Wie ist es überhaupt möglich, mit bloßem Stoff (Pigmenten und Pinsel) appliziert auf einen materiellen Träger (Holz, Putz, Leinwand, Blech etc.), die höchsten Geheimnisse der Religion, des Geistes, oder eines aesthetischen Entzückens zu repräsentieren? Wie ist es möglich, daß sich der Schmutz der Malfarbe als ein derart Gestaltbares, geradezu alchemisches oder magisches Medium erweist? Woher nehmen Bilder ihre Macht? 1 Die kunstgeschichtlichen Belege dieser Suche nach der verlorenen Ursprünglichkeit sind reich: von Gauguins Südseeexistenz über die Paradiesesmetaphorik bei den Fauvisten bis zur surrealistischen Programmatik Bretons, der die Vernun, zugunsten des Traumes und der Sinne, zu entthronen sucht, ließen sich viele Exempel anführen, die im übrigen auch der jüngsten Kunstpraxis zu entnehmen wären.
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II Es mag verwundern, wenn wir zur weiteren Verhandlung dieser Fragen das wohl älteste Dokument heranziehen, welches wir in der europäisch-mediterranen Kultur zur Bilderfrage besitzen: die Erzählung vom Bilderverbot im Alten Testament. Was hat unsere moderne Prämisse mit jenem alten theologischen Text zu tun? Was enthüllt er einem bildtheoretischen Interesse? Einiges spricht dafür, in ihm Einsichten zu vermuten, die nicht nur ein archaisches und religiöses Bewußtsein betreffen, sondern zur Sache des Bildes gehören. Die eigentliche Erzählung vom Verbot des Bildes fügt sich in einen narrativen Rahmen.1 Wie erinnerlich, führt Moses sein Volk aus ägyptischer Gefangenscha zurück ins gelobte Land. Die Rückkehr begleitet eine religiöse Neuansiedlung, die den theologischen Namen des Sinaibundes führt. Um diesen Neuen Bund zu schließen, entfernt sich Moses von den lagernden zwölf Stämmen. Auf dem Berge Sinai spricht Jahwe mit ihm und überantwortet ihm eine Folge von Geboten, an deren Anfang die Unvergleichbarkeit Gottes gefordert und auf dem Wege des Bilderverbotes verbürgt wird. Jahwe ist ein unsichtbarer Gott, kein Urbild, sondern eine unerfaßbare Macht, die Moses ihre Gunst sprechend erweist. Sie manifestiert sich in Kraballungen, wie der Wolke über dem Berg oder dem brennenden Dornbusch. Was Moses vom Sinai herunterträgt ist kein Äquivalent der göttlichen Gestalt oder ihres Wesens, sondern eine bildlose Botscha in bildferner Form. Auf steinernen Tafeln steht sie geschrieben. Auch im damaligen kulturellen Kontext hätte näher gelegen, verehrungswürdige Idole oder Symbole zu gebrauchen, um Göttlichkeit zu verdeutlichen. An deren Stelle treten verbale Anweisungen. Der unsichtbare Gott manifestiert sich in abstrakten Handlungsanweisungen: »Du sollst...! Du sollst nicht...!« Unter diesen Geboten befindet sich zuvorderst ganz ausdrücklich die ikonoklastische Intervention. In Exodus 20.4 heißt es: »Du sollst Dir kein Bild machen... Du sollst Dich nicht vor diesen Bildern niederwerfen und sie verehren. Denn ich, Jahwe, Dein Gott, bin ein eifernder Gott.« Die Rigidität dieses erstaunlichen Verbotes erhellt sich in der Rahmenerzählung. Moses hatte das ungeduldige Volk unter Aarons, seines älteren Bruders Führung, zurückgelassen. Der wußte sich 1 Vgl. das alttestamentarische Buch Exodus 20.4.
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keinen anderen Rat als dem aurechenden, alten Bedürfnis nach einer bildlichen Verehrung des Göttlichen dadurch zu willfahren, daß er ein goldenes Kalb aufrichten ließ. Die Andeutungen der Bibel erlauben die Vermutung, daß dieses Bildwerk kein Gegenstand distanzierter Verehrung war, sondern Identifikationsmal eines orgiastischen Rituals. Diese Deutung hatte übrigens Arnold Schönberg im Auge, als er im Text zu seiner Oper »Moses und Aaron« den biblischen Bericht zu sexuellen Vereinigungsriten und Menschenopfern weiterphantasierte. In aller künstlerischen Freiheit bietet dieses Werk eine höchst bemerkenswerte Spiegelung der modernen Bilderfrage in derjenigen des alten Judentums. Was aber läßt sich aus der Erzählung des Bilderverbotes lernen? Meist figuriert sie als Ursprung einer Geschichte theologischer, kultureller oder politischer Bilderkämpfe, die sich über den byzantinischen Bilderstreit, die Bilderstürme der Reformation bis zur politischen Ikonoklastik des 20. Jahrhunderts erstreckt. Unsere Absicht zielt auf etwas ganz anderes: Was trägt jene Geschichte zum Verständnis des Bildes bei, als eine gleichermaßen bildgeschichtliche und bildtheoretische Quelle? Zwei kontroverse Impulse lassen sich unterscheiden, in den Namen des priesterlichen Brüderpaares Moses und Aaron erscheinen sie personifiziert. Wir werden schließlich sehen, daß nicht nur die beiden unterschiedlichen Brüder verwandt sind, sondern auch ihre diskrepanten Argumente, sofern sie aufeinander verweisen. Die ikonoklastische Intervention des Buches Exodus ist Ausdruck eines Widerspruches . Der ferne und unnahbare, der unsichtbare jüdische Gott behält seine entscheidende Alterität gegenüber der Menschenwelt nur dann, wenn gewährleistet wird, daß er in ihr keine mögliche Entsprechung besitzt. Jedes Bild müßte diesen prinzipiell fremden und abgründigen Gott verkürzen und mindern. Das Bedürfnis, jenem Gott ein Bild zu setzen, ihn in greiarer Gestalt zu verehren, erstirbt freilich nicht. Es meldet sich bereits im Buch Genesis wieder1, wo von der Gottebenbildlichkeit des Menschen die Rede ist. Das Bilderverbot möchte vor allem sicherstellen, daß diese notwendige und unverzichtbare Analogie zwischen dem Schöpfer und seinem Wesen nicht umkehrbar wird. Der Mensch darf nicht von sich aus auf seinen Schöpfer schließen. Allein jenem, als dem allmächtigen Urheber, bleibt es vorbehalten, jene Analogie einzulösen. Dies geschieht beispielsweise dann, wenn der Schöpfer 1 Vgl. Genesis 1.26/27.
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den Menschen erscha, in ihm das göttliche Urbild wieder aufscheinen läßt. Als verheerend muß aber der reziproke Versuch gelten, von jenem göttlichen Reflex im Menschen aus die Realität Gottes zu modellieren, ihre Andersartigkeit mit anthropomorphen oder zoomorphen Zügen auszustatten. Jede bildliche Setzung, die darauf zielt, muß eine solche Gefahr heraueschwören. Die Erzählung vom Bilderverbot enthält eine theologische Lehre, aber auch Einsichten in die Eigenart des Bildes. Zuvorderst wird ihm eine gewaltige Macht zuerkannt. Nur deshalb ist es erforderlich, ihm mit Verboten zu begegnen, das Feld der theologischen Argumente zu verlassen und dasjenige der Vorschrien zu betreten. Woraus aber resultiert diese Macht des Bildes? Die Aussage des Alten Testamentes ist eindeutig. Die Macht erwächst aus der Fähigkeit, ein ungreiares und fernes Sein zu vergegenwärtigen, ihm eine derartige Präsenz zu leihen, die den Raum der menschlichen Aufmerksamkeit völlig zu erfüllen vermag. Das Bild besitzt seine Kra in einer Verähnlichung, es erzeugt eine Gleichheit mit dem Dargestellten. Das goldene Kalb ist (in der Perspektive des Rituals) – der Gott. Das Bild und sein Inhalt verschmelzen bis zur UnUnterscheidbarkeit. Jenseits des strikten Verbotes, erlaubt die mosaische eologie allenfalls schwache Bilder. Der Text enthält dazu keine Hinweise, man darf freilich vermuten, daß ihm Werke mit geringer Evokationskra auch nicht gefährlich erschienen wären.1 Wäre das goldene Kalb ein bloßes Figürchen gewesen, dem alle Macht der Verähnlichung gefehlt hätte, dessen Machart die verführerische Suggestion des Inhaltes nicht erlaubt haben würde, selbst Moses hätte es nicht verbieten müssen. Auch die steinernen Schritafeln, mit denen er vom Sinai zurückkehrt sind allerschwächste Bildnerei, – mit der Zeigekra einer Verbotstafel ausgestattet. Ihre abstrakte Sprödigkeit betäubt alle Verführungskunst und Identifikationslust des Auges, dient dem inneren Hören, dem Gehorchen. So sehr man geneigt ist, dem Bilderverbot des Moses eine überlegene Einsicht schon deshalb anzuerkennen, weil es deutlich macht, daß es Undarstellbares gibt, solches das außerhalb jeden Vergleiches, j enseits der möglichen Reichweite der Bilder steht, – Aarons Position im Bilderstreit ist vermutlich die ältere und sie ist für das Verständnis des Bildes ganz unverzichtbar. Die eologie des Verbotes erneuert 1 Ottmar Keel hat diesen Aspekt, abgestützt auf archäologische Befunde jüngeren Datums, plausibel gemacht, in: Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament, Zürich/ Einsiedeln, 2. Aufl. 1977.
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sich später in der negativen eologie des Christentums und in einer negativen Ästhetik, die modernen ikonoklastischen Strategien nahesteht, insbesondere jenen Entgrenzungsbemühungen des Bildes, die darauf zielen, ein Erhabenes erfahrbar zu machen – wie dies seit Barnett Newman in der amerikanischen Nachkriegskunst da und dort immer wieder zu beobachten ist. Die formelle Definition jenes Erhabenen besteht bekanntlich in nichts anderem, als in der erkenntnismäßigen Disproportion zwischen Sachverhalt und Betrachter.1 Aaron errichtet ein Bild, das seinem Verehrer die völlige Verschmelzung von Artefakt und Inhalt zu erfahren erlaubt. Bildtheoretisch gesprochen: es verkörpert, zielt auf reale Präsenz, die man gelegentlich auch »magisch« genannt hat. Diese Auffassung ließe sich mit derjenigen in Beziehung setzen, die Nietzsche im antiken Dionysoskult glaubte entdecken zu können. Auf seinem Höhepunkt schienen auch dort die Grenzen zwischen dem Adepten und dem göttlichen Inhalt niedergerissen, Darstellung kulminierte in buchstäblicher Gegenwart. In ihr sah Nietzsche den eigentlichen Geburtsort der Tragödie und d. h. der Kunst. Ihr Protagonist, der tragische Held, ersetzte die Epiphanie der Götter, trat in die Spur ihrer verlassenen Fußstapfen.2 Die argumentative Verwandtscha von Moses und Aaron liegt auf der Hand. Auch das goldene Kalb ist ein Gemachtes (aus eingesammeltem Gold gegossen), es ragt aus der Präsenz, die es stiet zugleich auch immer heraus, ist bloßes Ding, Artefakt. Umgekehrt kann auch der strikteste Ikonoklast nicht umhin anzuerkennen, daß er nicht alle Analogien zwischen dem Sichtbaren und dem Göttlichen abbauen darf, wenn er an seinem eigenen theologischen Ziel festhalten möchte. Die Position extremer Distanz, die das Bild nur als einen trockenen, unähnlichen Stellvertreter, als nacktes Zeichen oder als Gebotsformel anerkennen will, ist doch nur verständlich, wenn dem Bild die Überbrückung dieser Distanz prinzipiell auch zugetraut wird, wenn es Verkörperung zu leisten imstande ist. Zwischen bloßem Vertreten (d. h. ikonischer Unterscheidung, äußerster Unähnlichkeit) und ikonischer Ineinssetzung, eröffnet sich allererst das weite Feld bildlicher Repräsentationsleistungen. Die Geschichte der Bilder hat daraus eine unübersehbar reiche Fülle von Möglichkeiten 1 Erhabenheit ist für die Nachkriegskunst bereits ein ema, bevor es die Postmo-deme für sich entdeckte. Neben Barnett Newman ist vor allem Walter de Maria dafür bekannt geworden. 2 Friedrich Nietzsche, in: Die Geburt der Tragödie, passim.
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ausgebildet. Eine entscheidende Einsicht ist damit formuliert: Bilder funktionieren nicht wie starre Spiegel, die eine stets vorauszusetzende Realität wiederholen, sie sind keine Doubles. Das plane Abbild ist der banalste, wenn auch der verbreitetste Ausdruck einer ganz leeren Bildlichkeit. Von wirklichen Bildern erwarten wir dagegen nicht nur eine Bestätigung dessen, was wir schon wissen, sondern einen Mehrwert, einen »Seinszuwachs« (Gadamer).1 Wirkliche Bilder implizieren deshalb einen inneren Prozeß, einen ikonischen Kontrast, dessen Momente (Verkörpern versus Vertreten) wir soeben kennengelernt haben. Erst dieser, Bildern eigentümliche innere Kontrast, macht verständlich, wie sich in bloßer Materie Sinn überhaupt zu zeigen vermag. Mit diesem Vorgang identifizierten offenbar bereits die Griechen das Bild, wenn sie es ein »Zoon«, ein Lebendiges nannten. III Dieses »Lebendige« hat im Laufe der Geschichte immer wieder eine neue Form angenommen, besonders vielfältig im Zuge der Moderne. Das Bild wuchs z. B. über die ihm scheinbar angestammte, sakrosankte Fläche hinaus, es bastardisierte sich mit Dingen (wurde zur Objektkunst), es virtualisierte sich zur flüchtigen Aktion, erweiterte sich zur Land-Art usf. Die Vielfalt dieser Phänomene und ihrer Eigenart läßt sich schwerlich auf den Begriff einer eorie bringen, sie erfordert den Weg der Interpretation. Ihm wollen wir ein Stück weit folgen. Die hier gewonnenen Einsichten stimulieren im übrigen auch die Betrachtung der älteren Kunst. Unsere beiden ersten Exempel »La condition humaine« von Rene Magritte und das Fensterbild von Robert Delaunay, spielen auf die Geschichte der neuzeitlichen Kunst an, um sich davon zugleich zu distanzieren. Magritte arbeitete mit der latenten Idee eines »Bildes im Bild«, assoziierte im übrigen die Gattung des Ateliers. Delaunay zitiert die Vorstellung des Bildes als finestra aperta, die sich seit der Renaissance verfestigt hatte, um freilich den perspektivischen Durchblick sogleich zu verstellen, in eine veränderte Wahrnehmung zu transformieren. Beides sind, nebenbei, auch gute Beispiele für das, was wir die »Selbstreflexion« des Bildes nannten. Was immer wir auf der Fläche identifizieren, wir werden auf die bildnerischen Mittel 1 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, S. 133.
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Rene Magritte, Die Beschaffenheit des Menschen 1,1933, Privatsammlung
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Robert Delaunay, Lafenetre simultanee surla ville, 1912, Kunsthalle Hamburg
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zurückverwiesen, vollziehen den Kontrast der beteiligten Komponenten, hin und zurück. Das Bild »sehen« heißt nichts anderes als diese innere Beziehung zu realisieren. Bei Magritte hat dieser Kontrast etwas von einem Sprung, mit dem wir auf eine befremdliche Störung reagieren. Delaunay baut das Gemälde aus einem Gefüge farbiger Facetten, dessen Dynamik dem Blick eine gesteigerte Wirklichkeit bietet. Auch sie weist auf ihre Elemente zurück. Magritte wiederum möchte durch die Störung im konventionellen Anblick, vermittels einer eingeschobenen »Verfremdung« dasjenige veranschaulichen, was er »le mystere« nannte.1 Es ist eine Art Grund der Realität. Erklären oder theoretisch bestimmen läßt er sich nicht. Sein Erscheinungsort liegt ausschließlich im Bild. Zugleich sichtbar und unfaßbar besitzt er die logische Struktur einer Paradoxie. Dort, wo sich das Unvereinbare gleichwohl tri leuchtet jener Grund auf. Delaunay's postkubistische Komposition betont die poietische Leistung des Bildes. In einer vieldeutigen und energiereichen Konstellation farbiger Facetten zeigt sich Realität als etwas im Bilde hervorgebrachtes, als das Reich des Möglichen. Die Werke sind Metaphern, eine Realität die nie ist, die sich im Fluß befindet. Die Schöpfung liegt nicht hinter uns, sie geschieht soeben, vor unseren Augen. Deswegen zeigt sich im Fenster auch keine Ansichtsseite der Dinge, sondern deren dynamisches Potential. »Die Natur«, so Delaunay einmal, »ist von einer in ihrer Vielfalt nicht zu beengenden Rhythmik durchdrungen. Die Kunst ahme sie hierin nach... Die synchronische Aktion ist als eigentliches und einziges Sujet der Malerei zu betrachten. Es sind nicht mehr Äpfel in einer Fruchtschale, kein Eiffelturm, keine Straße, keine Aussenansichten, was wir malen, es ist der Herzschlag des Menschen selbst.«2 Diese wenigen Hinweise verdeutlichen, was wir den ikonischen Kontrast nannten. Magritte führt ihn ein mit Mitteln der Paradoxie. Die Leinwand auf der Leinwand steht so vor dem Fenster, daß sie selbst zum wirklichen Fenster wird, die dargestellte Realität ersten und zweiten Grades hebt sich wechselseitig auf, und leistet schließlich einem konventionellen Anblick Vorschub, in dem wir doch niemals zur Ruhe kommen. Delaunay's Verfahren benutzte eine in 1 Rene Magritte reflektiert diesen Aspekt in theoretischen Texten, die unter dem Titel: Sämtliche Schrien, München 1981 erschienen sind und die bildbezogene Frage des Mysteriums mehrfach behandeln. 2 Robert Delaunay, zitiert nach: Walter Hess (Hg.), Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, Hamburg/Reinbek 1956, S. 67ff.
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der Moderne o gebrauchte Zerlegung in Elemente, aus denen ein synchrones und poietisches Sehen eine virtuelle Realität entspringen läßt, die ihre Ausgangsbedingungen nie verleugnet. Folgen wir nun der historischen Rückerinnerung, zu der uns beide Bilder zunächst veranlassen. Sie verweist auf das perspektivische Bild, dessen Realismus, nach gängigem Urteil, das Ziel der Renaissancekünstler gewesen sei. Unbestritten ist, daß sich die Malerei damals auf neue Weise der sichtbaren Welt öffnete. Ob sie deswegen perfekte Abbilder schaffen wollte? Wäre es darum, um ein illusionstiendes Bild gegangen, das sich idealenfalls von der Realität, die es darstellte, gar nicht mehr unterscheiden ließe, das Bild würde sich mit der Erreichung dieses Ziels selbst aueben. Man müßte sagen: Bild soll nicht sein, Realität soll sein, genauer: das Bild soll Realität werden. Denkt man diesen Gedanken zu Ende, stellt man überrascht fest, daß die vollendete Abbildlichkeit, d. h. der Illusionismus, mit der perfekten Ikonoklastik konvergiert. Mitten im gelungenen Abbild nistet eine bildauebende Kra. Zunächst scheint sich das abbildliche Interesse an Renaissancebildern zu bestätigen. Dürer's Holzschnitt »Der Zeichner« (aus seinem Buch »Unterweisung der Messung«)1 illustriert dies durch seine Darstellungsweise, vor allem aber durch das ema. Der Künstler handelt in seinem Buch und in den dazugehörigen Illustrationen von den neuentwickelten, rationalisierten Darstellungsverfahren, deren Ideal die mathematisch regulierte Perspektive gewesen ist. Entscheidend für das neue Bildverständnis war allerdings die Identifikation der Bildebene mit einer Glasscheibe (bzw. einem Gitter). Sie steht zwischen Künstler und Modell und nimmt die Konturen des Motivs genauestens auf. Tatsächlich erkennen wir auf der Glasscheibe Realität so wieder, als würden wir dem Zeichner über die Schulter blicken. Also doch: Abbildlichkeit? Doch: verborgene Bildfeindscha inmitten einer empirischen Messgesinnung? Graf Yorck von Wartenburg, der philosophische Freund Wilhelm Diltheys, glaubte diese Neigung in der Renaissancekunst erkennen zu können, wenn er auf einer Italienreise notierte: die Malerei der frühen Neuzeit stelle und löse die widerspruchsvolle Aufgabe, die Bildlichkeit mittels des Bildes aufzulösen.2 Schauen wir genauer hin, so belehrt uns der Blick auf das perspek1 Albrecht Dürer, Unterweisung der Messung mit dem Zirkel und Richtscheit, Faksimiledruck der Urausgabe von 1525, Dietikon-Zürich 1966 2 Paul Graf York von Wartenburg, Italienisches Tagebuch, Darmstadt 1927, S. 215f.
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Albrecht Dürer, Der Zeichner, Holzschnitt 1525
tivische Bild eines Anderen. Denn der richtige Durchblick kommt dann zustande, wenn der Künstler die Kunst der systematischen Verzerrung beherrscht. Falschheit hinzunehmen ist die Voraussetzung eines »realistischen«, d. h. »richtigen« Bildsehens. Dagegen polemisierte bekanntlich schon Plato, der darin einen Beweis für die Lügenhaigkeit der Malerei sah.1 Pro-spectiva, im Sinne der Renaissance meint aber Ermöglichung eines Durchblicks durch Beherrschung der Verzerrungsregel. Sie setzt ein Trapezoid, wenn wir ein Quadrat erkennen sollen, ein Ovaloid, wenn Kreis oder Zylinder gemeint sind, usf. Die ikonische Unsichtbarkeit der Fläche (die sich mit der Glasscheibe zu etablieren scheint) ist gleichwohl mit einer Fülle von Merkmalen besetzt, die sie als Fläche sichtbar machen und stärken. Der Betrachter der Renaissancemalerei z. B. von Masaccios Trinitätsfresko (Santa Maria Novella, Florenz, 1427) kennt diese wohlgeregelten Unrichtigkeiten, die Abbild und Illusion entgegen1 Vgl. Plato Politeia 596a, 602c-603b, 605c/d, Sophistes, 235a, c-e.
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MarcelDuchamp, Glissiere contenant un Moulin a eau...., 1913-1915, London (Sammlung Hamilton)
mit proportionalen Verschiebungen wieder auf. Farbe organisiert sich in einer Folge halbtransparenter Schichten. Sie artikuliert sich gemäß einer Logik des Verschwindens, die zur Urrealität aller Malerei gehört. Schon die erste Spur von Farbe, die der unbekannte Maler einer grauen Vorzeit gesetzt haben mag, jede erste Schicht der Darstellung negiert den Bildgrund und bringt ihn zugleich neu hervor. Die Binnenflächen überdecken und sie zeigen in einem die gesamte Bildfläche. Negation ist die Grundlage aller bildlichen Erscheinung.1 1 Vgl. Gottfried Boehm, Ikonokiastik und Transzendenz, in: Wieland Schmied (Hg.), GegenwartEwigkeit. Spuren des Transzendenten in der Kunst unserer Zeit, Stuttgart 1990, S. 27ff.
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Mark Rothko, Weiß und Orange auf Gelb, 1953 (New York, Marlborough Gallery)
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Das dämmrige Licht der Farbe bei Rothko besitzt keine angebbare Quelle, eine Situation immaterieller Schwebe herrscht, ein atmender Dämmer scha sich Dehnung und Raum. Gemäß der Logik der Farbe präsentiert sich das Bild insgesamt als etwas, das sich gleichermaßen verhüllt und enthüllt. Assoziationen von Vorhängen oder Lichtwänden kommen auf. Man hat dieser Bilderfahrung den Namen des Numinosen gegeben, was gleichzeitig auch eine kategoriale Verlegenheit bezeichnet. Wir wissen zudem, daß Rothko einzelne Bilder als Teile eines Kontinuums sah, das heute am ehesten in der RothkoKapelle in Houston/Texas eingelöst ist. Hier kann sich der Betrachter inmitten dieser ästhetisch-numinosen Realität wahrnehmen, von ihr umgeben und eingehüllt, wie von einem pseudosakralen Zelt. Nimmt man einen Gedanken lang die Metapher vom Numinosen wörtlich, so meint sie jedenfalls einen gestaltlosen, fast atmosphärischen Gott, der sich im Wehen der Farbe bekundet. Er ist damit so ungreiar und verborgen wie Jahwe, – im Unterschied zu ihm besitzt er zugleich aber eine sinnliche, eine ästhetische Existenz. Rothko gelingt es mithin das ikonoklastische Gebot mit einer angemessenen und einer starken Bildpraxis zu versöhnen. Präsenz und Diffusion (als Platzhalter von Alterität) halten sich auf geheimnisvolle Weise die Waage.1 Barnett Newman gehört seinerseits zu jenen amerikanischen Künstlern, die Impulse aus ihrer jüdischen Herkun gewonnen haben. In allem verfährt er freilich anders. Statt der Schwebe sehen wir uns mit planen und opaken Farbflächen konfrontiert. Proportionale Komposition wird ersetzt durch eine bindungsschwache, ausschließlich vertikale Organisation. Die hochagressive, überbordende Farbenergie wird bis zum Unerträglichen gesteigert. Nichts bindet sie ein, balanciert sie aus. Das Bild versetzt den Betrachter, besonders bei der geforderten Nahansicht, in eine Situation, die ihn überfordert. Sehend vergeht ihm das Sehen – wenn immer wir darunter verstehen, etwas per Distanz zu überschauen und damit zu erfassen. Newmans Bildstrategie wurde mit dem Begriff »Entgrenzung« charakterisiert. Gemeint ist der Ausfall jeder simultanen Perzeption. Das kalkulierte Scheitern des Betrachters am Bild verweist 1 Die Versöhnung der Bildlosigkeit mit dem Bild ist nicht nur ein wichtiges Räson-nement in Adornos >Ästhetischer eorie«, sondern ein Gestaltungsziel vieler moderner Künstler, insbesondere der abstrakten Kunst. Besonders hat die Frage Ad Reinhardt in seinen >black paintings< beschäigt sowie in den seine Arbeit begleitenden Reflexionen (deutsche Ausgabe: Schrien und Gespräche, München 1984).
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ihn auf sich selbst zurück. Dieser Akt besitzt in Newmans Selbstverständnis (und dem seiner meisten Interpreten) die Struktur des Sublimen.1 Diese kennzeichnet die Überforderung der kognitiven Kapazität durch etwas Übergroßes. Das erkennende Versagen an diesem Übergroßen wird zu einem unerwarteten Gewinn. Nach Kant exponiert Erhabenheit die Erfahrung der Freiheit, die der Mensch für sich besitzt. Das Bild Newmans will insoweit gar nichts zeigen (auch nicht bloße Farbflächen), es will in reiner Form wirken, im Beschauer etwas auslösen. Es hebt sich als Bild vollständig auf, in dem Augenblick, da ihm dies gelingt. Wohl nicht zufällig finden wir bei Kant einen Hinweis, der uns auf die ikonoklastische Fährte zurückführt, die Lehre des Bilderverbotes bestätigt. Das Gefühl des Erhabenen, so sagt er, sei zwar niemals etwas anderes als eine bloß negative Darstellung, »die aber doch die Seele erweitert«. Dann fährt er fort: »Vielleicht gibt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuch der Juden, als das Gebot: Du sollst Dir kein Bildnis machen, noch irgend ein Gleichnis...«.2 1 Barnett Newman, Selected Writings and Interviews, Berkeley/Los Angeles 1992, darin: e Sublime is Now (1948), S. 170f. 2 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskra, B 124/125.
KARLHEINZ LUDEKING
Zwischen den Linien Vermutungen zum aktuellen Frontverlauf im Bilderstreit Zwischen seinem dreißigsten und seinem fünfundreißigsten Lebensjahr, bevor er den großen internationalen Durchbruch erzielte, beschäigte sich der deutsche Künstler Anselm Kiefer nicht nur mit seinen teutonischen Tabuthemen, sondern auch mit der Frage nach dem Status des Bildes. So entstanden unter dem ema »Bilderstreit« von 1976 bis 1980 mehrere großformatige Gemälde sowie zwei Bücher mit übermalten Photographien. Letztere dokumentieren, wie der Künstler in seinem Atelier mit Hilfe einer aus Ton
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345 geformten Palette und einigen Spielzeugpanzern einen symbolischen Kampf um die Malerei inszeniert und ausgefochten hat. Eine gemalte Version des Sujets, heute im Museum von Eindhoven, entfaltet das ema als großes melodramatisches Breitwandspektakel auf etwa sechs Quadratmetern Bildfläche. Man sieht hier einige Panzerfahrzeuge, die von mehreren Seiten auf einen paletten-förmigen Sumpf von dicker, düsterer und bluttriefender Farbe vorrücken. Das Gemälde, selbst ein Schlachtfeld der Malerei, zeigt den Kampfplatz schräg von oben, und so bekommt die Szenerie zugleich etwas von einer Generalstabskarte, auf der die strategischen Positionen auch schrilich markiert werden können. Ungelenk, wie von einem, der selbst schon schwer getroffen wurde, sind der Darstellung des Geschehens seltsame, altertümliche Namen eingeschrieben: einige schwarz (wie »Teophilos«), andere weiß (wie »eodor Studi-tes«). Für den unvorbereiteten Betrachter können diese Namen nur einen befremdlichen, evokatorischen Klang haben. Wer jedoch mit der byzantinischen Geschichte vertraut ist (oder Lexika und Nachschlagewerke zu Rate gezogen hat), weiß, daß es sich um die Namen von historischen Persönlichkeiten handelt, die im 8. und 9. Jahrhundert mit Argumenten, Dekreten und Gewaltakten den Verlauf der erbitterten Auseinandersetzung um die Rolle von Bildwerken in Staat und Kirche des oströmischen Reiches bestimmt haben. In Kiefers didaktischer Farbgebung bezeichnen die schwarzen Namen die Ikonoklasten, diejenigen, die die vom Volke verehrten Bilder entfernen und übertünchen ließen; die weißen Namen, die sich teilweise wie zum Schutz um den Rand des palettenf örmigen Reiches der Malerei legen, bezeichnen dagegen jene, die furchtlos um die Rettung der bedrohten Bilder kämpen. Will man die gelehrten Anspielungen in Kiefers Gemälde nicht einfach als leere Effekthascherei abtun, dann muß man annehmen, der Maler habe eine historisch stimmige Behandlung seines emas bewußt vermieden. Er läßt in seinem Bild eine längst vergangene politisch-theologische Kontroverse mit den Mitteln modernster Militärtechnologie austragen, und die Malerei, um die dabei gekämp wird, repräsentiert er in der Form einer Palette, also jenes Utensils, das zu einem geradezu klischeehaen Emblem der bürgerlichen Malerei wurde, einer Malerei, mit der die Ikonenmalerei (um die der Bilderstreit in Konstantinopel geführt wurde) nichts zu tun hat und mit der sich wohl auch Kiefers eigene Färb- und Materialtheatralik kaum auf eine Stufe stellen will.
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Kiefer verwischt also die geschichtlichen Differenzen zugunsten einer Vision der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Immer wieder, so scheint er zu glauben, formieren sich die Feinde der Malerei, immer wieder ziehen ihre Gegner unter wechselnden Bannern gegen sie ins Feld, immer wieder ist sie von Zerstörung bedroht, und dennoch entsteht sie auch immer wieder von neuem – wie ein Phoenix aus der Asche (oder aus den von Kiefer kultivierten Sümpfen der Farbe). Eine solche Sicht der Dinge kann allerdings nur zur Schwarzweißmalerei führen, zu einer starren Konfrontation von Feinden und Freunden der Malerei, zu einer Haltung, bei der die Malerei nicht mehr in ihrer Essenz, sondern nur noch in ihrer Existenz in Frage stehen kann. So verliert man den Blick dafür, daß diejenigen, die einen »Angriff« auf die Malerei ausführen, diese in der Regel gar nicht vernichten, sondern ihr einen neuen, angemesseneren Status verschaffen wollen. (Auch die ikonoklastischen Kaiser, deren Namen auf Kiefers Gemälde erscheinen, wollten die Malerei nicht abschaffen; sie wollten nur verhindern, daß bestimmten Bildern Funktionen zugeschrieben wurden, die diese nach ihrer – durchaus begründeten – Überzeugung nicht erfüllen konnten.) Wer für und wer gegen die Malerei auritt, das ließe sich ohnehin nur entscheiden, wenn man genau wüßte, was die Malerei ist und was sie zu leisten hat. Eben dieses ist es aber, was im Bilderstreit umstritten ist. Es geht nicht um die theatralische Frage von Sein oder Nichtsein der Malerei, sondern darum, welche Aufgaben man ihr zuschreiben möchte. Damit geht es zugleich um die Frage, welcher Status dem von der Malerei hervorgebrachten Bild zukommen soll. Da es nun aber sehr verschiedene und sogar völlig unvereinbare Konzeptionen von Malerei gibt, kann die Frage, was ein Bild ist, nicht einfach eine Frage nach den faktisch feststellbaren Besonderheiten von Bildern sein. Wenn man sich überlegt, welche Art von Antwort diese Frage erfordert, dann zeigt sich, daß es sich um eine normative – häufig sogar eine höchst politische – Frage handelt. Nur so erklärt sich auch, daß der Streit darum, was ein Bild sei, eine so lange Tradition hat und daß er häufig so gewaltsam geführt wurde. Es ging dabei nie darum, was ein Bild ist, sondern immer nur darum, was es sein soll und sein kann. In exemplarischer Weise zeigt sich das bereits an den ikonoklastischen Argumenten Piatos, die uns selbst nach über zweitausend Jahren noch provozieren können. Was uns, wenn wir seine esen heute zur Kenntnis nehmen, daran sofort befremdet und verärgert, so könnte man in einer kühnen Horizontverschmelzung sagen, ist
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347 die Tatsache, daß er über die Malerei in einer ähnlich respektlosen und abschätzigen Weise spricht wie viele von uns es heute gern über das Fernsehen tun. Das Bild, so kann man die im 10. Buch der Politeia vorgetragene Polemik in heutigem Jargon paraphrasieren, erzeugt nichts als einen oberflächlichen Abklatsch der Dinge, es zeigt nur partikuläre Aspekte der empirischen Welt und verbirgt deren eigentliche, tiefere Struktur, es richtet sich nicht an die Vernun, sondern an die primitiven Instinkte, es wirkt nur durch seine sinnlichen Reize, und es macht uns zu unkritischen, dummen und faulen Betrachtern, die nicht mehr wissen, was gut und was richtig ist. Gewiß, vieles was Plato über das Bild sagt, ist insgeheim schon auf das gemünzt, was er eigentlich verdammen will, nämlich das eater. Außerdem ist der Dialog über den Staat, in dem die soeben karikierten Anschauungen vorgetragen werden, in erster Linie eine politische Streitschri: ein Plädoyer für ein neues Gemeinwesen, in dem alles nach den Prinzipien vernüniger Erkenntnis eingerichtet werden soll. Das eater (also sozusagen das Massenmedium seiner Zeit) kann für ein solches Gemeinwesen nach Piatos Ansicht nur von begrenztem Nutzen sein. Selbst wenn auf der Bühne edle und vorbildliche Handlungsweisen gezeigt werden, so werden diese eben doch nur dargestellt und deshalb erfährt man daraus über die dargestellten Handlungen ebenso wenig wie man über ein wirkliches Bett erfährt, wenn man nur das Bild eines Bettes sieht. Ein solches Bild sagt z. B. nicht, wie ein Bett zu bauen ist, und ebenso erlaubt es der Anblick eines Helden auf der Bühne (oder auf einem Bild) noch nicht, selbst heldenha und edel zu handeln. Das Interesse, mit dem Plato die Malerei (und auch die anderen Künste) beurteilt, ist klar. Er möchte den Staat reformieren und die Menschen zum Besseren erziehen. Deshalb fragt er, was die Malerei zur Ausbildung jener Dispositionen beitragen kann, die den Bürger eines idealen Staates auszeichnen. Aus dieser Perspektive entwir er aber, wenn man so sagen darf, ein höchst einseitiges Bild des Bildes. Er stellt das, was ein Bild ist und was es zu leisten vermag, in einer äußerst verengten Weise dar, die noch nicht einmal aus seinen eigenen reform-politischen Interessen zwingend zu begründen wäre. Plato tut so, als könne ein Bild, ähnlich wie ein Spiegel, immer nur den äußeren Anblick materieller Dinge wiedergeben. Diese Funktion von Bildern war zu seinen Lebzeiten aber ganz nebensächlich. Die weitaus wichtigere Aufgabe von Bildern war es nämlich, gewissermaßen »unsichtbare« Relationen zu veranschaulichen. Dieser Funktion dienten eigentlich alle Bilder, die in der Antike bedeutsam genug
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waren, daß über sie ein substantieller Streit hätte geführt werden können. Totenbilder sicherten die Tradition der Familien, Herrscherbilder repräsentierten die staatliche Macht, und Götterbilder hatten die Aufgabe, eine mythische Deutung von Lebenszusammenhängen im konkreten Handeln praktizierbar zu machen. Bei keiner dieser Arten von Bildern ging es um bloße Darstellung. Es kam nicht darauf an zu zeigen, wie der verstorbene Ahn, der Herrscher oder eine bestimmte Gottheit aussah. Es ging in jedem dieser Fälle vielmehr darum, eine »reale Präsenz« zu erzeugen. Wenn Plato das Bild von vornherein nur als ein Abbild der äußeren Erscheinung von Dingen behandelt und auch nur gegen derartige Bilder polemisiert, dann tut er das – wie einige Kommentatoren behaupten – vielleicht deshalb, weil er gegen Bilder, die mehr zu bieten hatten, gar keine Einwände hatte. Das ist aber nicht sehr wahrscheinlich, denn Plato düre gegen jene Bilder, die seine Zeitgenossen verehrten, weil sie darin das Dargestellte selbst verkörpert sahen, schon deshalb etwas einzuwenden gehabt haben, weil das, was da verkörpert wurde, stets die Mächte der Tradition waren. Nach Piatos Überzeugung sollten sich die Bürger eines idealen Staates in ihrem Handeln aber weder von den (in den Bildwerken verkörperten) Autoritäten leiten lassen, noch gar von der Autorität bloßer Bilder, sondern nur von ihrer eigenen rationalen Einsicht in das wahrha Gute. Wenn Plato also ausschließlich über Bilder spricht, die nur ein Abbild der äußeren Erscheinung sind, dann tut er das wohl kaum, um seine Kritik auf diesen Bildtypus zu beschränken, sondern um auf diese Weise zu suggerieren, daß Bilder ohnehin nie etwas anderes sein können. Allein dadurch, daß er es gar nicht erst zum ema seiner Diskussion macht, möchte Plato also zeigen, wie indiskutabel das herrschende Bildverständnis seiner Zeit ist. (Daß er es nicht offen kritisierte, hat vermutlich den einfachen Grund, daß er nicht genau so enden wollte wie sein Lehrer Sokrates.) Die Frage, ob ein Bild wirklich eine Verkörperung des Dargestellten sein kann oder »nur« dessen Darstellung, beherrschte in abgewandelten Formen auch die Kontroversen um die Rolle des Bildes in der christlichen Tradition. Brisant war diese Frage vor allem bei Bildern, die Christus, die Madonna oder einen Heiligen darstellten. Die Überzeugung, daß solche Bilder nicht nur bloße Abbildungen sein können, entstand dabei (ebenso wie schon in den antiken Kulten) aus den Bedürfnissen der Gläubigen selbst. Deren Verehrung richtete sich nun vor allem auf die Bilder der Madonna. Vor ihnen
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349 beteten sie und flehten um Hilfe in ihren Notlagen. Wenn sich ihre Dinge dann zum Besseren wendeten, sahen sie darin einen Eingriff der Mutter Gottes, die ihre vor dem Bild geäußerten Bitten offenbar erhört hatte. So verfestigte sich der Glaube, das Bild ermögliche einen direkten Kontakt mit der Madonna. Das Bild stellt die Mutter Gottes demnach nicht nur dar, sondern läßt sie selbst anwesend und wirksam werden. Ob sich die Tendenz, im Bilde einen Ort wirklicher (und wirksamer) Gegenwart des Abgebildeten zu sehen, tatsächlich ausbildet, das hängt natürlich in erster Linie davon ab, was das Bild zeigt. Beim Bild eines Bettes, das Plato arglistig als einziges Beispiel anführte, wird diese Tendenz geringer sein als beim Bild einer geliebten Person oder gar dem Bild der Mutter Gottes, auf deren wundertätige Hilfe man ho. Wie aber muß ein Bild beschaffen sein, damit die Madonna darin präsent werden kann? Einfach nur das Bild einer jungen Frau zu malen, genügt nicht, denn dieses könnte, wie schon in den Libri Carolini zu bedenken gegeben wurde, ebensogut eine Venus darstellen. Einen Heiligenschein hinzuzufügen, hil auch nicht viel. Und die bloße Intention des Malers (oder des Betrachters), wie sie sich im Titel oder der Beschriung des Bildes äußern mag, ist ebenfalls keine Garantie. Die einzige verläßliche Methode besteht also darin, so genau wie möglich einen überlieferten Bildtypus zu kopieren, von dem man annehmen darf, er gehe auf ein authentisches Urbild zurück, beispielsweise auf das Hodegetria-¥>i\d, das der Evangelist Lukas angeblich noch zu Lebzeiten der Madonna von ihr gemalt hat. Schon Giotto stellt die Madonna aber ganz anders dar. In seiner bekanntesten Altartafel malt er sie in einer Weise, die auffällig von allen überlieferten Vorbildern abweicht. Das bedeutet, daß er sein Bild nicht mehr allein dadurch legitimieren kann (und will), daß es – als eine letzte, Abschattung – vom Dargestellten selbst abstammt und deshalb dessen Präsenz verbürgt. Wenn Giotto die durch die Tradition sanktionierten Stereotypen verwir, dann kann er aber nur noch auf die Überzeugungskra der unmittelbaren Anschauung vertrauen. Das tut er auch. Er gibt der Madonna und dem Kind höchst individuelle (nie zuvor so gemalte) Gesichtszüge, er macht das Volumen der Körper durch Schattierung deutlich, er versucht, die Proportionen richtig darzustellen, er zeigt die Faltenwürfe so, wie sie sich aufgrund der Haltung der Gliedmaßen tatsächlich ergeben müssen, und den reich verzierten ron, auf dem die Madonna sitzt,
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malt er nicht nur mit allen Details, sondern auch in einer durchaus plausiblen perspektivischen Verkürzung. Daß Giotto versucht, die Madonna und den Ort, an dem sie sich befindet, in allen Einzelheiten so genau wie möglich darzustellen, zeigt, daß seine Konzeption des Bildes nicht mehr allein durch dessen Bestimmung zum kultischen Gebrauch determiniert ist, denn für ein Kultbild ist (genau wie für eine Reliquie) in erster Linie die Geschichte seiner Herkun von Bedeutung, während es im Grunde völlig egal ist, wie es aussieht. Selbst ein Bild, das – z. B. infolge ritueller Waschungen – ganz und gar unkenntlich geworden ist, kann problemlos auch weiterhin als Kultbild fungieren. Die Genealogie ist hier wichtiger als die Gestalt. Bei Giotto ist es umgekehrt. Er interessiert sich vornehmlich für die anschauliche Qualität seiner Bilder, und zwar nicht nur im Hinblick auf das, was sie darstellen, sondern – und das grenzt bei Kultbildern schon fast an Frivolität – auch im Hinblick auf ihre eigene Farbigkeit und ihre Komposition. Die traditionellen Formen der Ikonenmalerei erscheinen Giotto offenbar zu abstrakt und zu zeichenha, um noch ein glaubhaes Bild der Madonna zu ermöglichen. Deshalb bemüht er sich um eine Darstellung, die den Eindruck erweckt, man könne die Madonna gewissermaßen leibhaig vor sich sehen, so als ob sie wirklich dort auf dem ron säße, wo wir sie – wie durch ein offenes Fenster – erblicken. Die Maxime, das Bild des Malers solle wie ein Blick durch eine (virtuelle) fenestra aperta konzipiert sein und es solle eine Szene genau so zeigen wie sie dem menschlichen Auge auch in der physischen Realität erscheinen könnte, ist mit aller Deutlichkeit erst über ein Jahrhundert später – von Alberti – formuliert worden. In gewisser Weise wird dem Bild damit abermals jene Aufgabe zugeschrieben, auf die Plato es schon in seiner Politeia festlegen wollte. Das Bild zeigt die Dinge, wie sie sinnlich wahrnehmbar sind. Den Effekt, den Plato erhoe, indem er dies als die einzig mögliche Aufgabe des Bildes hinstellte, wollte Alberti zwar nicht unbedingt erzielen; er tritt aber trotzdem ein: Der Magie des Bildes wird abermals der Boden entzogen. Schon Giottos Darstellung der Madonna konnte nicht mehr als Kultbild reüssieren. Das Bild wurde zwar schnell berühmt, aber nicht wegen seiner wundertätigen Wirkungen, sondern wegen der Kunstfertigkeit, mit der es gemalt war. Und es ist auch leicht einzusehen, warum es dem Glauben an die reale Präsenz der Mutter Gottes nicht gerade förderlich ist, wenn man sie wie eine empirisch
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wahrnehmbare Person darstellt. Zum einen bedeutet dies eine Banalisierung, denn das Göttliche der Madonna, an das der Gläubige appellieren will, wird um so weniger spürbar, je mehr Aufmerksamkeit ihre irdische Gestalt auf sich zieht. Zum anderen bedeutet es aber auch eine Fiktionalisierung, denn man weiß ja nicht, wie die Madonna wirklich aussah. Wenn sich der Maler dann noch nicht einmal mehr an den tradierten Bildern orientiert, dann kann er die Madonna nur noch so darstellen, wie er sie sich (kontingenterweise) vorstellt. Sein Bild ist keine authentische Verkörperung mehr, sondern nur noch eine willkürliche Darstellung. Da sich das Bild nicht mehr von dem Dargestellten selbst ableitet, ist es nur noch von den Intentionen des Malers determiniert. Es könnte also auch ganz anders ausfallen. Es wird austauschbar, fast wie ein bloßes Zeichen. Die von Alberti propagierte Auffassung des Bildes hat also dessen latente Entzauberung und Säkularisierung zur Folge. Darin düre Alberti jedoch, ähnlich wie Plato, wohl eher einen Gewinn als einen Verlust gesehen haben. Wie aber hätte er dem platonischen Einwand begegnen können, ein Bild, das nur den äußeren Anblick der Dinge wiedergibt, fördere weder die theoretische Erkenntnis, noch die Moralität, sondern biete bestenfalls sinnlichen Genuß? Vermutlich hätte Alberti erwidert, die Frage, ob ein Bild sinnlichen Genuß biete (und ob dies legitim sei), werde durch seine eorie des Bildes ebensowenig präjudiziert, wie die Frage, ob es belehrende oder erbauliche Wirkungen habe. Beides habe vor allem damit zu tun, was ein Bild darstellt. Er – Alberti – könne und wolle dem Maler jedoch keinerlei Vorschrien bezüglich des Inhalts seiner Bilder machen; er wolle ihm nur zeigen, wie er das, was er zu malen sich entschlossen habe, so ins Bild setzen kann, daß es genau so aussieht, wie es dem Auge von einem (frei zu wählenden) Punkt erscheint. So hätte Alberti, wie gesagt, argumentieren können; faktisch hat er sich über mögliche Defizite des Bildes, das er propagiert, jedoch kaum Gedanken gemacht. Seinen Traktat De pictura schreibt er jedenfalls mit der Attitüde des Praktikers, der nicht lange nach dem Sinn seines Tuns fragt, um sich um so tatkräiger der Lösung von rein technischen Problemen der künstlerischen Werkstattpraxis zuwenden zu können. Die Konzeption des Bildes, die in der Renaissance (vor allem durch Alberti) kanonisiert wurde, beherrschte die europäische Malerei bekanntlich bis ins 19. Jahrhundert. Erst dann entwickelten sich neue Formen des Bildes, die sich offenkundig nicht mehr der Absicht verdanken, perzeptuell überzeugende Darstellungen realer oder fik-
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tiver Szenen zu konstruieren. Warum man darin plötzlich-keine lohnende Aufgabe mehr sah, das wird vielleicht am deutlichsten in den eorien zweier Philosophen zur Sprache gebracht, die sich besonders für das Werk von Cezanne begeistert haben. Der eine von ihnen ist Heidegger. Sicherlich, viele werden Heidegger kaum ein besonderes Verständnis für Probleme der Bildlichkeit zutrauen, denn durch seine Interpretation des Gemäldes der Schuhe von van Gogh hat er sich ja zweifellos selbst schon ein Armutszeugnis ausgestellt. Wie sogar seine Anhänger zugeben, sieht er in diesem Bild nicht viel mehr als die Beglaubigung seiner Vision einer ebenso heroischen wie tragischen bäuerlichen Existenz, für die Blut und Boden noch etwas bedeuten. Wie unbegründet (und aufgrund der Nähe zur Nazi-Propaganda auch unsympathisch) diese Interpretation aber auch ist, sie basiert doch auf einem Bildverständnis, das keineswegs dieselbe Aversion verdient wie der konkrete Gebrauch, den Heidegger davon macht. Das Bild – und das ist hier das Interessante – ist für ihn nämlich nicht nur eine Darstellung der Schuhe, und diese Schuhe symbolisieren auch nicht nur die Welt, in der sie heimisch sind; das Werk des Malers ist vielmehr ein Ort, an dem diese Welt selbst wirksam wird, um sich darin zu entfalten und zu offenbaren. Diese Konzeption des Bildes ist durch Heideggers fragwürdige esen darüber, was es ist, das sich im Bilde von van Gogh offenbart, noch nicht kompromittiert. Es ist deshalb ratsam, sie an einem weniger verfänglichen Beispiel zu erörtern. Dabei ist zunächst daran zu erinnern, daß für Heidegger das paradigmatische Beispiel bildender Kunst gar nicht das Bild ist, sondern der (antike, griechische) Tempel. Ein Tempel bildet aber nichts ab. Er stellt nichts dar. Er steht nur da. Ein Werk der Menschen, das sie zu Ehren der Götter erbauten, ist er ein Ort, ihnen nahe zu sein. Im Tempel, so könnte man mit den Worten des späten Heidegger sagen, wirkt und verdichtet sich die Welt als ein »Geviert«: Himmel und Erde, Göttliches und Sterbliches finden in ihm zueinander. Obwohl man bei Heidegger selbst nur Andeutungen in dieser Richtung findet, wäre es zweifellos ganz in seinem Sinne, ähnliches auch über die Malerei zu sagen. Die Bilder, die Cezanne vor der Montagne Sainte-Victoire gemalt hat, könnte man in einem metaphorischen Sinne dann ebenfalls als kleine Tempel bezeichnen. Pik-turale Gebäude sind sie, mit den Strichen des Pinsels erbaut und aus der Tektonik der Farbe gefügt, Sanktuarien zu Ehren einer Natur,
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353 die noch nicht (oder nicht mehr) zur »Landscha« degradiert ist, zu einem kompensatorischen Anblick für eine Subjektivität, die sich die Natur ansonsten planmäßig unterwir. In den Bildern Cezannes, so könnte man sagen, kommt eine Welt zur Anschauung, die noch die Dimensionen des »Gevierts« aufweist, eine Welt, die sich nicht allein von dem beschränkten Gesichtspunkt des Menschen erschließen läßt. Da sich die Malerei seit Alberti aber auf genau diese reduzierte Perspektive gründet, ist Cezanne gezwungen, mit der seit der Renaissance dominierenden Auffassung des Bildes zu brechen. Anstelle von räumlichen Abbildungsrelationen, die in der eorie des Bildes von Alberti bis Gombrich stets das größte Interesse auf sich zogen, sind in den Bildern Cezannes auch eher zeitliche, prozessuale Aspekte von Bedeutung. In seinen Bildern soll sich (wie in einem Tempel) etwas ereignen, was zweckrational nicht zu erzwingen ist. In ihnen soll (wie Heidegger sagen würde) etwas in die »Unverborgenheit seines Seins« heraustreten. Eine solche Epiphanie ereignet sich aber nicht, wenn man den Berg nur so darstellt, wie er äußerlich von einem willkürlich gewählten Punkt erscheint. Was der Berg in Wahrheit ist, das erschließt sich nicht aus der Perspektive des distanzierten Betrachters. Deshalb ist seine optisch korrekte Wiedergabe auch ganz uninteressant. Wenn Cezanne sein Bild hingegen aus farbigen Flecken verdichtet, dann läßt er den Berg in einer Weise vor uns entstehen, daß er sozusagen selbst im Bild anwesend und wirksam werden kann, um sich denen zu offenbaren, die für sein eigentliches Sein noch empfänglich sind. Es ist nun allerdings nicht so, daß Cezanne die alte Bildmagie, die sich seit der Renaissance verflüchtigt hatte, einfach nur mit neuem Gehalt wiederbelebt. Und es ist auch kein Zufall, daß Heidegger nicht dem Götterbild, sondern dem Tempel eine paradigmatische Funktion zubilligt. Götterbilder dienen der Beschwörung einer klar bestimmten Instanz, der Tempel aber ermöglicht dies erst. Seine Bedeutung ist also fundamentaler. Unabhängig davon, welcher Gottheit er geweiht ist, verkörpert er eine Welt, in der sich der Mensch noch nicht zum Alleinherrscher hypostasiert, eine Welt, in der das Unverfügbare noch seinen Platz hat. Eine solche Welt manifestiert sich auch in den Bildern Cezannes. Sie zeigen die Dinge in einer Weise, die ihre Würde respektiert und sie nicht zu Gegenständen unserer Verfügung erniedrigt. Damit unterlaufen sie die Dominanz des subjektiven Standpunkts. Das Bild, wie Alberti es konzipierte, muß demgegenüber wie eine Ausgeburt menschlicher Hybris erscheinen. Zum einen ist es von
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vornherein auf einen Punkt ausgerichtet, den das Subjekt in unbeschränkter Machtvollkommenheit bestimmt. Zum anderen konstruiert es die Welt als Resultat rein rationaler Verfahren. In beiden Hinsichten kann die Bildkonzeption Albertis ein prototypisches Beispiel neuzeitlicher Technik abgeben. Und genau in diesem Sinne charakterisiert Heidegger die Epoche, in der die Technik ihren Siegeszug antritt, dann ja wirklich als eine »Zeit des Weltbildes«, als eine Zeit, der alles zum Objekt des eigenen Vorstellens und Herstellern wird. Wenn Heidegger sich für Cezanne interessiert und in seinen Gemälden eine Abkehr von jener Konzeption des Bildes erkennt, die sich in der Tradition Albertis durchgesetzt hat, so spiegelt das also nicht zuletzt auch sein generelles Unbehagen in der Kultur und besonders seine Mißbilligung der Moderne, die uns doch nur die Plagen der Industrialisierung und Urbanisierung gebracht hat. Man muß nun aber nicht unbedingt in Heideggers umfassende Zivilisationskritik einstimmen, wenn man die Leistung der Bilder Cezannes darin sieht, daß sie sich in ein Verhältnis zur Welt setzen, das nicht auf zweckrationale Unterwerfung ausgerichtet ist. Damit ist ja noch nicht gesagt, worin ihre positive Leistung besteht. Sie bezeugen ein Weltverhältnis, das in der Moderne zunehmend verdrängt wird. Aber worin besteht dieses? Das wird deutlicher, wenn man noch einmal die Differenz zur archaischen Bildmagie betrachtet. Die alten Götter- und Madonnenbilder suchten etwas zu vergegenwärtigen, das im Bild erscheinen, darin aber keine vollgültige Realisierung finden kann. Deshalb war ihre konkrete Bildgestalt auch nur von sekundärer Bedeutung. Bei den Bildern Cezannes ist das anders. Sie dienen nicht der Beschwörung des Übersinnlichen und ganz Anderen. Hier ist vielmehr die wahrnehmende Erfahrung der Bilder selbst das Entscheidende. In der Wahrnehmung muß sich erweisen, welches Weltverhältnis sie exemplifizieren. Wenn es um die konkrete Wahrnehmung von Gemälden geht, dann kann die Philosophie Heideggers jedoch nur allgemeine Anhaltspunkte geben. Merleau-Ponty hingegen, der andere Denker, für den das Werk von Cezanne maßgebliche Bedeutung gewann, nähert sich dessen Malerei von vornherein mit einem Interesse, das sich aus seinen Forschungen über die Psychologie und Phänomenologie der Wahrnehmung ergeben hat. Diese Forschungen führten Merleau-Ponty bezeichnenderweise ebenfalls zu der Überzeugung, daß die seit der Renaissance vorherrschende Konzeption des Bildes äußerst fragwürdig ist. Sie institutio-
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nalisiert nämlich eine strikte Trennung des Wahrnehmenden von dem, was er wahrnimmt. Sie erzeugt eine Klu, die es in der Realität nicht gibt. Sie weist dem Wahrnehmenden einen fiktiven Punkt außerhalb der Welt zu und macht diese zu einem Objekt, das seiner Verfügungsgewalt scheinbar widerstandslos ausgeliefert ist. Das ist aber nur eine Phantasmagorie, denn in Wirklichkeit ist der Betrachter ein leibliches Wesen, er ist in der Welt und kann nur in der Welt existieren. Der Glaube, sich über die Welt erheben zu können, ist also eine Fiktion. Auf ihr basiert jedoch die Malerei, wie sie von Alberti konzipiert wurde – oder auch die eorie des Sehens, wie sie in einem ganz analogen Sinne von Descartes vertreten wurde. In beiden Fällen möchte sich der Betrachter aus der Welt lösen, um sie zu beherrschen. So einfach geht das aber nicht, denn unsere Augen (und unsere Hände) sind nun einmal von dieser Welt, und die Welt besteht nicht aus Gegenständen, die uns abstrakt gegenüber stehen, sondern aus Dingen, die uns körperlich angehen. Diese körperlich engagierte Stellung des Wahrnehmenden, seine leibliche Präsenz inmitten der Welt, ist genau das, was Merleau-Ponty in den Bildern Cezannes exemplifiziert sieht. Der Maler erfährt sich als ein Körper unter anderen Körpern, er lebt noch im »Fleisch der Welt«, und das wird in seinen Bildern sichtbar. Sie fügen sich nicht der Gewohnheit des Sehens, das alles sofort überblicken und beherrschen möchte. Sie präsentieren sich nicht mit der Neutralität einer einheitlichen, transparenten Fläche, die dem Auge ebenso wenig Widerstand entgegensetzt wie eine durchsichtige Fensterscheibe. Sie sind vielmehr aus einer Vielzahl von Farbflecken komponiert, deren Intensität sich nicht beruhigen läßt. Diese Farbflecken überraschen das Auge, indem sie immer neue Konstellationen erzeugen und immer neue Werte annehmen. Sie lassen sich genauso wenig verfügbar machen, wie die leibha erfahrene Welt selbst. So spiegelt das Bild die existentielle Befindlichkeit des Betrachters. Das Bild ist gewissermaßen ebenso lebendig wie er selbst; es hat ebenso teil am »Fleisch der Welt« wie das Auge, an das es sich wendet. Das Auge, das Alberti zum Bezugspunkt des Bildes machte, ist dagegen ein starres, lebloses Auge. Es kommt nicht als leibliches Organ in Betracht, sondern nur als optisches Instrument. Es hat dieselbe Funktion wie die Linse eines photographischen Apparates. Wenn Merleau-Ponty also (im Anschluß an Valery) betont, der Maler bringe seinen Körper ein, dann muß sich seine Konzeption des Bildes nicht nur gegen das perspektivisch konstruierte Bild der
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Renaissance richten, sondern auch gegen das mechanisch erzeugte Bild der Photographie. Diese Frontstellung hätte natürlich auch Heidegger unterstützt. Auch aus seiner Sicht soll ein Bild ja etwas bezeugen, was weder durch rationale Konstruktion, noch durch schlichte Mechanik zur Anschauung gebracht werden kann, nämlich die existentielle Stellung des Menschen (und des Bildes) in seiner Welt. Diese Welt hat Heidegger zwar in erster Linie ontologisch gedeutet, während Mer-leau-Ponty sie eher phänomenologisch verstehen wollte, aber das ist in diesem Zusammenhang nicht so wichtig. Wichtig ist, daß beide die Aufgabe des Bildes darin sehen, in exemplarischer Weise jene Welt zu vergegenwärtigen und zu eröffnen, in der der Mensch aufgrund seiner (wie auch immer verstandenen) existentiellen Besonderheit nun einmal zu Hause ist. Diese anspruchsvolle Aufgabe kann das Bild natürlich nur erfüllen, wenn es, ähnlich wie ein Tempel, in seinem eigenen und eigenständigen Sein zur Geltung kommt. Der Tempel ist weder Darstellung noch gar bloßes Zeichen jener Welt, in der er steht, er ist ein Ort, an dem diese Welt Wirklichkeit wird. Dasselbe soll auch das Bild sein. Es soll realisieren, nicht bezeichnen. Diese Überzeugung wird von Heidegger und Merleau-Ponty gleichermaßen vertreten. Man begäbe sich also in eine Gegenposition, wenn man das Bild primär unter dem Aspekt seiner Zeichenhaigkeit betrachtete. Um zu erkennen, was man mit dieser Sichtweise zur Diskussion um den Status des Bildes beitragen kann, wendet man sich am besten der neueren französischen Philosophie zu. Deren Vertreter sind in der Regel zwar sehr genau mit den eorien von Heidegger und Merleau-Ponty vertraut, andererseits sind sie aber, gerade in den Fundamenten ihres Denkens, von den Lehren der Semiologie geprägt, die von Saussure erarbeitet wurden. Saussures Zeichentheorie basiert bekanntlich auf zwei zusammenhängenden esen, nämlich (erstens) daß ein Zeichen in keiner Weise von dem determiniert ist, was es bezeichnet, so daß seine Bedeutung (zweitens) nur durch die Beziehung zu anderen Zeichen bestimmt werden kann. Das Reich der Zeichen ist demnach völlig autonom, es hängt sozusagen in der Lu, und es kann sich nur deshalb in der Schwebe halten, weil es die fehlende Verbindung zum Boden durch eine lückenlose interne Vernetzung aller Elemente wettmacht. Auf den ersten Blick scheint nun eine Betrachtung des Bildes unter den semiologischen Prämissen Saussures wenig hilfreich zu
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357 sein. Bei Bildern, wie denen von Cezanne, die gar nicht als Zeichen für etwas anderes einstehen, sondern in ihrer eigenen Gestalt wahrgenommen werden wollen, wäre eine solche Betrachtung unfair.-Angemessen wäre sie nur bei Bildern, die (z. B. im Sinne von Alberti) erklärtermaßen eine Realität darstellen, die nicht die ihre ist. Hier wäre sie aber anscheinend ziemlich unergiebig. Die Bedeutung solcher Bilder kann nämlich augenscheinlich keine rein arbiträre Angelegenheit sein, denn man erkennt ja sofort, was sie darstellen. Man muß ihre Bedeutung nicht eigens erlernen, wie das bei den Wörtern einer Sprache der Fall ist. Um diese unmittelbare Erkennbarkeit zu sichern, stellte Alberti ja gerade die Forderung auf, das Bild solle die Dinge genau so zeigen, wie das Auge sie auch in der Realität sieht. Wenn das Bild dieser Forderung entspricht, wenn man also schon an ihm selbst erkennt, was es darstellt, dann muß es zu diesem Zweck auch nicht eigens in Beziehung zu anderen Bildern gesetzt werden. So gesehen, treffen die beiden esen Saussures noch nicht einmal auf Bilder zu, die/offenkundig etwas ganz Bestimmtes bezeichnen sollen. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Wenn ein Bild z. B. eine junge Frau zeigt, die einen Säugling hält, so wird man das zweifellos sofort erkennen. Was man aber nicht sofort erkennt, und was man am Bilde selbst auch gar nicht erkennen kann, ist die Tatsache, daß das Bild die Jungfrau Maria mit ihrem Kind darstellt. Diese »zweite« Bedeutung des Bildes muß man also doch eigens lernen – genauso wie man die Bedeutung des Wortes »Jungfrau« lernen muß. Um auch andere Bilder der Jungfrau Maria als solche erkennen zu können, muß man zudem wissen, welche Variationsmöglichkeiten bei solchen Bildern zugelassen sind und wie sie mit anderen Bildern ausgetauscht und kombiniert werden können. Selbst wenn das, was ein Bild darstellt, also zunächst ganz offensichtlich ist, können die beiden esen Saussures – auf einer »höheren« Ebene – doch wieder darauf zutreffen. Dieser Umstand erlaubt es den Vertretern der Ikonographie (die sich allerdings selten auf Saussure berufen), ihre Art der Untersuchung von Bildern zu rechtfertigen. Ausdrücklich stützt sich nun aber Barthes auf die eorie von Saussure, zum Beispiel in seinen frühen ikonographischen Analysen von Photographien. Er zeigt, daß die Photographie, obgleich sie die Dinge zunächst einmal abbildet, ohne von einem codierten Zeichenrepertoire Gebrauch zu machen, doch wieder Teil eines Systems von Zeichen wird, in dem sie nach bestimmten Regeln mit anderen Bildern (und mit sprachlichen Texten) ausgetauscht und kombiniert
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werden kann. Dabei wird es immer unwichtiger, was sie im wörtlichen Sinne darstellt, denn ihr wachsen nun ganz neue Bedeutungen und Konnotationen zu, die nur durch ihre Stellung im Kontext all jener Zeichen erzeugt werden, mit denen sie in Beziehung gebracht werden kann. So verweist die Photographie eines Einkaufsnetzes in der Werbung einer Teigwarenfirma auf vielfältige Stereotype des Italienischen, auf die Tradition des Stillebens, auf den Fischzug Petri. Barthes zeigt an diesem Beispiel, wie eine banale Photographie Resonanzen in verschiedenen semantischen Feldern erzeugt, wie sie in das Gewebe zahlloser Codes eingebettet ist, wie sie sich immer neuen Lektüren anbietet – ähnlich wie er das im literarischen Bereich an einer Balzac-Erzählung mit dem Titel »Sarrasine« vorführt. Daß Barthes ausgerechnet die Photographie zum Gegenstand seiner Überlegungen macht, ist insofern aufschlußreich, als dabei noch einmal offenkundig wird, was sich schon bei der kurzen Erörterung der beiden esen von Saussure andeutete, daß nämlich unter semiologischem Gesichtspunkt jene Funktion des Bildes ganz belanglos ist, auf die Plato das Bild festlegen wollte. Man kann die Photographie ja in einem gewissen Sinne als die konsequenteste Verwirklichung der platonischen Bildkonzeption betrachten. Sie zeigt (genau wie das Spiegelbild) die äußere Erscheinung von Dingen, mit denen sie (wiederum genau wie das Spiegelbild) in einer kausalen Abhängigkeit steht. Dies ist für Barthes (zumindest in seinen frühen Texten) aber gerade nicht das Interessante. Er interessiert sich nicht dafür, in welcher Beziehung das photographische Bild zu dem steht, was er abbildet; erfragt vielmehr, wie es diesem Bild im Reich der Zeichen ergeht. Er sucht die Bedeutung der Photographie also nicht in ihrer »vertikalen« Verwurzelung in der wirklichen Welt, sondern in ihren »horizontalen« Beziehungen innerhalb der künstlichen Sphäre der Zeichen. Die Photographie ist für diese Betrachtungsweise die härteste Bewährungsprobe, denn sie entsteht ja zunächst als sprachlose Emanation einer ihrerseits noch nicht sprachlich verfaßten Realität. Dennoch wird sie, wie Barthes demonstriert, sofort von einem Strudel unablässig zirkulierender Zeichen fortgerissen und in Umlauahnen versetzt, die sie immer weiter von dem entfernen, was man schließlich nur noch irreführend ihren Ursprung nennen könnte. Wenn man das Bild aus der Sicht von Saussure betrachtet, dann bedeutet das also nicht, daß man wieder in die Problemkonstellation zurückfällt, in der sich die eorie des Bildes bis zur Moderne bewegt hat. Das Bild wird nicht auf eine binäre Beziehung zu dem
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359 reduziert, was es abbildet (oder vielleicht sogar inkarniert), das Entscheidende ist vielmehr seine Beziehung zu anderen Zeichen. Eine solche Betrachtungsweise muß übrigens nicht unbedingt von Saussure inspiriert sein. Auch Wittgenstein, dessen Werk in Frankreich ja leider kaum zur Kenntnis genommen wird, kommt im Laufe seiner Untersuchungen immer mehr zu der Überzeugung, daß unsere Zeichen ein autonomes System bilden, das in keiner Weise von dem bestimmt ist, was sie bezeichnen. So verwir er auch die in der Logisch-Philosophischen Abhandlung noch vehement vertretene ese, ein Bild müsse mit dem, was es abbildet, zumindest eine strukturelle Übereinstimmung aufweisen. Nein, so sagt er später, alles kann ein Bild von allem sein. Was ein Bild abbildet (und ob es überhaupt etwas abbildet), das hängt ausschließlich davon ab, welchen Gebrauch man von ihm macht. Indem Wittgenstein die Rolle des Gebrauchs von Bildern (und sprachlichen Zeichen) betont, stellt er diese aber wieder in einen engen Zusammenhang mit der Lebensform, in der sie ihren Platz haben. Viele französische eoretiker (nicht nur Barthes, sondern auch Foucault und Derrida) stellen die Autonomie der Zeichen dagegen weitaus dramatischer dar. Hier bekommt man o den Eindruck, die Sprache sei ein völlig außer Kontrolle geratenes System, das sich nur noch nach eigenen, abstrakten Gesetzen bewegt, ohne von denen beeinflußt werden zu können, die in ihrer Verblendung glauben, die Sprache zu benutzen, obwohl sie selbst es sind, die von der Sprache benutzt werden. Diese gruselige Vision einer unkontrollierbaren und übermächtigen Superstruktur sprachlicher Zeichen und Bilder kann nicht allein durch den Einfluß der Lehren von Saussure entstanden sein. Sie spiegelt auch die tiefgreifenden Veränderungen unserer Erfahrungswelt, die durch die rapide Verbreitung der sogenannten Massenmedien bewirkt wurden. Im Fernsehen, auf Plakatwänden, in Illustrierten werden wir heutzutage ohne Unterlaß von Bildern attackiert, die höchst suggestiv wirken, obwohl (oder gerade weil) sie an keine feste Referenz mehr gebunden sind. Obgleich sie sich in einer Sphäre reiner Metonymien bewegen, infiltrieren diese Bilder unsere gesamte libidinale Ökonomie. Die Erfahrung dieser Bilderwelt, die trotz ihrer erkennbaren Bodenlosigkeit eine ungeheuere Macht ausübt, bildet den Hintergrund der sinistren Szenarien, mit denen uns die zeitgenössischen französischen Philosophen erschrecken. Die Schärfe ihrer esen ergibt sich also unter anderem auch daraus, daß wir heute mit kulturellen Phänomenen konfrontiert sind, die Hei-
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degger und Merleau-Ponty noch getrost ignorieren konnten und von denen sich Cezanne noch nicht einmal eine Vorstellung machen konnte. Nur zehn Jahre, nachdem Cezanne die eindringlichsten Bilder der Montagne Sainte-Victoire gemalt hatte, verblüe ein junger Künstler die Öffentlichkeit allerdings schon mit Werken, in denen man einen frühen Niederschlag der soeben skizzierten Veränderungen der Erfahrungswelt erkennen kann. Es ist Duchamp. Duchamp schuf seine Werke nicht unter mediterranem Himmel. Er brachte sie noch nicht einmal durch seiner eigenen Hände Arbeit hervor. Stattdessen kaue er irgendwelche belanglosen Gegenstände in den Warenhäusern der großen Städte, fügte ihnen bestenfalls noch eine sinnlose Beschriung hinzu und stellte diese ordinären, käuflichen Objekte dann der Willkür des Betrachters anheim. Diese ready-mades wie Duchamp sie (irreführend) nannte, brechen ebenfalls ganz grundsätzlich mit der Tradition neuzeitlicher Kunst, wie sie sich seit der Renaissance etabliert hat. Auch über die ready-mades könnte man mit Heideggers Worten sagen, daß sie nichts darstellen, sondern nur dastehen. Als legitime Nachfolger der antiken Tempel würde Heidegger sie deswegen aber nicht betrachten, denn selbst wenn man mit einem gewissen Recht behaupten könnte, daß sich auch in Duchamps ready-mades eine ganze Welt verdichtet, so wäre das jedenfalls nicht die Welt, die Heidegger so eloquent beschwor, sondern, im Gegenteil, genau jene Welt, die er verabscheute. Während es der Kunst aber wohl ansteht, den würdevollen Bergen der Provence ihre Tempel zu errichten, wäre es pure Blasphemie, dieselbe Ehre auch den industriell produzierten Warengebirgen der Moderne zuteil werden zu lassen. Da dies kaum jemand bestreiten wird, muß man – in dubio pro reo – annehmen, daß es gar nicht die Absicht von Duchamp war, der Welt der Waren ein Denkmal zu setzen. Er wollte ihr demnach nicht huldigen, sondern sie anklagen und entlarven. Deshalb stellt er die sinnentleerten Produkte der modernen Industrie vor uns hin, die nur die Leere jener Welt exemplifizieren, aus der sie genommen sind. Nach dieser Deutung wäre Duchamp deshalb der Antipode Ce-zannes, weil er nicht länger Exempel eines wahrhaen Weltverhältnisses vorführt, sondern Objekte zeigt, an denen deutlich wird, daß ein solches Weltverhältnis unter den entfremdeten Bedingungen der Moderne gar nicht mehr möglich ist. Wenn das zutri, dann unterscheiden sich Duchamp und Cezanne in ihrer Konzeption des Bildes
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aber überhaupt nicht. Beide wollen keine bloßen Abbilder der Welt mehr erzeugen, so wie Alberti es forderte. Deshalb verfolgen beide eine andere Strategie, die darin besteht, etwas Wesentliches der Welt, in der das Kunstwerk seinen Ursprung hat, in diesem Werk selbst zu verkörpern und zur Erscheinung zu bringen. Die künstlerische Bedeutung der ready-mades läßt sich aber sicherlich nicht darauf reduzieren, daß sie in ihrer banalen Gestalt die triste und (wie Heidegger sagen würde) »vom Sein verlassene« Realität moderner Zeiten offenbaren. Wenn das jedoch nicht das eigentlich Interessante an ihnen ist, dann ist Duchamp nicht nur deshalb der Antipode Cezannes, weil er etwas anderes zur Erscheinung bringt, sondern deshalb, weil es ihm gar nicht mehr darum geht, überhaupt etwas zur Erscheinung zu bringen. Duchamp unterscheidet sich dann auf viel grundsätzlichere Weise von Cezanne – nämlich dadurch, daß er eine völlig andere Konzeption des Bildes vertritt. Daß ein ready-made nichts abbildet, ist klar. Wenn es aber noch nicht einmal etwas exemplifiziert, dann ist es nur noch ein leeres und autonomes Zeichen ohne jeden Sinn. Eigentlich ist es nicht einmal ein wirkliches Zeichen, sondern nur ein potentielles Zeichen, denn seine Bedeutung ist ja nicht festgelegt. Es ist sozusagen der Prototyp dessen, was die Sekundärliteratur liebevoll einen »frei flottierenden Signifikanten« nennt. Allem entrissen und keiner Referenz mehr verpflichtet, steht das ready-made da- bereit, sich mit neuen Bedeutungen zu füllen. Diese können aber nur aus dem Kontext kommen. Sie werden erzeugt durch die Kräe des intertextuellen Feldes, die das stumme Ding bis ins Innerste durchdringen, um ihm eine neue semantische Identität zu geben. Daß die Bedeutung des ready-made nur aus dem Kontext erwächst, ist natürlich tautologisch, denn es hat schonper definitionem keinerlei intrinsische Bedeutung, die es den von außen eindringenden Kräen entgegenstellen könnte. Befremdlicher (und beängstigender) wäre dagegen die ese, daß auch andere Bilder bis in ihre innere Struktur hinein durch die Wirkung der Intertextualität bestimmt sind. Eine gemäßigte Variante dieser ese vertritt Foucault. Außerdem führt er sie nur für die Kunst der Moderne aus. Die Malerei, die den Direktiven Albertis folgte, operierte noch in einem logischen Raum, der die Referenz des Bildes optisch absicherte. Die Bezeichnungsmodalitäten von Wort und Bild vermischten sich nicht, sondern bestätigten sich immer nur gegenseitig. Außerdem forderte die Ähnlichkeit des Bildes mit dem, was es abbildet, die sprachliche
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Affirmation seiner Referenz heraus. Im 20. Jahrhundert ist das vorbei. Klee, Kandinsky und Magritte lösen das Bild auf verschiedene Weise aus den Fesseln der Referenz, so daß es fortan als autonomes Zeichen in seinem eigenen abstrakten Raum zirkuliert, in dem es nur noch mit seinesgleichen in Beziehung tritt. Foucault denkt, wenn er dies behauptet, allerdings vornehmlich an die einzelnen visuellen Zeichen, die innerhalb der Bildfläche aufeinandertreffen, und nicht so sehr an das Bild als Ganzes. Die Wirkungen der Intertextualität bleiben hier sozusagen noch im Rahmen. Derrida scheint eine in jeder Hinsicht weitergehende ese zu favorisieren. Er hat sich über das Problem des Bildes zwar nicht mit derselben Klarheit geäußert wie über andere emen, dennoch ist es offenkundig, daß er die Metaphysik der Präsenz, die er generell bekämp, auch aus unserem Verständnis des Bildes austreiben möchte. Aus seiner Sicht kann die Ablösung des Bildes von seiner Referenz deshalb auch keine Errungenscha der modernen Kunst sein. Im 20. Jahrundert wird nur mit aller Konsequenz deutlich, was immer schon ein essentielles Charakteristikum des Bildes war. Noch nie konnte das Bild nämlich anders existieren als in einem logischen Abstand zu dem, was es darstellt. Sobald etwas zum Bild wird, rückt es in eine semantische Distanz zur Welt und bewegt sich fortan unabhängig von ihr. Auch bei Bildern, wie Alberti sie protegierte, ist die Referenz daher niemals gesichert und verbürgt; sie bleibt immer anfechtbar und trügerisch. Und selbst dann, wenn ein Bild nichts abbilden, sondern in seiner eigenen Gestalt etwas verkörpern will, muß es sich doch von dem, was es verkörpert, als ein selbständiges Supplement abtrennen und sich ihm gegenüber in die Entfernung und Verspätung begeben, in der es überhaupt erst als Bild fungieren kann. Derrida ist also überzeugt, daß auch das Bild sich nur in jenen Prozessen konstituiert, für die er den Begriff der differance erfunden hat. Am deutlichsten wird das in dem Text zu der von ihm arrangierten Ausstellung Memoires d'aveugle, wo er behauptet, daß die Malerei gar nicht aus der Fähigkeit des Sehens erwächst, sondern aus dem Mut zur Blindheit. Muß nicht der Maler auf die eine oder andere Weise seinen Blick immer wieder von den Dingen abwenden, um das Bild als etwas Anderes, Unabhängiges hervorzubringen? Wenn das zutri, dann wäre es naiv, im Bilde nach dem zu suchen, wovon dieses sich notwendigerweise (und von Anbeginn) hat lösen müssen. Diese Naivität bemängelt Derrida auch in seinem Kommentar zu Heideggers Interpretation des Gemäldes von van Gogh. Heidegger
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363 ist seiner Meinung nach von vornherein auf dem Holzweg, weil er glaubt, bestimmen zu können (und zu müssen), was für Schuhe es sind, die dieses Bild zeigt, um dann sagen zu können, in welcher Welt sie zuhause sind. Aber demselben Irrglauben verfällt auch Meyer Schapiro, der mit kunsthistorischer Akribie nachweist, daß die Schuhe, die van Gogh gemalt hat, höchstwahrscheinlich seine eigenen Schuhe waren und nicht die einer Bäuerin. Das mag richtig sein, spielt aber keine Rolle, denn ein Bild, auf dem Schuhe zu sehen sind, hat mit wirklichen Schuhen nichts zu tun. Das Bild ist ein Zeichen, und was es bezeichnet, das ist niemals endgültig festzulegen. Dementsprechend gibt Derrida auch keine eigene Deutung des Bildes von van Gogh. Er simuliert vielmehr einen »Polylog« von vielen verschiedenen Stimmen, die sich gegenseitig immer wieder unterbrechen und das Bild in immer neue Zusammenhänge stellen. Ähnlich verfährt Derrida in seiner »Lektüre« einer Photosequenz mit dem Titel Droit de regards. Daß hier eine Reihe von Photographien so zusammengestellt wurde, daß zahllose Verbindungen suggeriert werden, kommt Derridas Art, Bilder zu sehen, natürlich besonders entgegen. Jedes Bild steht hier ohnehin schon in einem »intertextuellen« Feld, so daß seine jeweilige Bedeutung sich offenkundig nur aus den wechselnden Konstellationen ergibt, in die sich dieses Feld bringen läßt. Jedes Bild ist von vornherein Teil eines großen Rebusrätsels. Es fungiert – ähnlich wie auch das Traumbild – als vielfältig kombinier- und substituierbare Chiffre. Als Element einer Bilderschri unterliegt es den Gesetzen der ecriture. Deshalb ist das einzelne Bild auch kein selbstgenügsames Ganzes. Seine Bedeutung liegt nicht in ihm selbst, sie kommt aus den anderen Bildern. Daß ein Bild diesen Status hat, ist dann, wenn es Teil einer Photosequenz (oder eines Films) ist, trivial. Aus der Sicht von Derrida kann das Bild aber anscheinend überhaupt nie einen anderen Status haben. Auch wenn es ganz allein für sich dasteht, gehört es trotzdem immer schon zu zahllosen Bildsequenzen. (Daher stellt Derrida das Gemälde van Goghs auch in Beziehung zu Schuhbildern, die von van Eyck, Magritte und Lindner gemalt wurden.) Wenn aber jedes Bild in erster Linie dadurch definiert ist, daß es Element eines sich ständig verändernden Systems von Zeichen ist, dann spielt seine eigene dingliche Gestalt kaum noch eine Rolle, denn seine Bedeutung ergibt sich ja nur noch aus dem Spiel der Differenzen innerhalb des Systems, in dem es zirkuliert. Die Bedeutung ist also durch das Bild selbst (oder das, was man darauf sieht) niemals
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festgelegt, und deshalb schaut Derrida bei seinen Bildanalysen konsequenterweise auch nicht so sehr auf das, was innerhalb des Rahmens liegt, der ein Bild begrenzt. Er bevorzugt auch hier die Randgänge und redet, wie er selber sagt, lieber um die Bilder herum. Man kann deshalb leicht den Eindruck gewinnen, daß er eigentlich nie zur Sache kommt; nach seiner Auffassung kann man aber eben gar nicht zur Sache kommen, denn »die Sache« als solche gibt es nicht. Es gibt nur immer neue Lektüren. Dabei bemerkt Derrida natürlich selbst, was auch seine Kritiker beklagen, daß nämlich bei dieser Lage der Dinge die Gefahr entsteht, vor lauter Kommentaren die Bilder völlig aus den Augen zu verlieren. Er selbst schreibt in einem Katalogbeitrag für Adami, alles Reden über Malerei sei von vornherein albern und unnütz, weil es die Bilder doch nie erreicht. Andererseits aber, so bemerkt er an anderer Stelle gegen das berühmte Diktum Wittgensteins, nütze es auch nichts, einfach zu schweigen und nur zu schauen. Gewiß, dem Gewebe der Intertextualität entkommt man nicht, indem man es ignoriert. Dennoch scheint es aber in der Kunst auch etwas zu geben, was über das Diskursive hinausgeht und was aufgrund dessen durch keinen Kommentar zu erfassen ist. Das hat vor allem Lyotard betont. Im Anschluß an Denkfiguren von Adorno und Benjamin versucht er, deutlich zu machen, daß die Kunst, obgleich sie sich zwangsläufig in der Sphäre der Zeichen bewegt, eigentlich immer auf etwas zielt, was diese Sphäre durchbricht und überschreitet. Worauf es ankommt, ist das, was sich nicht bezeichnen und nicht darstellen läßt, es ist der-Bruch und die Bresche, die sich plötzlich in der Ordnung des Symbolischen auut, es ist der Riß im Gewebe der Intertextualität, es ist der Moment, in dem die nahtlose Verknüpfung der Zeichen versagt, der Augenblick, in dem »Es geschieht«, wie Lyotard sich ausdrückt. (Wenn man sagen könnte, was da geschieht, dann wäre das nur der Beweis, daß nichts geschehen ist.) Lyotard scheut sich auch nicht, in diesem Zusammenhang den Begriff der »Lichtung« zu verwenden, und so kommt er am Ende zu einer Konzeption, die derjenigen Heideggers nahesteht. Das wird besonders in den Bemerkungen zu den Bildern Newmans deutlich. Dort bedient sich Lyotard – den Selbsttäuschungen des Malers folgend – zwar der Kategorie des Erhabenen, die (wie Heidegger sagen würde) dem Subjektivitätsdenken des 18. Jahrhunderts entstammt, im Grunde beschreibt er aber etwas, das eher dem entspricht, was Heidegger als ein »Ereignis« charakterisieren würde, bei dem »das Sein in die Unverborgenheit« tritt.
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365 Derrida würde nun vermutlich gar nicht bestreiten, daß die Kunst darauf zielt, ein solches »Ereignis« zu ermöglichen, er würde nur darauf bestehen, daß auch die Epiphanie, wenn sie denn eintritt, nur ein Effekt der Intertextualität sein kann – und sei es auch nur dadurch, daß diese sich selbst zerstört. Ahnlich würde Foucault argumentieren. Das »Denken des Außen«, so betont er immer wieder, kann nur durch die Sprache hindurchgehen. Und auch Wittgenstein würde sagen, was jenseits des Sagbaren (und Darstellbaren) liegt, könne sich nur dadurch »zeigen«, daß man innerhalb der Sprache (oder der Darstellung) gegen deren Grenzen anrennt. Dies wiederum würde vielleicht sogar Heidegger oder Merleau-Ponty zugestehen. Um in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um den Status des Bildes einen Überblick zu gewinnen, war es allerdings ratsam, nicht die Affinitäten, sondern die Differenzen hervorzuheben. Deutlicher noch als in den Verlautbarungen der theoretischen Wortführer zeigen sich diese in den Werken der Künstler, die die gegensätzlichen Positionen markieren, zwischen denen sich das Bild in der Moderne bewegt. Und ein größerer Gegensatz als der zwischen den späten Landschaen Cezannes und den ready-mades von Duchamp ist in der Tat kaum denkbar. Cezanne bringt eine Welt zur Erscheinung, die sich im Bild, wie in einem Mikrokosmos, verdichtet und sich darin exemplarisch realisiert. Duchamp dagegen präsentiert frei verfügbare Signifikanten, die gar nicht erst den Anspruch erheben, eine eigene Welt zu eröffnen, sondern sich radikal den Kräen der Intertextualität und der Lektüre des Betrachters überantworten. Auf der einen Seite haben wir also ein Werk, das in sich selber ruht, weil sich darin eine Welt kondensiert, in der das Subjekt existentiell aufgehoben ist. Auf der anderen Seite finden wir eine Geste, durch die das Werk konsequent in die bodenlose und heteronome Ordnung des Symbolischen geworfen wird. Die beiden großen Figuren, die an der Wiege der Kunst unseres Jahrhunderts stehen, definieren also die Polarität des Feldes, in dem sich die Kontroversen um die Aufgaben und Möglichkeiten des Bildes seither orientiert haben. So ergibt sich am Ende dieses Textes ein neues Bild des Bilderstreits. Diesmals spielt sich der Kampf nicht an den Grenzen der Malerei ab, er wird in deren eigenem Gebiet geführt. Es geht auch nicht darum, Angreifer und Verteidiger (mit schwarzer und weißer Farbe) kenntlich zu machen. Gezeigt wird vielmehr ein (in reiner Schwarzmalerei erstellter) Aufmarschplan, der die strategischen Stoßrichtungen derer enthüllt, die mit den
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zuvor referierten Konzeptionen in die Auseinandersetzung um den derzeitigen Status des Bildes eingegriffen haben.
Angesichts dieses von den verschiedensten Vektoren durchfurchten Feldes sollte man allerdings nicht vergessen, daß die Kontroverse darum, was ein Bild ist – was es sein soll und sein kann – sich natürlich nicht nur auf der theoretischen Ebene abspielt. Vor allem wird sie in der praktisch-künstlerischen Arbeit selbst ausgetragen. Wenn man jedoch als Künstler (aber auch als Betrachter) die Arbeit an einem konkreten Werk aufnimmt, dann kann man sich mit Sicherheit nur noch zwischen den Linien bewegen.