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Past Masters Preface The letters include exchanges with Ludwig von Ficker, Ludwig Hänsel, Rudolf Koder and Stanislaus and Adele Jolles. The correspondence has been edited with commentary by the Brenner-Archiv and includes many letters which have never been published previously in any form. The correspondence between Wittgenstein and Hänsel has been published in print as Ludwig Hänsel-Ludwig Wittgenstein: eine Freundschaft (Haymon Verlag, 1994). Some of the Ficker-Wittgenstein letters have appeared in 'Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1909-1967' (4 volumes, 1988-1996).These exchanges form part of the ongoing Brenner-Archiv project to edit the complete correspondence of Wittgenstein with detailed commentary on each letter identifying all names, places, literature and events mentioned in it. Collections of letters between Wittgenstein and various correspondents will appear in Past Masters databases as they are finished until the Gesamtbriefwechsel is available in the series some years from now.
Ludwig Wittgenstein : Tagebücher Vorapparat Page 1 Page Break 2 Page 2
Herausgegeben im Auftrag des Forschungsinstituts Brenner-Archiv, Innsbruck, und in Zusammenarbeit mit dem Wittgenstein-Archiv der Universität Bergen Unterstützt durch den Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung Page Break 3
Titelblatt Page 3
Ludwig Wittgenstein
Denkbewegungen Tagebücher 1930-1932, 1936-1937 (MS 183) Herausgegeben von Ilse Somavilla
Teil 1: Normalisierte Fassung HAYMON Page Break 4
Urheberrecht Page 4
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Wittgenstein, Ludwig: Denkbewegungen : Tagebücher 1930-1932, 1936-1937 / Ludwig Wittgenstein. Hrsg. von Ilse Somavilla. - Innsbruck : Haymon-Verl., 1997 ISBN 3-85218-225-5 Umschlag: Benno Peter © Haymon-Verlag, Innsbruck 1997 Alle Rechte vorbehalten / Printed in Austria Satz: Haymon-Verlag Druck und Bindearbeit: Wiener Verlag, Himberg Page Break 5
Inhalt Page 5
Inhalt Page Break 6 Page Break 7 Page 7
Vorwort 7 Editorische Notiz 10 Ludwig Wittgenstein: Tagebücher Normalisierte Fassung 19 Kommentar 107 Literaturverzeichnis 154 Personenregister 157 Page Break 8
Vorwort Page 8
Der in dieser Ausgabe veröffentlichte Text ist die Wiedergabe eines Tagebuchs von Ludwig Wittgenstein, das er in den Jahren 1930 bis 1932 und 1936 bis 1937 geführt hat und von dessen Vorhandensein man erst seit kurzem weiß. Auch in dem von Georg Henrik von Wright herausgegebenen „Wittgenstein-Katalog“ ist dieser Band unter keiner Nummer angeführt bzw. als „verschollen“ vermerkt.†1 Wie jetzt bekannt wurde, befand er sich neben einem Typoskript der Logisch-Philosophischen Abhandlung, einem Manuskript der „Lecture on Ethics“ und einem Manuskript der Philosophischen Untersuchungen – dem als verschollen gegoltenen MS 142 – im Besitz von Wittgensteins Schwester Margarete Stonborough in Gmunden. Nach dem leben ihres Bruders übergab Margarete die genannten Dokumente Rudolf und Elisabeth Koder als Erinnerungsstücke. Page 8
Rudolf Koder war Lehrer im niederösterreichischen Dorf Puchberg und hatte Wittgenstein dort 1923 kennengelernt. Durch das gemeinsame Interesse an der Musik entwickelte sich zwischen den beiden eine herzliche Freundschaft, die bis zu Wittgensteins Tod im Jahre 1951 währte. Page 8
Ende 1993 kam es zu Kontakten zwischen Rudolf Koders Sohn, Univ.- Prof. Dr. Johannes Koder, sowie dessen Schwester, Dr. Margarete Bieder-Koder – den nunmehrigen Eigentümern des sogenannten „Koder-Nachlasses“ – und dem Brenner-Archiv der Universität Innsbruck. Page 8
In der Folge beauftragte Prof. Koder das Brenner-Archiv, das Tagebuch aus dem Nachlaß seiner Eltern zu
veröffentlichen. *** Page 8
Wittgenstein hatte die Angewohnheit, seine philosophischen Gedankengänge oft gleichzeitig in mehrere Manuskriptbände einzutragen, zuweilen vermischt mit Reflexionen persönlichen Charakters oder kulturgeschichtlichen Page Break 8
Inhalts, die über kürzere oder längere Abschnitte hinweg auch in Geheimschrift abgefaßt sind. Page 8
Dabei kommen zeitweise dieselben Gedanken an verschiedenen Stellen vor, manchmal sogar im selben Wortlaut. Bemerkungen, die sich über den ganzen Nachlaß verstreut in seinen Manuskripten finden lassen, kommen auch im vorliegenden Tagebuch in ähnlicher Form vor. Page 8
Insofern ist das Tagebuch vor allem für Wittgenstein-Forscher von Bedeutung, die Bezüge zu seinem gesamten Werk herstellen möchten. Durch Eintragungen sehr persönlichen Charakters wird aber auch Einblick in den „Menschen“ Wittgenstein vermittelt und der – erst in jüngster Zeit in der Forschung systematisch berücksichtigte – enge Zusammenhang seiner Lebensprobleme mit seiner philosophischen Denkweise sichtbar gemacht. Darüberhinaus wird eine Kontinuität von wesentlichen Gedanken Wittgensteins deutlich: Probleme, die ihn bereits zur Zeit des Ersten Weltkrieges beschäftigten und uns durch die publizierten Tagebücher 1914-1916 wie auch durch die Geheimen Tagebücher bekannt sind, treten hier – nach mehr als 20 Jahren – wieder auf. Doch nicht nur für den wissenschaftlich orientierten Leser ist der Manuskriptband interessant, sondern auch für jenen, der mit Wittgensteins Schriften bisher wenig oder gar nicht vertraut ist; über die in ihrer Thematik breit gefächerten Bemerkungen Wittgensteins kann er einen ersten Zugang zu dessen Denken und Persönlichkeit gewinnen. Page 8
Wittgensteins Reflexionen, die trotz Einfachheit des Stils durch Klarheit des Ausdrucks und Tiefe des Denkens bestechen, erstrecken sich über Kunst und Kultur – insbesondere über Musik – bis hin zu ethischen und religiösen Fragen. Page 8
Dies geschieht oft verhüllt. Wittgenstein schreibt in bildhaften Gleichnissen, deutet an, „zeigt“ und demonstriert damit seine Auffassung von den Grenzen des Sagbaren, die er zeitlebens beibehielt. Page 8
Sein Ringen mit Sprache offenbart sich als ethisch begründet, seine Suche nach philosophischer Klarheit als eine Suche nach Klarheit über sich selbst. Page 8
Das Tagebuch kann daher auch im Hinblick auf Wittgensteins Äußerung „Ethik und Ästhetik sind Eins“ (Tractatus, 6.421) gelesen werden. Es gibt lebendigen Aufschluß über die große Bedeutung des „Bereichs des Page Break 9
Unaussprechlichen“, dem im Sinne Wittgensteins Fragen der Kunst, Ethik und Religion zuzuordnen sind. Page 9
Wittgensteins Auseinandersetzung mit dem Bereich „außerhalb der Welt der Tatsachen“ bzw. mit dem „Sinn der Welt“ – Wittgensteins religiöses Denken – zeigt zwar stellenweise Parallelen zu den bisher publizierten Geheimen Tagebüchern und zu den Vermischten Bemerkungen; sein „Leiden des Geistes“ – so nannte er religiöse Erfahrung – seine innere Not an den Grenzen des Sagbaren und wissenschaftlich Erklärbaren kommt aber in keiner anderen seiner Schriften wie in der vorliegenden in vergleichbarer Intensität und Glaubwürdigkeit zum Ausdruck. Page 9
Trotz der im Tagebuch veranschaulichten inneren Kontinuität von Wittgensteins wesentlichen Gedanken kann man jedoch keineswegs von einer Starre oder Stagnation in seinem Philosophieren sprechen: im Gegenteil, die Auseinandersetzung mit Problemen der Philosophie erweist sich als ein dynamischer Prozeß: sein Denken kennt keinen Stillstand, keine „Ruhepause“, sondern ist immer in „Bewegung“ und Neuerung – aus sich selbst schöpfend. Page 9
Selbst im Prozeß des Schreibens manifestiert sich diese Dynamik: in steten und unermüdlichen Änderungen und Überarbeitungen wird seine – persönliche wie auch philosophische – Rastlosigkeit spürbar. Die Eigenart, jedes Wort, jeden Satz sorgsamst abzuwägen und zu überprüfen und jeden Gedankengang oder jede Situation von verschiedenen Blickwinkeln aus zu betrachten, resultierte in einer Vielfalt von „Varianten“ und Versionen in der Abfassung seiner Texte.
Page 9
Diese sprachliche Dimension, der erst seit wenigen Jahren, zumeist nur in Ansätzen, Aufmerksamkeit geschenkt wird, ist in der vorliegenden Edition berücksichtigt: durch eine, im Wittgenstein-Archiv der Universtität Bergen entwickelte Transkriptionsmethode, werden hier die Texte Wittgensteins originalgetreu wiedergegeben. Page 9
Durch die Darstellung seines Stils und Schreibens einschließlich seiner „Varianten“ bzw. Alternativen soll es dem Leser ermöglicht werden, Wittgensteins Gedankengänge – die „Denkbewegung“ in seinem Philosophieren – in ihrer ganzen Lebendigkeit nachzuvollziehen. Page Break 10
Editorische Notiz Page 10
Das vorliegende Tagebuch wurde – wie im Vorwort erwähnt – im Nachlaß von Rudolf und Elisabeth Koder aufgefunden. Es handelt sich dabei um einen in Halbleinen gebundenen Manuskriptband von 244 Seiten bzw. 122 Blatt linierten Papiers im Format 22,5 x 17,5 cm. Wittgenstein schrieb teils mit Bleistift (von S.1-S.157), S. 146f. und 157 teilweise mit Tinte, S. 158-243 mit Tinte.†1 Page 10
S. 1-142 des Tagebuches wurden in Cambridge geführt (dies war die Zeit vom 26. April 1930 bis zum 28. Jänner 1932). S.142 - 242 wurden in Skjolden geschrieben (19. November 1936 bis 30. April 1937). S. 242- 243 bzw. die Eintragungen vom 24. September 1937 erfolgten gleichfalls in Skjolden.†2 Page 10
Die in Skjolden geschriebenen Teile sind teilweise in Geheimschrift abgefaßt. Während in den Tagebüchern 1914-1916 eine formale Gliederung zu beobachten ist (– in der Regel schrieb Wittgenstein auf der linken Seite in Geheimschrift, auf der rechten Seite in Normalschrift†3 –), fehlt hier diese Aufteilung; Wittgenstein schreibt, kleinere oder größere Abschnitte abwechselnd, in Normal- und in Geheimschrift. Page 10
Oftmals hat es den Anschein, daß Wittgenstein Teile sehr persönlichen Inhalts, die er für sich behalten wollte, in Geheimschrift abfaßte, doch ist dies keineswegs als Kriterium für alle Geheimschriftstellen zu betrachten. Page Break 11
Völlig belanglose Aussagen einerseits wie auch philosophische Bemerkungen andererseits sind manchmal in Code geschrieben. Page 11
In den meisten Fällen jedoch steckte Intention dahinter: Wittgenstein scheint ihm besonders kostbare Gedanken damit vor schnellen Blicken eiliger, oberflächlicher Leser schützen, abdecken gewollt zu haben. Hinweis auf diese Vermutung könnte eine Stelle aus dem Manuskript 157a geben: „Es ist ein großer Unterschied zwischen den Wirkungen einer Schrift die man leicht & fließend lesen kann & einer die man schreiben aber nicht leicht entziffern [lesen] kann. Man schließt, in ihr die Gedanken ein, wie in einer Schattulle.“ *** Page 11
Die Transkription der vorliegenden Texte erfolgte nach dem im Wittgenstein-Archiv der Universität Bergen entwickelten Computer-System MECS-WIT, das eine maschinenlesbare Fassung des gesamten Nachlasses anstrebt. MECS-WIT ist dafür konzipiert, Wittgensteins charakteristische Art des Schreibens – mit seinen zahlreichen Änderungen, Streichungen, Einfügungen, Überarbeitungen und dergl. originalgetreu wiederzugeben.†1 Page 11
In dieser Ausgabe wird, um den unterschiedlichen Bedürfnissen und Interessen der Leserschaft entgegen zu kommen, der Text in zwei Transkriptionsformen, einer „normalisierten“ †2 und einer „diplomatischen“ Fassung, vorgelegt. Page 11
Die sogenannte normalisierte oder Lesefassung soll das Lesen von ansonsten manchmal schwer verständlichen bzw. schwer lesbaren Textstellen erleichtern. Page 11
Im fortlaufenden Text wird die letzte von Wittgensteins Varianten wiedergegeben, die zuerst geschriebenen sind in Fußnoten der Reihenfolge nach festgehalten. Wenn Wittgenstein, um sich nicht zu wiederholen, Page Break 12
Teile eines Satzes desselben Wortlauts durch Punkte ersetzte, so wird anstelle der Punkte im Haupttext die betreffende Stelle in vollem Wortlaut und in Fettschrift als Kennzeichnung eines editorischen Eingriffs
wiedergegeben. Die eckigen Klammern oder doppelten Schrägstriche, die Wittgenstein als Markierungen späterer Varianten setzte, entfallen in der normalisierten Fassung, um den Lesevorgang nicht zu behindern. Page 12
In der diplomatischen Fassung hingegen bleiben sie erhalten, ebenso wie die Punkte als Ersatz von Teilen eines Satzes bzw. Textes. Hier wird der tatsächliche Fortgang des Niederschreibens festgehalten, mit der zuerst geschriebenen Version im sogenannten Haupttext, den hinzugefügten und darübergeschriebenen Varianten an den Stellen, wo sie im Original gesetzt wurden. Page 12
Im Gegensatz zu der in Norwegen gehandhabten Methode, Wittgensteins Schriften in der normalisierten Fassung in Angleichung an den neuesten Stand des Deutschen Duden zu korrigieren, werden in der vorliegenden Edition Wittgensteins Schreibfehler – die u.a. teils aus Versehen in der Geschwindigkeit des Schreibens etc. entstanden sind –, wie auch für ihn typische Schreibgewohnheiten wie „in’s“ anstatt „ins“ (wie bei ins Reine kommen) oder „wol“ statt „wohl“ und ähnliche, originalgetreu wiedergegeben. Wittgensteins eigenartige Handhabung der Groß- und Kleinschreibung – wie „der Beste Zustand“, „zum umschnappen“, „des guten und des rechten“ u.ä. – wurde respektiert, da es schwierig ist zu eruieren, wann dies mit Absicht, wann aus Flüchtigkeit oder mangelnder Rechtschreibkenntnisse geschah. Auch das von Wittgenstein verwendete Kürzel „&“ für „und“ wurde belassen. Page 12
Zur Jahrhundertwende fand eine Reform der deutschen Rechtschreibung statt: daß die Anpassung an die Neuerungen nur langsam erfolgte, zeigt sich darin, daß Wittgenstein viele Schreibarten aus der Zeit vor der Reform beibehielt. Häufig finden wir bei ihm ein „c“, wo nach der Reform ein „k“ oder „z“ geschrieben werden sollte, wie bei „Conzert“, „Correlat“, „Concentrieren“, „Scene“ und dergleichen. Page 12
Seine Schreibung von „seelig“ mit zwei „e“, so wie „Waare“ anstatt „Ware“ muß ebenfalls als ein „Relikt“ der früheren Rechtschreibung gesehen Page Break 13
werden, ebenso wie „y“ anstelle von „i“ wie in „Nymbus“, und „th“ anstelle von „t“ wie in „Thaler“. Page 13
Weniger bekannte oder nur im österreichischen bzw. Wiener Dialekt dieser Zeit verwendete Ausdrücke wie „Übligkeiten“ anstatt „Übelkeit“ und „derfangen“ anstelle von „sich fangen“ wurden im Text belassen, jedoch im Kommentar erläutert. Page 13
Nur wenn gröbere Fehler wie das fehlende „h“ bei dem Komponisten „Mahler“ vorkommen oder wo Wittgenstein im Fluß des Schreibens „sei“ anstatt „seit“ schrieb oder anstelle eines Wortes wie „schwerer“ „schwerere“ setzte, wurde korrigiert; dies ist jedoch durch Fettdruck angezeigt und im Kommentar erörtert. Page 13
Bei schwer leserlichen Stellen, wo sich die Herausgeberin für ihr adäquat erscheinende Buchstaben oder Wörter entschied, wird ebenfalls im Kommentar darauf hingewiesen. Page 13
Geheimschrift-Stellen: Page 13
Mehrere Stellen des vorliegenden Manuskriptbandes wurden von Wittgenstein in Geheimschrift abgefaßt. Sein „Code“ ist an sich einfach zu entziffern, er stellt lediglich eine Umkehrung des Alphabets dar: ein „a“ bedeutet folglich ein „z“, ein „b“ steht für „y“ usw. Als Ausnahmen sind das „r“ zu nennen, das sowohl „i“ als auch „j“ bedeuten kann, und das „n“, das ein „n“ bleibt. Page 13
Da Wittgenstein jedoch in der Durchführung des Codes nicht immer konsequent war, entstanden Fehler, die das Verständnis einzelner Wörter und Sätze manchmal erheblich beeinträchtigen würden. Aus diesem Grunde wurden solche Fehler korrigiert. Page 13
Das heißt, wenn Wittgenstein versehentlich Buchstaben der Normalschrift an Geheimschriftstellen anwendete, wenn er zum Beispiel anstelle eines „h“ (das in der Geheimschrift ein „s“ darstellen soll) ein „s“ schrieb, so wurden diese Buchstaben gemäß dem Code wiedergegeben bzw. korrigiert. Diese editorischen Eingriffe sind jedoch durch Fettschrift angemerkt. Die „ss“ anstatt „ß“ wurden belassen, da Wittgenstein in der Geheimschrift dafür jeweils „hh“ setzte. Page 13
Um die in Geheimschrift abgefaßten Texte von denen in Normalschrift abzuheben, wurden sie kursiv
gedruckt. Page Break 14 Page 14
Umlaute: Page 14
Im Fluß des Schreibens scheint Wittgenstein häufig die ü-, ä- und ö-Striche vergessen zu haben. Diese wurden in der normalisierten Fassung korrigiert, in der diplomatischen dem Original entsprechend wiedergegeben. Die Umlaute bei Geheimschrift-Stellen – über f, m und z (für ü, ö und ä) sind in der diplomatischen Umschrift nicht wiedergegeben. Page 14
Interpunktion: Page 14
Wittgensteins Handhabung der Interpunktion ist in vielen Fällen ungewöhnlich, oft geschah dies mit Absicht.†1 Page 14
Dementsprechend wurde in dieser Edition auch nicht korrigiert, selbst wenn es sich manchmal nur um Flüchtigkeitsfehler zu handeln schien. Page 14
Anführungszeichen: Page 14
Wittgenstein setzte die Anführungszeichen teilweise unten, teilweise oben: diese wurden in der diplomatischen Fassung dem Original entsprechend wiedergegeben, in der normalisierten aber standardisiert. Die Unterscheidung zwischen einfachen und doppelten An- und Ausführungszeichen wurde jedoch in beiden Fassungen beibehalten. Page 14
Unterstreichung: Page 14
Im Gegensatz zu den bisher publizierten Werken Wittgensteins, in denen die Unterstreichungen zumeist nach der in der Suhrkamp-Ausgabe gehandhabten Methode wiedergegeben wurden (einfache Unterstreichung i.O. in Kursiv, zweifache Unterstreichung in kleinen Großbuchstaben und dreifache Unterstreichung in großen Großbuchstaben, mehr als dreifache mit großen Großbuchstaben und einer zusätzlichen Unterstreichung) werden in dieser Ausgabe Wittgensteins Unterstreichungen originalgetreu beibehalten. In der elektronischen Fassung Intelex werden Einfach- und Doppelt-Unterstreichungen als solche wiedergegeben, Dreifach-Unterstreichungen aber als Doppelt-Unterstreichungen in Fettschrift gekennzeichnet. Page 14
Nur im Kommentar, wo auf publizierte Stellen der Werkausgabe und der Vermischten Bemerkungen hingewiesen wird, wird entsprechend der Vorlage nach der dort verwendeten Vorgangsweise zitiert. Page Break 15 Page 15
Unterstreichungen mit Wellenlinien i.O., die häufig für Zweifel im Ausdruck stehen, werden strichliert wiedergegeben. Page 15
Sektionen: Page 15
Wittgenstein hatte die Angewohnheit, zumeist in zwei- und mehrzeiligen Abschnitten zu schreiben, die er im allgemeinen durch eine, in selteneren Fällen durch zwei oder mehr Zeilen, voneinander trennte. Diese Abschnitte bzw. Sektionen wurden hier entsprechend wiedergegeben. In einigen Fällen fehlt in diesem Tagebuch eine Leerzeile zwischen zwei Abschnitten, selbst vor Beginn eines neuen Datums, welches manchmal vermutlich erst hinterher in die Zeile eingefügt wurde. Page 15
Einrückung: Page 15
Häufig rückte Wittgenstein zu Beginn, oder auch innerhalb eines Abschnittes, ein. Diese kleineren oder größeren Einrückungen werden in der diplomatischen Umschrift dem Original entsprechend wiedergegeben, in der normalisierten Fassung wird einheitlich eingerückt.
Page 15
Numerierung: Page 15
Wittgensteins Numerierung der Seiten in seinen Manuskripten verlief unterschiedlich: manchmal trug er die Seitenzahlen mehr oder weniger regelmäßig durchlaufend ein, häufig aber kommen Seiten vor, wo die Numerierung fehlt. Im vorliegenden Tagebuch trug er – von zwei Ausnahmen abgesehen, wo im oberen Rand durch eingefügten Text keine Pagina zu erkennen ist – jeweils auf der rechten Seite des Tagebuchs – oben in der Mitte der Seite – die Seitenzahl ein, auf der linken fehlt sie. Page 15
Wittgensteins Numerierung ist in der diplomatischen Fassung, entsprechend dem Original, jeweils oben in der Mitte der rechten Seite angegeben. Auf den linken bzw. Verso-Seiten, wo die Numerierung im Original fehlt, ist in der diplomatischen Fassung die Seitenzahl mit „Verso Page 2, Verso Page 4“ etc. angegeben; für die rechte Seite mit „Recto Page 3, Recto Page 5“ etc. Page 15
In der normalisierten Fassung stehen die Seitenzahlen jeweils am äußeren Rand des Satzspiegels. Zusätzlich ist der Beginn einer neuen Seite im fortlaufenden Text in eckiger Klammer gekennzeichnet. Page Break 16 Page 16
Graphik: Page 16
Wittgenstein trug zur Erläuterung eines Traumes an zwei Stellen Zeichnungen ein (S. 126 und S. 128). Diese sind hier durch Faksimiles wiedergegeben, ebenso wie seine Darstellungen des Buchstaben „f“ (Seite 236).
Dank Page 16
An dieser Stelle möchte ich all denen meinen Dank aussprechen, die am Zustandekommen dieser Edition beteiligt waren: Page 16
In erster Linie sei Herrn Univ.-Prof. Dr. Johannes Koder und seiner Schwester, Frau Dr. Margarete Bieder-Koder, gedankt, die dem Brenner-Archiv ihr großes Vertrauen damit bekundet haben, daß sie uns den kostbaren Manuskriptband aus dem Nachlaß ihrer verstorbenen Eltern zur wissenschaftlichen Bearbeitung zur Verfügung stellten. Page 16
Univ.-Prof. Dr. Walter Methlagl und Univ.-Prof. Dr. Allan Janik danke ich dafür, daß sie mich mit der Arbeit an der vorliegenden Edition beauftragt haben und mir jederzeit für das Tagebuch betreffende Diskussionen ihr Interesse zeigten. Page 16
Großer Dank gebührt dem Wittgenstein-Archiv der Universität Bergen und seinem Leiter, Claus Huitfeldt, mit dessen Erlaubnis die von ihm entwickelte Transkriptionsmethode MECS-WIT hier angewendet werden konnte. Den Mitarbeitern des Wittgenstein-Archivs –Angela Requate und Peter Cripps, Wilhelm Krueger, Franz Hespe und Maria Sollohub – sei Page Break 17
für Korrekturlesen und stets bereitwillige Auskunft und Hilfe gedankt. Weiters danke ich Andrzej Orzechowski, Wroclaw (Polen) und Monika Seekircher, Innsbruck. Page 17
Frau Marguerite de Chambrier geb. Respinger danke ich für ihre ausführlichen Informationen und für die Bereitstellung von Briefen Wittgensteins an sie. Page 17
Für Fragen, den Kommentar betreffend, sei Herrn Major John Stonborough, Jonathan Smith (Trinity College), Dr. Othmar Costa (Innsbruck), Univ.-Prof. Dr. Friedrich Heller (Wien) und Knut Olav Amas (Bergen) gedankt. Page 17
Herrn Dr. Benno Peter vom Haymon-Verlag danke ich für die engagierte und sorgfältige Durchführung der Satzarbeiten. Page 17
Den Nachlaßverwaltern Univ.-Prof. Georg Henrik von Wright, Univ.-Prof. Elizabeth Anscombe, Univ.-Prof. Peter Winch und Univ.-Prof. Sir Anthony Kenny danken wir dafür, daß sie die Zustimmung zur Publikation gegeben haben. Page 17
Dem Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung sei für maßgebliche finanzielle Unterstützung des Projekts gedankt. Page 17
Innsbruck, Jänner 1997 Ilse Somavilla Page Break 18 Page Break 19
[Denkbewegungen] Page 19
26.4.30[1] Page 19
Ohne etwas Mut kann man nicht einmal eine vernünftige Bemerkung über sich selbst schreiben. Page 19
Ich glaube manchmal Page 19
Ich leide unter einer Art geistiger Verstopfung. Oder ist das nur eine Einbildung ähnlich der wenn man fühlt man möchte erbrechen wenn tatsächlich nichts mehr drin ist? Page 19
Ich bin sehr oft oder beinahe immer voller Angst. Page 19
Mein Gehirn ist sehr reizbar. Habe heute von der Marguerite Taschentücher zum Geburtstag bekommen. Sie haben mich gefreut, wenn mir auch jedes Wort noch lieber gewesen wäre & ein Kuss noch viel lieber. Page 19
Von allen Menschen die[2] jetzt leben würde mich ihr Verlust am schwersten treffen, das will ich nicht frivol sagen, denn ich liebe sie oder hoffe daß ich sie liebe. Page 19
Ich bin müde & Ideenlos das ist freilich immer so in den ersten Tagen nach meiner Ankunft bis ich mich an das Klima gewöhnt habe. Aber freilich ist nicht gesagt daß ich nicht überhaupt vor einer leeren Periode stehe. Page 19
Es ist mir immer fürchterlich wenn ich denke wie ganz mein Beruf von einer Gabe abhängt die mir jeden Moment entzogen werden kann. Ich denke sehr oft, immer wieder, hieran & überhaupt daran wie einem alles entzogen werden kann & man gar nicht weiß was man alles hat & das aller Wesentlichste eben erst[3] dann gewahr wird wenn man es plötzlich verliert. Und man merkt es nicht eben weil es so wesentlich, daher so gewöhnlich ist. Wie man auch nicht merkt daß man fortwährend atmet als bis man Bronchitis hat & sieht daß was man für selbstverständlich gehalten hat gar nicht so selbstverständlich ist. Und es gibt noch viel mehr Arten geistiger Bronchitis. Page 19
Oft fühle ich daß etwas in mir ist wie ein Klumpen der wenn er schmelzen würde mich weinen ließe oder ich fände dann die richtigen Worte (oder vielleicht sogar eine Melodie) . Aber dieses Etwas (ist es das Herz?) fühlt sich bei mir an wie Leder &[4] kann nicht schmelzen. Oder ist es daß ich nur zu feig bin die Temperatur genügend steigen zu lassen? Page 19
Es gibt Menschen die zu schwach zum Brechen sind. Zu denen gehöre auch ich. Page Break 20
Das Einzige was vielleicht einmal an mir brechen wird & davor fürchte ich mich manchmal ist mein Verstand. Page 20
Ich glaube manchmal daß mein Gehirn die Beanspruchung einmal nicht aushalten & nachgeben wird. Denn es ist furchtbar beansprucht für seine Stärke – so scheint es mir wenigstens oft. Page 20
27. Bis etwa zu meinem 23ten Lebensjahr wäre[5] es mir unmöglich gewesen in einem freistehenden Bett zu schlafen & auch sonst nur mit dem Gesicht zur Wand. Ich weiß nicht wann mich diese Furcht verlassen hat. War es erst im Krieg?
Page 20
Vor einigen Tagen träumte ich folgendes: Page 20
Ich führte ein Maultier dessen Wärter ich zu sein schien. Zuerst auf einer Straße – ich glaube in einer orientalischen Stadt; dann in ein Büro wo ich in einem großen Zimmer warten mußte. Vor diesem war noch ein kleineres mit vielen Leuten. Das Maultier war unruhig & störrisch. Ich hielt es an einem kurzen Strick & dachte ich möchte daß es sich den Kopf an die Wand anrennt – an der ich saß – dann wird es ruhiger werden. Ich sprach[6] immer zu ihm & nannte es dabei „Inspektor“. Und zwar schien mir dies die gebräuchliche Benennung für ein Maultier etwa wie man ein Pferd „Brauner“ oder ein Schwein „Wuz“ nennt. Und ich dachte „wenn ich jetzt zu Pferden komme, werde ich sie†1 auch Inspektor nennen“ (d.h. so gewöhnt bin ich das Wort Inspektor vom Verkehr mit den Maultieren). Als ich darauf aufwachte fiel mir erst auf, daß man ja Maultiere gar nicht „Inspektor“ nennt. Page 20
Ramseys Geist war mir sehr zuwider. Als ich vor 15 Monaten nach Cambridge kam da glaubte ich, ich würde nicht mit ihm verkehren können denn ich hatte ihn von unserer letzten Begegnung vor etwa 4 Jahren bei[7] Keynes in Sussex in so schlechter Erinnerung. Keynes dem ich dies sagte sagte mir aber er glaube ich sollte sehr wohl mit ihm reden können & nicht blos über Logik. Und ich fand Keynes’s Meinung bestätigt. Denn ich Page Break 21
konnte mich über manches ganz gut mit R. verständigen. Aber auf die Dauer ging es doch nicht wirklich gut. Die Unfähigkeit R’s zu wirklichem Enthusiasmus oder zu wirklicher Verehrung was das selbe ist widerte mich endlich mehr & mehr an. Andererseits hatte ich eine gewisse Scheu vor R.. Er war ein sehr rascher & geschickter Kritiker wenn man ihm Ideen vorlegte. Aber seine Kritik half nicht weiter sondern hielt auf & ernüchterte. Der kurze Zeitraum wie Schopenhauer ihn nennt zwischen den beiden langen[8] in denen eine Wahrheit den Menschen, zuerst paradox, & dann trivial erscheint war bei R. zu einem Punkt geworden. Und so plagte man sich zuerst lange vergebens ihm etwas klar zu machen bis er plötzlich die Achsel darüber zuckte & sagte es sei ja selbstverständlich. Dabei war er aber nicht unaufrichtig. Er hatte einen häßlichen Geist. Aber keine häßliche Seele. Er genoß Musik wirklich & mit Verständnis. Und man sah ihm an welche Wirkung sie auf ihn ausübte. Von dem letzten Satz eines der letzten Beethovenschen Quartette den er mehr als vielleicht alles andere liebte sagte er mir er fühle dabei die Himmel seien offen. Und das bedeutete etwas wenn er es sagte.†1 Page 21
[9] Freud irrt sich gewiss sehr oft & was seinen Charakter betrifft so ist er wohl ein Schwein oder etwas ähnliches aber an dem was er sagt ist ungeheuer viel. Und dasselbe ist von mir wahr. There is a lot in what I say. Page 21
Ich trödle gerne. Vielleicht jetzt nicht mehr so sehr wie in früherer Zeit. Page 21
28. Ich denke oft das Höchste was ich erreichen möchte wäre eine Melodie zu komponieren. Oder es wundert mich daß mir bei dem Verlangen danach nie eine eingefallen ist. Dann aber muß ich mir sagen daß es wol unmöglich ist daß mir je eine einfallen wird, weil mir dazu eben etwas wesentliches oder das Wesentliche fehlt. Darum[10] schwebt es mir ja als ein so hohes Ideal vor weil ich dann mein Leben quasi zusammenfassen könnte; und es krystallisiert hinstellen könnte. Und wenn es auch nur ein kleines schäbiges Krystall wäre, aber doch eins. Page 21
29. Page Break 22
Mir ist nur dann wohl wenn ich, in einem gewissen Sinn, begeistert bin. Und dann habe ich wieder Angst vor dem Zusammenbruch dieser Begeisterung. Page 22
Heute zeigte mir Mrs. Moore eine dumme Kritik einer Aufführung der 4ten Symphonie von Bruckner wo der Kritiker über Bruckner schimpft & auch von Brahms & Wagner respectlos redet. Es machte mir zuerst keinen Eindruck da es das Natürliche ist daß alles[11] – großes & kleines – von Hunden angebellt wird. Dann schmerzte es mich doch. In gewissem Sinne fühle ich mich berührt (seltsamerweise) wenn ich denke daß der Geist nie verstanden wird. Page 22
30. Unfruchtbar & träg. Zu dem Gestrigen: Ich denke mir dann immer: haben diese Großen dazu so unerhört viel gelitten, daß heute ein Arschgesicht kommt & seine Meinung über sie abgibt. Dieser Gedanke erfüllt mich oft mit einer Art von Hoffnungslosigkeit. – Gestern saß ich eine Zeit lang im Garten von Trinity & da dachte ich merkwürdig wie die gute körperliche Entwicklung aller dieser Leute mit völliger Geistlosigkeit zusammengeht (Ich meine nicht
Verstand[12]losigkeit) Und wie andererseits ein Thema, von Brahms voll von Kraft, Grazie, & Schwung ist & er selbst einen Bauch hatte. Dagegen hat der Geist der Heutigen keine Sprungfedern unter den Füßen. Page 22
Ich möchte den ganzen Tag nur essen & schlafen. Es ist als wäre mein Geist müde. Aber wovon? Ich habe in allen diesen Tagen nichts wirkliches gearbeitet. Fühle mich blöd & feig. Page 22
1.5. Bis mir etwas klar ist†1 dauert es außerordentlich lang. – Das ist wahr auf den verschiedensten Gebieten. Mein Verhältnis zu den anderen Menschen z.B. wird mir immer erst nach langer Zeit klar. Es ist als brauchte es kolossal lang bis sich der große Nebelballen ver[13]zieht & der Gegenstand selbst sichtbar wird. Während dieser Zeit aber bin ich mir meiner Unklarheit nicht einmal ganz klar bewußt. Und auf einmal sehe ich dann wie die Sache wirklich ist oder war. Darum bin†2 ich wohl überall unbrauchbar Page Break 23
wo halbwegs schnelle Entscheidungen zu treffen sind. Ich bin sozusagen einige Zeit verblendet & erst dann fallen mir die Schuppen von den Augen. Page 23
2.5 In meinen Vorlesungen trachte ich oft die Gunst meiner Zuhörer durch eine etwas komische Wendung zu gewinnen; sie zu unterhalten damit sie mir willig Gehör schenken. Das ist gewiß etwas Schlechtes. Page 23
Ich leide oft unter dem[14] Gedanken wie sehr der Erfolg oder der Wert dessen was ich tue von meiner Disposition abhängt. Mehr als bei einem Conzertsänger. Nichts ist gleichsam in mir aufgespeichert; beinahe Alles muß im Moment produziert werden. Das ist – glaube ich – eine sehr ungewöhnliche Art der Tätigkeit oder des Lebens. Page 23
Da ich sehr schwach bin, bin ich ungemein abhängig von der Meinung Anderer. Wenigstens im Moment des Handelns. Es sei denn daß ich lange Zeit habe mich zu terfangen. Page 23
Ein gutes Wort das mir jemand sagt oder ein freundliches Lächeln wirken lange angenehm ermunternd & versichernd auf mich nach & ein unangenehmes d.h.[15] unfreundliches Wort ebenso lange bedrückend. Page 23
Am wohltätigsten ist dann das Alleinsein in meinem Zimmer dort stelle ich das Gleichgewicht wieder her. Zum mindesten das geistige wenn auch die Nerven den Eindruck noch behalten. Page 23
Der Beste Zustand bei mir ist der der Begeisterung weil der die lächerlichen Gedanken wenigstens teilweise aufzehrt & unschädlich macht. Page 23
Alles oder beinahe alles was ich tue auch diese Eintragungen sind von Eitelkeit gefärbt & das beste was ich tun kann ist gleichsam die Eitelkeit abzutrennen, zu isolieren & trotz ihr das Richtige zu tun obwohl sie immer zuschaut. Verjagen kann ich sie nicht. Nur manchmal[16] ist sie nicht anwesend. Page 23
Ich liebe die Marguerite sehr & habe große Angst sie möchte nicht gesund sein da ich schon über eine Woche keinen Brief von ihr habe. Ich denke wenn ich allein bin wieder & wieder an sie aber auch sonst. Wäre ich anständiger so wäre auch meine Liebe zu ihr anständiger. Und dabei liebe ich Page Break 24
sie jetzt so innig als ich kann. An Innigkeit fehlt es mir vielleicht auch nicht. Aber an Anständigkeit. Page 24
6.5. Lese Spengler Untergang etc. & finde trotz des vielen Unverantwortlichen im Einzelnen, viele wirkliche, bedeutende Gedanken. Vieles, vielleicht das Meiste be[17]rührt sich ganz mit dem was ich selbst oft gedacht habe. Die Möglichkeit einer Mehrzahl abgeschlossener Systeme welche wenn man sie einmal hat ausschauen als sei das eine die Fortsetzung des Anderen. Page 24
Und das hängt alles auch mit dem Gedanken zusammen, daß wir gar nicht wissen (bedenken) wieviel dem Menschen genommen – oder auch gegeben – werden kann. Page 24
Neulich las ich zufällig in den Budenbrooks vom Typhus & wie Hanno B. in seiner letzten Krankheit
niemand mehr erkannte außer einem Freund. Und da fiel mir auf daß man das gemeinhin als selbstverständlich ansieht & denkt,[18] natürlich, wenn das Gehirn einmal so zerrüttet ist so ist das nur natürlich. Aber in Wirklichkeit ist es zwar nicht das Gewöhnliche daß wir Menschen sehen & sie nicht erkennen aber das was wir „Erkennen“ nennen ist nur eine spezielle Fähigkeit die uns sehr wohl abhanden kommen könnte ohne daß wir als minderwertig zu betrachten wären. Ich meine: Es erscheint uns als selbstverständlich daß wir Menschen „erkennen“ & als totale Zerrüttung wenn jemand sie nicht erkennt. Aber es kann dieser Stein sehr wohl in dem Gebäude fehlen & von Zerrüttung nicht die Rede sein. (Dieser Gedanke ist wieder mit den Freud’schen nahe[19] verwant, mit dem, über die Fehlleistungen) Page 24
D.h. wir halten alles was wir haben für selbstverständlich & wissen gar nicht daß wir complett sein können auch ohne dem & dem was wir gar nicht als besondere Fähigkeit erkennen weil es uns zur Vollständigkeit unseres Verstandes zu gehören scheint. Page 24
Es ist schade daß Spengler nicht bei seinen Guten Gedanken geblieben ist & weiter gegangen ist als er verantworten kann. Allerdings wäre durch die größere Reinlichkeit sein Gedanke schwerer zu verstehen gewesen aber auch dadurch erst wirklich nachhaltig wirksam. So ist der Gedanke daß die[20] Streichinstrumente zwischen 15–1600 ihre Endgültige Gestalt angenommen Page Break 25
haben von ungeheurer Tragweite (& Symbolik). Nur sehen die meisten Menschen wenn man ihnen so einen Gedanken ohne viel drumherum gibt nichts in ihm. Es ist wie wenn einer glaubte daß ein Mensch sich immer unbegrenzt weiter entwickelt & man sagte ihm: schau, die Kopfnähte eines Kindes schließen sich mit ... Jahren & das zeigt dir schon daß die Entwicklung überall zu einem Ende kommt was sich da entwickelt ein geschlossenes Ganzes ist das einmal vollständig da sein wird & nicht eine Wurst die beliebig lang weiterlaufen kann. Page 25
[21] Als ich vor 16 Jahren den Gedanken hatte, daß das Gesetz der Kausalität an sich bedeutungslos sei & es eine Betrachtung der Welt gibt die es nicht im Auge hat da hatte ich das Gefühl vom Anbrechen einer Neuen Epoche. Page 25
In einer Beziehung muß ich ein sehr moderner Mensch sein weil das Kino so außerordentlich wohltätig auf mich wirkt. Ich kann mir kein Ausruhen des Geistes denken was mir adäquater wäre als ein amerikanischer Film. Was ich sehe & die Musik geben mir eine seelige Empfindung vielleicht†1 in einem infantilen Sinne aber darum natürlich nicht weniger stark. Überhaupt ist wie ich oft gedacht & gesagt habe[22] der Film etwas sehr Ähnliches wie der Traum & die Freudschen Gedanken†2 lassen sich unmittelbar auf ihn anwenden Page 25
Eine Entdeckung ist weder groß noch klein; es kommt darauf an was sie uns bedeutet. Page 25
Wir sehen in der Kopernicanischen Entdeckung etwas Großes – weil wir wissen daß sie ihrer Zeit etwas Großes bedeutete & vielleicht auch weil noch ein Ausklang dieser Bedeutung zu uns herüber kommt – & nun schließen wir per analogiam daß die Entdeckungen Einsteins etc. zum mindesten etwas ebenso Großes sind. Aber sie sind – wenn auch von noch so großem praktischem Wert, vielseitigem Inter[23]esse etc – doch nur so Page Break 26
groß als sie bedeutend (symbolisch) sind. Es verhält sich damit natürlich wie – z.B. – mit dem Heldentum. Eine Waffentat früherer Zeiten wird – mit Recht – als Heldentat gerühmt. Aber es ist ganz wohl möglich daß eine ebenso schwierige oder noch schwierigere Waffentat heute eine reine Sportsache ist und zu Unrecht den Namen Heldentat erhält. Die Schwierigkeit, die praktische Bedeutung alles das kann man, gleichsam, von außen beurteilen; die Größe das Heldentum wird von der Bedeutung bestimmt die die Handlung hat. Von dem Pathos das mit der Handlungsweise verbunden ist. Page 26
Weil aber ein bestimmter Zeitabschnitt eine bestimmte Rasse ihr Patos mit ganz bestimmten Handlungsweisen verbindet so werden die Menschen irrege[24]führt & glauben, die Größe, die Bedeutung liege notwendig in jener Handlungsweise. Und dieser Glaube wird immer erst dann ad absurdum geführt, wenn durch einen Umschwung eine umwertung der Werte eintritt d.h. das wahre Pathos nun sich auf andere Handlungsweise legt. Dann bleiben – wahrscheinlich immer – die alten jetzt wertlosen Scheine noch einige Zeit im Umlauf & werden von nicht ganz ehrlichen Leuten für das Große & Bedeutende ausgegeben, bis man die neue Einsicht wieder trivial findet & sagt „natürlich gelten diese alten Scheine nichts“. Page 26
Das Trinken, zu einer Zeit symbolisch ist zu einer anderen Zeit Suff. Page 26
D.h. der Nymbus, nämlich der echte[25] Nymbus haftet nicht an der äußern Tatsache d.h. nicht an der Tatsache. Page 26
Beim Lehren der Philosophie kann man oft sagen „Spitzbuben selbst, die uns zu Schelmen machen!“ Page 26
8. Ich habe nie einen Streich gemacht & werde wohl nie einen machen. Es ist meiner Natur nicht gemäß. (Ich halte das, wie alles Natürliche weder für einen Fehler noch einen Vorzug) Page 26
9 Ich bin sehr verliebt in die R. freilich schon seit langem aber jetzt besonders stark. Dabei weiß ich aber daß die Sache aller Wahrscheinlichkeit nach hoffnungslos ist. D.h. ich muß gefaßt sein, daß sie jeden Moment Page Break 27
sich[26] verloben & heiraten kann. Und ich weiß daß das sehr schmerzlich für mich sein wird. Ich weiß also daß ich mich nicht mit meinem ganzen Gewicht an diesen Strick hängen soll weil ich weiß daß er einmal nachgeben wird. Das heißt ich soll mit beiden Füßen auf dem festen Boden stehen bleiben & den Strick nur halten, aber nicht mich an ihn hängen. Aber das ist schwer. Es ist schwer so uneigennutzig zu lieben daß man die Liebe hält & von ihr nicht gehalten werden will. – Es ist schwer die Liebe so zu halten daß man, wenn es schief geht sie nicht als ein verlorenes Spiel ansehen muß sondern sagen kann: darauf war ich vorbereitet & es ist auch so in Ordnung. Man könnte sagen „wenn Du Dich nicht aufs Pferd setzt Dich ihm also ganz anvertraust so[27] kannst Du freilich nie abgeworfen werden aber auch nie hoffen je zu reiten. Und man kann darauf nur sagen: Du mußt Dich dem Pferd ganz widmen & doch gefaßt sein daß Du jederzeit abgeworfen werden kannst. Page 27
Man glaubt oft – und ich selber verfalle oft in diesen Fehler – daß alles aufgeschrieben werden kann was man denkt. In Wirklichkeit kann man nur das aufschreiben – d.h. ohne etwas blödes & unpassendes zu tun – was in der Schreibform in uns entsteht. Alles andere wirkt komisch & gleichsam wie Dreck†1. D.h. etwas was weggewischt gehörte. Page 27
Vischer sagte „eine Rede ist keine Schreibe“ und eine Denke ist schon erst recht keine. Page 27
[28]
(Ich bin immer froh eine neue Seite anfangen zu können.)
Page 27
Ich denke: Werde ich die R. je wieder in den Armen halten & küssen können? Und muß auch darauf gefaßt sein & mich damit aussöhnen können daß es nicht geschehen wird. Page 27
Stil ist der Ausdruck einer allgemein menschlichen Notwendigkeit. Das gilt vom Schreibstil wie vom Baustil (und jedem anderen). Page 27
Stil ist die allgemeine Notwendigkeit sub specie eterni gesehen. Page Break 28
Gretl machte einmal über Klara Schumann eine sehr gute Bemerkung: wir sprachen darüber daß es ihr – wie es uns scheint – an irgend etwas Menschlichem gefehlt haben muß, über ihre Prüderie etc. Da sagte Gretl[29] „sie war eben nicht was die Ebner Eschenbach war“ und das sagt alles. Page 28
Loos, Spengler, Freud & ich gehören alle in dieselbe Klasse die für diese Zeit charakteristisch ist. Page 28
12. Ich habe immer Angst vor meinen Vorlesungen obwohl es bis jetzt immer ziemlich gut gegangen ist. Diese Angst besitzt mich dann wie eine Krankheit. Es ist übrigens nichts anderes als Prüfungsangst. Page 28
Die Vorlesung war mäßig. Ich bin eben schon müde. Keiner meiner Hörer ahnt wie mein Gehirn arbeiten muß um das zu leisten, was es leistet. Wenn meine Leistung nicht erstklassig ist, so ist sie doch das Äußerste was ich leisten kann. Page 28
16. [30] Ich glaube es gehört heute Heroismus dazu die Dinge nicht als Symbole im Krausschen Sinn zu sehen. Das heißt sich freizumachen von einer Symbolik, die zur Routine werden kann. Das heißt freilich nicht versuchen sie
wieder flach zu sehen sondern die Wolken des, sozusagen, billigen Symbolismus in einer höheren Sphäre wieder zu verdampfen (so daß die Luft wieder durchsichtig wird) Page 28
Es ist schwer sich diesem Symbolismus heute nicht hinzugeben. Page 28
Mein Buch die log.phil. Abhandlung enthält neben gutem & echtem auch Kitsch d.h. Stellen mit denen ich Lücken ausgefüllt habe und sozu[31]sagen in meinem eigenen Stil. Wie viel von dem Buch solche Stellen sind weiß ich nicht & es ist schwer es jetzt gerecht zu schätzen. Page 28
Ein Mann mit mehr Talent als ich ist ist es leicht mehr Talent zu haben als ich.
der, der dann†1
wacht, wenn†2
26.5. ich schlafe. Und ich schlafe viel, darum
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2.10. Page Break 29 Page 29
In Cambridge angekommen. Fuhr von Wien am 26ten ab & zu Tante Clara in Thumersbach & wenn es auch nicht so rein herrlich dort bei ihr war wie sonst in Laxenburg so war es doch schön & ich schied mit guten Gefühlen. Am 27ten abend kam ich in Gottlieben an & da war es erst gespannt da so viel[32] unaufgeklärtes in der Luft lag & wir saßen im Auto in dem sie mich abholte & beim Abendessen still oder von gleichgültigen Dingen redend. Und stockend, oder gezwungen fließend wie man es tut wenn eigentlich schwere Sachen im Innern drücken. Nach dem Nachtmal fing ich an über ihren letzten Brief zu reden. Ich sagte daß mir ein gewisser Ton von Triumph an ihm als unrichtig aufgefallen sei. Daß sie wenn alles in Ordnung wäre nicht in triumphalem Ton geschrieben hätte weil sie dann auch die Schwierigkeiten gesehen hätte & das Angenehme als eine Gnade des Himmels angenommen hätte. Ich bat sie so bald als möglich nach[33] Wien zu kommen & dort zu arbeiten. Erst als wir (besonders ich) schon ziemlich viel geredet hatten sah ich daß sie sehr unglücklich sei. Im Grunde war der Gedanke an das Heiraten in ihr obenauf. Das schien für sie doch die einzige wirkliche Lösung. Das brauche sie & sonst nichts. Ich bat sie Geduld zu haben. es werde sich das Richtige – ihr angemessene – für sie finden. Sie solle jetzt vor allem einmal wieder anständig arbeiten & das weitere abwarten. Erst bei einer anständigen Arbeit werde ihr alles klarer & leichter erträglich werden. – Sie war bei diesem Gespräch wieder recht fremd gegen mich wich meinen Küssen eher aus &[34] sah oft geradezu finster drein & blickte dabei zur Seite was ich an ihr nie gesehen hatte & mich gleichsam erschreckte. Sie schien kalt gegen mich, bitter, & unglücklich & beinahe abweisend. Am nächsten Morgen war es etwas besser. Wir gingen spazieren & plauderten einiges & sie war zugänglicher & herzlicher. Sie war jetzt entschieden dafür nach Wien zu gehen & schien im Allgemeinen ruhiger. Am Abend aber nach einem weiteren ernsten Gespräch fing sie an zu weinen. Ich hielt sie in meinen Armen & sie weinte an meiner Schulter. Es war aber ein gutes Weinen & sie war darauf weicher & etwas erleichtert. Am nächsten Morgen entschied ich mich noch einen Tag zu bleiben[35] gegen meinen ursprünglichen Plan. Ich hatte das Gefühl es werde für sie (& überhaupt) gut sein Auch sie war – glaube ich – froh darüber. Am Nachmittag gingen wir nach Konstanz um ein Paket mit zwei Sweatern aufzugeben die sie für Talla gestrickt hatte. Ich mußte eine Page Break 30
gewisse Eifersucht oder doch ein ähnliches Gefühl unterdrücken. War es deshalb oder vielleicht eine Reaktion auf die früheren Aufregungen (denn alles war ungeheuer anstrengend für mich) ich fühlte eine lebhafte Verstimmung auf dem Nachhauseweg & es kam mir immer etwas zum Weinen. Ich bat M. vorauszugehen & kam später nach. Es erleichterte mich allein sein zu können. Zuhause hatte[36] ich noch immer Herzklopfen & zog mich in mein Zimmer zurück wo ich mich etwas elend fühlte. Dann kam ich, noch immer aufgeregt zu M. in den Salon wo wir gewöhnlich beisammen saßen. Sie war über meinen Zustand etwas bestürzt (ängstlich) aber er wurde bald besser vielleicht auch weil ich ihre Teilnahme fühlte. Am Abend dieses Tages war unser Verhältnis so gut & innig wie in früheren Tagen. Ich hielt sie in den Armen & wir küßten uns lange & ich war froh geblieben zu sein. Am nächsten Tag aber kam ein Brief von Talla & der erzeugte einen Umschwung, oder Rückschlag in der Stimmung. Am Nachmittag[37] ruderte ich sie auf den Rhein zu einer kleinen Insel wo viel Schilf wächst wie dort überall & ruderte ins Schilf hinein was ich sehr liebe. Und dort saßen wir im Boot & redeten lange über unser Verhältnis zu einander. Sie sagte wie wenig ich ihr bedeute wenn ich abwesend sei. Und daß sie überhaupt ihr Verhältnis zu mir nicht begriffe. Daß sie sich z.B. von mir küssen lasse & mich küsse, wovor sie bei jedem anderen zurückscheuen würde, & nicht versteht warum sie es bei mir kann. Ich erklärte ihr manches so gut ich konnte. Wir fuhren mit einander nach Basel wo sie zu tun hat & mit mir am Bahnhof wartete bis mein Zug nach[38] Boulogne abging. Während dieser Fahrt nach Basel nun verschlechterte sich ihre Stimmung immer mehr. Sie wurde wieder finster & traurig. Ob durch den Inhalt von Tallas
Brief oder nur dadurch daß er überhaupt gekommen war & sie an ihre vergeblichen Wünsche mahnte, weiß ich nicht. Ich hielt ununterbrochen ihre Hand & sprach von Zeit zu Zeit in sie ein nur um ihr – wenn auch†1 unbewußt – eine geringe Stütze zu geben. Beim letzten Abschied küssten wir uns aber ich fuhr mit schwerem Herzen fort & mit dem Gefühl sie in keinem guten Zustand zurückzulassen. Ich kam gestern nachmittag in London an & fuhr gleich zu Murakami dessen[39] gute & herzliche Art mir half. Dann brachte ich den Abend mit Gilbert zu Page Break 31
& wir waren eigentlich lustig wenn mich auch mein schweres Gefühl nie verließ wie es natürlich ist. Heute vormittag schrieb ich einen langen Brief an Gretl worin ich so gut ich konnte das Ergebnis meines Aufenthalts bei M. & den Aufenthalt selbst beschrieb. Dann nach Cambridge wo ich bei Lettice wohne die sehr freundlich & gut mit mir ist. Ich erzählte ihr von Marguerite & unseren Schwierigkeiten. – Ich bin mir über die Bedeutung aller meiner Erlebnisse mit M. sehr im Unklaren. Ich weiß nicht wohin das führen soll, noch was ich tun soll um es in der besten Weise zu beeinflussen und auch mein Egoismus spielt[40] in meine Gedanken hinein & verwirrt vielleicht alles am meisten obwohl ich das nicht klar sehe. Page 31
3. An M. geschrieben. Ich halte ihr – in Gedanken – die Hand, wie ich es auf der Fahrt nach Basel tat, obwohl ich wußte daß sie nicht an mich dachte, nur damit sie unbewußt eine Stütze oder Hilfe hat. Oder sich vielleicht einmal mit guten Gefühlen daran erinnert. Page 31
4. Bin traurig in dem Gedanken M. nicht helfen zu können. Ich bin sehr schwach & wetterwendisch. Wenn ich stark bleibe d G.H. werde ich ihr vielleicht dadurch helfen können. – Es ist möglich, daß, was sie braucht, vor allem ein starker & fester Pflock ist der stehen[41] bleibt, wie sie auch flattert. Ob ich die Kraft dazu haben werde? Und die nötige Treue? Möge mir Gott das Nötige geben. Page 31
Ich sollte mich nicht wundern wenn die Musik der Zukunft einstimmig wäre. Oder ist das nur, weil ich mir mehrere Stimmen nicht klar vorstellen kann? Jedenfalls kann ich mir nicht denken daß die alten großen Formen (Streichquartett, Symphonie, Oratorium etc) irgend eine Rolle werden spielen können. Wenn etwas kommt so wird es – glaube ich – einfach sein müssen, durchsichtig. Page 31
In gewissem Sinne nackt. Page 31
Oder wird das nur für eine gewisse Rasse, nur für eine Art der Musik gelten? Page 31
7.10. [42] Suche nach Wohnung & fühle mich elend & unruhig. Unfähig mich zu sammeln. Habe keinen Brief von M. bekommen & auch das beunruhigt mich. Schrecklich daß es keine Möglichkeit gibt ihr zu helfen oder daß ich Page Break 32
doch nicht weiß wie ihr zu helfen ist.†1 Ich weiß nicht welches Wort von mir ihr gut tun würde oder ob es das Beste für sie wäre nichts von mir zu hören. Welches Wort wird sie nicht mißverstehen? Auf welches wird sie hören? Man kann beinahe immer auf beide Arten antworten & muß es endlich Gott überlassen. Page 32
Ich habe manchmal über mein seltsames Verhältnis zu Moore nachgedacht. Ich achte ihn hoch[43] & habe eine gewisse nicht geringe Zuneigung zu ihm. Er dagegen? Er schätzt meinen Verstand, mein philosophisches Talent hoch, d.h. er glaubt daß ich sehr gescheidt bin aber seine Zuneigung zu mir ist wahrscheinlich recht gering. Und ich konstruiere dies mehr als ich es fühle, denn er ist freundlich zu mir, wie zu jedem & wenn er hierin mit verschiedenen Leuten verschieden ist so merke ich doch den Unterschied nicht weil ich gerade diese Nuance nicht verstehe. Ich bin aktiv oder aggressiv er aber passiv & darum merke ich während unseres Verkehrs gar nicht wie fremd ich ihm bin. Ich erinnere mich darin an meine Schwester Helene der es mit Menschen geradeso geht. Es kommt dann die peinliche[44] Situation heraus daß man fühlt man habe sich den Menschen aufgedrängt ohne daß man es wollte oder wußte. Plötzlich kommt man darauf daß man mit ihnen nicht so steht wie man annahm weil sie die Gefühle nicht erwidern die man ihnen entgegenträgt†2; man hat es aber nicht bemerkt da die Verschiedenheit der Rollen in diesem Verkehr auf jeden Fall so groß ist daß sich dahinter Nuancen von Zuneigung & Abneigung leicht verstecken können. Ich fragte Moore heute, ob er sich freue wenn ich zu ihm regelmäßig (wie im vorigen Jahr) komme & sagte ich werde nicht gekränkt sein wie immer die Antwort ausfalle. Er sagte es sei ihm selbst nicht klar & ich: er solle sich’s überlegen & mir mitteilen; was er versprach. Ich sagte[45] ich könne nicht versprechen daß mich die Antwort nicht traurig machen, wohl aber daß sie mich nicht kränken werde. – Und ich glaube daß es Gottes
Wille mit mir ist, daß ich das hören & es tragen soll. Page Break 33 Page 33
Immer wieder glaube ich daß ich eine Art†1 Peter Schlemihl bin, oder sein soll & wenn dieser Name soviel wie Pechvogel heißt, so bedeutet das, daß er durch das äußere Unglück glücklich werden soll.†2 Page 33
8.10. In der neuen Wohnung, sie paßt mir noch nicht, wie ein neuer Anzug. Ich fühle mich kalt & ungemütlich. Schreibe das nur um etwas zu schreiben & mit mir selbst zu reden. Ich könnte sagen: jetzt bin ich endlich mit[46] mir allein & muß nach & nach mit mir ins Gespräch kommen. Page 33
In der großstädtischen Zivilisation†3 kann sich der Geist nur in einen Winkel drücken. Dabei ist er aber nicht etwa atavistisch & überflüssig sondern er schwebt über der Asche der Kultur als (ewiger) Zeuge – – quasi als Rächer der Gottheit.†4 Page 33
Als erwarte er eine†5 neue Verkörperung (in einer neuen Kultur) Page 33
Wie müßte der große Satiriker dieser Zeit ausschauen? Page 33
Es ist 3 Wochen seit ich an Philosophie gedacht habe aber jeder Gedanke an sie ist mir so fremd als hätte ich durch Jahre nichts solches[47] mehr gedacht. Ich will in meiner ersten Vorlesung über die spezifischen Schwierigkeiten der Philosophie sprechen & habe das Gefühl: wie kann ich darüber etwas sagen, ich kenne sie ja gar nicht mehr. Page 33
9. Obwohl ich bei recht freundlichen Leuten bin (oder gerade deshalb?) fühle ich mich andauernd gestört – obwohl sie mich nicht tätlich stören – & kann nicht zu mir kommen. Das ist ein scheußlicher Zustand. Jedes Wort das ich sie sprechen höre stört mich. Ich fühle mich umgeben & verhindert zum Arbeiten†6 zu kommen. Page Break 34 Page 34
Ich fühle mich in meinem Zimmer nicht allein sondern exiliert. Page 34
16. [48] Fühle mich im allgemeinen etwas besser. Für mich arbeiten kann ich noch nicht, & das macht zum Teil der Zwiespalt in mir der englischen & deutschen Ausdrucksweise. Ich kann nur dann wirklich arbeiten, wenn ich mich andauernd deutsch mit mir unterhalten kann. Nun muß ich aber für meine Vorlesungen die Sachen englisch zusammenstellen & so bin ich in meinem deutschen Denken gestört; wenigstens bis sich ein Friedenszustand zwischen den beiden gebildet hat & das dauert einige Zeit, vielleicht sehr lang. Page 34
Ich bin im Stande es mir in allen Lagen einzurichten. Wenn ich in eine neue Wohnung komme unter andere Umstände so trachte ich mir so[49]bald als möglich eine Technik zurechtzulegen um die verschiedenen Unbequemlichkeiten zu ertragen & Reibungen zu vermeiden: Ich richte es mir in den gegebenen Umständen ein. Und so richte ich es mir nach & nach auch mit dem Denken ein nur daß das nicht einfach durch einen gewissen Grad von Selbstüberwindung & Verstand†1 geht. Sondern es muß sich von selbst herausbilden & zurechtlegen. Wie man endlich doch in dieser gezwungenen Lage einschläft. Und arbeiten können ähnelt in so vieler Beziehung dem einschlafen können. Wenn man an Freuds Definition des Schlafs denkt so könnte man sagen daß es sich in beiden Dingen um eine Truppenverschiebung des Interesses handelt. (Im einen Fall um ein bloßes[50] Abziehen im andern um ein Abziehen, & Conzentrieren an einer Stelle) Page 34
Moore hat meine Frage später dahin†2 beantwortet, daß er mich zwar nicht eigentlich gern habe, daß mein Umgang ihm aber so gut tut daß er glaubt ihn fortsetzen zu sollen. Das ist ein eigentümlicher Fall. Page 34
Ich werde überhaupt mehr geachtet als geliebt. (Und das erstere natürlich nicht mit recht) während einiger Grund bestünde mich gern zu haben. Page Break 35
Page 35
Ich glaube daß mein Denkapparat außergewöhnlich kompliziert & fein gebaut ist & darum mehr als gewöhn[51]lich empfindlich. Vieles stört ihn, setzt ihn außer Aktion was einen gröberen Mechanismus nicht stört. Wie ein Stäubchen ein feines Instrument zum Stillstand bringen kann aber ein gröberes nicht beeinflußt Page 35
Es ist merkwürdig, seltsam, wie sehr es mich beglückt wieder irgend etwas über Logik schreiben zu können obwohl meine Bemerkung gar nicht besonders inspiriert ist. Aber das bloße mit ihr allein beisammen sein zu können gibt mir das Glücksgefühl. Wieder geborgen, wieder zu Hause, wieder in der Wärme sein zu können ist es wonach mein Herz sich sehnt & was ihm so wohl tut. Page 35
18. Die Manier im Schreiben ist eine Art Maske hinter der das Herz seine Gesichter schneidet wie es will. Page 35
[52]
Echte Bescheidenheit ist eine religiöse Angelegenheit.
Page 35
19. Wenn man mit Leuten redet die einen nicht wirklich verstehen, fühlt man immer das man has made a fool of oneself†1, wenigstens ich. Und das geschieht mir hier immer wieder. Man hat die Wahl zwischen völliger Fremdheit & dieser unangenehmen Erfahrung. Und ich könnte ja sagen: Ich habe doch den einen oder den anderen Menschen auch hier mit denen ich reden kann ohne in diese Gefahr zu kommen; & warum ziehe ich mich von den anderen nicht ganz zurück? Aber das ist schwer & mir unnatürlich. Die Schwierigkeit ist mit einem Menschen freundlich zu sprechen ohne Punkte[53] zu berühren in denen man sich nicht verstehen kann. Ernst zu sprechen & so daß keine unwesentliche Sache die zu Mißverständnissen führen muß berührt wird. Es ist mir beinahe unmöglich. Page 35
22. Unsere Zeit ist wirklich eine Zeit der Umwertung aller Werte. (Die Prozession der Menschheit biegt um eine Ecke & was früher die Richtung nach oben war ist jetzt die Richtung nach unten etc.) Hat Nietzsche das Page Break 36
im Sinne gehabt was jetzt geschieht & besteht sein Verdienst darin es vorausgeahnt & ein Wort dafür gefunden zu haben? Page 36
Es gibt auch in der Kunst Menschen die glauben ihr ewiges Leben durch gute Werke erzwingen zu können & solche die sich der[54] Gnade in die Arme werfen. Page 36
Wenn mir etwas fehlt etwa eine Halsentzündung wie heute so werde ich gleich sehr ängstlich, denke, was wird werden wenn es schlimmer wird & ich einen Doktor brauche & die Doktoren hier sind nichts wert & ich muß vielleicht auf lange meine Vorlesungen einstellen etc – als ob der liebe Gott mit mir einen Kontrakt abgeschlossen hätte daß er mich ungestört hier läßt. Wenn ich solche Angst bei Anderen sehe, so sage ich „das muß man eben hinnehmen“; es fällt mir aber selbst sehr schwer mich auf’s Hinnehmen einzustellen statt auf’s Genießen. Page 36
Man sieht gerne den Helden im Anderen als Schauspiel (das uns geboten wird) aber selbst einer zu sein auch nur[55] im Geringsten schmeckt anders. Page 36
Im durchscheinenden Licht hat das Heldentum eine andere Farbe als im auffallenden. (schlecht) Page 36
Der Unterschied ist eher der zwischen einer gesehenen & einer gegessenen Speise. Weil hier das Erlebnis wirklich ein gänzlich anderes ist. Page 36
1.11. Was mich im Schlafen stört stört mich auch im Arbeiten. Pfeifen & Sprechen aber nicht das Geräusch von Maschinen oder doch viel weniger. Page 36
9. Patriotismus ist die Liebe zu einer Idee. Page 36
16. Der Schlaf & die geistige Arbeit entsprechen einander in vieler Beziehung. Offenbar dadurch daß beide ein
Ab[56]ziehen der Aufmerksamkeit von gewissen Dingen enthalten. Page 36
26, Ein Wesen, das mit Gott in Verbindung steht, ist stark Page 36
16.1.31. Page Break 37 Page 37
Es ist in meinem Leben eine Tendenz dieses Leben zu basieren auf der Tatsache daß ich viel gescheiter bin als die Anderen†1 Wenn aber diese Annahme zusammenzubrechen droht wenn ich sehe um wie wenig gescheiter ich bin als andere Menschen dann werde ich erst gewahr wie falsch diese Grundlage überhaupt ist auch wenn die Annahme richtig ist oder wäre. Wenn ich mir sage: ich muß mir erst[57] einmal vorstellen daß alle anderen Menschen ebenso gescheit sind wie ich – womit ich mich gleichsam des Vorteils der Geburt, des ererbten Reichtums begebe. – und dann wollen wir sehen wie weit ich durch die Güte allein komme, wenn ich mir dies sage so werde ich mir meiner Kleinheit bewußt. Page 37
Oder soll ich so sagen: Wieviel von dem was ich geneigt bin an mir für das Abzeichen eines Charakters zu halten ist blos das Resultat eines schäbigen Talents! Page 37
Es ist beinahe ähnlich als sähe man sich die Tapferkeits[58]medaillen an seinem Kriegsrock an & sagte sich: „ich bin doch ein ganzer Kerl“ Bis man dieselben Medaillen an vielen Leuten bemerkt & sich sagen muß daß sie gar nicht der Lohn der Tapferkeit waren sondern die Anerkennung eines bestimmten Geschicks. Page 37
Immer wieder, wo ich mich gern als Meister fühlen möchte, komme ich mir wie ein Schuljunge vor. Page 37
Wie ein Schuljunge der geglaubt hat viel zu wissen & draufkommt daß er im Verhältnis zu Anderen gar nichts weiß. Page 37
Samstag 17. Es fällt mir schwer zu[59] arbeiten d.h. meine Vorlesung vorzubereiten – obwohl es höchste Zeit ist – weil meine Gedanken bei meinem Verhältnis zur Marguerite sind. Einem Verhältnis bei dem ich beinahe nur aus dem was ich gebe Befriedigung schöpfen kann. Ich muß Gott bitten daß er mich arbeiten läßt. Page 37
27. Page Break 38 Page 38
Die Musik der vergangenen†1 Zeiten entspricht immer gewissen Maximen des guten & rechten der selben Zeit. So erkennen wir in Brahms die Grundsätze Kellers etc etc. Und darum muß gute†2 Musik die heute oder vor kurzem gefunden wurde, die also modern ist, absurd erscheinen, denn wenn sie irgend einer der heute ausgesprochenen Maximen[60] entspricht so muß sie Dreck sein. Dieser Satz ist nicht leicht verständlich aber es ist so: Das Rechte heute zu formulieren dazu ist so gut wie niemand gescheit genug & alle Formeln, Maximen die ausgesprochen werden sind Unsinn. Die Wahrheit würde allen Menschen ganz paradox klingen. Und der Komponist der sie in sich fühlt muß mit seinem Gefühl im Gegensatz stehen zu allem jetzt Ausgesprochenen & muß also nach den gegenwärtigen Maßstäben absurd, blödsinnig, erscheinen. Aber nicht anziehend absurd (denn das ist das was doch im Grunde der heutigen Auffassung entspricht) sondern nichtssagend. Labor ist dafür ein Beispiel dort wo er wirklich[61] bedeutendes geschaffen hat wie in einigen, wenigen, Stücken. Page 38
Man könnte sich eine Welt denken in der die religiösen sich von den irreligiösen Menschen nur dadurch unterschieden daß jene den Blick beim Gehen gegen oben gerichtet hätten während diese gradaus sähen. Und hier ist das Hinaufschauen tatsächlich mit einer unserer religiösen Gesten verwandt, das ist aber nicht wesentlich & es könnten auch umgekehrt die religiösen Menschen gradaus sehen etc. Ich meine daß Religiosität in diesem Fall gar nicht durch Worte ausgedrückt erschiene & jene Gesten doch ebenso viel & so wenig sagten wie die Worte unserer religiösen Schriften. Page 38
1.2. [62] Meine Schwester Gretl machte einmal eine ausgezeichnete Bemerkung über Clara Schumann Wir sprachen von einem Zug von Prüderie in ihrer Persönlichkeit & daß ihr irgend etwas fehle & Gretl sagte : „sie hat das nicht
was die Ebner Eschenbach hat“. Und das faßt alles zusammen. Page 38
Kann man sagen: es fehlte ihr Genie? – Labor erzählte mir einmal sie habe in seiner Gegenwart einen Zweifel darüber geäußert daß ein Blinder das & Page Break 39
das in der Musik könne. Ich weiß nicht mehr was es war. Labor war offenbar entrüstet darüber & sagte mir „er kann es aber doch“. Und ich dachte: wie charakteristisch[63] bei allem Takt den sie gehabt haben muß eine halb bedauernde halb geringschätzige Bemerkung über einen blinden Musiker zu machen. – Das ist schlechtes neunzehntes Jahrhundert, die Ebner Eschenbach hätte das nie getan. Page 39
5. Wir sind in unserer Haut gefangen. Page 39
7. Ich brauche außerordentlich viel Energie um meinen Unterricht geben zu können. Dies sehe ich, wenn ich im Geringsten schlaff bin & gleich unfähig mich für die Vorlesung vorzubereiten. Page 39
Die drei Variationen vor dem Eintritt des Chors in der[64] 9ten Symphonie könnte man den Vorfrühling der Freude, ihren Frühling und ihren Sommer nennen. Page 39
Wenn mein Name fortleben wird dann nur als der Terminus ad quem der großen abendländischen Philosophie. Gleichsam wie der Name dessen der die Alexandrinische Bibliothek verbrannt†1 hat. Page 39
8. Ich neige etwas zur Sentimentalität. Und nur keine sentimentalen Beziehungen. – Auch nicht zur Sprache. Page 39
Nichts scheint mir dem Gedächtnis eines Menschen für immer abträglicher als Selbstgerechtigkeit. Auch dann wenn sie im Gewand der Bescheidenheit auftritt. Page 39
[65]
Ich werde mit†2 steigendem Alter mehr & mehr logisch kurzsichtig.
Page 39
Meine Kraft zum Zusammensehen schwindet. Und mein Gedanke wird kurzatmiger. Page 39
Die Aufgabe der Philosophie ist, den Geist über bedeutungslose Fragen zu Page Break 40
beruhigen. Wer nicht zu solchen Fragen neigt der braucht die Philosophie nicht. Page 40
9. Meine Gedanken sind so vergänglich, verflüchtigen sich so geschwind, wie Träume, die unmittelbar nach dem Erwachen aufgezeichnet werden müssen, wenn sie nicht gleich vergessen werden sollen. Page 40
10 Der Mathematikprofessor Rothe[66] sagte mir einmal daß durch die Wirksamkeit Wagners Schumann um einen großen Teil seiner rechtmäßigen Wirkung gekommen sei. – Es ist viel wahres in diesem Gedanken. Page 40
13. Lesen betäubt meine Seele. Page 40
Brot & Spiele, aber auch Spiele in dem Sinn in dem die Mathematik ja auch die Physik ein Spiel ist. Es sind immer Spiele worauf ihr Geist aus ist in den Künsten, im Laboratorium wie auf dem Fußballplatz. Page 40
14. Man kann den Magen an wenig Nahrung gewöhnen aber nicht den Körper; der leidet an der Unternahrung selbst wenn der Magen keinen Einspruch mehr erhebt, ja sogar schon[67] mehr Nahrung von sich weisen würde. Ähnlich nun geht es mit dem Ausdruck der Gemütsbewegung: Zuneigung, Dankbarkeit etc. Man kann diese Äußerungen künstlich eindämmen bis man vor dem was früher natürlich war zurückscheut aber der übrige seelische Organismus leidet durch die Unternährung.
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19. Jede mögliche kleinste & größte Erbärmlichkeit kenne ich weil ich selbst sie begangen habe. Page 40
20. Die meisten Menschen folgen in ihrer Handlungsweise der Linie des geringsten Widerstandes; und so auch ich. Page 40
22 Hamann sieht Gott wie einen Teil der Natur an & zugleich wie die Natur. Page 40
Und ist damit nicht das religiöse[68] Paradox ausgedrückt: „Wie kann die Natur ein Teil der Natur sein?“ Page Break 41 Page 41
Es ist merkwürdig: Moses Mendelsohn erscheint in seinen Briefen an Hamann schon wie ein Journalist. Page 41
Der Verkehr mit Autoren wie Hamann, Kierkegaard, macht ihre Herausgeber anmaßend. Diese Versuchung würde der Herausgeber des Cherubinischen Wandersmannes nie fühlen noch auch der Confessionen des Augustin oder einer Schrift Luthers. Page 41
Es ist wohl das, daß die Ironie eines Autors den Leser anmaßend zu machen geneigt ist. Page 41
Es ist dann etwa so: sie sagen sie wissen daß sie nichts wissen bilden sich aber auf diese Erkenntnis enorm viel ein. Page 41
Ein natürliches Sittengesetz interessiert mich nicht; oder doch nicht mehr als jedes andere Naturgesetz & nicht mehr als dasjenige wonach ein Mensch das Sittengesetz übertritt. Wenn das Sittengesetz natürlich ist so bin ich geneigt den Übertreter in Schutz zu nehmen. Page 41
25. Die Idee daß jemand heute vom Katholizismus zum Protestantismus oder vom Protestantismus zum Katholizismus übertritt ist mir peinlich (wie vielen Andern). (In jedem der beiden Fälle in anderer Art). Es wird eine Sache die (jetzt) nur als Tradition Sinn haben kann gewechselt wie eine Überzeugung. Es ist als wollte einer die Bestattungsgebräuche unseres†1 Landes mit denen eines andern†2 vertauschen. – Wer vom Protestantismus zum Katholizismus übertritt erscheint mir wie ein geistiges Monstrum. Kein guter katholischer Pfarrer hätte das[70] getan wenn er als Nicht-Katholik geboren worden wäre. Und der entgegengesetzte Übertritt zeigt von einer abgründigen Dummheit. Page 41
Vielleicht beweist der erste eine tiefere, der andere eine seichtere Dummheit. Page 41
1.3. Page Break 42
Habe jetzt Grund, anzunehmen daß Marguerite sich nicht besonders viel aus mir macht. Und da geht es mir sehr seltsam. Eine Stimme in mir sagt: Dann ist es aus, & Du must verzagen. – Und eine andre sagt: Das darf Dich nicht unterkriegen, darauf mußtest Du rechnen, & Dein Leben kann sich nicht darauf aufbauen, daß ein, wenn auch sehr gewünschter Fall, eintritt. Page 42
Und die letztere Stimme hat recht, nur ist es eben dann der Fall eines Menschen der lebt & von[71] Schmerzen gepeinigt ist. Er muß kämpfen, damit ihm die Schmerzen das Leben nicht verleiden. Und dann hat man Angst vor den Zeiten der Schwäche. Page 42
Diese Angst ist freilich selbst nur eine Schwäche, oder Feigheit. Page 42
Man will eben immer gerne ruhen, aber nicht kämpfen müssen. G.m.i.! Page 42
Wer nicht das Liebste am Schluß in die Hände der Götter legen kann sondern†1 immer selbst daran
herumbasteln will, der hat doch nicht die richtige Liebe dazu. Das nämlich ist die Härte die in der Liebe sein soll. (Ich denke an die „Hermannschlacht“ & warum Hermann nur einen Boten zu seinem Verbündeten schicken will.) Page 42
Gewisse Vorsichtsmaßregeln nicht zu ergreifen ist nicht bequem,[72] sondern das Unbequemste von der Welt. Page 42
Beethoven ist ganz & gar Realist; ich meine, seine Musik ist ganz wahr, ich will sagen: er sieht das Leben ganz wie es ist & dann erhebt er es. Es ist ganz Religion & gar nicht religiöse Dichtung. Drum kann er in wirklichen Schmerzen trösten wenn die Andern versagen & man sich bei ihnen sagen muß: aber so ist es ja nicht. Er wiegt in keinen schönen Traum ein sondern erlöst die Welt dadurch daß er sie als Held sieht, wie sie ist. Page 42
Luther war kein Protestant. Page 42
2. Ich bin außerordentlich feig, & ich benehme mich im Leben, wie der Feige in der Schlacht. Page 42
7. [73] Bin von der Arbeit der letzten Monate ermüdet & von der peinigenden Angelegenheit mit Marguerite ganz geschlagen. Ich sehe hier eine Tragödie voraus. Und doch gibt es nur eines: sein Bestes tun & weiter arbeiten. Page 42
11.3. Page Break 43
Eine ausgezeichnete Bemerkung Engelmanns die mir oft wieder einfällt: Während des Baues in der Zeit als wir noch zusammen arbeiteten sagte er mir nach einer Unterredung mit dem Bauunternehmer: „Sie können mit diesem Menschen nicht Logik reden!“ – Ich: „Ich werde ihm Logik beibringen“ – Er: „Und er wird Ihnen Psychologie beibringen.“ Page 43
6.5. Ein Apostel sein ist ein Leben. Es äußert sich wohl zum Teil in dem was er sagt, aber[74] nicht darin daß es wahr ist, sondern darin daß er es sagt. Für die Idee leiden macht ihn aus, aber auch hier gilt es, daß der Sinn des Satzes „dieser†1 ist ein Apostel“ die Art seiner Verification ist. Einen Apostel beschreiben heißt ein Leben beschreiben. Der Eindruck den diese Beschreibung auf Andere macht muß man Diesen überlassen. An einen Apostel glauben heißt, sich zu ihm so & so zu verhalten – tätig zu verhalten. Page 43
Wenn man sich nicht mehr ärgern will, muß auch die Freude eine andre werden, sie darf nicht mehr das sein was das Correlat[75] zum Ärger ist. Page 43
Zu Kierkegaard: Ich stelle Dir ein Leben dar & nun sieh, wie Du Dich dazu verhältst, ob es Dich reizt (drängt) auch so zu leben, oder welches andere Verhältnis Du dazu gewinnst. Ich möchte gleichsam†2 durch diese Darstellung dein Leben auflockern. Page 43
In wieweit mein Denken ein Flug ist, ist gleichgültig (d.h. ich weiß es nicht & räsoniere darüber nicht). Es ist ein Schwung. – Page 43
„Es ist gut, weil es Gott so befohlen hat“ ist der richtige Ausdruck für die Grundlosigkeit Page 43
[76] Ein ethischer Satz lautet „Du sollst das tun!“ oder „Das ist gut!“ aber nicht „Diese Menschen sagen das sei gut“. Ein ethischer Satz ist aber eine persönliche Handlung. Keine Konstatierung einer Tatsache. Wie ein†3 Ausruf Page Break 44
der Bewunderung. Bedenke doch daß die Begründung des „ethischen Satzes“ nur versucht den Satz auf andere zurückzuführen die Dir einen Eindruck machen. Hast Du am Schluß keinen Abscheu vor diesem & keine Bewunderung für jenes so gibt es keine Begründung die diesen Namen verdiente. Page 44
Kompositionen die am Klavier, auf dem Klavier, komponiert[77] sind, solche, die mit der Feder denkend & solche die mit dem inneren Ohr allein komponiert sind, müssen einen ganz verschiedenen Charakter tragen, & einen Eindruck ganz verschiedener Art erzeugen. Page 44
Ich glaube bestimmt, daß Bruckner mit dem inneren Ohr & einer Vorstellung vom spielenden Orchester, Brahms mit der Feder komponiert hat. Das ist natürlich viel einfacher dargestellt, als es ist. Eine Charakteristik aber ist damit getroffen. Page 44
Aus der Notenschrift der Komponisten müßte man sich hierüber Aufschluß holen können. Und wirklich war, glaube ich, die Noten[78]schrift Bruckners ungeschickt & schwerfällig. Page 44
Bei Brahms die Farben des Orchesterklanges Farben von Wegmarkierungen. Page 44
Eine Tragödie könnte doch immer anfangen mit den Worten: „Es wäre gar nichts geschehen, wenn nicht ...“. Page 44
(Wenn er nicht mit einem Zipfel seines Kleides in die Maschine geraten wäre?) Page 44
Aber ist das nicht eine einseitige Betrachtung der Tragödie, die sie nur zeigen läßt, daß eine Begegnung unser ganzes Leben bestimmen kann.†1 Page 44
Ich glaube, daß es heute ein Theater geben könnte, wo mit Masken gespielt würde. Die Figuren wären eben stilisierte Menschen-Typen. In den Schriften Page Break 45
Kraus’s ist das deutlich zu sehen. Seine Stücke könnten, oder müßten, in Masken aufgeführt werden. Dies entspricht natürlich einer gewissen Abstraktheit dieser Produkte. Und das Maskentheater ist, wie ich es meine, überhaupt der Ausdruck eines spiritualistischen Charakters. Es werden daher (auch) vielleicht nur Juden zu diesem Theater neigen. Page 45
Der Gegensatz zwischen Komö[80]die & Tragödie wurde seinerzeit immer wie ein den dramatischen Raumbegriff†1 a priori teilender herausgearbeitet. Und es konnten einen dann gewisse Bemerkungen wundern, daß etwa die Komödie es mit Typen die Tragödie mit Individualitäten zu tun habe. In Wirklichkeit ist†2 Komödie & Tragödie kein Gegensatz so daß die eine das von der andern ausgeschlossene Stück des dramatischen Raumes wäre. (So wenig wie Moll & Dur solche Gegensätze sind.) Sondern sie†3 sind zwei von vielen möglichen Arten des Dramas, die nur einer bestimmten – vergangenen – Kultur als die einzigen erschienen sind†4. Der richtige Vergleich ist†5 der mit den modernen Tonarten. Page 45
[81] Es war charakteristisch für die Theoretiker der vergangenen Kulturperiode, das A-priori†6 finden zu wollen, wo es nicht war. Page 45
Oder, soll ich sagen, es war charakteristisch für die verg. Kulturperiode, den Begriff, des ‚a priori‘ zu schaffen†7. Page 45
Denn nie hätte sie diesen Begriff geschaffen wenn sie von vornherein die Sachlage†8 so gesehen hätte wie wir sie sehen. (Dann wäre der Welt ein großer – ich meine, bedeutender – Irrtum verloren gegangen.) Aber in Wirklichkeit kann man so gar nicht räsonieren, denn dieser Begriff war in der ganzen Kultur†9 begründet. Page Break 46 Page 46
Daß einer den Andern verachtet,[82] wenn schon unbewußt (Paul Ernst) heißt, es kann dem Verachtenden klargemacht werden, wenn man ihm eine bestimmte Situation, die in Wirklichkeit nie eingetreten ist (& wohl nie eintreten wird) vor die Augen stellt, & er zugeben muß, daß er dann so & so handeln – & dadurch der Verachtung Ausdruck geben – würde.†1 Page 46
Wenn man Wunder Christi etwa das Wunder auf der Hochzeit zu Kana so verstehen will wie Dostojewski es tat†2, dann muß man sie als Symbole auffassen. Die Verwandlung von Wasser in Wein ist höchstens erstaun[83]lich & wer es könnte den würden wir anstaunen aber mehr nicht. Es kann also nicht das das Herrliche sein. – Auch das ist nicht das Herrliche daß Jesus den Leuten auf der Hochzeit Wein verschafft & auch das nicht daß er den Wein ihnen†3 auf eine so unerhörte Weise zukommen läßt†4. Es muß das Wunderbare sein das dieser Handlung ihren Inhalt & ihre Bedeutung gibt. Und damit meine ich nicht das Außergewöhnliche, oder noch nie Dagewesene, sondern den†5 Geist in dem es getan†6 wird und für den die Verwandlung von Wasser in Wein nur ein Symbol ist (gleichsam) eine Geste. Eine Geste die (freilich) nur der machen kann der dieses Außerordentliche kann. Als[84] Geste, als Ausdruck muß das Wunder verstanden werden, wenn es zu uns reden soll. Ich könnte auch sagen: Nur
wenn er es tut der es in einem wunderbaren Geist tut ist es ein Wunder. Ohne diesen Geist ist es nur eine außerordentlich seltsame Tatsache.†7 Ich muß gleichsam den Menschen schon kennen um sagen zu können, daß es ein Wunder ist. Ich muß das Ganze schon in dem richtigen Geiste lesen, um das Wunder darin zu empfinden†8. Page Break 47 Page 47
Wenn ich im Märchen lese, daß eine Hexe einen Menschen in ein wildes Tier verwandelt, so ist es doch auch der Geist dieser Handlung, der auf mich†1 den Eindruck[85] macht. Page 47
(Man sagt von einem Menschen, wenn er könnte, er würde den Gegner†2 durch seinen Blick töten.) Page 47
Wenn die späten unter den großen Komponisten einmal in einfachen†3 harmonischen Fortgängen†4 schreiben, dann bekennen sie sich zu ihrer Stammutter.†5 Page 47
Mahler scheint mir gerade in diesen Momenten ( wenn die Andern am stärksten ergreifen) besonders unerträglich & ich möchte dann immer sagen: aber das hast Du ja nur von den Anderen gehört, das gehört ja nicht (wirklich) Dir. Page 47
Beschmutze alles mit meiner Eitelkeit. Page 47
Den Einen†6 bringt die Erziehung (das Erwerben der Bildung) nur in sein eigenes Gut. Er lernt damit quasi das väterliche Erbe kennen†7. Während der Andere dadurch ihm wesensfremde†8 Formen aufnimmt. Und da wäre es besser er bliebe ungebildet wenn auch noch so garstig & ungeschliffen†9. Page 47
Glücklich der, der nicht aus Feigheit gerecht sein will, sondern aus Gerechtigkeitsgefühl, oder aus Rücksicht für den Andern. – Meine Gerechtigkeit, wenn ich gerecht bin, entspringt meistens der Feigheit.†10 Page Break 48 Page 48
Übrigens verurteile ich die Gerechtigkeit nicht in mir, die sich etwa auf einer religiösen Ebene abspielt auf[87] die ich mich aus den schmutzigen Niederungen meiner Lust & Unlust flüchte. Diese Flucht ist recht wenn sie aus Furcht†1 vor dem Schmutz geschieht. Page 48
D.h., ich tue recht daran, wenn ich mich auf eine geistigere Ebene begebe auf der†2 ich ein Mensch sein kann – während Andere es auch auf einer ungeistigeren sein können. Page 48
Ich habe eben kein Recht in dem Stockwerk†3 wie sie & fühle auf ihrer Ebene mit Recht meine Inferiorität. Page 48
Ich muß in einer more raryfied atmosphere leben, gehöre dort hin; & sollte der Versuchung widerstehn mit Andern die es dürfen in der dichteren Luftschicht leben zu wollen. Page 48
Wie in der Philosophie verleiten uns†4 auch im Leben scheinbare Analogien (zu dem was der Andere tut oder tun darf). Und auch hier gibt es nur ein Mittel gegen diese Verführung: auf die leisen Stimmen horchen die uns sagen, daß es sich hier doch nicht so verhält wie dort. Page 48
Den letzten Grund (ich meine die letzte Tiefe) meiner Eitelkeit decke ich hier doch nicht auf. Page 48
Wenn ich von einer Tragödie (im Kino z.B.) ergriffen werde, dann sage ich mir immer: nein, so werde ich’s nicht tun! oder: nein, so soll es nicht sein. Ich möchte den Helden & alle trösten. Aber das heißt doch[89] nicht die Begebenheit als Tragödie verstehn. Drum versteh ich auch nur den guten Ausgang (im primitiven Sinn) Den Untergang des Helden verstehe ich – ich meine, mit dem Herzen – nicht. Ich will also eigentlich immer ein Märchen hören. (Darum auch meine Freude am Film) Und dort werde ich wirklich ergriffen & von Gedanken bewegt. D.h., er liefert mir wenn er Page Break 49
nicht zu fürchterlich schlecht ist immer Material für Gedanken & Gefühle. Page 49
Die Photographien meines Bruders Rudi haben etwas Oberländerisches, oder richtiger etwas vom Stil der
guten Zeichner der alten ‚Fliegenden Blätter‘. Page 49
Ein englischer Architekt oder Musiker (vielleicht überhaupt ein Künstler),[90] man kann beinahe sicher sein, daß er ein Humbug ist! Page 49
Ich kann die Qualität eines Malpinsels nicht beurteilen, ich verstehe nichts von Pinseln & weiß, wenn ich einen sehe, nicht ob er gut, schlecht oder mittelmäßig ist; aber ich bin überzeugt daß englische Malpinsel hervorragend gut sind. Und ebenso überzeugt, daß die Engländer nichts von Malerei verstehen. Page 49
Die Rohstoffe sind hier immer ausgezeichnet aber die Fähigkeit fehlt sie zu formen. D.h.: Die Menschen haben Gewissenhaftigkeit, Kenntnisse & Geschick aber nicht Kunst, noch feine Empfindung.†1 Page 49
Meine Selbsterkenntnis steht[91] so: Wenn eine gewisse Anzahl von Schleiern auf mir gelassen werden, sehe ich noch klar, nämlich die Schleier. Werden sie aber entfernt, so daß mein Blick meinem Ich näher dringen könnte, so beginnt mein Bild sich mir zu verwischen.†2 Page 49
Ich spreche†3 viel zu leicht. – Man kann mich durch eine Frage, einen Einwand zu einem Fluß von Reden verführen. Während ich rede sehe ich manchmal, daß ich in einem häßlichen Fahrwasser bin: mehr sage als ich meine, rede um den Andern zu amüsieren, Irrelevantes hineinziehe um zu impressionieren u.s.w.. Ich trachte dann das Gespräch[92] zu korrigieren Page Break 50
es wieder in eine anständigere†1 Bahn zurückzulenken. Biege es aber nur etwas und nicht genügend aus Furcht – mangelndem Mut – & behalte einen schlechten Geschmack. Page 50
Besonders in England geschieht mir das leicht da die Schwierigkeit der Verständigung (wegen des Charakters, nicht wegen der Sprache) von vornherein enorme sind. So daß man seine übungen auf einem schwankenden Floß statt auf festem Boden ausführen muß. Denn man weiß nie ob einen der Andere ganz verstanden hat; & der Andere hat Einen nie ganz verstanden. Page 50
12.10.31. Heute nacht erwachte ich aus einem Traum mit Entsetzen & ich sah plötzlich, daß ein solches Entsetzen ja[93] etwas bedeute†2, daß ich darüber nachdenken solle was es bedeutet. Page 50
Der Traum hatte sozusagen zwei Teile (die aber unmittelbar auf einander folgten) Im ersten war jemand gestorben, es war traurig & ich schien mich gut aufgeführt zu haben & dann quasi beim Nachhausekommen sagte jemand & zwar eine starke, alte ländliche Person (von der Art unserer Rosalie (ich denke auch an die Kumäische Sybille) zu mir ein Wort des Lobes & etwas wie: „Du bist doch jemand“. Dann verschwand dieses Bild & ich war allein im Dunklen & sagte zu mir – ironisch „Du bist doch jemand“ & Stimmen riefen laut um mich her (aber ich sah niemand der rief) „die Schuld muß doch gezahlt werden“ oder „die Schuld ist doch nicht gezahlt“ oder so etwas. Ich erwachte wie aus einem[94] entsetzlichen Traum. (Versteckte meinen Kopf – wie ich es seit der Kindheit in diesem Falle immer tue – unter die Decke & wagte erst nach einigen Minuten ihn frei zu machen & die Augen zu öffnen) Mir kam wie ich sagte zum Bewußtsein, daß dieses Entsetzen eine tiefere Bedeutung hat (obwohl es auf eine Weise vom Magen kam, denn das wurde†3 mir bald klar) d.h., daß die Fähigkeit so entsetzt zu sein etwas für mich†4 zu bedeuten habe.†5 Unmittelbar nach Page Break 51
dem Erwachen, im Entsetzen, dachte ich: ob Traum oder nicht Traum, dieses Entsetzen hat etwas zu bedeuten. Ich habe doch etwas getan, etwas gefühlt, was immer mein Körper daweil getan hat. Page 51
D.h., dieses Entsetzens ist der Mensch fähig. – Und das hat etwas zu bedeuten. Page 51
Wenn der Mensch die Hölle auch[95] in einem Traum erlebte & danach erwachte, so gäbe es sie doch. Page 51
Ich habe eine schlecht erzogene (oder unerzogene) Sprache. D.h. es fehlt ihr eine gute sprachliche Kinderstube. – Wie ja wohl der Sprache der allermeisten Menschen. Page 51
Las einmal in Claudius ein Zitat aus Spinoza wo er über sich selbst schreibt konnte dieser†1 Betrachtung aber nicht ganz froh werden. Und jetzt fällt mir ein daß ich ihr in einer Beziehung mißtraute ohne sagen zu können worin
eigentlich. Ich glaube aber jetzt daß mein Gefühl ist, daß Spinoza sich selbst nicht erkannt hat†2. Also das, was ich von mir selbst sagen mu߆3. Page 51
[96]
schwätz nicht!
Page 51
Er schien nicht zu erkennen daß er ein armer Sünder war. Ich kann nun natürlich schreiben ich sei einer. Aber ich erkenne es nicht sonst würde ich anders. Page 51
Das Wort erkennen ist eben irreleitend, denn es handelt sich um eine Tat die Mut erfordert. Page 51
Man könnte von einer Selbstbiographie sagen: dies schreibt ein Verdammter aus der Hölle. Page 51
In einem Satz steckt so viel als dahinter steht. Page 51
Jetzt verstehe ich etwas das Gefühl in meinem Traum. Page Break 52 Page 52
Ich denke in jenem Zitat aus†1 Spinoza an das Wort „Weisheit“[97] welches mir ein im letzten Grunde hohles Ding zu sein schien (& scheint ) hinter dem sich der eigentliche Mensch, wie er wirklich ist, versteckt. (Ich meine: vor sich selbst versteckt) Page 52
Decke auf, was Du bist. Page 52
Ich bin z.B. ein kleinlicher, lügnerischer Wicht & kann doch über die größten Dinge reden. Page 52
Undwährend ich es tue, scheine ich mir von meiner Kleinlichkeit vollkommen detachiert zu sein. Bin es aber doch nicht. Page 52
Selbsterkenntnis & Demut ist Eins. (Das sind billige Bemerkungen.) Page 52
13. Ich möchte nicht, daß mit mir geschieht, was mit man[98]cher Waare†2 geschieht. Sie liegen auf dem Ladentisch, die Käufer sehen sie, die Farbe, oder der Glanz, sticht ihnen in die Augen & sie nehmen den Gegenstand einen Augenblick in die Hand & lassen ihn dann als unerwünscht auf den Tisch zurückfallen.†3 Page 52
Meine Gedanken kommen beinahe nie unverstümmelt in die†4 Welt. Page 52
Entweder es wird ein Teil bei der Geburt verrenkt oder abgebrochen. Oder der Gedanke ist überhaupt eine Frühgeburt & in der Wortsprache noch nicht[99] lebensfähig. Dann kommt ein kleiner Satz-Fötus zur Welt, dem noch die wichtigsten Glieder fehlen. Page Break 53 Page 53
Die Melodien der frühen Beethovenschen Werke haben (schon) ein anderes Rassegesicht als z.B. die Melodien Mozarts. Man könnte den Gesichtstypus zeichnen der den†1 Rassen entspräche. Und zwar ist die Rasse Beethovens gedrungener, grobgliedriger, mit runderem oder viereckigerem Gesicht, die Rasse Mozarts mit feineren schlankeren & doch rundlichen Formen & die Haydens groß & schlank von der Art mancher österreichischer Aristokraten. Oder lasse ich mich da von dem Bild verführen das ich von den Gestalten dieser Männer habe. Ich glaube nicht. Page 53
[100] Merkwürdig zu sehen, wie ein Stoff sich einer Form widersetzt. Wie der Nibelungenstoff sich der dramatischen Form widersetzt. Er will kein Drama werden & wird kein’s & nur dort ergibt er sich wo der Dichter oder Komponist sich entschließt episch zu werden So sind die einzigen bleibenden & echten Stellen im „Ring“ die epischen, in denen Text oder Musik erzählen. Und darum sind die eindrucksvollsten Worte des „Rings“ die der Bühnenweisungen. Page 53
Ich bin in meine Art der Gedankenbewegung beim Philosophieren etwas verliebt. (Und vielleicht sollte ich das Wort „etwas“ weglassen.) Page 53
Übrigens heißt das nicht, daß ich in meinen Stil verliebt bin. Das bin ich nicht. Page 53
[101] Etwas ist nur so ernst, als es wirklich ernst ist†2 Page 53
Vielleicht, wie sich mancher gern reden hört, höre ich mich gerne schreiben? Page 53
Daß Dir etwas einfällt ist ein Geschenk des Himmels, aber es kommt drauf an, was Du damit machst. Page 53
Natürlich sind auch solche gute Lehren billig eine Tat durch die Du nach ihnen handelst. (Ich dachte bei dem vorigen Satz an Kraus.) Page Break 54 Page 54
[102] Erkenne Dich selbst & Du wirst sehen, daß Du in jeder Weise immer wieder ein armer Sünder bist. Aber ich will kein armer Sünder sein & suche auf alle Weise zu entschlüpfen (benütze alles als Tür um diesem Urteil zu entschlüpfen). Page 54
Meine Aufrichtigkeit bleibt immer an†1 einem bestimmten Punkt stecken! Page 54
Wie man sich in einem hohlen Zahn gut auszukennen scheint, wenn der Zahnarzt in ihm herumbohrt, so lernt man während des bohrenden Denkens†2 jede Räumlichkeit jeden Schluff eines Gedankens kennen & wiedererkennen. Page 54
Was ich, quasi, auf dem Theater (Kierkegaard)[103] in meiner Seele aufführe macht ihren Zustand nicht schöner sondern (eher) verabscheuenswürdiger. Und doch glaube ich immer wieder diesen Zustand durch eine schöne Scene auf dem Theater schöner zu machen. Page 54
Denn ich sitze im Zuschauerraum derselben statt das Ganze von außen zu betrachten. Denn ich stehe nicht gern auf der nüchternen, alltäglichen, unfreundlichen Straße sondern sitze gern im warmen, angenehmen Zuschauerraum. Page 54
Ja, nur für wenige Momente gehe ich hinaus in’s Freie†3 & dann vielleicht auch nur mit dem Gefühl immer wieder in’s Warme schlüpfen zu können.†4 Page 54
Die Zuneigung der Andern zu[104] entbehren wäre mir überhaupt unmöglich, weil ich in diesem Sinne viel zu wenig (oder kein) Selbst habe. Page 54
Vielleicht habe ich nur insoweit ein Selbst als ich mich tatsächlich verworfen fühle. Page Break 55 Page 55
Und wenn ich sage daß ich mich verworfen fühle so ist das kein Ausdruck (oder nur: beinahe nie ein Ausdruck?) dieses Gefühls Page 55
Ich habe mir oft den Kopf darüber zerbrochen daß ich nicht besser bin als Kraus & verwandte Geister & es mir mit Schmerzen vorgehalten. Welche Unsumme von Eitelkeit liegt aber in diesem Gedanken. Page 55
24.10. Das Geheimnis der Dimensionierung eines Sessels oder eines Hauses ist, daß sie die Auffassung des Gegenstandes ändert. Mache das kürzer & es sieht aus wie eine Fortsetzung dieses Teiles, mache es länger & es sieht aus wie ein ganz unabhängiger Teil. Mache es stärker & das Andere scheint sich darauf zu stützen, mache es schwächer und es scheint am Andern zu hängen. etc. Page 55
Nicht der graduelle Unterschied der Länge ist es eigentlich, worauf es ankommt, sondern der qualitative der
Auffassung. Page 55
Wenn der Brahmsschen Instrumentierung Mangel an Farbensinn vorgeworfen wird, so muß[106] man sagen daß die Farblosigkeit schon in der Brahmsschen Thematik liegt. Die Themen schon sind schwarz-weiß, wie die Brucknerschen schon färbig; auch wenn Bruckner†1 sie tatsächlich aus irgendeinem Grund auf nur einem System niedergeschrieben hätte, so daß wir von einer Brucknerschen Instrumentierung nichts wüßten. Page 55
Nun könnte man sagen: dann ist ja alles in Ordnung, denn zu schwarz-weißen Themen gehört auch eine schwarzweiße (farblose) Instrumentation. Ich glaube nur daß gerade hier die Schwäche der Brahmsschen Instrumentation liegt, indem sie nämlich vielfach doch nicht ausgesprochen schwarz-weiß ist. Page 55
Dadurch entsteht dann der Eindruck der uns oft glauben macht, wir vermissten Farben,[107] weil die Farben, die da sind, nicht erfreulich wirken. In Wirklichkeit vermissen wir, glaube ich, Farblosigkeit. Das zeigt sich auch oft deutlich z.B. im letzten Satz des Violinkonzerts wo es sehr merkwürdige Klangeffekte gibt (einmal als blätterten die Töne wie dürre Blätter von den Violinen ab) & wo man das doch als einen einzelnen Page Break 56
Klangeffekt empfindet, während man die Klänge bei Bruckner als die selbstverständliche Umkleidung der†1 Knochen dieser†2 Themen empfindet. (Ganz anders ist es beim Brahmsschen Chorklang der der Thematik ebenso angewachsen ist wie der Brucknersche Orchesterklang der Brucknerschen Thematik.) (Die Harfe am Schluß des ersten Teils des Deutschen Requiems.) Page 56
[108] Zum „Geheimnis der Dimensionierung“: der eigentliche Sinn der Dimensionierung zeigt sich darin, daß man dem Gegenstand je nachdem sich seine Maßverhältnisse ändern andere Namen geben kann. (Ganz so, natürlich, wie dem Ausdruck des Gesichtes dessen Proportionen man änderte; ‚traurig‘, ‚frech‘, ‚wild‘ etc., etc..) Page 56
Die Freude an meinen Gedanken (philosophischen Gedanken) ist die Freude an meinem eigenen seltsamen Leben. Ist das Lebensfreude? Page 56
Es ist sehr schwer nichts von sich zu halten & jeden Beweis daß man doch ein Recht habe etwas von sich zu halten (Beweis nach Analogien) von vornherein, auch ehe man den Fehler durchschaut hat†3 daß er irgendwo nicht stimmt[109] (ja auch wenn man nie auf den Fehler kommen sollte) als Trug zu erklären†4. Page 56
31.10. Zum Studium der Philosophie sind heute am besten noch Studenten der Physik vorbereitet. Ihr Verständnis ist durch die offenbare Unklarheit in ihrer Wissenschaft aufgelockerter als das der Mathematiker die in einer selbstsichern Tradition festgefahren sind. Page 56
Ich könnte mich beinahe als einen amoralischen Nucleus sehen, an dem die Moralbegriffe anderer Menschen leicht kleben†5 bleiben. Page Break 57 Page 57
So daß, was ich redete eo ipso nie mein Eigenes wäre da ja dieser Nukleus (ich sehe ihn wie einen[110] weißen toten Ballen) nicht reden kann. Es bleiben vielmehr an ihm bedruckte Blätter hängen. Diese reden dann; freilich, nicht wie in ihrem ursprünglichen Zustand sondern durcheinander mit andern Blättern & beeinflußt durch die Lage in die sie der Nucleus bringt. – Aber wenn das auch mein Schicksal sein sollte, so wäre ich doch der Verantwortung nicht enthoben & es wäre Sünde oder Unsinn dieses Schicksal etwa zu beklagen. Page 57
Man könnte sagen: Du verachtest die natürlichen Tugenden, weil Du sie nicht hast! – Aber ist es nicht noch viel wunderbarer – oder ebenso wunderbar – daß ein Mensch ohne alle diese Gaben Mensch sein kann! Page 57
„Du machst aus der Not eine Tugend“. Gewiß, aber ist es nicht wunderbar, daß man aus der Not eine Tugend machen kann. Page 57
Man könnte es so sagen: Das Wunderbare ist, daß das Tote nicht sündigen kann. Und das Lebende zwar sündigen kann aber auch der Sünde entsagen: Page 57
Ich kann nur in soweit schlecht sein, als ich auch gut sein kann. Page 57
Ich stelle mir die Menschen manchmal als Kugeln vor: die eine aus echtem Gold durch & durch, die andere eine Schichte wertloses Material, darunter Gold; die dritte eine täuschende aber falsche Vergoldung darunter – Gold. Wieder eine wo unter der Vergoldung Dreck ist & eine wo in diesem Dreck wieder ein Körnchen echtes Gold ist. U.sw., u.s.w.. Page 57
Ich glaube die letztere bin vielleicht ich. Page 57
Aber wie schwer ist so ein Mensch zu beurteilen. Man kommt ihm drauf, daß die erste Schichte falsch ist & sagt: „also ist er nichts Wert“, denn daß es falsch vergoldetes echtes Gold geben soll, glaubt niemand. Oder man findet unter der falschen Vergoldung den Mist & sagt: „Natürlich! das war zu erwarten.“ Aber daß dann in diesem Mist noch wirkliches Gold versteckt sein soll, das ist schwer zu vermuten. Page Break 58 Page 58
Wenn eine Kanone zum Schutz gegen Fliegerangriffe so bemalt ist, daß sie von oben aussieht wie Bäume oder Steine, daß ihre wahren Konturen unkenntlich &[113] falsche an ihre Stelle getreten sind, wie schwer zu beurteilen ist dieses Ding. Man könnte sich Einen denken der sagt: „das sind also alles falsche Konturen, also hat das Ding gar keine wirkliche Gestalt†1“ Und doch hat es eine wirkliche feste Gestalt aber sie ist mit den gewöhnlichen Mitteln gar nicht zu beurteilen. Page 58
Meine Schwester Gretl las einmal eine Stelle aus einem Essay von Emerson vor, worin er seinen Freund einen Philosophen (den Namen habe ich vergessen) beschreibt; aus dieser Beschreibung glaubte sie zu entnehmen, daß dieser Mann mir ähnlich gewesen sein müsse. Ich dachte bei mir: Welches Naturspiel! – Welches Naturspiel, wenn ein Käfer ausschaut wie ein Blatt, aber dann ein wirklicher Käfer ist, & nicht ein Kunstblumenblatt. Page 58
[114] Im richtig geschriebenen Satz löst sich ein Partikel vom Herzen oder Gehirn ab & kommt als Satz aufs Papier. Page 58
Ich glaube meine Sätze sind meistens Beschreibungen visueller Bilder die mir einfallen. Page 58
Der Witz Lichtenbergs ist die Flamme die nur auf einer reinen Kerze brennt. Page 58
„Ich kann so lügen, – oder auch so, – oder vielleicht am besten, indem ich die Wahrheit ganz aufrichtig sage.“ So sage ich oft zu mir selbst. Page 58
2.11. Dostojewskij sagt einmal der Teufel nähme jetzt die Gestalt[115] der Furcht vor der Lächerlichkeit an. Und das muß wahr sein. Denn vor nichts fürchte ich mich so; nichts möchte ich so unbedingt vermeiden als die Lächerlichkeit. Dabei weiß, ich daß es eine Feigheit ist wie jede andere, & daß die Feigheit überall hinausgetrieben, da ihre letzte uneinnehmbare Festung hat. So daß sie nur zum Schein besiegt ist, wenn sie den einen oder Page Break 59
andern Platz preisgibt, da sie sich endlich ruhig in diese Festung zurückzieht & dort sicher ist.†1 Page 59
Wenn ich den Leuten von mir sagte[116] was ich ihnen sagen sollte, würde ich mich der Verachtung & dem Hohn beinahe Aller die mich kennen preisgeben. Page 59
„Vaterlandsloses Gesindel“ (auf die Juden angewandt) steht auf der gleichen Stufe mit „krummnasiges Gesindel“, denn, sich ein Vaterland zu geben, steht ebensowenig in eines Menschen Belieben wie, sich eine gerade Nase geben. Page 59
Das Schuld beladene Gewissen könnte leicht beichten; der eitle Mensch kann nicht beichten. Page 59
Ich will†2 mich keinem Entschluß von mir gefangen geben, es sei denn, daß der Entschluß mich gefangen hält. Page 59
[117] Umarme einen Menschen für ihn & nicht für Dich.
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7. Bin jetzt durchaus beunruhigt, durch Gewissen & Gedanken Page 59
Es ist seltsam wenn in zwei Zimmern untereinander zwei Welten wohnen können. Das geschieht wenn ich unter den zwei Studenten wohne die über mir Lärm machen. Es sind wirklich zwei Welten & es ist keine Verständigung möglich. Page 59
Ich habe jetzt das Gefühl, als müßte ich in’s Kloster gehn (innerlich), wenn ich die Marguerite verlöre. Page Break 60 Page 60
Der Gedanke an eine bürgerliche Verlobung der Marguerite erregt mir Übligkeiten. Nein in diesem[118] Fall könnte ich nichts für sie tun & müßte sie behandeln wie ich sie behandeln würde, wenn sie sich betrunken hätte, nämlich: nicht mit ihr reden bis sie den Rausch ausgeschlafen hat. Page 60
Es ist wahr daß man auch auf dem Trümmerfeld der Häuser soll leben können in denen man zu leben gewohnt war. Aber es ist schwer. Man hat seine Freude eben doch von der Wärme & Behaglichkeit der Zimmer genommen, auch wenn man es nicht†1 wußte. Aber jetzt, wo man auf den Trümmern umherirrt, weiß man es. Page 60
Man weiß daß jetzt nur der Geist wärmen kann & daß man gar nicht gewohnt ist sich vom[119] Geist erwärmen zu lassen. Page 60
(Wenn man verkühlt ist tut das Waschen weh & wenn man im geist krank ist, das Denken. Page 60
Ich kann (d.h. ich will) den Genuß nicht aufgeben. Ich will das Genießen nicht aufgeben & will kein Held sein. Daher leide ich den durchdringenden & beschämenden Schmerz der Verlassenheit. Page 60
Die Verzweiflung hat kein Ende & der Selbstmord endet sie nicht, es sei denn, daß man ihr ein Ende macht indem man sich aufrafft. Page 60
Der Verzweifelte ist wie ein eigensinniges Kind das den Apfel haben will. Aber man weiß für gewöhnlich nicht, was es heißt, den Eigen[120]sinn zu brechen. Es heißt einen Knochen im Leibe brechen (und ein Gelenk machen, wo früher keins war). Page 60
Alte Gedankenbrocken die einen schon vor langer Zeit hoch oben im Darm gedrückt haben kommen später bei einer Gelegenheit heraus. Dann Page Break 61
bemerkt man einen Teil eines Satzes & sieht: das war es, was ich vor einigen Tagen immer habe sagen wollen.†1 Page 61
Der bürgerliche Geruch des Verhältnisses Marguerite – Talla ist mir so grausig, unerträglich daß ich vor ihm aus der Welt fliehen könnte. Page 61
Jede Beschmutzung kann[121] ich ertragen, nur die bürgerliche nicht. Ist das nicht seltsam? Page 61
Ich weiß nicht ob mein Geist in mir krank ist oder ob es der Körper ist. Ich mache den Versuch & stelle mir vor daß manches anders wäre als es ist, & ich fühle, daß mein Befinden dann gleich normal würde. Also ist es der Geist; & wenn ich lustlos & trübe, meine Gedanken wie in einem dicken Nebel, dasitze & eine Art schwachen Kopfschmerz spüre, so soll das daher kommen, daß ich vielleicht – oder wahrscheinlich – die Liebe der Marguerite verlieren werde! Page 61
Wenn man im Kot steckt, gibt es nur Eins: Marschieren. Es ist besser vor Anstrengung tot umzufallen, als jammernd[122] zu krepieren. Page 61
Geist, verlaß mich nicht! D.h., das schwache Spiritusflämmchen meines Geistes möge nicht verlöschen! Page 61
Kierkegaards Schriften haben etwas Neckendes & das ist natürlich beabsichtigt, wenn ich auch nicht sicher
weiß; ob genau diese Wirkung beabsichtigt ist, die sie auf mich haben. Es ist auch kein Zweifel daß der, der mich neckt mich zwingt, mich mit seiner Sache auseinanderzusetzen & ist diese Sache wichtig so ist das gut. – Und dennoch gibt es etwas was dieses Necken in mir verurteilt. Und ist dies nur mein Resentiment? Ich wei߆2 auch sehr wohl daß Kierkegaard das Aesthetische mit seiner Meisterschaft darin ad absurdum führt & daß er das natür[123]lich auch will. Aber es ist Page Break 62
als wäre in seinem Aesthetischen bereits der Tropfen Wehrmuths drin, so daß es eben an & für sich schon nicht so schmeckt wie das Werk eines Dichters. Er ahmt dem Dichter gleichsam mit unglaublicher Meisterschaft nach, ohne aber ein Dichter zu sein & daß er keiner ist merkt man doch in der Nachahmung Page 62
Die Idee daß jemand einen Trick verwendet um mich zu etwas zu veranlassen ist unangenehm. Es ist sicher daß dazu (diesen Trick zu gebrauchen) großer Mut gehört & daß ich diesen Mut nicht – nicht im entferntesten – hätte; aber es frägt sich, ob, wenn ich ihn hätte, es recht†1 wäre ihn zu gebrauchen. Ich glaube, dazu gehörte dann außer dem Mut auch ein Mangel an Liebe zum Nächsten. Man könnte sagen: Was Du Liebe des Nächsten nennst ist Eigen[124]nutz. Nun, dann kenne ich keine Liebe ohne Eigennutz, denn in die ewige Seeligkeit des Andern kann ich nicht eingreifen. Ich kann nur sagen: Ich will ihn so lieben, wie ich – der um meine Seele besorgt ist – wünsche, daß er mich liebte. Page 62
Mein ewiges Bestes kann er in gewissem Sinne nicht wollen; er kann mir nur im irdischen Sinne gut sein & für alles das Respekt haben, was in mir ein Streben zum Höchsten zu verraten scheint. Page 62
Wenn ich an meine Beichte denke, so verstehe ich das Wort „... & hätte der Liebe nicht u.s.w.“. Denn auch diese Beichte nützte mich nichts wenn sie gleichsam wie ein ethisches Kunststück gemacht würde. Ich will aber nicht sagen, daß ich sie darum unterlassen habe, weil mir das bloße Kunststück nicht[125] genug war: ich bin zu feig dazu. Page 62
(Ethisches Kunststück ist etwas was ich den Andern, oder auch nur mir (selbst), vorführe um zu zeigen was ich kann.) Page 62
Ich verstehe den Geisteszustand meines Bruders Kurt vollkommen. Er war nur noch um einen Grad verschlafener als der meine. Page 62
Die Denkbewegung in meinem Philosophieren müßte sich in der Geschichte meines Geistes, seiner Moralbegriffe & dem Verständnis meiner Lage wiederfinden lassen. Page Break 63 Page 63
Wer gegen Mücken(schwärme) (an)kämpfen muß findet es eine wichtige Sache einige verscheucht zu haben. Aber das ist für den ganz unwichtig der mit Moskitos nichts[126] zu tun hat. Wenn ich philosophische Fragen löse habe ich das Gefühl als hätte ich etwas äußerst Wichtiges für die ganze Menschheit getan & denke nicht, daß die Dinge mir so ungeheuer wichtig scheinen (oder soll ich sagen: mir so wichtig sind), weil ich von ihnen geplagt werde. Page 63
15. Ein Traum heute nacht: Ich kam in ein Bureau um eine Rechnung – ich glaube – einzukassieren. Page 63
So etwa sah das Zimmer aus a, b, c sind Tische d die Tür (c nicht ganz sicher); vor a & b je ein Stuhl auf dem Stuhl vor a saß ein Beamter zu seiner linken stand ich. Außer mir war im Zimmer noch eine sehr lärmende Gesellschaft einer von ihnen saß vor b & sie alle sprachen zu dem Beamten lärmend & lustig & der Mann vor[127] b nahm dabei eine besondere Stellung ein, etwa indem er spaßhaft alles was die Andern (die bei c standen) dem Beamten verdolmetschte. Der Beamte sagte er könne sich mit ihnen nicht abgeben & wandte sich mir zu. Ich gab ihm die Rechnung & er fragte von wem sie wäre. Ich hätte gerne gesagt, es stehe ohnehin darauf & er solle selbst nachsehen (er hielt die Rechnung nämlich so daß er den Kopf nicht sehen konnte) traute mich aber nicht es zu sagen, sondern gab den Namen an: Laval, oder ... de Laval. Darauf überprüfte der Beamte die Rechnung in dem er sie in einem elektrischen Apparat untersuchte (ich dachte er photographiert sie mit Röntgenstrahlen). Sie war in einer Art Kasten der mit einem schwarzen Tuch um[128] wickelt war. Die Szene hatte sich verändert & der Raum war jetzt wie ein kleines Laboratorium. Auf einem großen Tisch stand der Kasten von ihm gingen Drähte aus. Ich saß
auf einem Stuhl beinahe wie ein Verbrecher auf dem elektrischen Stuhl. Die Drähte gingen zu mir & dann zur Wand. Ich schien von ihnen & Stricken umwunden zu sein. Ich konnte nicht verstehen warum ich hier so sitzen müsse. Und†1 sagte zu dem Beamten: „the circuit doesn’t pass through my body“. Er: „of course not“. Ich (unwillig): „But you have fettered me“. Er sagte darauf es sei ja nur mein kleiner Finger gefesselt & „we Page Break 64
do this to everybody“. Und jetzt sah ich, daß ich gar nicht gefesselt war, denn die Stricke[129] & Drähte hingen zwar in Schleifen um mich waren aber nirgends sonst angemacht & nur mein kleiner Finger war durch einen Spagat an einem Haken (am Tisch?) angebunden. Ich stand auf um meine Freiheit zu erproben & sagte etwas verlegen zum Beamten „I’m sorry“ ich hätte nicht bemerkt, daß ich (ganz) frei sei. Dann wachte ich auf. Page 64
Gleich nach dem Aufwachen deutete ich den Traum als ein Gleichnis, welches ich für mein Verhältnis zur Marguerite brauchte. Nämlich: es schaut nur so aus als wäre ich an sie mit 1000 Stricken gebunden; in Wirklichkeit hängen†1 diese Stricke nur um mich, binden mich aber an niemand & nur der kleine Spagat ist das Band zwischen uns. Page 64
[130] Was Du geleistet hast, kann andern nicht mehr sein†2 als Du selbst. Page 64
Soviel es Dich gekostet hat, so viel werden sie zahlen. Page 64
Das Christentum sagt eigentlich: laß alle Klugheit fahren. Page 64
Wenn ich sage, ich möchte†3 die Eitelkeit ablegen, so ist es fraglich, ob ich das nicht wieder nur aus einer Eitelkeit heraus will. Ich bin eitel & soweit ich eitel bin, sind auch meine Besserungswünsche eitel. Ich möchte dann gern wie der & der sein der nicht eitel war & der mir gefällt, & ich überschlage schon im Geiste den Nutzen, den ich vom „Ablegen“ der Eitelkeit haben würde. Solange man auf der Bühne ist, ist man eben Schau[131] spieler, was immer man auch macht. Page 64
Ich höre im Geist schon die Nachwelt über mich reden, statt mich selbst zu hören, der, da er mich kennt, freilich ein viel undankbareres Publikum ist. Page 64
Und das muß ich tun: nicht den Andern in der Phantasie hören sondern mich selbst. D.h nicht dem Andern zusehn, wie er mir zusieht – denn so Page Break 65
mache ich’s – sondern mir selbst zusehen. Was für ein Trick, & wie unendlich immer wieder die Versuchung auf den Andern, & von mir weg, zu schaun. Page 65
Von dem religiösen Ärgernis konnte man auch sagen: tu te fache, donc tu as tort. Denn Eines ist sicher: Du hast unrecht Dich zu ärgern, Dein Ärger [132] soll gewiß überwunden werden†1. Und es frägt sich dann nur ob am Schluß der Andre mit dem was er gesagt hat Recht behält. Wenn Paulus sagt, der gekreuzigte Christus ist den Juden ein Ärgernis so ist das gewiß, & auch, daß das Ärgernis im Unrecht ist. Aber die Frage ist: Was ist die rechte Lösung dieses Ärgernisses? Page 65
Gott als Geschichtliches Ereignis in der Welt ist so paradox, ebenso paradox, wie, daß eine bestimmte Handlung in meinem Leben dort & dann sündlich war. Das heißt daß ein Augenblick meiner Geschichte ewige Bedeutung hat ist nicht mehr noch weniger paradox, als daß ein Augenblick oder eine Zeitspanne der Weltgeschichte ewige[133] Bedeutung hat. Ich darf nur sofern an Christus zweifeln, als ich auch an meiner Geburt zweifeln darf. – Denn in derselben Zeit in der meine Sünden geschehen sind (nur weiter zurück) hat Christus gelebt. Und so muß man sagen: Wenn das Gute & Böse überhaupt etwas Geschichtliches ist dann ist auch die göttliche Weltordnung & ihr Zeitlicher Anfang & Mittelpunkt denkbar. Page 65
Wenn ich aber nun an meine Sünden denke & daß ich diese Handlungen getan habe, ist nur eine Hypothese, warum bereue ich sie als ob kein Zweifel über sie möglich wäre? Daß ich mich jetzt an sie erinnere ist meine Evidenz & die Grundlage meiner Reue & des Vorwurfs, daß ich zu feig bin, sie zu gestehen. Page 65
[134] Sah die Photographien der Gesichter Corsischer Briganten & dachte: diese Gesichter sind zu hart, & meines zu weich als daß das Christentum darauf schreiben könnte. Die Gesichter dieser Briganten sind schrecklich anzusehen, herzlos, in gewisser Weise kalt & verhärtet; & doch sind sie wohl
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nicht weiter vom rechten Leben entfernt als ich, stehen nur auf einer andern Seite abseits vom Rechten†1. Page 66
Schwäche ist ein furchtbares Laster. Page 66
11.1.32. Wieder in Cambridge zurück, nachdem ich viel erlebt habe: Page 66
Marguerite, die mich heiraten will(!), Streit in der Familie, etc.. – Ich bin aber im Geist schon so alt,[135] daß ich nichts unreifes mehr tun darf & die Marguerite ahnt nicht wie alt ich bin. Page 66
Ich erscheine mir selbst wie ein alter Mann. Page 66
Meine philosophische Arbeit kommt mir jetzt vor wie eine Ablenkung von dem Schweren, wie eine Zerstreuung ein Vergnügen dem ich mich nicht mit ganz gutem Gewissen hingebe. Als ginge ich in’s Kino statt einen Kranken zu pflegen. Page 66
Man könnte sich einen Menschen vorstellen, der von seiner Geburt bis zu seinem Tod immer entweder schliefe oder in einer Art Halbschlaf oder Dusel lebte. So verhält sich mein Leben zu dem wirklich lebendigen[136] Menschen (ich denke gerade an Kierkegaard). Wacht so ein im Halbschlaf lebender je für eine Minute auf so dünkt es ihn wunder was zu sein & er wäre nicht abgeneigt sich unter die Genies zu zählen. Page 66
Kaum eine der mich tadelnden unter meinen Bemerkungen ist ganz ohne das Gefühl geschrieben, daß es doch immerhin schön ist daß ich meine Fehler sehe†2. Page 66
28.1.32 Wie wenig Achtung ich im Grunde für meine eigene Leistung habe zeigt sich mir darin, daß ich einen Menschen von dem ich Grund hatte zu glauben, er entsprechein einem andern Fach dem[137] was ich in der Philosophie bin, daß ich so einen Menschen nur mit großem Vorbehalt gelten lassen oder schätzen würde. Page Break 67 Page 67
Ich träumte heute folgenden sonderbaren Traum: Jemand (war es Lettice?) sagte mir von einem Menschen, er heiße Hobbson „with mixed b“; welches hieß, daß man ihn „Hobpson“ ausspricht. – Ich erwachte & erinnerte mich daran,†1 daß mir Gilbert einmal bezüglich der Aussprache eines Wortes†2 gesagt hatte „pronounced with mixed b“, daß ich verstanden hatte „... mixed beef“ & nicht wußte was er meine, daß es so geklungen hatte als meinte er man müsse eine Speise welche „mixed beef“ heißt beim Aussprechen des Wortes im[138] Munde haben & daß ich, als ich Gilbert verstanden hatte, das als Witz sagte. An alles das erinnerte ich mich sofort beim Aufwachen. Dann kam es mir immer weniger & weniger plausibel vor & erst am morgen als ich schon angekleidet war schien es mir offenbarer Unsinn. (Geht man übrigens diesem Traum nach so führt er auf Gedanken über Rassenmischung und was, im Zusammenhang damit für mich von Bedeutung ist.) Page 67
Eine Seele die nackter als die andern vom Nichts durch die Welt zur Hölle geht, macht einen größeren Eindruck auf die Welt als die bekleideten bürgerlichen Seelen. Page 67
Nur als ihrer Zuflucht kann[139] mir die Marguerite treu bleiben. Das kann & soll sie auch, wenn sie sich einmal in einen andern Mann verliebt. Es würde dann klar werden, worauf ich bei ihr ein Recht habe. Ich kann ihr dazu zureden mir als ihrer Zuflucht treu zu bleiben; alles andere wäre Ausnützung ihrer gegenwärtigen Notlage. Page 67
Ich habe eine nacktere Seele als die meisten Menschen & darin besteht sozusagen mein Genius. Page 67
Verstümmle einen Menschen ganz & gar schneide ihm Arme & Beine Nase & Ohren ab & dann sieh was von seinem Selbstrespekt & von seiner Würde übrig bleibt & wieweit seine Begriffe von[140] solchen Dingen dann noch die selben sind. Wir ahnen gar nicht, wie diese Begriffe von Page Break 68
dem Gewöhnlichen, normalen, Zustand unseres Körpers abhängen. Was wird aus ihnen wenn wir mit einem Ring durch unsere Zungen & gefesselt an einer Leine geführt werden? Wie viel bleibt dann noch von einem Menschen in
ihm übrig? In welchen Zustand versinkt so ein Mensch? Wir wissen nicht, daß wir auf einem hohen schmalen Felsen stehen, & um uns Abgründe, in denen alles ganz anders ausschaut. Page 68
Die Adoption altväterischer Münzbezeichnungen „Groschen“, „Thaler“, charakteristisch für, was heute Österreich ist, & auch für den Zustand in den Europä[141]ischen Ländern überhaupt. Page 68
Damit hängt zusammen das neubeleben von Volkstänzen & Trachten & eine Art der Vertrottelung. Page 68
Meine Hauptdenkbewegung ist heute eine ganz andere†1 als vor 15–20 Jahren. Page 68
Und das ist ähnlich, wie wenn ein Maler von einer Richtung zu einer andern übergeht. Page 68
– Das Judentum ist hochproblematisch, aber nicht gemütlich. Und wehe wenn ein Schreiber die gemütvolle Seite betont. Ich dachte an Freud, wenn er vom jüdischen Witz redet. Page 68
M. braucht mich als Korrektiv, aber nicht als ihren[142] Alleinbesitzer. Page 68
Ich habe manchmal das Gefühl, wie wenn mein Verstand ein Glasstab wäre der belastet ist & jeden Moment brechen kann. Page 68
Mein Geist scheint dann außerordentlich fragil zu sein. Page 68
Es gibt einen Gedankenraum in dem†2 man beim Einschlafen weiter oder weniger weit reisen kann & beim Erwachen gibt es eine Rückkunft aus größerer oder geringerer Entfernung†3. Page Break 69 Page 69
Skjolden 19.11.36. Ich habe vor ca 12 Tagen an Hänsel ein Geständnis meiner Lüge bezüglich meiner Abstammung geschrieben. Seit der Zeit denke ich wieder & wieder da[143]rüber nach, wie ich ein volles Geständnis allen mir bekannten Menschen machen kann & soll. Ich hoffe & fürchte! Heute fühle ich mich etwas krank, verkühlt. Ich dachte: „Will Gott mit mir Schluß machen, ehe ich das Schwere tun konnte?“ Möge es gut werden! Page 69
20.11. Matt & arbeitsunlustig, oder eigentlich unfähig. Aber das wäre ja kein schreckliches Übel. Ich könnte ja sitzen & ruhen. Aber dann verfinstert sich meine Seele. Wie leicht vergesse ich die Wohltaten des Himmels!! Page 69
Nachdem ich nun das eine Geständnis gemacht habe, ist es als könne ich den ganzen Lügenbau nicht länger halten, als müsse er ganz niederstürzen. Wäre er nur schon ganz eingestürzt! So daß die Sonne auf Gras & auf die Trümmer scheinen könnte. Page 69
Am schwersten wird mir der Gedan[144]ke an ein Geständnis gegen Francis, weil ich mich für ihn fürchte & vor der fürchterlichen Verantwortung die ich dann tragen muß. Nur die Liebe kann dies tragen. Möge Gott mir helfen. Page 69
21. Ich habe von Hänsel auf meinen Brief eine schöne & rührende Antwort erhalten. Er schreibt, er bewundre mich. Welcher Fallstrick! Er weigert sich den Brief den andern Freunden & Verwandten zu zeigen. Ich habe daher heute ein längeres & umfassenderes Geständnis an Mining geschrieben. Bin versucht, darüber leichtfertig zu denken! Page 69
Die Schraubenmuttern, kaum angezogen, werden gleich wieder locker, weil, was sie zusammenpressen sollen,[145] wieder nachgibt. Page 69
Ich habe immer Freude an meinen eigenen guten Gleichnissen; möchte sie nicht eine so eitle Freude sein. Page 69
Du kannst Christus nicht den Erlöser nennen, ohne ihn Gott zu nennen. Denn ein Mensch kann Dich nicht erlösen.
Page 69
23. Page 69
Es fehlt auch meiner Arbeit (meiner philosophischen Arbeit) an Ernst & Wahrheitsliebe. – Wie ich auch in den Vorlesungen oft geschwindelt habe indem ich vorgab etwas schon zu verstehen, während ich noch hoffte es werde mir klar werden. Page Break 70 Page 70
24. Ich habe heute den Brief mit einem Geständnis an Mining abgeschickt. Obwohl das Geständnis offenherzig ist, so fehlt mir doch noch immer der Ernst, der der Lage entspricht. Page 70
25. Page 70
[146] Heute liess Gott mir einfallen – denn anders kann ich’s nicht sagen – dass ich den Leuten hier im Ort ein Geständnis meiner Missetaten machen sollte. Und ich sagte, ich könne nicht! Ich will nicht obwohl ich soll. Ich traue mich nicht einmal der Anna Rebni & dem Arne Draegni zu gestehen. So ist mir gezeigt worden dass ich ein Wicht bin. Nicht lange ehe mir das einfiel sagte ich mir ich wäre bereit mich kreuzigen zu lassen. Page 70
Ich hätte doch so gern, daß alle Menschen eine gute Meinung von mir haben! Wenn es auch eine falsche ist; & ich es weiß daß sie falsch ist! – Page 70
Es ist mir gegeben worden, – & ich möchte Lob dafür haben! Lehre doch mich – ! Page 70
30.11. Es bläst ein Sturm und ich kann[147] meine Gedanken nicht sammeln. – Page 70
1.12. Ein Satz kann absurd erscheinen & die Absurdität seiner Oberfläche von der Tiefe, die gleichsam hinter ihm liegt verschlungen werden. Page 70
Das kann man auf den Gedanken von der Auferstehung der Toten & auf andere mit ihm verknüpfte anwenden. – Was ihm aber Tiefe gibt ist die Anwendung: das Leben das der führt der ihn glaubt. Page 70
Denn dieser Satz z.B. kann der Ausdruck der höchsten Verantwortung sein. Denn denke doch Du würdest vor den Richter gestellt! Wie sähe Dein Leben aus, wie erschiene es Dir selbst, wenn Du vor ihm stündest. Ganz abgesehen davon, wie es etwa ihm erscheint & ob er einsichtig, oder nicht einsichtig, gnädig, oder nicht gnädig ist. Page 70
„Weiß ist auch eine Art Schwarz.“ Page 70
27.1.37 Page 70
[148] Auf der Rückkehr von Wien & England, auf der Reise von Bergen nach Skjolden. Mein Gewissen zeigt mir mich selbst als einen elenden Menschen; schwach d.h. unwillig zu leiden, feig: in Furcht Anderen einen ungünstigen Eindruck Page Break 71
zu machen z.B. dem Portier im Hotell, dem Diener, etc.. Unkeusch. Am schwersten aber fühle ich den Vorwurf der Feigheit. Hinter ihm aber steht die Lieblosigkeit (& die Überhebung). Aber die Scham die ich jetzt empfinde ist auch nichts Gutes insofern ich meine äussere Niederlage stärker empfinde als die Niederlage der Wahrheit. Mein Stolz & meine Eitelkeit sind verletzt. Page 71
In der Bibel habe ich nichts als ein Buch vor mir. Aber warum sage ich „nichts als ein Buch“? ich habe ein Buch vor mir,[149] ein Dokument, das wenn es allein bleibt, nicht mehr Wert haben kann, als irgend ein anderes Dokument. Page 71
(Das hat Lessing gemeint.) Dieses Dokument an sich kann mich zu keinem Glauben an die Lehren die es
enthält ‚verbinden‘, – so wenig wie irgend ein anderes Dokument, das mir hätte in die Hände fallen können. Soll ich die Lehren glauben so nicht deshalb weil mir dies & nicht etwas anderes berichtet worden ist. Sie müssen mir vielmehr einleuchten: & damit meine ich nicht nur Lehren der Ethik, sondern historische Lehren. Nicht die Schrift, nur das Gewissen kann mir befehlen – an Auferstehung, Gericht etc zu glauben. Zu glauben, nicht als an etwas wahrscheinliches, sondern in anderem Sinne. Und mein Unglaube kann mir nur in sofern zum Vorwurf gemacht werden, als ent[150]weder mein Gewissen den Glauben befiehlt – wenn es so etwas gibt –, oder als es mir Niedrigkeiten vorwirft; die mich in einer Weise, die ich aber nicht kenne, nicht zum Glauben kommen lassen. Das heißt, so scheint es mir, ich soll sagen: Du kannst jetzt über einen solchen Glauben gar nichts wissen, er muss ein Geisteszustand sein von dem du gar nichts weisst und der Dich solange nichts angeht als dein Gewissen ihn Dir nicht offenbart; dagegen hast du jetzt deinem Gewissen in dem zu Folgen was es dir sagt. Einen Streit über den Glauben kann es für Dich nicht geben da Du nicht weisst, (nicht das kennst) worüber gestritten wird. Die Predigt kann die Vorbedingung des Glaubens sein, aber sie, durch das was in ihr vorgeht †1, kann den Glauben[151] nicht bewegen wollen. (Könnten diese Worte zum Glauben verbinden, so könnten andere Worte auch zum Glauben verbinden.) Das Glauben fängt mit dem Glauben an. Man muss mit dem Glauben anfangen; aus Worten folgt kein Glaube. Genug. Page 71
– – – Aber gibt es nicht vielerlei Weisen sich für Tinte & Papier zu interessieren? Interessiere ich mich nicht für Tinte & Papier wenn ich einen Page Break 72
Brief aufmerksam lese? Denn jedenfalls schaue ich dabei aufmerksam auf Tintenstriche. – „Aber die sind ja hier nur Mittel zum Zweck!“ – Aber doch ein sehr wichtiges Mittel zum Zweck! – Ja freilich können wir uns andere Untersuchungen über Tinte & Papier vorstellen, die uns gar nicht interessieren, die uns für unsern Zweck ganz unwesentlich zu sein scheinen würden. Aber was uns also interessiert wird[152] die Art unserer†1 Untersuchung zeigen. Unser Gegenstand ist, so scheint es, sublim, & so sollte er, möchte man glauben†2, nicht von trivialen & in gewissem Sinne unsicheren Gegenständen handeln, sondern von Unzerstörbarem Page 72
[Ein für mich ungemein charakteristisches Phänomen kann ich auf der Reise beobachten: Ich schätze die Menschen, es sei denn daß sie mir durch ihre Erscheinung oder durch ihr Auftreten einen besonderen Eindruck machen, für minder ein als mich selbst: das heißt ich wäre geneigt das Wort „gewöhnlich“ von ihnen zu gebrauchen, ‘einer aus der Masse’ & dergleichen. Ich würde dies vielleicht nicht sagen, aber der Blick mit dem ich ihn zuerst ansehe sagt es. Es ist schon ein Urteil in diesem Blick. Ein ganz unbegründetes, & unberechtigtes. Und auch dann natürlich unberechtigtes, wenn[153] sich der Mensch bei genauerer Bekanntschaft wirklich als sehr gewöhnlich, d.h. oberflächlich, herausstellen sollte. Ich bin freilich in Vielem ungewöhnlich & daher viele Menschen gegen mich gehalten gewöhnlich; aber worin besteht denn meine Ungewöhnlichkeit?] Page 72
Wenn unsere Betrachtungen von Wort & Satz handeln so sollten sie doch in einem idealeren Sinn von ihnen handeln, als in dem, in welchem ein Wort verwischt, schwer leserlich, sein kann u.dergl.. – So werden wir dazu geführt statt dem Wort die ‘Vorstellung’des Wortes betrachten zu wollen. Wir wollen zu Reinerem, Klarerem, zu Nicht-hypothetischem. [Darauf bezieht sich die Bemerkg im Band XI.] Page 72
28.1. Noch auf der Reise im Schiff. Wir legten an einem Landungsplatz an & ich sah auf das Drahtseil, mit dem das Schiff angehängt war,[154] & der Gedanke kam mir: gehe auf dem Seil; Du wirst natürlich nach wenigen Schritten ins Wasser fallen – aber das Wasser war nicht tief & ich wäre nur Page Break 73
naß geworden aber nicht ertrunken; & vor allem wäre ich natürlich ausgelacht oder für ein wenig verrückt gehalten worden. Ich schreckte sofort vor dem Gedanken zurück, das zu tun & mußte mir gleich sagen, daß ich kein freier Mann†1, sondern ein Sklave bin. Freilich wäre es ‘unvernünftig’ gewesen dem Impuls zu folgen; aber was sagt das?! Ich verstand, was es heißt, daß der Glaube den Menschen selig macht, d.h. von der Furcht vor Menschen frei macht, indem er ihn unmittelbar unter Gott stellt. Er wird sozusagen reichsunmittelbar. Eine Schwäche ist, kein Held zu sein, aber eine noch viel schwächere†2 Schwäche den Helden zu spielen, also nicht einmal die Kraft haben, das Deficit[155] klar & ohne Zweideutigkeit in der Bilanz zu bekennen. Und das heißt: bescheiden werden: nicht in ein paar Worten, die man einmal sagt, sondern im Leben. Page 73
Ein Ideal haben ist recht. Aber wie schwer, sein Ideal nicht spielen zu wollen! Sondern es in dem Abstand von sich zu sehen, in dem es ist! Ja, ist das auch nur möglich, – oder müßte man darüber entweder gut oder wahnsinnig werden? Müßte diese Spannung, wenn sie ganz erfaßt würde, den Menschen nicht entweder zu Allem
bringen, oder ihn zerstören. Page 73
Ist es hier ein Ausweg, sich in die Arme der Gnade zu werfen? Page 73
Heute nacht folgenden Traum: Ich stand mit Paul & Mining, es war, wie auf einer vorderen Plattform eines Wagen der Elektrischen aber daß es das war, war nicht klar. Paul berichtete der Mining davon, wie begeistert mein Schwager Jérome von[156] meiner unglaublichen musikalischen Begabung gewesen sei; ich hatte am Tag vorher so wunderbar bei einem Werk von Mendelsohn, „die Bachanten“ (oder so ähnlich) hieß es, mitgesungen†3; es war als hätten wir in diesem Werk unter uns zu Hause musiziert & ich hätte außerordentlich ausdrucksvoll mitgesungen & auch mit besonders ausdrucksvollen Gesten. Paul & Mining schienen mit dem Lob Jeromes vollkommen übereinzustimmen. Jerome habe ein über das andre mal gesagt: „Welches Page Break 74
Talent!“ (oder etwas Ähnliches; ich erinnere mich daran nicht sicher) Ich hielt eine abgeblühte Pflanze in der Hand mit schwärzlichen Samenkörnern in den schon offenen Schötchen & dachte: wenn sie mir sagen sollten, wie schade es doch um mein ungenutztes musikalisches Talent sei, werde ich ihnen die Pflanze zeigen & sagen, daß die Natur mit ihrem Samen auch nicht sparsam[157] ist & daß man nicht ängstlich sein & einen Samen ruhig hinwerfen soll†1. Das ganze war von Selbstgefälligkeit getragen. – Ich wachte auf & ärgerte, oder schämte, mich wegen meiner Eitelkeit. – Es war das nicht ein Traum der Art wie ich ihn in den letzten 2 Monaten (etwa) sehr oft gehabt habe: wo ich nämlich im Traum verächtlich handle, z.B. lüge, & mit dem Gefühl aufwache: Gott sei dank, daß es ein Traum war; & den Traum auch als eine Art Warnung nehme. Möge ich nicht ganz gemein und auch nicht wahnsinnig werden! Möge Gott Erbarmen mit mir haben. Page 74
30.1. Fühle mich körperlich krank; ich bin ausserordentlich schwach & habe ein gewisses Schwindelgefühl. Wenn ich mich nur richtig zu meinem körperlichen Zustand stellen würde! Ich bin noch heute, wie als kleiner Bub beim Zahnarzt, wo ich auch immer die wirklichen Schmerzen mit der Furcht vor[158] Schmerzen vermengt habe & nicht eigentlich wusste wo das eine aufhörte & das andere anfing. Page 74
Unser Gegenstand ist doch sublim, – wie kann er dann von gesprochenen oder geschriebenen Zeichen handeln? Page 74
Nun wir reden von dem Gebrauch der Zeichen als Zeichen (& natürlich ist der Gebrauch des Zeichens nicht ein Gegenstand; der als das eigentliche & interessante†2 dem Zeichen als seinem bloßen Vertreter gegenübersteht.) Page 74
Aber was ist am Gebrauch der Zeichen Tiefes†3? Da erinnere ich mich, erstens, daran, daß Namen oft eine magische Rolle zugekommen ist, & zweitens daran, daß die Probleme, die durch ein Mißdenken der Formen unserer Sprache†4 entstehen, immer den Charakter des profunden haben. Page 74
[159] Erinnere Dich! Page 74
31.1. Denk wie uns das Substantiv „Zeit“ ein Medium vorspiegeln kann; wie es Page Break 75
uns in die Irre führen kann, daß wir einem Phantom (auf & ab) nachjagen. Page 75
Adam benennt die Tiere – – – Page 75
Gott lass mich fromm sein aber nicht überspannt! Page 75
Ich fühle mich als wäre mein Verstand in einem sehr labilen Gleichgewichtszustand; so als würde ein verhältnismäßig geringer Stoß ihn zum umschnappen bringen. Es ist so wie man sich manchmal dem Weinen nahe fühlt, den herannahenden Weinkrampf fühlt. Man soll dann recht ruhig, gleichmäßig & tief zu atmen versuchen, bis der Krampf sich löst. Und so Gott will wird es mir gelingen. Page 75
2.2. Erinnere Dich beim Philosophieren zur rechten Zeit daran, mit welcher Befriedigung Kinder( &[160] auch einfache Leute) hören das sei die größte Brücke, der höchste Turm, die größte Geschwindigkeit ... etc.. (Kinder
fragen: „was ist die größte Zahl?“) Es ist nicht anders möglich als daß ein solcher Trieb allerlei philosophische Vorurteile & daher philosophische Verwicklungen erzeugen muß. Page 75
3.2. Du sollst die Annehmlichkeiten des Lebens nicht wie ein Dieb davontragen. (Oder wie der Hund der einen Knochen gestolen hat & mit ihm davonrennt.) Page 75
Aber was bedeutet das nicht fürs Leben!! Page 75
4.2. Ich kann wohl die christliche Lösung des Problems des Lebens (Erlösung, Auferstehung, Gericht, Himmel, Hölle) ablehnen†1, aber damit ist ja das Problem meines Lebens nicht gelöst, denn ich bin nicht gut & nicht glücklich. Ich bin[161] nicht erlöst. Und wie kann ich also wissen, was mir, wenn ich anders lebte, ganz anders lebte, als einzig akzeptables Bild der Weltordnung vorschweben würde. Ich kann das nicht beurteilen. Ein anderes Leben rückt ja ganz andere Bilder in den Vordergrund, macht ganz andere Bilder notwendig. Wie Not beten lehrt. Das heißt nicht, daß man durch das andere Leben notwendig seine Meinungen ändert. Aber lebt man anders, so spricht man anders. Mit einem neuen Leben lernt man neue Sprachspiele. Page Break 76 Page 76
Denk z.B. mehr an den Tod, – & es wäre doch sonderbar, wenn Du nicht dadurch neue Vorstellungen, neue Gebiete der Sprache, kennen lernen solltest. Page 76
5.2. Kann aus irgend einem Grunde nicht arbeiten. Meine Gedanken kommen nicht[162] vom Fleck & ich bin ratlos, weiß nicht was ich in dieser Lage anfangen soll. Ich scheine hier die Zeit in unnützer Weise zu vergeuden. Page 76
6.2. Im guten Sinne „schwerverständlich“ ist ein Künstler, wenn uns das Verständnis Geheimnisse offenbart, nicht, einen Trick, den wir nicht verstanden hatten. Page 76
7.2. Es fehlt meinem Schreiben wieder an Frömmigkeit & Ergebenheit. So sorge ich mich darum daß, was ich jetzt hervorbringe Bachtin schlechter erscheinen könnte, als was ich ihm gegeben habe. Wie kann bei solcher Dummheit, Gutes herauskommen. – Page 76
8.2. Der ideale Name ist ein Ideal; d.i., ein Bild, eine Form der Darstellung, der wir zuneigen. Wir wollen die Zerstörung & Veränderung darstellen als Trennung & [163] Umgruppierung von Elementen. Diese Idee nun könnte man in gewissem Sinne erhaben nennen; sie wird es dadurch, daß wir die ganze Welt durch sie betrachten. Aber es ist nun nichts wichtiger, als daß wir uns klar werden, welche Erscheinungen, welche einfachen, hausbackenen, Fälle das Urbild zu dieser Idee sind. Das heißt: Frage Dich, wenn Du versucht bist, allgemeine metaphysische Aussagen zu machen (immer): An welche Fälle denke ich denn eigentlich? – Was für ein Fall, welche Vorstellung, schwebt mir denn da vor? Dieser Frage widersetzt sich nun etwas in uns, denn wir scheinen damit das Ideal zu gefärden: Während†1 wir es doch nur†2 tun als es an den Ort zu stellen wohin es gehört. Denn es soll das Bild sein womit wir die Wirklichkeit vergleichen, wodurch†3 wir darstellen, wie es sich verhält. Nicht,†4 ein Bild wonach wir die Wirklichkeit[164] umfälschen. Page Break 77 Page 77
Wir werden daher immer wieder fragen: „Woher nimmt sich, dieses Bild?!“ dem wir eine so allgemeine Bedeutung†1 vindizieren wollen. Page 77
Die „sublime Auffassung“ zwingt mich von dem konkreten Fall wegzugehen, da, was ich sage, ja auf ihn nicht paßt. Ich begebe mich nun in eine ätherische Region, rede vom eigentlichen Zeichen, von Regeln die es geben muß (obwohl ich nicht sagen kann wo & wie), – & gerate ‘aufs Glatteis’. Page 77
9.2. Ein Traum: Ich fahre im Eisenbahnzug & sehe durchs Fenster eine Landschaft: eine Ortschaft & ziemlich im Hintergrund sehe ich etwas, was wie zwei große Montgolfieren aussieht. Ich freue mich über den Anblick. Nun steigen sie auf, aber es zeigt sich, daß es nur eine [165] Montgolfiere ist mit einem fallschirmartigen Gebilde darüber. Beides braunrot. Wo es sich vom Boden hebt, sieht der Boden schwarz aus, wie vom Feuer. Nun aber fliege auch ich in einem Ballon. Page 77
Die Gondel ist wie ein Koupé & ich sehe durchs Fenster, daß die Montgolfiere, wie vom Wind getrieben, sich uns nähert. Es ist gefährlich, denn unser Ballon kann Feuer fangen. Nun ist die Montgolfiere ganz nah. Ich nehme an, daß unsere Mannschaft, die ich mir über meinem Koupé vorstelle, versucht, die Montgolfiere von uns wegzustoßen. Ich glaube aber, sie hat uns vielleicht schon berührt. Ich liege nun auf dem Rücken in dem Koupé; & denke: jeden Moment kann eine furchtbare Explosion erfolgen & alles aus sein. Page 77
Ich denke jetzt oft an den Tod, & daran, wie ich in der Todesnot bestehen werde; & der Traum hängt[166] damit zusamen. Page 77
13.2. Mein Gewissen plagt mich & läßt mich nicht arbeiten. Ich habe in Schriften Kierkegaards gelesen & das hat mich noch mehr beunruhigt, als ich es schon war.. Ich will nicht leiden; das ist es was mich beunruhigt. Ich will nicht auf irgendwelche Bequemlichkeit verzichten, oder auf einen Genuß. (Ich würde z.B. nicht fasten, oder mir auch nur im Essen Abbruch tun.) Aber ich will auch nicht gegen irgend jemand auftreten & mir Unfriede Page Break 78
schaffen. Wenigstens nicht, wenn der Fall nicht unmittelbar unter meine Augen gerückt wird. Aber selbst dann fürchte ich, ich möchte mich drücken. Dazu lebt in mir eine unausrottbare Unbescheidenheit. Ich möchte mich bei aller Jämmerlichkeit†1 immer mit den Bedeu[167]tendsten vergleichen. Es ist als könnte ich, nur Trost finden in der Erkenntnis meiner Jämmerlichkeit. Page 78
Laß mich daran festhalten, daß ich mich nicht selbst betrügen will. D.h. ich will eine Forderung, die ich als solche anerkenne, mir selbst immer wieder als Forderung eingestehen. Das verträgt sich völlig mit meinem Glauben. Mit meinem Glauben, wie er ist. Daraus folgt, daß ich entweder die Forderung erfüllen werde, oder darunter leiden werde, sie nicht zu erfüllen, denn ich kann sie mir nicht vorhalten & nicht darunter leiden, daß ich ihr nicht genüge. Ferner aber: Die Forderung ist hoch†2. Das heißt: was immer am Neuen Testament wahr oder falsch sein mag, eines kann nicht bezweifelt werden: daß ich, um richtig zu leben, ganz anders leben müßte, als es mir behagt. Daß das Leben viel ernster ist, als es an der Oberfläche ausschaut. Das Leben ist ein furchtbarer Ernst. Page 78
Das Höchste aber, das ich zu erfüllen[168] bereit bin, ist: „fröhlich zu sein in meiner Arbeit“. D.h.: nicht unbescheiden, gutmütig, nicht direkt lügnerisch, im Unglück nicht ungeduldig. Nicht, daß ich diese Forderungen erfülle! aber ich kann es anstreben. Was aber höher liegt kann, oder will, ich nicht anstreben, ich kann es nur anerkennen & bitten, dass der Druck dieser Anerkennung nicht zu fürchterlich wird, d.h., daß er mich leben läßt, daß er also meinen Geist nicht verdunkle. Page 78
Es muss dazu, gleichsam, durch die Decke, den Plafond, unter dem ich arbeite, über den ich nicht steigen will, ein Licht durchschimmern. Page 78
15.2. Wie das Insekt das Licht umschwirrt so ich ums Neue Testament. Page 78
Ich hatte gestern diesen Gedanken: Wenn ich ganz von Strafen im Jenseits[169] absehe: Finde ich es richtig, daß ein Mensch sein Leben lang für die Gerechtigkeit leidet dann vielleicht einen schrecklichen Tod stirbt, – & nun keinerlei Lohn für dieses Leben hat? Ich bewundere doch einen solchen, Page Break 79
stelle ihn hoch über mich, & warum sage ich nicht, er war ein Esel, daß er sein Leben so benützt hat. Warum ist er nicht dumm? Oder auch: warum ist er nicht der „elendeste Mensch“? Sollte er das nicht sein, wenn nun das alles ist, daß er ein schreckliches Leben hatte bis an sein Ende? Denke nun aber ich antwortete: „Nein er ist nicht dumm gewesen, denn nach seinem Tode geht es ihm nun gut.“ Das ist auch nicht befriedigend. Er scheint mir nicht dumm, ja, im Gegenteil, er scheint mir das Richtige zu tun. Ferner scheine ich sagen zu können: er tut das Rechte, denn er empfängt den rechten Lohn, und doch kann[170] ich mir den Lohn nicht als Belohnung nach seinem Tode denken.
„Dieser Mensch muß heimkommen“ möchte ich von einem solchen sagen. Page 79
Man stellt sich die Ewigkeit (des Lohnes oder der Strafe) für gewöhnlich als eine endlose Zeitdauer vor. Aber man könnte sie sich geradesogut als einen Augenblick vorstellen. Denn in einem Augenblick kann man alle Schrecken erfahren & alle Glückseligkeit. Wenn Du Dir die Hölle vorstellen willst so brauchst Du nicht an nie endende Qualen zu denken. Vielmehr würde ich sagen: Weißt Du welches unsagbaren Grauens ein Mensch fähig ist? Denk daran & Du weißt was die Hölle ist, obwohl es sich da gar nicht um Dauer handelt. Page 79
Und ferner, wer weiß welches Grauens er fähig ist, der weiß daß das noch immer[171] nichts ist gegen etwas noch viel Schrecklicheres, was, solange wir noch von Äußerem abgelenkt werden können, noch gleichsam verdeckt liegt. (Die letzte Rede des Mephisto im Lenauschen Faust.) Der Abgrund der Hoffnungslosigkeit kann sich im Leben nicht zeigen. Wir können nur bis zu gewisser Tiefe in ihn hineinschauen, denn „wo Leben ist, da ist Hoffnung“. Im Peer Gynt heißt es: „Zu teuer erkauft man das Bißchen Leben mit solch einer Stunde verzehrendem Beben.“ – Wenn man Schmerzen hat, so sagt man etwa: „Jetzt dauern diese Schmerzen schon 3 Stunden, wann werden sie denn endlich aufhören“, in der Hoffnungslosigkeit aber denkt man nicht: „es dauert schon so lange!“, denn da vergeht die Zeit in gewissem Sinne gar nicht. Page 79
Kann man nun nicht jemandem, & ich mir, sagen: „Du tust†1 recht Dich vor der Hoffnungslosigkeit zu fürch[172]ten! Du mußt so leben, daß sich Page Break 80
Dein Leben nicht am Ende zuspitzen kann zur Hoffnungslosigkeit. Zu dem Gefühl: Nun ist’s zu spät.“ Und es scheint mir, als könne es sich zu verschiedenem zuspitzen. Page 80
Aber kannst Du Dir denken, daß das Leben des wahrhaft Gerechten sich auch nur so zuspitzt? Muß er nicht die „Krone des Lebens“ erhalten? Fordre ich für ihn nichts Anderes? Fordre ich für ihn nicht Verherrlichung?! Ja! Aber wie kann ich mir seine†1 Verherrlichung denken? Ich könnte meinem Gefühle nach sagen: er muß nicht nur das Licht schauen, sondern unmittelbar an das Licht heran, mit ihm nun eines Wesens werden, – und dergleichen. Ich könnte also, scheint es, alle Ausdrücke brauchen, die die Religion hier tatsächlich gebraucht. Page 80
Es drängen sich mir also diese Bilder auf. Und doch scheue ich mich diese[173] Bilder & Ausdrücke zu gebrauchen. Vor allem sind es natürlich nicht Gleichnisse. Page 80
Denn was sich durch ein Gleichnis sagen läßt, das auch ohne Gleichnis. Page 80
Diese Bilder & Ausdrücke haben ihr Leben vielmehr nur in einer hohen Sphäre des Lebens nur in dieser Sphäre können sie mit Recht gebraucht werden. Ich könnte eigentlich nur eine Geste machen, die etwas Ähnliches heißt wie „unsagbar“, & nichts sagen. – Oder ist diese unbedingte Abneigung dagegen hier Worte zu gebrauchen eine Art Flucht? Eine Flucht vor einer Realität? Ich glaube nicht; aber†2 ich ich weiß es nicht. Lass mich zwar vor keinem Schluss zurückscheuen, aber auch unbedingt nicht abergläubisch sein!! Ich will nicht unreinlich denken! Page 80
16.2.37 Gott! lass mich zu dir in ein Verhältnis kommen, in dem ich „fröhlich sein kann in meiner Arbeit! [174] Glaube daran dass Gott von dir in jedem Moment alles fordern kann! Sei dir dessen wirklich bewusst! Dann bitte dass er dir das Geschenk des Lebens gibt! Denn Du kannst jederzeit in Wahnsinn verfallen oder ganz & gar unglücklich werden, wenn Du etwas nicht tust was von dir verlangt wird! Page 80
Es ist ein Ding zu Gott zu reden & ein anderes, von Gott zu Anderen zu reden. Page 80
Erhalte mir meinen Verstand rein & unbefleckt! – Page Break 81 Page 81
Ich möchte gern tief sein; – & doch scheue ich vor dem Abgrund im Menschenherzen zurück!! – Page 81
Ich winde mich unter der Qual, nicht arbeiten zu können, mich matt zu fühlen, nicht von Anfechtungen ungestört leben zu können. Und wenn ich nun bedenke,[175] was Andere, – die wirklich etwas waren –, zu leiden hatten, so ist, was ich erlebe, nichts im Vergleich. Und doch winde ich mich unter dem im Vergleich winzigen
Druck. Page 81
Meine Erkenntnis ist eigentlich: wie fürchterlich unglücklich der Mensch werden kann. Die Erkenntnis eines Abgrundes; & ich möchte sagen: Gott gebe, daß diese Erkenntnis nicht klarer wird. Page 81
Und ich kann wirklich jetzt nicht arbeiten. Der Quell ist mir versiegt & ich weiss ihn nicht zu finden. Page 81
17.2. Immer wieder ich mich auf gemeinen Gedanken, ja auf den gemeinsten Gedanken. Heuchelei der lächerlichsten Sorte & wo es das Höchste be-trifft. finde†1
Page 81
Wie man auf dünnem Eis über einem tiefen Wasser mit Angst geht, so arbeite ich heute ein wenig, soweit †2 es mir gegeben ist. [176] Page 81
Der furchtbare Augenblick im unseligen Sterben muß doch der Gedanke sein: „Oh hätte ich doch nur ... Jetzt ist’s zu spät.“ Oh hätte ich doch nur richtig gelebt! Und der seelige Augenblick muß sein: „Jetzt ist’s vollbracht!“ – Aber wie muß man gelebt haben, um sich das sagen zu können! Ich denke, es muß auch hier Grade geben. Aber ich selbst, wo bin ich? Wie weit vom Guten & wie nah am untern Ende! Page 81
18.2. Habe grosse Sehnsucht nach Francis. Fürchte für ihn. Möge ich das Richtige tun. Page 81
Wenig fällt mir so schwer, wie Bescheidenheit. Dies merke ich jetzt wieder, da ich in Kierkegaard lese. Nichts ist mir so schwer als mich unterlegen zu fühlen; obwohl es sich[177] nur darum handelt die Wirklichkeit zu sehen, so wie sie ist. Page 81
Wäre ich im Stande meine Schrift G.z.o.? Page Break 82 Page 82
Es wäre mir viel lieber zu hören: „Wenn Du das nicht tust, wirst Du Dein Leben verspielen.“, als: „Wenn Du das nicht tust, wirst Du bestraft“. Page 82
Das Erste heißt eigentlich: Wenn Du das nicht tust, ist Dein Leben ein Schein, es hat nicht Wahrheit & Tiefe. Page 82
19.2.
Heute nacht gegen morgen fiel mir ein, daß ich heute den alten Sweater herschenken sollte, den ich mir schon lange vorgenommen hatte, zu verschenken. Dabei aber kam mir auch, gleichsam als Befehl, der Gedanke, ich solle zugleich auch den neuen herschenken den ich mir - übrigens ohne eigentliches Bedürfnis - neulich in Bergen gekauft habe (er gefällt mir sehr). Ich war nun über diesen 'Befehl'[178] sogleich in einer Art Bestürzung & Empörung, wie so oft in diesen letzten 10 Tagen. Es ist aber nicht, daß ich so sehr an diesem Sweater hänge (obwohl das irgendwie mitspielt), sondern was mich 'empört' ist, daß so etwas, & also alles von mir verlangt werden kann; & zwar verlangt, - nicht, daß es als gut oder erstrebenswert empfohlen wird. Die Idee, daß ich verloren sein kann, wenn ich es nicht tue. - Nun könnte man einfach sagen: „Nun, gib ihn nicht her! was weiter?“- Aber wenn ich nun dadurch unglücklich werde? Was heißt denn aber die Empörung? Ist sie nicht eine Empörung gegen Tatsachen? Du sagst: „Es kann sein, daß von mir das furchtbar Schwerste verlangt wird.“ Was heißt das? Es heißt doch: Es kann sein, daß ich morgen fühle, daß ich meine[179] Manuscripte (z.B.) verbrennen muß; d.h., daß, wenn ich sie nicht verbrenne, mein Leben (dadurch) zu einer Flucht wird. Daß ich damit von dem Guten, von der Quelle des Lebens abgeschnitten bin. Und mich eventuell durch allerlei Possen über die Erkenntnis betäube, daß ich es bin. Und wenn ich sterbe, dann würde diese Selbstbeschwindelung ein Ende nehmen. Es ist nun ferners das wahr, daß ich nicht durch Überlegungen etwas zu etwas Rechtem machen kann, was mir in meinem Herzen als Possen erscheint. Keine Gründe der Welt könnten z.B. beweisen, daß meine Arbeit wichtig & etwas ist, was ich tun darf & soll, wenn mein Herz – ohne einen Grund – sagt, ich habe sie zu lassen. Man könnte sagen: „Was Possen sind, entscheidet der liebe Gott.“ Aber ich will diesen[180] Ausdruck jetzt nicht gebrauchen. Vielmehr: Ich kann mich, & soll mich, durch keine Gründe überzeugen, daß die Arbeit, z.B., etwas Rechtes ist. (Die
Gründe Page Break 83
die Menschen mir sagen†1 würden, – Nutzen, etc – sind lächerlich). – Heißt das nun, oder heißt es nicht, daß meine Arbeit & Alles, was ich sonst genieße, ein Geschenk ist? D.h., daß ich nicht darauf ruhen kann, als auf etwas Festem, auch abgesehen davon, daß es mir durch Unfall, Krankheit, etc. genommen werden kann. Oder vielleicht richtiger: Wenn ich nun darauf geruht habe & es für mich etwas Festes war, & es nun nicht mehr fest für mich ist, da ich eine Abhängigkeit fühle, die ich früher nicht gefühlt habe (ich sage nicht einmal: ich erkennte jetzt eine Abhängigkeit, die ich früher nicht erkannt hatte), so[181] habe ich das als Tatsache hinzunehmen. Das was mir fest war, scheint jetzt zu schwimmen & untergehen zu können. Wenn ich sage, ich muß es als Tatsache hinnehmen, so meine ich eigentlich: ich muß mich damit auseinandersetzen. Ich soll nicht darauf mit Entsetzen stieren, sondern glücklich sein dennoch. Und was bedeutet†2 das für mich? – Man könnte ja sagen: „Nimm eine Medizin, damit diese Idee dieser Abhängigkeit vergeht (oder such nach so einer).“ Und ich könnte mir natürlich denken, daß sie vorübergehen wird. Auch etwa durch einen Wechsel der Umgebung. Und wenn man mir sagte, ich sei jetzt krank, so ist†3 das vielleicht auch wahr. Aber was sagt das? – Das heißt doch: „Flieh diesen Zustand!“ Und angenommen, er hörte jetzt sogleich auf, mein Herz hört auf in den Abgrund zu sehen, es kann seine Aufmerk[182]samkeit wieder auf die Welt richten, – aber damit ist ja die Frage nicht beantwortet, was ich tun soll, wenn mir das nicht geschieht (denn dadurch, daß ich es wünsche geschieht es nicht). Ich könnte also freilich nach einem Mittel gegen diesen Zustand suchen, aber solange ich das tue, bin ich ja noch in dem Zustand (weiß auch nicht, ob & wann er aufhören wird) & soll†4 also das Rechte, meine Pflicht, tun, wie sie es in meinem gegenwärtigen Zustand ist. (Da ich ja nicht einmal weiß, ob es einen zukünftigen geben wird.) Ich kann also zwar hoffen, daß er sich ändern wird, muß mich aber in ihm jetzt einrichten. Und wie tue ich das? Was habe ich zu tun damit er, so wie er ist, erträglich wird? Welche Attitude†5 nehme ich zu Page Break 84
ihm ein? Die der Empörung? Das ist der Tod! In der Empörung schlage[183] ich nur auf mich selbst los. Das ist ja klar! wen soll ich denn damit schlagen? Ich muß mich also ergeben. Jeder Kampf dabei ist ein Kampf mit mir selbst; & je stärker ich schlage, desto stärker werde ich geschlagen. Ergeben müßte sich aber mein Herz, nicht einfach meine Hand. Hätte ich Glauben, d.h., würde ich unverzagt tun wozu die innere Stimme mich auffordert, so wäre dieses Leiden geendet. Page 84
Nicht das Knien hilft beim Beten, aber man kniet. Page 84
Nenn es alles Krankheit! Was hast Du damit gesagt? Nichts. Page 84
Nicht erklären! – Beschreiben! Unterwirf dein Herz & sei nicht bös, dass du so leiden musst! Das ist der Rat, den ich mir geben soll. Wenn du krank bist, dann richte dich in dieser Krankheit ein; sei nicht[184] bös dass du krank bist. Page 84
Das aber ist wahr, daß, sobald ich auch nur aufathmen kann, sich bei mir die Eitelkeit regt. Page 84
Lass mich dieses gestehen: Nach einem für mich schweren Tag kniete ich heute beim Abendessen & betete & sagte plötzlich kniend & in die Höhe blickend: „Es ist niemand hier.“ Dabei wurde mir wohl zu Mute als wäre ich in etwas Wichtigem aufgeklärt worden. Page 84
Was es aber eigentlich bedeutet, das weiss ich noch nicht. Ich fühle mich leichter. Aber das heisst nicht etwa: ich sei früher in einem Irrtum gewesen. Denn war es ein Irrtum, was beschützt mich davor, daß ich in ihn zurückfalle?! Also kann hier von Irrtum & einem Überwinden des Irrtums nicht die Rede sein. Und nennt man es Krankheit so kann wieder von einem Überwinden nicht die Rede[185] sein; denn die Krankheit kann mich ja jederzeit wieder überwinden. Denn ich sagte ja auch dieses Wort nicht als ich gerade wollte, sondern es kam. Und wie es kam so kann etwas anderes kommen. – „Lebe so, dass du gut sterben kannst!“ Page 84
20.2. Du sollst so leben, daß Du vor dem Wahnsinn bestehen kannst, wenn er kommt. Und den Wahnsinn sollst du nicht fliehen. Es ist ein Glück, wenn er nicht da ist, aber fliehen sollst Du ihn nicht, so glaube ich mir sagen zu müssen. Denn er ist der strengste Richter (das strengste Gericht) darüber ob mein Leben recht oder unrecht ist; er ist fürchterlich, aber Du sollst ihn dennoch nicht fliehen. Denn Du weißt ja doch nicht, wie Du ihm entkommen kannst; & während Du vor ihm fliehst, benimmst Du[186] Dich ja unwürdig. Page Break 85
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Ich lese im N.T. & verstehe Vieles & Wesentliches nicht, aber Vieles doch. Ich fühle mich heute viel wohler als Gestern. Möge es bleiben. Page 85
Man könnte mir sagen: „Du sollst Dich nicht so viel mit dem N.T. einlassen, es kann Dich noch verrückt machen.“ – Aber warum ‘soll’ ich nicht, – es sei denn, daß ich selbst fühlte, ich soll nicht. Wenn ich glaube, in einem Raum das Wichtige, die Wahrheit, sehen zu können – oder sie finden zu können, dadurch, daß ich hineingehe, so kann ich doch fühlen, ich soll hineingehen, was immer mir drin geschieht & ich soll nicht aus Furcht es vermeiden, hineinzugehen. Drinnen sieht es vielleicht schaurig aus, und man möchte gleich wieder hinaus[187]laufen; aber soll ich nicht versuchen standhaft zu bleiben? Ich möchte in so einem Fall, dass mir jemand auf die Schulter klopft & mir sagt: “Fürchte dich nicht! denn das ist recht.” Page 85
Ich danke Gott, dass ich in die Einsamkeit nach Norwegen gekommen bin! Page 85
Wie kommt es, daß die Psalmen (die Bußpsalmen), die ich heute gelesen habe eine Speise für mich sind & das N. T. eigentlich bis jetzt noch keine Speise? Ist es bloß zu ernst für mich? Page 85
Der Unschuldige muß anders sprechen, als der Schuldige, & andere Anforderungen stellen. Bei David kann nicht stehen: „Seid vollkommen“, es heißt nicht, daß man sein Leben zum Opfer bringen soll & es wird nicht eine ewige Seeligkeit versprochen. Und das Annehmen dieser Lehre – so scheint es mir – erfordert, daß man sagt:[188] „Dieses Leben mit allerlei Lust & Schmerz ist doch nichts! Dazu kann es doch nicht da sein! Es muß doch etwas viel Absoluteres sein. Es muß zum Absoluten streben. Und das einzig Absolute ist, wie ein kämpfender, ein stürmender Soldat das Leben durchzufechten auf den Tod los. Alles Andere ist Zaudern, Feigheit, Bequemlichkeit also†1 Erbärmlichkeit.“ Das ist natürlich nicht Christentum, denn hier ist z.B. von ewigem Leben & ewiger Strafe keine Rede. Aber ich verstünde auch, wenn Einer sagte: Das Glück in einem ewigen Verstande ist nur so zu erreichen; & kann nicht erreicht werden, dadurch daß man sich hier bei allerlei kleinem Glück aufhält. Aber hier ist noch immer nicht von einer ewigen Verdammnis die Rede. Page 85
Dieses Streben nach dem Absoluten, welches alles irdische Glück zu[189] kleinlich erscheinen läßt, den Blick hinaufwendet & nicht eben, Page Break 86
auf die Dinge, sieht, erscheint mir als etwas Herrliches, Erhabenes, aber ich selbst richte meinen Blick auf die irdischen Dinge; es sei denn, daß mich „Gott heimsucht“ & der Zustand über mich kommt, in dem das nicht möglich ist. Ich glaube: Ich soll das & das tun, & das & das nicht tun; & das kann ich in jener matteren Beleuchtung von oben tun; das ist nicht jener Zustand. Warum soll ich heute meine Schriften verbrennen?! Ich denke nicht dran! – Aber ich denke schon dran, wenn die Finsternis auf mich herabgestiegen ist & droht auf mir zu bleiben. Es ist dann als hätte ich meine Hand auf einem Gegenstand & er würde heiß & ich hätte die Wahl zwischen Fahrenlassen & Verbrennen. In dieser Lage will man die Worte der Bußpsalmen gebrauchen. [190] Page 86
(Den eigentlichen Christenglauben – nicht den Glauben – verstehe ich noch gar nicht.) Page 86
aber ihn suchen das wäre Verwegenheit. Page 86
Denk, jemand in einem furchtbaren Schmerz, wenn etwa etwas Bestimmtes in seinem Körper vorgeht, schriee „Fort, fort!“, obwohl nichts ist, was er fort wünscht, – könnte man nun sagen: „Diese Worte sind falsch angewendet“?? So etwas würde man doch nicht sagen. Ebensowenig, wenn er z.B. in diesem Zustand eine ‘abwehrende’ Geste macht, oder aber auf die Knie fällt & die Hände faltet könnte man das vernünftigerweise als falsche Gebärden erklären. Er tut eben das in so einer Lage. Hier kann von ‘falsch’ nicht die Rede sein. Welche Anwendung sollte richtig sein, wenn eine notwendige falsch ist? Anderseits könn[191]te man nicht sagen, es sei eine richtige Anwendung der Gebärde gewesen & deshalb sei hier jemand gewesen, vor dem er gekniet hat†1. Es sei denn daß diese beiden Aussagen identischen Sinn haben sollen, & dann ist auch das „daher“ falsch. Wende das aufs Gebet an. Wer die Hände ringen & flehen muß, wie könnte man von dem sagen er sei im Irrtum, oder in einer Einbildung. Page 86
21.2. Die Leiden des Geistes los werden, das heißt die Religion los werden. Page 86
Hast Du nicht in deinem ganzen Leben irgendwie gelitten (nur nicht auf diese Art), & willst du jetzt lieber zurück zu diesen Leiden?! Page 86
Ich bin gutmütig aber ich bin ausserordentlich feige & darum schlecht. Ich möchte Leuten helfen, wo es keine grössere Anstrengung, aber vor allem, keinen Page Break 87
Mut kostet. [192] Komme ich selbst dabei in die geringste Gefahr, so scheue ich zurück. Und unter Gefahr meine ich z.B. die etwas von der guten Meinung der Menschen zu verlieren. Page 87
Ich könnte die feindliche Linie immer nur stürmen, wenn von hinten auf mich geschossen wird. Page 87
Wenn ich leiden muss so ist es doch besser durch den Kampf des Guten mit dem Schlechten in mir, als durch den Kampf im Bösen.†1 Page 87
Was ich jetzt glaube: Ich glaube, dass ich mich nicht vor den Menschen oder ihrer Meinung fürchten sollte wenn ich tun will, was ich für recht halte. Page 87
Ich glaube, dass ich nicht lügen soll; dass ich den Menschen gut sein soll; dass ichmich sehen[193] soll wie ich wirklich bin; dass ich meine Bequemlichkeit opfern soll, wenn es etwas Höheres gillt; dass ich in guter Weise fröhlich sein soll, wenn es mir gegeben ist, aber wenn nicht, dass ich dann mit Geduld & Standhaftigkeit die Trübseligkeit ertrage; dass der Zustand welcher alles von mir fordert durch das Wort „Krankheit“, oder „Wahnsinn“, nicht erledigt ist, d.h.: dass ich in diesem Zustand ebenso verantwortlich bin, wie ausserhalb, dass er zu meinem Leben gehört wie jeder andere und ihm die also volle Aufmerksamkeit gebührt. Einen Glauben an eine Erlösung durch den Tod Christi habe ich nicht; oder aber noch nicht. Ich fühle auch nicht etwa, dass ich auf dem Wege zu so einem Glauben sei, aber ich halte es für möglich, dass ich einmal hier etwas verstehen werde, wovon ich jetzt[194] nichts verstehe, was mir jetzt nichts sagt, & dass ich dann einen Glauben haben werde, den ich jetzt nicht habe. – Ich glaube, dass ich nicht abergläubisch sein soll†2, d.h., dass ich nicht für mich mit Worten, die ich etwa lese, Magie treiben soll, d.h., mich nicht in eine Art Glauben, eine Art Unvernunft hineinreden soll & darf. Ich soll meine Vernunft nicht verunreinigen. (Der Wahnsinn aber verunreinigt die Vernunft nicht. Auch wenn er†3 nicht ihr Wächter ist) Page 87
Ich glaube, dass der Mensch sein Leben ganz in allen seinen Handlungen von Eingebungen leiten lassen kann, und ich muss jetzt glauben, dass dies das höchste Leben ist. Ich weiss, dass ich so leben könnte, wenn ich wollte, wenn ich Page Break 88
dazu den Mut hätte. Ich habe ihn aber nicht und muss hoffen dass mich[195] das nicht zu Tode, das heisst ewig, unglücklich machen wird. Page 88
Möge die Trübsal, das Elendgefühl, während ich das alles schreibe irgendwie reinigen! Page 88
Ich lese immer wieder in den Briefen des Apostel Paulus & ich lese nicht gern in ihnen. Und ich weiss nicht, ob der Widerstand & Widerwille den ich da empfinde, nicht, zum Teil wenigstens, von der Sprache herrührt, nämlich vom Deutschen, Germanischen, also von der Übersetzung. Ich weiss es aber nicht. Es ist mir, als wäre es nicht bloss die Lehre, die mich durch ihre Schwere, Grösse, durch ihren Ernst, abstösst, sondern auch (irgendwie) die Persönlichkeit des Lehrenden.†1 Es scheint mir, als wäre mir, ausser allem jenem, irgend etwas fremd, & dadurch abstossend, in der Lehre. Wenn er, z.B., sagt „Das sei ferne!“, so ist mir etwas unan[196]genehm an der blossen Art des Raisonnements. Aber es ist möglich dass dies sich ganz abstossen würde, wenn ich mehr vom Geist des Briefes ergriffen würde. Ich halte es aber für möglich, dass die nicht unwichtig ist. Page 88
Ich hoffe dass die jetzige Traurigkeit & Qual die Eitelkeit in mir verbrennen möchten. Aber wird sie nicht sehr bald wiederkommen wenn die Qual aufhört? Und soll die darum nie aufhören?? Das möge Gott verhüten. Page 88
In meiner Seele ist (jetzt) Winter, wie rings um mich her. Es ist alles verschneit, es grünt & blüht nichts. Page 88
Ich sollte also geduldig warten, ob es mir beschieden ist, einen Frühling zu sehen. Page 88
22.2. Habe Mut & Geduld auch zum Tod, dann wird dir vielleicht das Leben geschenkt! Möchte doch der Schnee[197] um mich beginnen wieder Schönheit zu gewinnen & nicht bloss Traurigkeit zu haben! Page 88
Ich träumte heute morgen: Ich stehe am Klavier (undeutlich gesehen) & sehe auf einen Text eines Schubert-Liedes. Ich weiß, daß er im Ganzen sehr dumm ist, bis auf eine schöne Stelle am Ende, die heißt: Page 88
„Betrittst Du wissend meine Vorgebirge, Page 88
Ward Dirs in einem Augenblicke klar,“ Page Break 89 Page 89
Dann weiß ich nicht, was kommt & es schließt: „Wenn†1 ich vielleicht schon in der Grube modre.“ Page 89
Gemeint ist: Wenn Du in Deinen (philosophischen) Gedanken an die Stelle kommst, wo ich war, dann (soll es heißen) fühle Achtung für mein Denken, wenn ich vielleicht etc.. Page 89
Gott sei es gedankt, dass ich mich[198] heute etwas ruhiger & wohler fühle. Wenn immer aber ich mich wohler fühle, ist mir die Eitelkeit sehr nahe. Page 89
Ich sage mir jetzt oft, in zweifelhaften Zeiten: „Es ist niemand hier.“ und schaue um mich. Möge aber das in mir nichts Gemeines werden! Page 89
Ich glaube ich soll mir sagen: „Sei nicht knechtisch in deiner Religion!“ Oder, versuche, es nicht zu sein! Denn das ist in der Richtung zum Aberglauben. Page 89
Der Mensch lebt sein gewöhnliches Leben mit dem†2 Scheine eines Lichts dessen er sich nicht bewusst wird, als bis es auslöscht. Löscht es aus so ist das Leben plötzlich alles Wertes, Sinnes, oder wie man sagen will, beraubt. Man wird plötzlich inne, dass die blosse Existenz –[199] wie man sagen möchte – an sich noch ganz leer, öde ist. Es ist wie wenn der Glanz von allen Dingen weggewischt wäre, alles ist tot. Das geschieht z.B. manchmal nach einer Krankheit – ist aber darum natürlich nicht unwirklicher oder unwichtiger, d.h. nicht mit einem Achselzucken zu erledigen. Man ist dann lebendig gestorben. Oder vielmehr: das ist der eigentliche Tod, den man fürchten kann, denn das blosse ‘Ende des Lebens’ erlebt man ja nicht (wie ich ganz richtig geschrieben habe). Aber was ich hier jetzt geschrieben habe, ist auch nicht die volle Wahrheit. Page 89
In meinen dummen Gedanken vergleiche ich mich mit den höchsten Menschen! Page 89
Das Fürchterliche was ich beschreiben wollte ist eigentlich, dass man „auf nichts mehr ein Recht hat“. [200] „Der Segen ist mit nichts.“ D.h.: Es ist mir als hätte jemand von dessen freundlichem Zusehen alles abhängt †3, gesagt: „Tu, was du willst, aber meine Zustimmung hast du nicht!“ Warum heisst es: „Der Herr zürnt“. – Er kann dich verderben. Man kann dann sagen man fahre zur†4 Page Break 90
Hölle. Aber das ist eigentlich kein ‘Bild’, denn wenn ich wirklich in einen Abgrund fahren würde so müsste das nicht furchtbar sein. Ein Abgrund ist ja nichts Schreckliches; & was ist denn die Hölle: dass man ich meine, durch dieses Bild erklären könnte? Vielmehr muss man diesen Zustand „eine Ahnung von der Hölle“ nennen – denn man möchte in ihm auch sagen: Es kann noch furchtbarer werden: denn noch ist nicht jede Hoffnung ganz ausgelöscht. Kann man sagen, dass man deshalb so leben muss, dass,[201] wenn man nicht mehr hoffen kann, man etwas hat, um sich daran zu erinnern? Page 90
Lebe so, dass du vor jenem Zustand bestehen kannst: denn all dein Witz, all dein Verstand werden dir dann nichts helfen. Du bist mit ihnen verloren, als wenn du sie gar nicht hättest. (Du könntest ebensogut deine guten Beine brauchen wollen, wenn du durch die Luft fällst.) Dein ganzes Leben ist (ja) untergraben, also du mit allem
was du hast. Du hängst zitternd, mit allem was du hast, über dem Abgrund. Es ist furchtbar, dass es so etwas geben kann. Diese Gedanken habe ich vielleicht, weil ich hier jetzt so wenig Licht sehe; aber es ist hier nun so wenig Licht und ich habe sie. Wäre es nicht komisch jeman[202]dem zu sagen: Mach dir nichts draus, du stirbst ja jetzt nur, weil du einige Minuten keine Luft kriegst. Mit allem Stolz, aller deiner Einbildung auf das & jenes, bist du dann verloren, sie halten dich nicht, denn sie sind mit untergraben und alles was du hast. Du sollst Dich aber vor diesem Zustand, obwohl er fürchterlich ist, nicht fürchten. Du sollst ihn nicht frivol vergessen & ihn doch nicht fürchten. Er wird deinem Leben dann Ernst geben & nicht Grauen. (Ich glaube so.) Page 90
23.2. Man kniet & schaut nach oben & faltet die Hände & spricht, & sagt man spricht mit Gott, man sagt Gott sieht alles was ich tue; man sagt Gott spricht zu mir in meinem Herzen; man spricht von den Augen, der Hand, dem Mund Gottes, aber nicht von andern Teilen[203] des Körpers: Lerne†1 daraus die Grammatik des Wortes „Gott“! [Ich habe irgendwo gelesen, Luther hätte geschrieben, die Theologie sei die „Grammatik des Wortes Gottes“, der heiligen Schrift.] Page 90
Respekt vor dem Wahnsinn – das ist eigentlich alles, was ich sage. Page Break 91 Page 91
Ich bleibe immer wieder in der Komödie sitzen, statt hinaus auf die Strasse zu gehen. Page 91
Eine religiöse Frage ist nur entweder Lebensfrage oder sie ist (leeres) Geschwätz. Dieses Sprachspiel – könnte man sagen – wird nur mit Lebensfragen gespielt. Ganz ähnlich, wie das Wort „Au-weh“ keine Bedeutung hat – ausser als Schmerzensschrei. Page 91
Ich will sagen: Wenn eine ewige Seeligkeit nicht für mein Leben, meine Lebensweise, etwas bedeutet, dann habe ich mir über sie nicht den Kopf zu zerbrechen; kann ich [204] mit Recht darüber denken, so muß, was ich denke, in genauer Beziehung zu meinem Leben stehen, sonst ist, was ich denke, Quatsch, oder mein Leben in Gefahr. – Eine Obrigkeit, die nicht wirkt, nach der ich mich nicht zu richten habe, ist keine Obrigkeit. Wenn ich mit Recht von einer Obrigkeit rede, muß ich selbst auch von ihr abhängen. Page 91
24.2. Nur wenn ich kein (gemeiner) Egoist bin, kann ich auf einen sanften Tod hoffen. Page 91
Der Reine hat eine Härte, die schwer zu ertragen ist. Darum nimmt man die Ermahnungen eines Dostojevski leichter an, als eines Kierkegaard. Der eine druckt noch, während der andere schon schneidet. Page 91
Wenn du nicht bereit bist, deine Arbeit für etwas noch höheres zu opfern, so wird kein[205] Segen mit ihr sein. Denn ihre Höhe erhält sie, dadurch dass du sie in die wahre Höhenlage†1 im Verhältnis zum Ideal stellst.†2 Page 91
Darum vernichtet Eitelkeit den Wert der Arbeit. So ist die Arbeit des Kraus, z.B., zur ‘klingenden Schelle’ geworden. (Kraus war ein, ausserordentlich begabter, Satzarchitekt.) Page 91
Es scheint, ich erhalte wieder nach & nach Arbeitskraft. Denn in den letzten 2–3 Tagen konnte ich wieder mehr & mehr, obwohl doch noch wenig, über Philosophie denken & Bemerkungen schreiben. Anderseits habe ich in meiner Brust das Gefühl, als ob mir das Arbeiten vielleicht trotzdem nicht gestattet†3 sei. D.h., ich fühle mich nur mäßig, oder nur halb, glücklich beim Arbeiten & habe eine gewisse Furcht es möchte mir untersagt Page Break 92
werden. D.h., ein Unglücksgefühl möchte über mich[206] hereinbrechen, welches mir das Weiterarbeiten in Sinnlosigkeit verwandelt & mich zwingt, die Arbeit niederzulegen. Möge das aber nicht geschehen!! – Dies aber hängt zusammen, mit dem Gefühl, daß ich zu wenig liebevoll bin, d.h. zu egoistisch. Daß ich zu wenig um das sorge, was Andern wohltut. Und wie kann ich ruhig leben, wenn ich nicht dabei hoffen kann, sanft zu sterben. Gott besser es!! Page 92
„Es ist niemand hier“, – aber ich kann auch allein wahnsinnig werden. Page 92
Es ist merkwürdig, daß man sagt, Gott habe die Welt erschaffen, & nicht: Gott erschaffe, fortwährend, die
Welt. Denn warum soll es ein größeres Wunder sein, daß sie zu sein begonnen hat, als daß sie fortfuhr zu sein. [207] Man wird von dem Gleichnis des Handwerkers verleitet. Daß Einer einen Schuh macht, ist eine Leistung, aber einmal (aus Vorhandenem) gemacht, bleibt er von selbst einige Zeit bestehen. Denkt man sich aber Gott als Schöpfer, muß die Erhaltung des Universums nicht ein ebensogroßes Wunder sein als seine Schöpfung, – ja, sind die beiden nicht eins? Warum†1 soll ich einen einmaligen Akt der Schöpfung postulieren†2 & nicht einen dauernden Akt des Erhaltens – der einmal angefangen hat, der einen zeitlichen Anfang hatte oder, was aufs Gleiche hinausläuft, ein dauerndes Erschaffen? Page 92
27.2. War 2 Tage weg mit Joh. Bolstad, auf der Suche nach einem Dienstmädchen für Frk. Rebni; ohne Erfolg. (Es war schön & angenehm.) Nun bin ich etwas unernst; aber – Gott sei Dank – nicht unglücklich. Page 92
Das Christentum sagt: Du sollst hier (in dieser Welt) – sozusagen – nicht sitzen, sondern gehen. [208] Du musst hier weg; & sollst nicht plötzlich weggerissen werden, sondern tod sein, wenn dein Körper stirbt. Page 92
Die Frage ist: Wie gehst du durch dies Leben†3? – (Oder: Das sei deine Frage!) – Denn meine Arbeit, z.B., ist ja nur ein Sitzen in der Welt. Ich aber soll gehen & nicht bloss sitzen. Page 92
28.2.37 Es ist doch möglich daß ich nach etlichen zusammenhängenden Kapiteln Page Break 93
in meiner Arbeit bloß lose Bemerkungen schreiben kann & soll. Ich bin doch ein Mensch, & abhängig von dem, wie es geht! Aber es ist mir schwer das wirklich einzusehen. Page 93
1.3. Ich möchte immer von der Wahrheit, die ich weiß & wenn sie unangenehm ist, etwas abhandeln & [209] habe immer wieder Gedanken, mit denen ich mich selbst betrügen will. Page 93
Wird es mir gegeben sein, weiter zu arbeiten? Ich arbeite, denke & schreibe, jetzt täglich einiges, das meiste davon nur mäßig gut. Ist das aber nun das Versiegen dieser Arbeit, oder wird der Bach weiter rinnen, & wachsen? Wird die Arbeit sozusagen ihren Sinn verlieren? Ich wünsche es nicht; aber es ist möglich! – Denn erst muß man leben, – dann kann man auch philosophieren. Page 93
Ich denke die ganze Zeit an’s Essen. Da meine Gedanken wie in einer Sackgasse angelangt sind, kommen sie immer wieder auf’s Essen zurück als auf das, was die Zeit vertreibt. Page 93
In einem abscheulichen Geisteszustand: Ohne Gedanken, stier, meine Arbeit sagt mir gar nichts & ich bin hier in der Öde ohne Sinn & Zweck [210] Als hätte sich jemand einen Witz mit mir erlaubt, mich hier her gebracht & hier sitzen lassen. Page 93
2.3. Heute ging es mir besser beim Arbeiten; Gott sei Dank. Es schien wieder etwas Sinn in der Arbeit zu sein. Page 93
3.3. Wieviel leichter ist es doch noch, zu arbeiten, als der Arbeit den rechten Platz anzuweisen! Page 93
Das Knien bedeutet, dass man ein Sklave ist. (Darin†1 könnte die Religion bestehen.) Page 93
4.3. Herr, wenn ich nur wüsste, dass ich ein Sklave bin! Page 93
Die Sonne kommt jetzt sehr nahe zu meinem Haus & ich fühle mich froher! Es geht mir unverdient gut. – Page 93
6.3 Page Break 94
Ich schreibe öfters Philosophische Bemerkungen die[211] ich einst gemacht habe an der falschen†1 Stelle ab: dort arbeiten sie nicht! Sie müssen dort stehen, wo sie ihre volle Arbeit leisten!†2
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Es ist interessant, wie falsch Spengler, der sonst viel Urteil hat, Kierkegaard einschätzt. Hier ist einer der zu groß für ihn ist & zu nahe steht, er sieht nur ‘die Stiefel des Riesen’. – Page 94
Ich weiss, ich bin gemein, & doch fühle ich mich jetzt so viel wohler als vor einigen Tagen & Wochen. Fast fürchte ich mich vor diesem Wohlsein, da es so unverdient ist. Und doch bin ich froh. Möchte ich nicht zu gemein sein! Page 94
8.3. Ich habe jetzt eine große Sehnsucht danach, die Sonne von meinem Haus zu sehen & stelle täglich Schätzungen an wieviele Tage sie noch wegbleiben[212] wird. Ich glaube sie kann nicht vor 10 Tagen von mir zu sehen sein & vielleicht nicht vor 2 Wochen, obwohl ich mir gesagt habe, ich werde sie schon in 4 Tagen sehen. Aber werde ich noch 2 Wochen leben?? Ich muß mir immer wieder sagen, daß es auch herrlich genug ist, wenn ich den starken Schein sehe, den ich jetzt schon sehe & daß ich damit ganz zufrieden sein kann. Auch das ist unverdient! & ich soll nur dankbar sein! Page 94
10.3. Es geht mir unverdient gut. Page 94
12.3. Ich bin ein Mensch von geringem Talent; möge ich dennoch etwas Rechtes leisten. Denn das ist möglich! glaube ich. – Möchte ich unbestechlich sein! Darin würde das Wertvolle liegen. Page 94
13.3 Wie schwer ist es sich selbst[213] zu kennen, sich ehrlich einzugestehen, was man ist! Page 94
Es ist eine ungeheuere Gnade, wenn auch noch so ungeschickt, über die Sätze in meiner Arbeit nachdenken zu dürfen. Page 94
14.3. Ich glaube, daß heute die Sonne in mein Fenster hereinscheinen wird. Bin wieder enttäuscht worden. Page Break 95
15.3. Page 95
Sich selbst zu erkennen ist furchtbar, weil man zugleich die lebendige†1 Forderung erkennt, &, daß man ihr nicht genügt. Es gibt aber kein besseres Mittel sich selbst kennen zu lernen, als den Vollkommenen zu sehen. Daher muß der Vollkommene einen Sturm der Empörung in den Menschen wecken; wenn sie sich nicht ganz & gar demütigen wollen. Ich glaube, die Worte: „Seelig, wer sich nicht an mir ärgert“, meinen:[214] Seelig, wer den Anblick des Vollkommenen aushält. Denn Du mußt vor ihm in Staub fallen, & das tust Du nicht gern. Wie willst Du nun den Vollkommenen nennen? Ist er Mensch? – Ja, in einem Sinne ist er natürlich Mensch. Aber in anderem Sinne ist er doch etwas ganz anderes. Wie willst Du ihn nennen? mußt Du ihn nicht „Gott“ nennen? Denn was entspräche dieser Idee, wenn nicht das? Aber früher hast Du vielleicht Gott in der Schöpfung gesehen, d.h. in der Welt; & nun siehst Du ihn, in anderem Sinn, in einem Menschen. Page 95
Einmal sagst Du nun: „Gott hat die Welt erschaffen“ & einmal: „Dieser Mensch ist – Gott“. Aber Du meinst nicht, daß dieser Mensch die Welt erschaffen hat, & doch ist hier eine Einheit. Page 95
Wir haben zwei verschiedene Vorstellungen von Gott: oder, wir haben zwei[215] verschiedene Vorstellungen & gebrauchen für beide das Wort Gott. Page 95
Wenn Du nun aber an eine Vorsehung glaubst: d.h., wenn Du glaubst, daß nichts, was geschieht, anders geschieht, als durch den Willen Gottes; dann mußt Du also auch glauben, daß dies Größte, daß ein Mensch zur Welt kam, der Gott ist, durch Gottes Willen geschehen ist. Muß dann aber dies Faktum nicht für Dich ‘entscheidende Bedeutung’ haben? Ich meine: muß das dann nicht für Dein Leben Konsequenzen haben, Dich zu etwas verpflichten? Ich meine: mußt Du nicht in ethische Beziehungen zu ihm treten? Denn Du hast doch z.B. dadurch Pflichten, daß Du einen Vater & eine Mutter hast & nicht z.B. ohne sie auf die Welt gesetzt worden bist. Hast Du also[216] nicht auch Pflichten durch & gegen jenes Factum?
Page 95
Empfinde ich nun aber solche Pflichten? Mein Glaube ist zu schwach. Page 95
Ich meine, mein Glaube an die Vorsehung, mein Gefühl: „es geschieht Page Break 96
alles durch Gottes Willen“. Und dies ist nicht eine Meinung – auch nicht eine Überzeugung, sondern eine Attitude den Dingen & dem Geschehen gegenüber. Möge ich nicht frivol werden! Page 96
16.3. Hast Du eine wertvolle Bemerkung gefunden; & sei es auch nur ein Halbedelstein, so mußt Du ihn jetzt richtig fassen. Page 96
Ich dachte heute: „Arrangiere ich nicht meine Gedanken, wie meine Schwester Gretl die Möbel in einem Zimmer?“ Und dieser Gedanke war mir zuerst nicht angenehm. Page 96
Ich dachte gestern an den Ausdruck: „ein reines Herz“; warum [217] habe ich keines? Das heißt doch: warum sind meine Gedanken so unrein! Eitelkeit, Schwindel, Mißgunst ist immer wieder in meinen Gedanken. Möge Gott mein Leben so lenken, daß es anders wird. Page 96
17.3. Es ist wegen der Wolken unmöglich zu sehen, ob die Sonne schon über dem Berg steht oder noch nicht & ich bin vor Sehnsucht sie endlich zu sehen fast krank. (Ich möchte mit Gott rechten.) Page 96
18.3. Die Sonne dürfte jetzt über dem Berg stehen, aber sie ist des Wetters wegen nicht zu sehen. Wenn Du mit Gott rechten willst, so heißt das, Du hast einen falschen Begriff von Gott, Du bist in einem Aberglauben.†1 Du hast einen unrichtigen Begriff, wenn Du auf das Schicksal erzürnt bist. Du sollst [218] Deine Begriffe umstellen. Zufriedenheit mit Deinem Schicksal müßte†2 das erste Gebot der Weisheit sein. Page 96
Ich habe heute die Sonne von meinem Fenster gesehen in dem Augenblick, als sie anfing hinter dem westlichen Berg aufzugehen. Gott sei Dank. Aber ich glaube nun, zu meiner Schande, daß mir dieses Wort nicht genug vom Herzen gekommen ist. Denn ich war wohl froh, als ich die Sonne nun wirklich erblickte, aber meine Freude war doch zu wenig tief, zu lustig, nicht wahrhaft religiös. Oh, wäre ich doch tiefer! Page 96
19.3. Ca 20 Min. nach 12 kommt jetzt der Rand der Sonne über den Berg zum Vorschein. Sie bewegt sich an der Bergschneide entlang, so daß sie nur zu Page Break 97
einem Teil zu sehen ist, zur Hälfte oder weniger, oder mehr. Nur auf wenige Augenblicke war sie beinahe ganz zu sehen. [219] Und das zeigt, daß sie doch nur gestern erst über den Horizont gekommen ist; wenn nicht gar heute zum ersten Mal. Um 1h war sie schon untergegangen. Und sie kommt nun noch einmal gerade vor dem Untergehen. Page 97
20.3. Ich glaube: ich verstehe, daß der Geisteszustand des Glaubens den Menschen seelig machen kann. Denn wenn der Mensch glaubt, von ganzem Herzen glaubt, daß der Vollkommene sich für ihn hingegeben, sein Leben geopfert, hat, daß er ihn damit – von Anfang – mit Gott ausgesöhnt hat, so daß Du nun nur noch dieses Opfers würdig weiter leben sollst, – so muß dies den ganzen Menschen veredeln, sozusagen, in den Adelstand erheben. Ich verstehe – will ich sagen – daß dies eine Bewegung der Seele zur Seeligkeit ist. [220] Page 97
Es heißt – glaube ich –: „Glaubt daran, daß ihr nun ausgesöhnt seid, & sündiget ‘hinfort nicht mehr’!“ – Aber es ist auch klar, daß dieser Glauben eine Gnade ist. Und, ich glaube, die Bedingung für ihn ist, daß wir unser Äußerstes tun & sehen, daß es uns zu nichts führt, daß, soviel wir uns auch plagen, wir unversöhnt bleiben. Dann kommt die Versöhnung zu Recht†1. Page 97
Ist nun aber der verloren, der dieses Glaubens nicht ist? Das kann ich nicht glauben; oder aber noch nicht glauben. Denn vielleicht werde ich’s glauben. Wenn hier vom ‘Geheimnis’ jenes Opfers gesprochen wird: so müßtest Du die Grammatik des Wortes „Geheimnis“ hier verstehen!
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Es ist niemand hier: & doch spreche ich & danke & bitte. Aber ist darum dies Sprechen [221] & Danken & Bitten ein Irrtum?! Page 97
Eher könnte ich sagen: „Das ist das Merkwürdige!“ Page 97
Bin im Zweifel, was ich in der nächsten Zukunft tun soll. Eine Stimme in mir sagt mir, daß ich jetzt von hier weg soll, & nach Dublin. Aber anderseits hoffe ich wieder, daß ich das jetzt nicht tun muß. Ich möchte sagen: Möchte es mir vergönnt sein, noch hier einige Zeit zu arbeiten! – Ich bin aber, sozusagen, am Schluß eines Abschnittes meiner Arbeit angelangt. Page 97
Gott, welche Gnade ist es, ohne furchtbare Probleme leben zu können! Möchte sie bei mir bleiben! Page 97
21.3. Page Break 98
Bin gemein & niedrig & es geht mir nur zu gut. Und doch bin ich froh dass es mir nicht schlechter geht! Lieben Brief von Max. Page 98
22.3. [222] Heute geht die Sonne hier um 12h auf & erscheint nun ganz. Page 98
Die Bäume waren heute früh dick mit Schnee beladen, nun schmilzt er aller. – Ich bin immer wieder zur Eitelkeit geneigt auch über meine Eintragungen hier & ihren Stil. Möge Gott es bessern. – Die erste Fliege aussen an meinem Fenster, wo es die Sonne bescheint. Um 1h geht die Sonne wieder unter & kommt aber noch einmal zum Vorschein. Vor dem Untergehen ist die Sonne noch einmal für etwa 10 Minuten zu sehen. Page 98
Es ist niemand hier: Aber es ist eine herrliche Sonne hier, & ein schlechter Mensch. – Page 98
23.3. Ich bin wie ein
Bettler, der manchmal reluctantly†1
zugibt, daß er kein König ist.
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Heute kam die Sonne von ca. ¾12 bis[223] ¼ 2, dann einen Augenblick um ¾ 4 über dem Berg zum Vorschein & ehe sie untergeht scheint sie wieder herein. Page 98
Hilf & Erleuchte! Aber wenn ich morgen etwas glauben sollte was ich heute nicht glaube, so war ich darum heute nicht in einem Irrtum. Denn dieses ‘glauben’ heißt ja nicht meinen. Aber mein Glaube morgen kann lichter (oder dunkler) sein als mein Glaube heute. Hilf & Erleuchte! & möge kein Dunkel über mich kommen! Page 98
24.3. Ich bitte, & ich hab’s schon so, wie ich’s haben will: nämlich halb Himmel, halb Hölle! Page 98
Die Sonne geht um ca ½ 2 unter geht aber dann dem Rand des Berges so entlang daß man noch längere Zeit ihren äußersten Rand wahrnimmt. Es ist herrlich! Sie ist also doch nicht eigentlich untergegangen. – Page 98
[224] Ich hatte heute diesen Gedanken: Als ich meine Beichte seinerzeit niedergeschrieben hatte da dachte ich ein paar mal auch an meine Mama & dachte ich könne sie in irgend einem Sinne nachträglich durch mein Geständnis Page Break 99
erlösen; auch sie nämlich habe, in irgend einem Sinn, ein solches Geständnis auf dem Herzen gehabt & sei es in ihrem Leben nicht losgeworden, denn sie sei verschlossen geblieben. Und mein Geständnis, kam es mir vor, spreche nun endlich auch in ihrem Namen; & sie könne sich nun irgendwie nachträglich damit identifizieren. (Es wäre, als habe ich eine Schuld gezahlt die sie schon gedrückt hat & als könnte ihr Geist mir sagen: „Gott sei Dank, daß Du sie jetzt abgetragen hast.“) – Heute nun dachte ich im Freien über den Sinn der Lehre vom Erlösungstod nach & ich dachte: Könnte die ErPage 99
25.3. [225] lösung durch das Opfer, darin bestehen, daß er das getan hat, was wir Alle zwar wollen, aber nicht können. Im Glauben aber identifiziert man sich mit ihm, d.h. man entrichtet die Schuld nun in der Form von demütiger
Anerkennung; man soll also ganz niedrig werden, weil man nicht gut werden kann. Page 99
Mir kam der Gedanke, ich solle morgen (am Charfreitag) fasten & ich dachte: das will ich tun. Aber gleich drauf schien es mir wie ein Gebot, ich habe es zu tun & dagegen sträubte ich mich. Ich sagte: „Ich will es tun, wenn es mir von Herzen kommt & nicht weil es mir befohlen wird.“ Aber dies ist doch kein Gehorsam! Es ist doch nicht Ertötung zu tun, was einem vom Herzen kommt (auch wenn es freundlich oder in gewissem Sinne fromm ist). Dabei[226] stirbst Du doch nicht. Dagegen stirbst Du gerade beim Gehorsam gegen einen Befehl, aus bloßem Gehorsam. Das ist eine Agonie, kann, soll, aber eine fromme Agonie sein. Wenigstens, so versteh’ ich’s. Aber ich selbst! – Ich gestehe, daß ich nicht absterben will, obwohl ich verstehe, daß es das Höhere ist. Das ist furchtbar; & möge diese Furchtbarkeit durch einen Lichtschein erleuchtet werden! Page 99
Habe ein paar Nächte ziemlich schlecht geschlafen & fühle mich wie tot, kann nicht arbeiten; meine Gedanken sind trübe & ich bin deprimiert aber in einer finstern weise. (D.h., ich fürchte mich vor gewissen religiösen Gedanken.) Page 99
26.3. Kritisiere nicht, was Ernste Ernstes geschrieben haben, denn Du weißt nicht, was Du kritisierst. Warum sollst Du über Alles [227] Dir eine Meinung bilden. Aber das heißt nicht: stimme mit allem diesem überein. Page 99
Ich bin so erleuchtet als ich bin; ich meine: meine Religion ist so erleuchtet, als sie ist. Ich habe mich gestern nicht weniger erleuchtet & heute Page Break 100
nicht mehr. Denn, hätte ich’s gestern so ansehen können, so hätte ich’s bestimmt so angesehen. Page 100
Man verwundert sich darüber, daß eine Zeit nicht an Hexen glaubte & eine spätere an Hexen glaubt & daß dies & Ähnliches geht & wiederkehrt, etc.; aber Du brauchst nur anzusehen, was Dir selbst geschieht um Dich nicht mehr zu verwundern. – An einem Tag kannst Du beten aber an einem andern vielleicht nicht, & an einem mußt Du beten, & an einem andern nicht. Page 100
Es geht mir aus Gnade heute viel besser als gestern. Page 100
27.3. [228] Nun kommt die Sonne kurz nach 11h herauf & heute ist sie strahlend. Es fällt mir schwer nicht immer wieder in sie hinein zu sehen, d.h., ich möchte immer wieder in sie schauen obwohl ich weiß daß es für die Augen schlecht ist. Page 100
30.3. Hüte Dich vor einem billigen Pathos wenn Du über Philosophie schreibst! Das ist immer meine Gefahr, wenn mir wenig einfällt. Und so ist es jetzt. Ich bin zu einem seltsamen Stillstand gekommen & weiß nicht recht, was ich machen soll. Page 100
Die Sonne scheint nun von heute an von 1¼2 11 bis 1¼2 6 ununterbrochen zu mir herein, & es ist herrliches Wetter. Page 100
Ich hatte gehofft meine Arbeitskraft werde sich erholen, wenn ich mehr von der Sonne sehen würde, aber es ist nicht so gekommen. Page 100
2.4. Mein Gehirn macht[229] nur recht träge Bewegungen. Leider. Page 100
4.4. Ich bin jetzt leicht durch meine Arbeit ermüdbar; oder bin ich träge? – Manchmal denke ich daran ob ich von hier jetzt schon abreisen sollte. Etwa: zuerst nach Wien für einen Monat, dann nach England für einen Monat – oder länger – dann nach Russland. Und dann wieder hierher zurück? – Oder nach Irland? Das Klügste scheint mir jetzt daß ich in etwa 3 Wochen hier abreise. – Page 100
5.4.
Möge ich doch das Leben sehen, wie es ist. D.h. es mehr als Ganzes sehen, & nicht bloß einen kleinen, winzigen, Ausschnitt, ich meine z.B.: Page Break 101
meine Arbeit. Es ist dann als ob alles andere durch eine dunkle Blende abgeblendet wäre & nur dieses Stück sichtbar. Dadurch erscheint alles falsch. Ich[230] sehe, fühle den Wert der Dinge falsch. Page 101
Ich weiß gar nicht, was ich in Zukunft tun soll. Soll ich hierher, nach Skjolden, zurückkehren? Und was hier, wenn ich hier nicht werde arbeiten können? Soll ich hier auch ohne die Arbeit leben? Und ohne eine geregelte Arbeit, – das kann ich nicht. Oder soll ich unbedingt zu arbeiten versuchen? Wenn das, so muß ich es auch jetzt tun! Page 101
Ich bin überzeugt, ich sehe alles falsch an, wenn ich so spekuliere. Page 101
Hat mein norwegischer Aufenthalt seine Schuldigkeit getan? Denn, daß er in eine Art halb gemütlich, halb ungemütliches Einsiedlerleben ausartet, das kann nicht recht sein. Er muß Frucht bringen! – Es gäbe ja nun die Möglichkeit hier jetzt viel länger zu bleiben, mein Kommen nach[231] Wien & England zu verschieben. Und die Frage ist: Könnte ich mich dazu entschließen, etwa noch zwei Monate hier zu bleiben? Gott, ich glaube ja! Nur sorge ich mich um meinen Freund & ich will nicht meine Leute in Wien enttäuschen. Ich glaube, ich kann es wohl auf mich nehmen, hier zu bleiben, wenn ich mit ganzem Herzen hier sein kann; wenn es einfach meine Aufgabe ist, hier zu bleiben; & zu warten, ob ich werde gut arbeiten können. Page 101
Anderseits ist wahr, daß mich jetzt etwas von hier wegtreibt. Ich fühle mich stumpf, möchte weg & nach einiger Zeit frisch zurückkommen. – Eines ist sicher ich ermüde jetzt sehr rasch durch meine Arbeit, & dies ist nicht meine Schuld. Nach wenigen Stunden nicht sehr intensiver Arbeit kann ich nicht mehr denken. Es ist so, als wäre ich jetzt müde. Fehlt[232] die richtige Nahrung? Es wäre möglich. Page 101
6.4. Eine Auslegung der Christlichen Lehre: Wach vollkommen auf! Wenn Du das tust, erkennst Du, daß Du nicht taugst; & damit hört die Freude an dieser Welt für Dich auf. Und sie kann auch nicht wiederkommen, wenn Du wach bleibst. Du brauchst aber nun Erlösung, – sonst bist Du verloren. Du mußt aber am Leben bleiben (und diese Welt ist für Dich tot) so brauchst Du ein neues Licht anderswoher. In diesem Licht kann keine Klugheit, oder Weisheit, sein; denn für diese Welt bist Du tot. (Denn sie ist das Paradies, in dem Du aber Deiner Sündigkeit wegen nichts anfangen kannst.) Du mußt[233] Dich also als tot anerkennen, & ein anderes Leben Page Break 102
in Empfang nehmen (denn ohne das ist es unmöglich, Dich, ohne Verzweiflung, als tot anzuerkennen). Dieses Leben muß Dich, gleichsam, schwebend über dieser Erde erhalten; d.h, wenn Du auf der Erde gehst, so ruhst Du doch nicht mehr auf der Erde, sondern hängst im Himmel; Du wirst von oben gehalten, nicht von unten gestützt. – Dieses Leben aber ist die Liebe, die menschliche Liebe, zum Vollkommenen. Und diese ist der Glaube. Page 102
‘Alles andere findet sich.’ Page 102
Gott sei gelobt dass ich heute klarer bin & mir besser ist. Page 102
Habe heute wieder gemerkt, wie ich gleich deprimiert werde, wenn Leute, aus irgend einem Grund, nicht sehr, nicht besonders freundlich zu mir sind. Ich fragte mich: warum bin ich so mißmutig darüber?[234] & antwortete mir: „Weil ich ganz ungefestigt bin“. Dann fiel mir der Vergleich ein, daß ich mich ganz so fühle, wie ein schlechter Reiter auf dem Pferd: ist das Pferd gut aufgelegt, so geht es gut, kaum aber wird das Pferd unruhig, so wird er unsicher, so merkt er seine Unsicherheit & daß er ganz vom Pferd abhängig ist. So geht es, glaube ich, auch meiner Schwester Helene mit den Leuten. So Einer ist geneigt, einmal gut, einmal schlecht von den Leuten zu denken, jenachdem sie gerade mehr oder weniger freundlich mit ihm sind. Page 102
9.4. „Du mußt den Vollkommenen lieben über alles, so bist Du selig.“ Das scheint mir die Summe der christlichen Lehre zu sein. Page 102
11.4 [235] Das Eis ist nun schon schlecht & ich muß mit dem Boot über den Fluß fahren. Das bringt Unbequemlichkeiten & (geringe) Gefahren mit sich. Ich bin leicht verzagt & geängstet.
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Ich habe jetzt vor in den ersten Tagen des Mai nach Wien zu reisen. Ende Mai nach England. Page 102
Heute gegen Morgen träumte mir, ich hätte eine lange philosophische Diskussion mit mehreren Andern. Page 102
Ich kam dabei zu dem Satz, den ich beim Aufwachen noch ungefähr wußte: Page 102
„Laß uns doch unsre Muttersprache reden, & nicht glauben wir müßten uns an unserm eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen; das war ja – Gott sei Dank – nur ein Traum. Wir sollen ja nur Mißverständnisse beseitigen.“ Ich glaube, das ist ein guter Satz. Page Break 103 Page 103
Gott allein sei Lob! Page 103
Die Kürze des Ausdrucks: die Kürze des Ausdrucks ist nicht mit der Elle zu messen. Mancher Ausdruck ist kürzer, der auf dem Papier länger ist. Wie es leichter ist, ein ‘f’ so zu schreiben: , als so: . Man fühlt oft, ein Satz sei zu lang & dann will man ihn kürzen, indem man Wörter abstreicht; dadurch kriegt er eine gezwungene & unbefriedigende Kürze. Vielleicht aber fehlen ihm Worte zur richtigen Kürze. Page 103
16.4. Seit gestern haben die Birken kleine grüne Spitzen. – Ich fühle mich schon einige Tage etwas unwohl, auch sehr matt. Ich arbeite schlecht, obwohl ich mir Mühe gebe. Bin nicht klar, wie viel Sinn [237] es hat, noch 14 Tage hier zu bleiben. Eine Stimme sagt mir: ‘reise doch früher!’ & eine sagt: wart & bleib da! – Wenn ich doch wüßte was richtig ist! Page 103
In den letzten Tagen oft in „Keiser & Galiläer“ gelesen, & mit großem Eindruck. – Page 103
Für das Fortreisen spricht manches; aber auch die Feigheit. Und für das Dableiben auch etwas – aber auch Pedantrie, Furcht vor dem Urteil Andrer, & dergl.. – Es ist nicht recht davonzulaufen, der Ungeduld & Feigheit nachzugeben, & anderseits erscheint es unvernünftig, & auch wieder feig, hier zu bleiben. Page 103
Wenn ich hier bleibe, so fürchte ich krank zu werden & dann nicht nach Hause & nach England zu kommen: als ob ich nicht auch[238] in Wien krank werden oder verunglücken könnte etc.! Page 103
Schwerer ist es hier zu bleiben, als wegzufahren. Page 103
17.4. Ist das Alleinsein mit sich selbst – oder mit Gott, nicht wie das Alleinsein mit einem Raubtier? Es kann Dich jeden Moment anfallen. – Aber ist es nicht eben darum, daß Du nicht fortlaufen sollst?! Ist dies nicht, sozusagen, das herrliche?! Heißt es nicht: gewinne dieses Raubtier lieb! – Und doch muß man bitten: Führe uns nicht in Versuchung! Page 103
19.4 Ich glaube: es ist durch das Wort „glauben“ in der Religion furchtbar viel Unheil angerichtet worden. Alle die verzwickten Gedanken über[239] das ‘Paradox’, die ewige Bedeutung einer historischen Tatsache u. dergl. Page Break 104
Sagst Du aber statt „Glaube an Christus“: „Liebe zu Christus“, so verschwindet das Paradox, d.i., die Reizung des Verstandes. Was hat die Religion mit so einem Kitzeln des Verstandes zu tun. (Auch das kann für den oder den zu seiner Religion gehören) Page 104
Nicht daß man nun sagen könnte: Ja jetzt ist alles einfach – oder verständlich. Es ist gar nichts verständlich, es ist nur nicht unverständlich. – Page 104
20.4. Heute nacht & in der Früh wurde beinahe das ganze Eis am See gegen den Fluß hinunter getrieben, so daß der See plötzlich beinahe ganz frei ist. Page 104
Seit ein paar Monaten schon blute ich wieder beim Stuhlgang & habe auch etwas Schmerzen. – [240] Denke oft daran, daß ich vielleicht an Mastdarmkrebs sterben werde. Wie auch immer – möge ich gut sterben! Page 104
Fühle mich etwas krank & meine Gedanken kommen nicht in Schwung. Trotz Wärme & gutem Wetter. Page 104
Ich tue heute etwas Falsches & Schlechtes: nämlich ich vegetiere. Ich kann, scheints, nichts rechtes tun & bin dazu in einer Art dumpfen Angst. – Ich sollte vielleicht unter solchen Umständen fasten & beten; – aber ich bin geneigt zu essen & esse – denn ich fürchte mich an so einem Tage auf mich zu schauen. Page 104
Habe mich bestimmt am 1. Mai hier wegzureisen – so Gott will. Page 104
23.4 Heute heult der [241] Wind ums Haus, was mir immer sehr arg ist. Es beängstigt & stört mich. Page 104
Ich bemühe mich gegen meine traurigen & bösen Gefühle zu streiten; aber meine Kraft erlahmt so schnell. Page 104
26.4 Herrliches Wetter. Die Birken schon belaubt. Gestern nacht sah ich das erste große Nordlicht. Ich habe es ungefähr 3 Stunden lang angesehen; ein unbeschreibliches Schauspiel. Page 104
Ich ertappe mich oft auf Schäbigkeit & Geiz!! Page 104
27.4. Die Wahrheit solltest du liebhaben: aber Du liebst immer andere Dinge & die Wahrheit nur nebenbei! Page 104
29.4. Page 104
Irgendwie gerinnen mir jetzt [242] meine Gedanken, wenn ich über Philosophie Page Break 105
denken will. – Ob das das Ende meiner philosophischen Laufbahn ist? Page 105
30.4. Ich bin im höchsten Grade übelnehmerisch. Ein böses Zeichen. Page 105
24.9.37 Juden! ihr habt der Welt schon lange nichts mehr gegeben, wofür sie Euch dankt. Und das nicht, weil sie undankbar ist. Denn man fühlt nicht Dank für jede Gabe, bloß weil sie für uns nützlich ist. Page 105
Drum gebt ihr wieder etwas, wofür Euch nicht kalte Anerkennung, sondern warmer Dank gebührt. Page 105
Aber das Einzige, was sie von Euch braucht, ist Eure Unter[243]werfung unter das Schicksal. Page 105
Ihr könnt ihr Rosen geben, die blühen werden, nie verwelken. Page 105
Man hat Recht, sich vor den Geistern auch großer Männer zu fürchten. Und auch vor denen guter Menschen. Denn was bei ihm Heil gewirkt hat, kann bei mir Unheil wirken. Denn der Geist ohne den Menschen ist nicht gut –†1 noch schlecht. In mir aber kann er ein übler Geist sein. Page Break 106 Page Break 107
Anhang Kommentar Page 107
Der Kommentar enthält – soweit ermittelbar – alle Informationen biographischer, bibliographischer, zeit- und kulturgeschichtlicher Art und soll als Hilfestellung für Textstellen dienen, die dem gehobenen Durchschnittsleser unklar oder unverständlich sein könnten. Zum anderen enthält der Kommentar Hinweise auf weitere, ähnliche Textstellen im Nachlaß Wittgensteins, zu denen ein gedanklicher Zusammenhang naheliegt.
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Weiters wird auf schwer leserliche oder vom Sinn her unklare Stellen im Original hingewiesen, ebenso wie auf orthographische und grammatische Fehler, soweit sie nicht im Vorwort erklärt sind. Page 107
Die Seitenzahlen der Erläuterungen beziehen sich auf die Paginierung des Originaltextes; diese ist bei der normalisierten Fassung jeweils am äußeren Rand des Satzspiegels angegeben, bei der diplomatischen Fassung oben links und rechts; wenn Wittgenstein selbst numerierte, zusätzlich in der Mitte oben. Page Break 108 Page 108
[1] Ich glaube manchmal: Vermutlich hat Wittgenstein diesen unvollständigen Satz als Zusatz zum nachfolgenden hinterher in die vorhin noch leerstehende Zeile eingefügt. Allerdings unterließ er es, das „Ich“ auf „ich“ zu korrigieren und so ist es schwer, seine wirkliche Absicht nachzuvollziehen. Es wäre auch möglich, daß er den zitierten Satz nicht zu Ende führte und einen neuen begann, ohne den vorigen durchzustreichen. Page 108
Marguerite: Marguerite de Chambrier geb. Respinger: Geb. 18.4.1904, Bern. Tochter eines vermögenden Schweizer Geschäftsmannes, die, als eine Bekannte von Thomas Stonborough, im Jahre 1926 von Margarete Stonborough nach Gmunden und Wien eingeladen wurde. Bald nach ihrer Ankunft in Wien lernte Marguerite Ludwig Wittgenstein kennen: dieser hatte sich den Fuß verstaucht und beanspruchte das Gästezimmer von Marguerite, da er im Haus seiner Schwester verpflegt wurde. (Mitteilung von Marguerite de Chambrier in einem Brief vom 14.VI.1996 an die Herausgeberin.) Marguerite besuchte in Wien eine Akademie für Frauen, die Graphikerinnen ausbildete. Später besuchte sie für sechs Monate einen Kurs im Krankenhaus in Wien und anschließend in Bern die Rotkreuz-Schule. 1933 heiratete Marguerite Talla Sjögren, mit dem sie später nach Chile ging. Nach dessen Tod im Jahre 1945 heiratete Marguerite 1949 Benoît de Chambrier und lebte nach 1952 auf einem Landsitz bei Neuchâtel. 1978 schrieb sie für ihre Familie und Freunde ihre Memoiren, „Granny et son temps“, im Privatdruck erschienen. Seit 1982 lebt Frau de Chambrier in Genf. Page 108
[2] in den ersten Tagen nach meiner Ankunft: Wittgenstein hatte die Osterferien in Wien verbracht und kehrte am 25.4. wieder nach Cambridge zurück. Vgl. dazu eine Eintragung Wittgensteins vom 25.4.1930 im MS 108, S. 133, Code: „Nach den Osterferien wieder in Cambridge angekommen. In Wien oft mit der Marguerite. Ostersonntag mit ihr in Neuwaldegg. Wir haben uns viel geküsst drei Stunden lang und es war sehr schön.“ Page 108
[6] Ramsey: Frank Plumpton Ramsey: Geb. 22.2.1903, Cambridge; gest. 19.1.1930, Cambridge. Logiker und Mathematiker, der im Anschluß an Russells und Whiteheads Principia mathematica, und beeinflußt von Wittgensteins Analyse der Tautologien, eine Grundlegung der Mathematik auf der Basis der Logistik durchzuführen versuchte, wobei er unter anderem zwischen syntaktischen und semantischen Antinomien unterschied. Ramsey leistete einen wichtigen Beitrag zum logischen Entscheidungsproblem und beschäftigte sich auch mit Fragen der Nationalökonomie. Er war an der englischen Übersetzung des Tractatus wesentlich beteiligt. Damals noch Student im Trinity College, besuchte er im September 1923 Wittgenstein für ca. zwei Wochen in Puchberg. Er las mit ihm täglich den Tractatus und Wittgenstein nahm im Laufe seiner Gespräche mit Ramsey Änderungen an der englischen Übersetzung vor, die in der zweiten Auflage von 1933 berücksichtigt wurden. Im Oktober 1923 schrieb Ramsey eine Rezension über den Tractatus in der philosophischen Zeitschrift Mind. Ramsey starb kurz vor seinem 27. Geburtstag an Gelbsucht. Page Break 109 Page 109
[7] Keynes: John Maynard Keynes: Geb. 5.6.1883, Cambridge; gest. 21.4.1946, Firle (Sussex). Brit. Nationalökonom. Ab 1920 Professor in Cambridge. Neben seiner politischen Tätigkeit für die Liberale Partei, deren Programm er stark beeinflußte, konzentrierte sich Keynes vor allem auf Fragen der Geldtheorie und das zunehmende Problem der Arbeitslosigkeit. Werke: Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages (1919); Vom Gelde (2Bde, 1930); Das Ende des Laissez-faire (1926); Allgem. Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes (1936). Durch das letztgenannte Werk wurde Keynes zum Begründer einer eigenen Richtung der Nationalökonomie – des „Keynesianismus“. Page 109
Wittgenstein hatte Keynes im Jahre 1912 während seines Studien-Aufenthaltes bei Russell in England kennengelernt. Beide waren Mitglieder der „Apostles“, zu denen auch Wittgenstein als Mitglied aufgenommen
wurde: allerdings fühlte er sich dabei nicht wohl und wollte bereits wenige Tage nach seiner Wahl seinen Rücktritt einreichen. Page 109
Obwohl zwischen Wittgenstein und Keynes keine enge Freundschaft bestand, konnte Wittgenstein stets auf dessen Hilfe rechnen: Keynes war ihm z. B. bei seinen Plänen behilflich, im Jahre 1935 in Rußland eine Stelle zu finden, d.h. er wandte sich direkt an Ivan Maisky, den russischen Botschafter in London. Als Wittgenstein 1938 die britische Staatsbürgerschaft wie auch die Stelle des Lehrstuhls für Philosophie anstrebte, wandte er sich wieder an Keynes. Page 109
widerte: „te“ am Rand der Seite nicht klar leserlich. Page 109
Der kurze Zeitraum: In der Vorrede zur ersten Auflage seines Werkes Die Welt als Wille und Vorstellung schreibt Schopenhauer, er sei „gelassen darin ergeben“, daß auch seinem Buch „das Schicksal werde, welches in jeder Erkenntniß, also um so mehr in der wichtigsten, allezeit der Wahrheit zu Theil ward, der nur ein kurzes Siegesfest beschieden ist, zwischen den beiden langen Zeiträumen, wo sie als paradox verdammt und als trivial geringgeschätzt wird.“ (Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. In: Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütkehaus. Zürich: Haffmanns Verlag 1938, Band 1, S. 13. Page 109
[8] eines der letzten Beethovenschen Quartette: Die letzten Quartette Beethovens sind: Streichquartett Nr. 12 in Es-dur, op. 127, entstanden 1824. Streichquartett Nr. 13 in B-dur, op. 130, entstanden 1826. Streichquartett Nr. 14 in cis-moll, op. 131, (1826). Streichquartett Nr. 15 in a-moll, op. 132, (1825). Streichquartett Nr. 16 in F-dur, op. 135 (1825/28). Große Fuge in B-dur, op. 133, (ursprünglich als letzter Satz zu op. 130 komponiert), (1824). Page 109
[9] Freud: Sigmund Freud (1856-1939): Wie Rush Rhees schreibt, war Wittgensteins Einstellung gegenüber Freud sehr kritisch, doch er stellte auch heraus, daß vieles von dem, was Freud gesagt hat, beachtenswert wäre, wie zum Beispiel seine Bemerkung über den Begriff des Traumsymbolismus oder sein Hinweis darauf, daß man im Traum – in gewissem Sinne – etwas sage. Wittgenstein hatte zur Zeit Page Break 110
seines Aufenthalts in Cambridge vor 1914 die Psychologie für Zeitverschwendung gehalten, doch einige Jahre später etwas über Freud gelesen, das ihn beeindruckte. Zum Zeitpunkt seiner Diskussionen mit Rush Rhees über Freud (zwischen 1942 und 1946) sprach er von sich als einem Schüler und Anhänger Freuds. Freud war für ihn einer der wenigen Autoren, die er für lesenswert hielt. Er bewunderte Freud wegen der Beobachtungen und Anregungen in seinen Schriften; auf der anderen Seite hielt er den enormen Einfluß der Psychoanalyse in Europa und Amerika für schädlich: „Die Analyse richtet wahrscheinlich Schaden an. Denn obwohl man in ihrem Verlauf einige Dinge über sich selbst entdeckt, muß man einen sehr starken, scharfen und beharrlichen, kritischen Verstand haben, um die Mythologie, die angeboten und aufgezwungen wird, zu erkennen und zu durchschauen. Man ist verleitet zu sagen ‘Ja, natürlich, so muß es sein. Eine mächtige Mythologie.’“ (Vgl. Wittgensteins „Gespräche über Freud“ in Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben. Zus. gestellt und hrsg. aus Notizen von Yorick Smythies, Rush Rhees und James Taylor von Cyril Barrett. Deutsche Übersetzung von Ralf Funke. Düsseldorf und Bonn: Parerga 1994, S. 63-76). Page 110
Wittgenstein kritisierte Freud auch, daß dieser fortwährend behauptete, wissenschaftlich zu sein, obwohl er nur Spekulationen lieferte. (Vorlesungen und Gespräche, S. 67). Page 110
wol: richtig: wohl Page 110
[10] Mrs. Moore: Dorothy Mildred Moore geb. Ely: Geb. 31.8.1892, Helensburgh, Scotland; gest. 11.11.1977, (wahrscheinlich) Cambridge. Von 1912 bis 1915 besuchte Dorothy das Newnham College, 1915 die Vorlesungen von George Edward Moore, mit dem sie sich am 27.11. desselben Jahres verehelichte. 1931 erhielt sie ihr MA. Page 110
der 4ten Symphonie von Bruckner: Symphonie in Es-dur, die „Romantische“(1874). Page 110
Bruckner: Anton Bruckner (1824-1896). Page 110
Vgl. Wittgensteins Bemerkungen über Bruckner vom 19.2.1938 im MS 120, S. 142, zit. nach Vermischte Bemerkungen2, S. 75: „Von einer Brucknerschen Symphonie kann man sagen, sie habe zwei Anfänge: den Anfang
des ersten & den Anfang des zweiten Gedankens. Diese beiden Gedanken verhalten sich nicht wie Blutsverwandte zu einander sondern [sind miteinander nicht blutsverwandt sondern verhalten sich zu einander] wie Mann & Weib. Page 110
Die Brucknersche Neunte ist gleichsam ein Protest gegen die Beethovensche, & dadurch [gegen die Beethovensche geschrieben & dadurch] wird sie erträglich, was sie, als eine Art Nachahmung nicht wäre. Sie verhält sich zur Beethovenschen sehr ähnlich wie der Lenausche Faust zum Goetheschen, nämlich der Katholische Faust zum aufgeklärten. etc. etc.“ Page Break 111 Page 111
Vgl. auch Wittgensteins Ausführungen über Brahms in Zusammenhang mit Bruckner: „In den Zeiten der stummen Filme hat man alle Klassiker zu den Filmen gespielt aber nicht Brahms & Wagner. Page 111
Brahms nicht weil er zu abstrakt ist. Ich kann mir eine aufregende Stelle in einem Film mit Beethovenscher oder Schubertscher Musik begleitet denken & könnte eine Art Verständnis für die Musik durch den Film bekommen. Aber nicht ein Verständnis Brahmsscher Musik. Dagegen geht Bruckner zu einem Film.“ Page 111
(MS 157a 44v: 1934 oder 1937, zit. nach VB, S. 60). Page 111
Brahms: Johannes Brahms (1833-1897) lebte nach 1875 als freischaffender Künstler in Wien und Umgebung. Er war mit dem Geiger Joseph Joachim (einem Schüler Mendelssohns und Vetter von Wittgensteins Großmutter Fanny geb. Figdor) und mit Robert und Clara Schumann befreundet. Page 111
Brahms war ein guter Bekannter der Familie Wittgenstein, die die Musik über alles schätzte. Er war häufig zu Besuch im Hause Wittgenstein in der Alleegasse. Bei den musikalischen Aufführungen spielten der junge Casals, das Rosé-Quartett oder Josef Labor. Brahms’ Lieblingsgeigerin, Marie Soldat-Röger und die Pianistin Marie Baumayer hatten eine Vorzugsstellung bei den Wittgensteins und waren mit Clara Wittgenstein befreundet. Page 111
Wittgenstein äußerte sich in seinen Schriften mehrmals über Brahms, so schrieb er: „Die musikalische Gedankenstärke bei Brahms“ (MS 156b 14v: ca. 1932-1934, zit. nach Vermischte Bemerkungen, S. 56). Vgl. weiters: „Das überwältigende Können bei Brahms“ (MS 147 22r 1934, zit. nach VB, S. 59). Page 111
Wagner: Richard Wagner (1813-1883). Page 111
Drury gegenüber bemerkte Wittgenstein einmal, daß Wagner der erste der großen Komponisten war, die einen unangenehmen Charakter hatten. (Vgl. Porträts und Gespräche, S. 160). Page 111
[11]
zu dem Gestrigen: nicht klar leserlich; könnte auch „zu dem Geistigen“ heißen.
Page 111
Trinity: Am 19. Juni 1929 hatte Wittgenstein durch Vermittlung von Moore, Russell und Ramsey ein Stipendium des Trinity College zur Fortsetzung seiner Forschungsarbeiten erhalten. Am 5.12.1930 wurde er vom Council des Trinity College für fünf Jahre zum Research Fellow gewählt. Er bezog die selben Räume im Whewell’s Court im Trinity College, die er schon vor dem Krieg als Student bewohnt hatte. (Vgl. Nedo, S. 356). Als er im Jahre 1939 zum Professor für Philosophie ernannt wurde und den Lehrstuhl in Cambridge erhielt, bezog er wieder die alten Räume im Whewell’s Court, Trinity College. (Vgl. Nedo, S. 359). Page 111
völliger: im Original: völlliger, da Wittgenstein das Wort nach „völl-“ trennte, in der nächsten Zeile aber noch ein „l“ schrieb. Page 111
[14]
ungemein abhängig von der Meinung Anderer: Vgl. dazu
Page Break 112
eine Tagebucheintragung Wittgensteins im MS 107, S.76, Code : „Was die anderen von mir halten beschäftigt mich immer ausserordentlich viel. Es ist mir sehr oft darum zu tun einen guten Eindruck zu machen. D. h. ich denke sehr häu(f)ig über den Eindruck den ich auf andere mache und es ist mir angenehm wenn ich denke dass er gut ist und unangenehm im anderen Fall.“ Page 112
terfangen: richtig: derfangen: Österr. Dialekt. Im Wiener Dialekt gibt es das Wort „derfanga“, das „sich
fangen“, „sich erholen“ bedeutet. (auch: sich im Sturze festhalten). (Vgl. Wörterbuch des Wiener Dialektes mit einer kurzgefaßten Grammatik von Julius Jakob. Wien und Leipzig: Gerlach & Wiedling 1929). Page 112
[15]
das Richtige: im Original: daß Richtige.
Page 112
[16]
Spengler: Oswald Spengler (1880-1936).
Page 112
Im MS 154 nennt Wittgenstein Spengler neben Boltzmann, Hertz, Schopenhauer, Frege, Russell, Kraus, Loos, Weininger und Sraffa als einen von denen, die ihn beeinflußt hätten. (MS 154 15v: 1931, zit. nach VB, S. 41). Page 112
In „Wittgenstein und seine Zeit“ befaßte sich Georg Henrik von Wright mit den Parallelen zwischen Wittgenstein und Spengler bzw. dem, was man an Wittgensteins Einstellung zu seiner Zeit als typisch Spenglerisch bezeichnen könnte. Laut von Wright habe Wittgenstein den „Untergang des Abendlandes“ gelebt – „nicht nur mit seiner Verachtung der abendländischen Zivilisation seiner Zeit, sondern auch in seiner tiefen, verständnisvollen Ehrfurcht vor der großen Vergangenheit der Zivilisation“. Spengler habe zwar nicht Wittgensteins Lebensauffassung beeinflußt, doch wohl den Gedanken der „Familienähnlichkeiten“ in seiner Spätphilosophie. (Vgl. G. H. von Wright: „Wittgenstein und seine Zeit“. In Wittgenstein. Übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 214-219). Page 112
Vgl. auch Rudolf Haller: „War Wittgenstein von Spengler beeinflußt?“ In: Fragen zu Wittgenstein und Aufsätze zur österreichischen Philosophie. = Band 10 der Studien zur österreichischen Philosophie. Hrsg. von Rudolf Haller. Amsterdam: Rodopi 1986. Vgl. auch Monk über die Parallelen zwischen Wittgenstein und Spengler (S. 302f.). Page 112
Untergang: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Kulturphilosophisches Werk von Oswald Spengler, erschienen 1918-1922. Zwei Bände. Page 112
Im MS 111 schreibt Wittgenstein: „So könnte Spengler besser verstanden werden wenn er sagte: ich vergleiche verschiedene Kulturperioden dem Leben von Familien; innerhalb der Familie gibt es eine Familienähnlichkeit, während es auch zwischen Mitgliedern verschiedener Familien eine Ähnlichkeit gibt; die Familienähnlichkeit unterscheidet sich von der andern Ähnlichkeit so & so etc.. Ich meine: Das Vergleichsobject, der Gegenstand von welchem diese Betrachtungsweise abgezogen ist, muß uns angegeben werden, damit nicht in die Discussion immer Ungerechtigkeiten einfließen. Denn da wird dann alles, was für das Urbild Page Break 113
der Betrachtung [des Vergleichs] wahr ist [stimmt]nolens volens auch von dem Object worauf wir die Betrachtung anwenden behauptet; & behauptet ‘es müsse immer....’.[...]“ Page 113
(MS 111 119: 19.8.1931, zit. nach VB, S. 48). Page 113
[17] Budenbrooks: richtig: Buddenbrooks. Verfall einer Familie: Roman von Thomas Mann (1875-1955), entstanden 1897-1900, erschienen 1901. 1929 erhielt Thomas Mann für sein Werk den Nobelpreis. Page 113
Typhus: In die Erzählung von Thomas Manns Roman eingefügt sind fast essayistische Stücke, „Gedankenprotokolle“ und wissenschaftliche Abschnitte wie die medizinische Darstellung des Typhus, aus der der Tod Hannos nur mittelbar zu entnehmen ist. Page 113
Hanno B.: Hanno Buddenbrook, der der dritten Generation der Lübecker Kaufmannsdynastie angehört, repräsentiert das letzte Stadium eines Prozesses, in dessen Verlauf die Buddenbrooks den Gewinn an Sensibilität und Bewußtsein mit dem Verlust ihrer Vitalität und zuletzt auch ihrer gesellschaftlichen Stellung bezahlen. Hanno ist der Inbegriff lebensfremder Zartheit und sensiblen Künstlertums, in dessen musikalischen Neigungen der Prozeß der Entbürgerlichung sich vollendet. Page 113
[19]
verwant: richtig: verwandt.
Page 113
complett: im Original: compett. Richtig: komplett. Page 113
schwerer : im Original: schwerere.
Page 113
[21] vor 16 Jahren/das Gesetz der Kausalität: Vgl. Tagebücher, 29.3.15: „Das Kausalitätsgesetz ist kein Gesetz, sondern die Form eines Gesetzes. Page 113
‘Kausalitätsgesetz’, das ist ein Gattungsname. Und wie es in der Mechanik – sagen wir – Minimumgesetze gibt – etwa der kleinsten Wirkung – so gibt es in der Physik EIN Kausalitätsgesetz, ein Gesetz von der Kausalitätsform.“ Page 113
Vgl. auch Tractatus, 6.32: „Das Kausalitätsgesetz ist kein Gesetz, sondern die Form eines Gesetzes.“ Page 113
Vgl. Tractatus, 6.321: „ ‘Kausalitätsgesetz’, das ist ein Gattungsname. Und wie es in der Mechanik, sagen wir, Minimum-Gesetze gibt – etwa der kleinsten Wirkung – , so gibt es in der Physik Kausalitätsgesetze, Gesetze von der Kausalitätsform.“ Page 113
Vgl. weiters Tractatus, 6.36: „Wenn es ein Kausalitätsgesetz gäbe, so könnte es lauten: ‘Es gibt Naturgesetze’. Aber freilich kann man das nicht sagen: es zeigt sich.“ Page 113
Vgl. 6.362: „Was sich beschreiben läßt, das kann auch geschehen, und was das Kausalitätsgesetz ausschließen soll, das läßt sich auch nicht beschreiben.“ Page 113
[22]
Kopernicanischen Entdeckung: richtig: kopernikanische Entdeckung.
Page Break 114 Page 114
Vgl. dazu: „Das eigentliche Verdienst eines Copernicus oder Darwin war nicht die Entdeckung einer wahren Theorie, sondern eines fruchtbaren neuen Aspekts.“ (MS 112 233: 22.11.1931, zit. nach VB, S. 55). Page 114
Entdeckungen: Wittgenstein nahm hier eine Trennung vor, im normalisierten Text daher mit „Entdeckungen“ korrigiert. Page 114
Einstein: Albert Einstein: 1879-1955 Page 114
von praktischem Wert: im Original: von praktischer Wert: offensichtlich hat hier Wittgenstein sich auf eine frühere Korrektur bezogen, d.h. er wollte zuerst „von praktischer Wichtigkeit“ schreiben, strich dann aber „Wichtigkeit“ durch und ließ nur „Interesse, Wert“ stehen; die Endung „-er“ vergaß er jedoch zu korrigieren. Page 114
[23]
Patos: richtig: Pathos.
Page 114
[24]
das Große & Bedeutende: „Große“ nicht klar leserlich.
Page 114
[26]
das heißt: im Original: daß heißt.
Page 114
[27] Vischer: Wahrscheinlich spielte Wittgenstein auf Friedrich Theodor Vischer an, doch es ist nicht auszuschließen, daß es sich auch um dessen Sohn Robert Vischer handeln könnte. Page 114
Vischer, Friedrich Theodor von (seit 1870): 1807-1887. Deutscher Schriftsteller und Philosoph. Mit Eduard Mörike und D.F. Strauß befreundet. 1837 Professor für Ästhetik und Literatur in Tübingen, 1855 Prof. am Zürcher, 1866-77 am Stuttgarter Polytechnikum. Werke u.a: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen, Auch Einer (grotesker Roman), „Lyrische Gänge“(Gedichte), Über das Erhabene und Komische, ein Beitrag zur Philosophie des Schönen, Über das Verhältnis von Inhalt und Form in der Kunst. Die Parodie „Faust. Der Tragödie 3. Theil“. Page 114
Vischer, Robert: 1847-1933: Sohn F. Th. Vischers. Kunsthistoriker. 1882 a.o. Prof. an der Kunstgeschichte Breslau, 1885 ord. Prof. in Aachen, 1893-1911 in Göttingen. Über das optische Formgefühl, Lpz. 1872; Drei Schriften zum ästhet. Formproblem, Halle 1927. Page 114
„eine Rede ist keine Schreibe“: nicht ermittelt. Page 114
[28] Stil ist der Ausdruck [...]: Vgl. dazu eine Bemerkung Wittgensteins vom 10.4.1947 im MS 134, S. 133, zit. nach VB, S. 118f.: „Man kann einen alten Stil gleichsam in einer neuen [neueren] Sprache wiedergeben; ihn sozusagen neuaufführen in einer Weise [Auffassung], die [in einem Tempo, das] unsrer Zeit gemäß ist. Man ist dann eigentlich nur [in Wirklichkeit nur] reproduktiv. Das habe ich beim Bauen getan. Page 114
Was ich meine, ist aber nicht ein neues Zurechtstutzen eines alten Stils. Man Page Break 115
nimmt nicht die alten Formen & richtet sie dem neuen Geschmack entsprechend her. Sondern man spricht, vielleicht unbewußt, wirklich [in Wirklichkeit] die alte Sprache, spricht sie aber in einer Art & Weise, die der neuern Welt, darum aber nicht notwendigerweise ihrem Geschmacke, angehört.“ Page 115
sub specie eterni: richtig: „sub specie aeterni“ oder „sub specie aeternitatis“ (gesehen unter dem Gesichtspunkt des Ewigen, Unendlichen): Im zweiten Buch der Ethica schreibt Baruch de Spinoza über die zweite Erkenntnisstufe (der „ratio“), die die Erkenntnis in die Beziehung zu Gott stellt und daher die Dinge adäquat erkennt: d.h. die Dinge werden „sub quadam specie aeternitatis“ („in einer gewissen Art von Ewigkeit“) betrachtet und so in eine ewige Ordnung gestellt. Diese Erkenntnis unterscheidet sich von der inadäquaten, verworrenen, falschen Erkenntnis, in die der Mensch gefangen ist, solange er im Bereich der bloßen Vorstellung („imaginatio“) zu erkennen glaubt, die auf Erfahrung, Erinnerung oder Meinung beruht. Diese Erkenntnis bleibt im Zeitlichen verhaftet, die vorgeblich erkannte Ordnung der Dinge ist eine zufällige. Page 115
Wittgenstein nahm den von Spinoza geprägten Begriff bereits in den Tagebüchern auf – in Zusammenhang mit seinen Äußerungen über Ethik und über die Kunst: vgl. seine Eintragung vom 7.10.16. (Tagebücher 1914-1916): „Das Kunstwerk ist der Gegenstand sub specie aeternitatis gesehen; und das gute Leben ist die Welt sub specie aeternitatis gesehen. Dies ist der Zusammenhang zwischen Kunst und Ethik. Page 115
Die gewöhnliche Betrachtungsweise sieht die Gegenstände gleichsam aus ihrer Mitte, die Betrachtung sub specie aeternitatis von außerhalb.[...]“ Page 115
Vgl. auch Tractatus, 6.45: „Die Anschauung der Welt sub specie aeterni ist ihre Anschauung als – begrenztes – Ganzes. Page 115
Das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes ist das mystische.“ Page 115
Viele Jahre später heißt es: „Nun scheint mir aber, gibt es außer der Arbeit [Tätigkeit | Funktion] des Künstlers noch eine andere, die Welt sub specie äterni einzufangen. Es ist – glaube ich – der Weg des Gedankens der gleichsam über die Welt hinfliegt & sie so läßt wie sie ist, – sie von oben im [vom] Fluge betrachtend [sie vom Fluge betrachtend. | sie von oben vom Fluge betrachtend].“ Page 115
(MS 109 28: 22.8.1930, zit. nach VB, S. 27). Page 115
Gretl: Margarete Stonborough geb. Wittgenstein: Geb. 19.9.1882, Wien; gest. 27.9.1958, Wien. Drittälteste Schwester von Ludwig Wittgenstein. Margarete heiratete 1905 den Amerikaner Jerome Stonborough und hatte mit ihm zwei Söhne, Thomas und John. Page 115
Klara Schumann: richtig: Clara Schumann geb. Wieck: Geb. 13.9.1819, Leipzig; gest. 20.5.1896, Frankfurt a. Main. Deutsche Pianistin. Trat auch als Komponistin hervor. 1840 Heirat mit Robert Schumann. Hervorragende Interpretin der Werke ihres Mannes, Beethovens, Chopins und Brahms’. Sie war mit Brahms befreundet und hatte häufig Kontakt mit der Familie Wittgenstein. Page Break 116 Page 116
[29] Ebner-Eschenbach: Marie von Ebner-Eschenbach: Freifrau von, geb. Gräfin Dubsky. Geb. 13.9.1830, Schloß Zdislavice bei Kromeríz in Mähren; gest. 12.3.1916, Wien. Österr. Erzählerin. Schrieb über die ständische Gesellschaft ihrer Zeit Erzählwerke, die von menschlicher Anteilnahme und sozialem Engagement zeugen. Werke: Bozena (1876), Dorf- und Schloßgeschichten (1883; darin „Krambambuli“), Neue Dorf- und Schloßgeschichten (1886; darin: „Er läßt die Hand küssen“), Das Gemeindekind (E., 1887), Aus Spätherbsttagen, Meine Kinderjahre (1906), Aphorismen.
Page 116
Vgl. auch S. 62, wo Wittgenstein fast dieselbe Bemerkung über Clara Schumann und M. von Ebner-Eschenbach macht. Page 116
Loos: Adolf Loos: Geb. 10.12.1870, Brünn; gest. 23.8.1933, Kalksburg bei Wien. Architekt. Die Bekanntschaft mit Wittgenstein kam während Fickers Besuch bei Wittgenstein in Wien am 23. und 24. Juli 1914 zustande (vgl. Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1909-1914. Salzburg, Otto Müller 1986, S. 375). „Wir trafen uns im Café Imperial, wo es zwischen ihm und dem schwerhörigen Erbauer des damals noch heftig umstrittenen Hauses am Michaelerplatz zu einer wohl etwas mühselig, doch sachlich ungemein anregend geführten Aussprache über Fragen der modernen Baukunst kam, für die sich Wittgenstein zu interessieren schien.“(Ludwig Ficker: Rilke und der unbekannte Freund. In: Der Brenner, 18. Folge, 1954, S. 237). Page 116
Später hatte Wittgenstein von Loos einen unangenehmen Eindruck. So schrieb er am 2.9.1919 an den ehemaligen Loos-Schüler Paul Engelmann: „Vor ein paar Tagen besuchte ich Loos. Ich war entsetzt und angeekelt. Er ist bis zur Unmöglichkeit verschmockt! Er gab mir eine Broschüre über ein geplantes ‘Kunstamt’, wo er über die Sünde wider den Heiligen Geist spricht. Da hört sich alles auf! Ich kam in sehr gedrückter Stimmung zu ihm und das hatte mir gerade noch gefehlt.“ (Briefe, S. 92). Allerdings widmete Adolf Loos Wittgenstein noch im September 1924 sein Buch In’s Leere gesprochen mit folgenden Zeilen: „Für Ludwig Wittgenstein dankbar und freundschaftlichst, dankbar für seine Anregungen, freundschaftlichst in der Hoffnung das er dieses Gefühl erwiedert.“ (Faksimile in Nedo, S. 204). Page 116
[30] Kraus: Karl Kraus: Geb. 28.4.1874, Jicin/Böhmen; gest. 12.6.1936, Wien. Schriftsteller, Herausgeber der Fackel (1899-1936). Schon vor dem Ersten Weltkrieg war Wittgenstein ein Bewunderer von Karl Kraus, dessen Schriften er sehr schätzte. Während seines ersten längeren Aufenthaltes in Norwegen von Oktober 1913 bis Juni 1914 ließ er sich Die Fackel nachschicken. (Vgl. Engelmann, S. 102). Durch Kraus’ Äußerung über den Brenner in der Fackel, Nr. 368/369, 5.2.1913, S. 32 („Daß die einzige ehrliche Revue Österreichs in Innsbruck erscheint, sollte man, wenn schon nicht in Österreich, so doch in Deutschland wissen, dessen einzige ehrliche Revue gleichfalls in Innsbruck erscheint.“), kam es zu Wittgensteins Spende an den Herausgeber des Brenner, Ludwig von Ficker. Später wurdeWittgensteins Haltung gegenüber Kraus zunehmend kritisch. In einem Brief an Ludwig Hänsel sprach er von der Gefahr negativen Einflusses der aphoristischen Schreibweise und wie sehr er selbst davon beeinflußt worden wäre. (Vgl. Hänsel, S. 143). Page 116
Vgl. auch eine Bemerkung vom 11.1.1948, MS 136, S. 91b, zit. nach VB, S. 129: Page Break 117
„Rosinen mögen das Beste an einem Kuchen sein; aber ein Sack Rosinen ist nicht besser als ein Kuchen; & wer im Stande ist uns einen Sack voll Rosinen zu geben kann damit noch keinen Kuchen backen, geschweige daß er etwas besseres kann. Page 117
Ich denke an Kraus & seine Aphorismen, aber auch an mich selbst & meine philosophischen Bemerkungen. Page 117
Ein Kuchen das ist nicht gleichsam: verdünnte Rosinen.“ Page 117
[31] Tante Clara: Clara Wittgenstein: Geb. 9.4.1850, Leipzig; gest. 29.5.1935, Laxenburg. Eine der Schwestern von Karl Wittgenstein. Sie blieb unverheiratet und lebte den Großteil des Jahres auf Schloß Laxenburg bei Wien. Die Kinder von Karl Wittgenstein verbrachten häufig die Ferientage bei ihr, wovon ihnen bleibende Erinnerungen an eine schöne Zeit voller Fürsorge von seiten ihrer Tante blieben. (Vgl. Hermine Wittgenstein: Familienerinnerungen, S. 219-230). Page 117
Thumersbach: Ortsgemeinde in Salzburg, nahe Zell am See. Page 117
Laxenburg: In Laxenburg südlich von Wien besaßen die Wittgensteins ein altes Kaunitzsches Schloß, das vorwiegend von Karl Wittgensteins Geschwistern Paul und Clara bewohnt wurde. (Vgl. Familienerinnerungen, S. 227). Page 117
Gottlieben: Gemeinde im Schweizerischen Kanton Thurgau, am Bodensee, nahe Konstanz. Page 117
[32]
Nachtmal: richtig: Nachtmahl.
Page 117
[35] Talla: Talla Sjögren: Geb. 22.7.1902, Donawitz (Böhmen); gest. 15.4.1945, Chile. Einer der drei Söhne von Carl und Mima Sjögren und Bruder von Wittgensteins Freund Arvid. Lebte nach dem frühen Tod seines Vaters mit seiner Mutter und seinen zwei Brüdern in Wien, wo er auch studierte. Talla Sjögren war diplomierter Forst- und Zivilingeneur und spezialisierte sich in den USA auf Industrial Engineering. Er erwarb eine Farm in Chile und wurde dort 1945 von einem Wilddieb erschossen. Page 117
[37]
Rhein: im Original: Rein.
Page 117
zu einer kleinen Insel: im Original: zu einer klein Insel. Page 117
[38] Murakami: Schwer leserlich; könnte auch „Nurekami“, „Nurekamd“ oder „Unrekami“ heißen. Händler japanischer Kunstgegenstände in London. (Vgl. einen Brief von Hermine Wittgenstein an Ludwig, vermutlich im Oktober 1932 abgefaßt und in den Familienbriefen ediert.) Näheres nicht ermittelt. Page Break 118 Page 118
[39] Gilbert: Gilbert Pattisson: Geb. 22.8.1908, Kensington; gest. 22.10.1994, Tollesbury, Essex. Nach dem Besuch der Schule in Kent und Rugby, bereiste Pattisson nach 1926 ein Jahr lang Europa, um dann in Versailles und Bonn seine Französisch- und Deutsch-Kenntnisse zu verbessern. Im Sommer 1927 erkrankte er an Kinderlähmung, die für den Rest seines Lebens schwere Spuren hinterließ. Im Herbst 1928 kam er ans Emmanuel College in Cambridge, um einen Abschluß in modernen Sprachen zu erlangen. Pattisson und Wittgenstein lernten einander im Zug von Wien kennen, als sie nach den Osterferien 1929 beide nach Cambridge reisten. Sie blieben enge Freunde während der gemeinsamen Zeit in Cambridge. Pattisson graduierte 1931 und wurde Buchhalter bei Kemp Chatteris (später Touche Ross) – bis zu seiner frühen Pensionierung im Jahre 1962, da er nun an den Rollstuhl gefesselt war. Während der Dreißigerjahre blieben Wittgenstein und Pattisson Freunde, letzterer verbrachte häufig die Wochenenden in Cambridge. Nach Pattissons Heirat im Jahre 1939 sahen sich die beiden wenig, da Wittgenstein für das nun sehr „häuslich“ gewordene Leben seines Freundes wenig Sympathie zeigte. Page 118
langen Brief an Gretl: nicht ermittelt. Page 118
Lettice: Lettice Cautley Ramsey geb. Baker: geb. 2.8.1898, Gomshall, Surrey; gest. 12.7.1985, (wahrscheinlich) Cambridge. Nach dem Besuch des Newnham Colleges in Cambridge von 1918-1921, erhielt sie 1925 ihr MA. 1925 Heirat mit Frank Plumpton Ramsey. Lettice war eine bekannte Photographin; 1932 wurde sie Direktorin von Ramsey and Muspratt, den „Cambridge photographers“. Sie war eine der wenigen Frauen, in deren Gesellschaft sich Wittgenstein wohl fühlte. Als er Anfang 1929 nach England zurückkehrte, wohnte er die ersten 14 Tage bei Lettice und F. P. Ramsey in der Mortimer Road in Cambridge. (Vgl. einen Brief von Keynes an seine Frau vom 25.2.1929, in Nedo, S. 225). Page 118
[40] wetterwendisch: launisch, wechselnden Gemütsstimmungen unterworfen. Nicht klar leserlich, ob klein- oder großgeschrieben. Page 118
d G.H.: nach Mutmaßung der Herausgeberin „durch Gottes Hilfe“. Page 118
starker & fester Pflock: Kurz vor Weihnachten 1932 schrieb Marguerite an Margarete Stonborough einen Brief, in dem sie ihre Absicht mitteilte, Talla Sjögren zu heiraten. Bereits zu Silvester fand die Hochzeit statt. In Talla Sjögren fand Marguerite nach eigenen Aussagen den Partner, der ihrer „Lebensweise entsprach und Ruhe bedeutete“. (Mitteilung von Marguerite Page Break 119
de Chambrier in einem Brief vom 25.9.1995 an die Herausgeberin). Page 119
Am Sonntagmorgen, eine Stunde vor der Hochzeit, suchte Wittgenstein Marguerite auf und beschwor sie: „Du machst eine Schiffsreise, und das Meer wird rauh sein. Bleibe mir immer verbunden, so wirst Du nicht untergehen.“ (Vgl. Monk, deutsche Ausgabe in der Übersetzung von H.G. Holl und E. Rathgeb, S. 362. Vgl. auch
den Zeitungsartikel von Alice Villon-Lechner über ein Interview mit Marguerite de Chambrier in Die Weltwoche Nr. 24, 15. Juni 1989). Die endgültige Lösung von Wittgenstein erfolgte laut Marguerite jedoch erst 1946, als sie einen Brief von Wittgenstein erhielt, der sie nach eigenen Worten tief verletzte. In diesem Brief (mit dem 13.8.46. datiert) äußerte Wittgenstein den Wunsch, Marguerite möge einmal eine Arbeit finden, die sie „mit Menschen in menschlicher Weise“ zusammenbrächte und „nicht als Dame“. „Solltest Du einmal einen anständigen Beruf haben, oder einen suchen, so würde ich Dich gerne wieder sehen! Nur nicht als durchreisende Dame. Wir würden einander nur deprimieren.“ Nach diesem Brief gibt es allerdings noch einen Brief Wittgensteins an Marguerite vom 9.9.48, in dem er sich für eine „liebe Sendung“ (laut Frau de Chambrier ging es wahrscheinlich um eine Sendung von Schokolade) von ihr bedankt. Page 119
[42] Moore: George Edward Moore: Geb. 4.11.1873, London; gest. 24.10.1958, Cambridge. 1925-1939 Professor in Cambridge, 1940-1944 Gastprofessor in den USA. Herausgeber der philosophischen Zeitschrift Mind. Mit seiner Abhandlung Refutation of Idealism (in Mind, 1903) gilt Moore als einer der Begründer des englischen Neurealismus. Werke u.a.: Principia Ethica, 1903; Ethics, 1912; Commonplace Book of G.E.M., 1912-1953; Philos. Studies, 1922; A Defence of Common Sense, 1924. Page 119
Zu Wittgensteins Äußerungen über Moore vgl. Hänsel, S. 143f. Vgl. auch Norman Malcolm: Ludwig Wittgenstein. A Memoir. With a Biographical Sketch by G.H. von Wright. Oxford, New York: Oxford University Press 1984, S. 116. Page 119
[43] Helene: Helene Salzer geb. Wittgenstein: Geb. 23.8.1879, Wien; gest. 1956, Wien. Von der Familie Lenka genannt. Zweitälteste Schwester von Ludwig Wittgenstein, deren Humor und Musikalität er vor allem schätzte. Page 119
[45] Peter Schlemihl: „Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte“: Erzählung von Adelbert von Chamisso (1781-1838), erschienen 1814. Märchen des Manns ohne Schatten, der mit dem Teufel zu tun hat. Eine Art „Faust“ des Biedermeier. Von Thomas Mann als „phantastische Novelle“ bezeichnet. Page 119
Vgl. Wittgensteins Bemerkung über Peter Schlemihl im MS 111: Page 119
„Die Geschichte des Peter Schlemihl sollte, wie mir scheint, so gehen [lauten]: Er verschreibt seine Seele um Geld dem Teufel. Dann reut es ihn & und nun verlangt der Teufel den Schatten als Lösegeld. Peter Schlemihl aber bleibt die Wahl seine Seele dem Teufel zu schenken, oder mit dem Schatten auf das Gemeinschaftsleben der Menschen zu verzichten.“ Page 119
(MS 111 77: 11.8.1931, zit. nach VB, S. 48). Page 119
in der neuen Wohnung: Die Frage, wo Wittgenstein zu dieser Zeit wohnte, ist schwer zu beantworten. 1930 veröffentlichte der Cambridge University Reporter dreimal im Jahr im Anhang eine Liste mit den Adressen der in Cambridge wohnhaften Mitglieder der Universität. Im Oktober 1930 fehlt die Angabe einer Adresse Wittgensteins, erst im Januar 1931 wird seine Adresse mit „6, Grantchester Road“ angegeben; im April 1931 wird sein Wohnsitz mit „C1 Bishop’s Hostel, Page Break 120
Trinity College“ angeführt. (Zu dieser Zeit wurde an ihn bereits das Forschungsstipendium des College vergeben). Da manchmal die Informationen über Wohnungsaufenthalte erst mit Verspätung gedruckt wurden, ist es nicht auszuschließen, daß Wittgenstein bereits im Oktober 1930 in der Grantchester Road wohnte. Die dortigen Besitzer waren George und Alison Quiggin, die vermutlich ein oder zwei Zimmer an Wittgenstein vermieteten. (Auskunft von Jonathan Smith, Trinity College Library, Cambridge CB 2 1 TQ, in einem Schreiben vom 27.10.1995 an die Herausgeberin). Page 120
[46] über der Asche der Kultur: Vgl. dazu Wittgensteins Eintragung im MS 107: „Ich habe einmal, & vielleicht mit Recht, gesagt: Aus der früheren Kultur wird ein Trümmerhaufen & am Schluß ein Aschenhaufen werden; aber es werden Geister über der Asche schweben.“ (MS 107 229: 10.-11.1.1930, zit. nach VB, S. 25). Page 120
[47] in meiner ersten Vorlesung: Als Wittgenstein im Herbst 1930 nach Cambridge zurückkehrte, begann er seine Vorlesungen im Michaelmas Term am 13. Oktober über die Rolle und die Schwierigkeiten der Philosophie mit folgenden Worten: „The nimbus of philosophy has been lost. For we now have a method of doing philosophy, and can speak of skilful philosophers. Compare the difference between alchemy and chemistry; chemistry has a method
and we can speak of skilful chemists. But once a method has been found the opportunities for the expression of personality are correspondingly restricted. The tendency of our age is to restrict such opportunities; this is characteristic of an age of declining culture or without culture. A great man need be no less great in such periods, but philosophy is now being reduced to a matter of skill and the philosopher’s nimbus is disappearing. Page 120
What is philosophy? An enquiry into the essence of the world? We want a final answer, or some description of the world, whether verifiable or not. We certaninly can give a description of the world, including psychical states, and discover laws governing it. But we would still have left out much; e.g. we would have left out mathematics. Page 120
What we are in fact doing is to tidy up our notions, to make clear what can be said about the world. We are in a muddle about what can be said, and are trying to clear up that muddle. Page 120
This activity of clearing up is philosophy. We will therefore follow this instinct to clarify, and leave aside our initial question, What is philosophy? [...]“ Page 120
Weitere Punkte von Wittgensteins erster Vorlesung im Michaelmas Term waren „What is a proposition?“, „But what is it to have sense and meaning? And what is negation?“, „Take the colour-word green as an example“, „It may be said, A proposition is an expression of thought“ und schließlich: „In science you can compare what you are doing with, say, building a house. You must first lay a firm foundation; once it is laid it must not again be touched or moved. In philosophy we are not laying foundations but tidying up a room, in the process of which we have to touch everything a dozen times. Page Break 121 Page 121
The only way to do philosophy is to do everything twice.“ Page 121
(Vgl. Wittgenstein’s Lectures. Cambridge 1930-1932. From the Notes of John King and Desmond Lee. Edited by Desmond Lee. Oxford: Basil Blackwell, 1980; Paperback edition 1982, S. 21-24). Page 121
bei recht freundlichen Leuten: Vgl. den Kommentar zu „in der neuen Wohnung“, S. 45. Page 121
[48]
der englischen [...]: im Original nicht klar leserlich, ob „englichchen“ oder „englischchen“.
Page 121
[49] Freuds Definition des Schlafs: In seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse kommt Freud in Zusammenhang mit seinen Untersuchungen über das „Wesentliche des Traumes“ auf den Schlaf zu sprechen und beantwortet die Frage, was der Schlaf sei, folgendermaßen: „Das ist ein physiologisches oder biologisches Problem, an dem noch vieles strittig ist. Wir können da nichts entscheiden, aber ich meine, wir dürfen eine psychologische Charakteristik des Schlafes versuchen. Der Schlaf ist ein Zustand, in welchem ich nichts von der äußeren Welt wissen will, mein Interesse von ihr abgezogen habe. Ich versetze mich in den Schlaf, indem ich mich von ihr zurückziehe und ihre Reize von mir abhalte. Ich schlafe auch ein, wenn ich von ihr ermüdet bin. Beim Einschlafen sage ich also zur Außenwelt: Laß mich in Ruhe, denn ich will schlafen. Umgekehrt sagt das Kind: Ich geh’ noch nicht schlafen, ich bin nicht müde, will noch etwas erleben. Die biologische Tendenz des Schlafes scheint also die Erholung zu sein, sein psychologischer Charakter das Aussetzen des Interesses an der Welt. [...]“ Nach dieser Definition wäre der Traum, so Freud, beim Schlaf überflüssig. Da er aber doch existiere, müßte es etwas geben, das der Seele keine Ruhe läßt. „Es wirken Reize auf sie ein, und sie muß darauf reagieren. Der Traum ist also die Art, wie die Seele auf die im Schlafzustand einwirkenden Reize reagiert. [...]“ (Vgl. Sigmund Freud. Gesammelte Werke. Band XI. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. London: Imago Publishing Co., Ltd. 1948: V. Vorlesung: „Schwierigkeiten und erste Annäherungen“, S. 84ff. Vgl. auch die XXVI. Vorlesung: „Die Libidotheorie und der Narzißmus“, S. 432). Page 121
[51]
ist eine Art Maske: im Original: „ist ist eine Art Maske“.
Page 121
[52] echte Bescheidenheit ist eine religiöse Angelegen-heit: Vgl. dazu Wittgensteins Bemerkung im MS 128 46 (ca. 1944): „Menschen sind in dem Maße religiös, als sie sich nicht so sehr unvollkommen, als krank glauben. Page 121
Jeder halbwegs anständige Mensch glaubt sich höchst unvollkommen, aber der religiöse glaubt sich elend. (Zit. nach VB, S. 92f.)
Page 121
one always makes a fool of oneself: Page 121
engl.: sich lächerlich machen, sich blamieren, sich zum Narren machen. Page Break 122 Page 122
[53]
Nietzsche: im Original: Nietsche. Richtig: Friedrich Nietzsche (1844-1900).
Page 122
[55]
[...]Liebe zu einer Idee: nicht klar leserlich, ob „einer“.
Page 122
Abziehen der Aufmerksamkeit: vgl. S. 49f. Page 122
[56]
26 , : Datierung mit Beistrich anstelle eines Punktes.
Page 122
[57]
blos: richtig: „bloß“.
Page 122
[59] Keller: Gottfried Keller: Geb. 19.7.1819, Zürich; gest. 15.7.1890, Zürich. Schweizer Dichter. Beteiligte sich an den polit. Kämpfen während der sog. Regeneration. Knüpfte enge Kontakte mit Ludwig Feuerbach, der seine Weltanschauung entscheidend prägte. Keller fand seinen eigenen poet.- realist. Stil in der Auseinandersetzung mit der Spätromantik. Bekannt sind sein Bildungsroman Der grüne Heinrich (1. Fassung 1854/55, 2. Fassung 1879/80) und die Novellenzyklen: Die Leute von Seldwyla (1856-74), die Sieben Legenden (1872); die Zürcher Novellen (1878), Das Sinngedicht (1882). Roman: Martin Salander (1886); Page 122
Gesammelte Gedichte (1883). Page 122
Engelmann berichtet, daß Gottfried Keller einer der wenigen großen Dichter war, die Wittgenstein „innig, ja leidenschaftlich verehrt hat“; er habe jene „Wahrhaftigkeit“, die „völlige Angemessenheit des Ausdrucks an das Empfinden“ besessen, die dieser in der Kunst suchte.(Vgl. Engelmann, S. 66). Von Keller hatte Wittgenstein auch z.T. die Gewohnheit übernommen, Tagebücher zu schreiben – aus einem „Nachahmungstrieb“ heraus, wie er selbst bemerkte. (Vgl. McGuinness, S. 103f.) Page 122
Ludwig Hänsel schrieb, daß Wittgenstein Kellers Novellen, insbesondere die Episode mit Figura Leu im „Landvogt von Greifensee“ schätzte. (Vgl. Hänsel, S. 245). Page 122
Bei Keller fand Wittgenstein eine „Weisheit“, die er „nie von Freud erwarten würde“. (Vgl. Vorlesungen und Gespräche, S. 64). Page 122
eine/gute Musik: nicht klar, ob Wittgenstein „eine gute Musik“ oder die Alternative „gute Musik“ zu „eine Musik“ schreiben wollte. Page 122
[60] Labor: Josef Labor: Geb. 29.6.1842, Horowitz (Böhmen); gest. 26.4.1924, Wien. Komponist, der früh erblindete und im Wiener Blindeninstitut und am Wiener Konservatorium ausgebildet wurde. Bei seinem ersten Auftreten als Pianist im Jahre 1863 fand er allgemeine Anerkennung und wurde in Hannover zum Königlichen Kammerpianisten ernannt. Von 1866 an bildete er sich in Wien auch zum Orgelspiel aus und begann 1879 als Orgelvirtuose aufzutreten. Bald genoß er den Ruf des besten Organisten in Österreich. Werke u.a.: Violinkonzert, Konzertstück H-moll für Klavier und Orchester, Kammermusik mit Klavier, Vokalkompositionen und Klavierstücke. Unter seinen Schülern sind R. Braun, J. Bittner und A. Schönberg zu nennen. Page 122
(Vgl. Hugo Riemann: Musik-Lexikon, Mainz: B. Schott’s Söhne 1961). Page 122
Labor verkehrte viel im Hause Wittgenstein und wurde vor allem von Hermine Page Break 123
protegiert. 1923 wurde ein „Labor-Bund“ gegründet, um die „Wirksamkeit des Orgelvirtuosen und Tonkünstlers Josef Labor zu erleichtern“ und die „Drucklegung zahlreicher unveröffentlichter Tondichtungen zu ermöglichen“. (Vgl. Hänsel, S. 287). Page 123
McGuinness schrieb, daß Labors Kammermusik die einzige zeitgenössische Musik war, die Wittgenstein gelten ließ. (Vgl. McGuinness, S. 206). Page 123
[62] faßt: Nicht klar leserlich, ob „faßt“ oder „paßt“, doch scheint es eher, daß Wittgenstein zuerst „paßt“ schrieb, dies dann mit „faßt“ überschrieb. Page 123
[63] die drei Variationen vor dem Eintritt des Chors in der 9ten Symphonie: Mit den „drei Variationen vor dem Eintritt des Chors in der 9ten Symphonie“ meint Wittgenstein offenbar die Zitate der Satzanfänge (erster bis dritter Satz), die Beethoven im Verlauf der langen Einleitung des Finalsatzes seiner Neunten Symphonie anbringt. Man könnte dann den Eintritt des Chors als Beginn des Hauptteils dieses Finalsatzes ansehen. Die Bezeichnung „Variationen“ sei allerdings nicht richtig. Page 123
Wittgenstein spielt wohl auf die im Schlußsatz vorkommenden Reminiszenzen an die Sätze I, II, III über das „Freudenthema“ an. Es handelt sich um die 2. Chaosstelle, gefolgt vom Baritonsolo „O Freunde, nicht diese Töne...“; dann beginnt der Chor. (Mitteilungen von Dr. Othmar Costa, Innsbruck und Univ. Prof. Dr. Friedrich Heller, Wien). Page 123
[64] Alexandrinische Bibliothek: Name der beiden von Ptolemaios II Philadelphos (283-246 v. Chr.) gegründeten Bibliotheken in Alexandria. Die große Alexandrinische Bibliothek, dem Museion eingegliedert, im Bezirk Brucheion, umfaßte an die 700 000 Buchrollen. 47 v. Chr. vernichtete ein Brand im Alexandrinischen Krieg die Bibliothek zum größten Teil. – Page 123
Museion und Brucheion wurden 272 n. Chr. zerstört. Die kleine Alexandrinische Bibliothek im Serapeion zählte über 40 000 Buchrollen und ging 391 n. Chr. – durch einen von christlichen Patriarchen gerührten Aufstand – zugrunde. Page 123
[65] Die Aufgabe der Philosophie ist, den Geist über bedeutungslose Fragen zu beruhigen: W er nicht zu solchen Fragen neigt, der braucht die Philosophie nicht: Page 123
Vgl. dazu PU, § 133: „[...] Denn die Klarheit, die wir anstreben, ist allerdings eine vollkommene. Aber das heißt nur, daß die philosophischen Probleme vollkommen verschwinden sollen. Page 123
Die eigentliche Entdeckung ist die, die mich fähig macht, das Philosophieren abzubrechen, wann ich will. – Die die Philosophie zur Ruhe bringt, so daß sie nicht mehr von Fragen gepeitscht wird, die sie selbst in Frage stellen. [...]“ Page 123
Rothe: vermutlich R. Rothe (gest. 1942), Verfasser eines Lehrbuchs Höhere Mathematik für Mathematiker, Physiker und Ingenieure, Leipzig: Teubner-Verlag. Page 123
[66]
Schumann: Robert Schumann (1810-1856)
Page Break 124 Page 124
Unternahrung: richtig: Unterernährung. Hier hat Wittgenstein die Umlaut a-Striche vergessen, während er sie kurz darauf setzte, wiederum aber das „er“ vergaß: Unternährung (S. 67). Page 124
[67] Hamann: Johann Georg Hamann: Geb. 27.8.1730, Königsberg; gest. 21.6.1788, Münster. Dt. Philosoph. Eng befreundet mit Jacobi, Kant und Herder. Wandte sich gegen den die Geschichtlichkeit des Menschen nicht berücksichtigenden aufklärerischen Rationalismus. Nach Hamann ist die Vernunft nicht zu trennen von Intuition, Verstehen und historischer Erfahrung, das Wissen von Gott nicht unabhängig von historischer Erfahrung zu erklären; Denken ohne Sprache, die von der Sinneserfahrung abhängt, ist unmöglich. Hamann beeinflußte den Sturm und Drang, vor allem Herder und Goethe, aber auch Hegel und Schelling sowie die existentialistische Philosophie (bes. Kierkegaard). Werke: Sokratische Denkwürdigkeiten, Aesthetica in nuce, Golgatha und Scheblimini, Metakritik über den Purismus der reinen Vernunft. Page 124
Über die Parallelen zwischen Wittgensteins und Hamanns Philologie vgl. Hans Rochelt: „Das Creditiv der
Sprache“. In: Literatur und Kritik. Österreichische Monatsschrift. 33. April 1969. Salzburg: Otto Müller-Verlag: 1969, S. 169-176. Page 124
[68] Moses Mendelsohn: richtig: Moses Mendelssohn: Geb. 6.9.1729, Dessau; gest. 4.1.1786, Berlin. Jüdischer Philosoph der Aufklärung. Bemühte sich um Verbesserungen der rechtlichen Lage von Juden und um das Verhältnis zwischen ihnen und Nichtjuden. Als Philosoph steht er in der Tradition des kritischen Rationalismus des 17./18. Jhdts. und identifiziert als Philosoph der Aufklärung das Judentum mit der Vernunftreligion der Aufklärung. Er trug entscheidend dazu bei, die Juden aus dem geistigen Ghetto herauszuführen. Wurde von großer Bedeutung für die jüdische Geistes-, Religions- und Sozialgeschichte durch seine Interpretation der jüdischen Religion mittels philosophischer Kategorien. Page 124
in seinen Briefen an Hamann: Im Briefwechsel von Moses Mendelssohn findet sich nur ein Brief an Hamann, dieser ist vom 2. März 1762. Allerdings finden sich im Briefwechsel von Johann Georg Hamann mehrere Briefe von Hamann an Mendelssohn. (Vgl. Johann Georg Hamann. Briefwechsel. Zweiter Band. 1760-1769. Herausgegeben von Walther Ziesemer und Arthur Henkel. Wiesbaden: Insel Verlag 1956, S. 134f.) Page 124
Es ist jedoch möglich, daß Wittgenstein sich auf Mendelssohns „Antheil an den Briefen, die neueste Litteratur betreffend“ bezog, wo Mendelssohn in kritisch-lästernder Weise über Hamann schreibt: Vgl. Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. In sieben Bänden. Hrsg. von G.B. Mendelssohn. Leipzig: Brockhaus, 1844. 4. Band, 2. Abtheilung: „Socratische Denkwürdigkeiten für die lange Weile des Publicums.“ XXV. Den 19. Juni 1760. 113ter Brief, S. 99-105. Vgl. weiters: „Die dunkle Schreibart mancher Schriftsteller.“ XI. Den 9. Sept. 1762. 254ster Brief, S. 403-405. XII. Den 16. Sept. 1762. Fortsetzung des 254sten Briefes, S. 405-412. Vgl. auch den 192sten Brief aus dem XII. Theil, vom 22. Oct. 1761, S. 311-316, wo Mendelssohn Hamann erwähnt. Page Break 125 Page 125
Cherubinischen Wandersmannes: Cherubinischer Wandersmann. Geistreiche Sinn- und Schlußreime zur Göttlichen beschauligkeit anleitende. Von Angelus Silesius (d.i. Johannes Scheffler, 1624-1677), erschienen 1674. Die endgültige Ausgabe enthält sechs Bücher. Die Sammlung umfaßt 1665 brillant formulierte Aphorismen, die nach dem Vorbild von Daniel Czepkos Sexcenta monodisticha sapientium in meist zweizeiligen, aber auch vierzeiligen, antithetisch gebauten Alexandrinern abgefaßt sind. Page 125
Silesius verarbeitet mystisches Gedankengut, das bei ihm z.T. eine pantheistische Färbung einnimmt. Er entwickelt kein geschlossenes philosophisches System, sondern formuliert seine Gedanken über das Verhältnis des Menschen zu Gott und zur Ewigkeit als „Erkenntnissplitter“ (W. Fleming). Page 125
Confessionen: Diese Schrift Augustinus’ lernte Wittgenstein laut Aussagen von Ludwig Hänsel in der Zeit seiner Kriegsgefangenschaft bei Monte Cassino kennen und lieben. (Vgl. Hänsel, S. 245f.) In einem Brief vom 2.12.1953 schrieb Ludwig Hänsel an Ludwig von Ficker: „Dort [im Gefangenenlager bei Cassino] haben wir uns kennen gelernt, dort hat er mich in die Logistik eingeführt und mich seinen Tractatus Logico-Philosopicus im Manuskript lesen lassen, dort haben wir mitsammen Dostojewski und die Confessiones des Augustinus gelesen – eine wunderbare Zeit für mich.“(vgl. Hänsel, S. 251). Page 125
Drury gegenüber bemerkte Wittgenstein, die Bekenntnisse des Augustinus seien womöglich das „ernsteste Buch, das je geschrieben wurde“. (Porträts, S. 16). Page 125
In seinen philosophischen Schriften bezog sich Wittgenstein häufig auf Augustinus. (Vgl. PU, § 1-4, 32, 89-90, 436, 618). Page 125
[70] zeigt von ùé einer [...]: unklar, ob „zeigt“ oder „zeugt“. Vor „einer“ hat Wittgenstein ein Einfügungszeichen gesetzt, aber keinen Text eingefügt. (siehe diplomatische Fassung). Page 125
Du must: richtig: „Du mußt“. Page 125
G.m.i.!: könnte „Gott mit ihr“ bedeuten Page 125
[71]
Hermannschlacht: richtig: Hermannsschlacht.
Page 125
Schlacht im Teutoburger Wald, 9 n. Chr. Sieger Arminius = Herrmann der Cherusker über den römischen Feldherrn Varus. Dramatisierung durch Kleist, Grabbe und Klopstock. Die Herrmannsschlacht. Drama von Heinrich von Kleist (1777-1811), entstanden 1808, erschienen 1821 in den von Ludwig Tieck herausgegebenen Hinterlassenen Schriften Kleists; Uraufführung: Breslau, 18.10.1880. Page 125
warum Hermann nur einen Boten zu seinem Verbündeten schicken will: Wittgenstein bezieht sich aller Wahrscheinlichkeit nach auf die Herrmannsschlacht von Kleist, auf den 10. Auftritt im 2. Akt: Herrmann will Luitgar (zusammen mit seinen zwei Söhnen) als einzigen Boten zu Marbod schicken, obwohl Luitgar ihn bittet, noch zwei Freunde mitnehmen zu dürfen – für den Fall, daß ihn ein Unfall träfe. Herrmann jedoch verneint – mit dem Hinweis Page Break 126
auf die Gewalt der Götter, ohne die das große Werk nicht zu vollziehen wäre. Ihr Blitz würde drei Boten ebenso wie einen treffen, und ihnen nicht zu vertrauen, hieße, sie versuchen. Herrmann legt also alles in die Hände der Götter, selbst auf die Gefahr hin, dabei zu verlieren. Page 126
Vgl. seine Rede zu Luitgar: Page 126
„[...] Wer wollte die gewalt’gen Götter Page 126
Also versuchen?! Meinst Du, es ließe Page 126
Das große Werk sich ohne sie vollziehn? Page 126
Als ob ihr Blitz drei Boten minder, Page 126
Als einen einzelnen, zerschmettern könnte! Page 126
Du gehst allein; und triffst Du mit der Botschaft Page 126
Zu spät bei Marbod, oder gar nicht, ein: Page 126
Sei’s! mein Geschick’ ist’s, das ich tragen werde.“ Page 126
(Vgl. Heinrich von Kleist. Dramen 1808-1811. Die Herrmannsschlacht. 2. Akt, 10. Auftritt. In: Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Hrsg. von Ilse-Marie Barth, Klaus Müller-Salget, Walter Müller-Seidel und Hinrich C. Seeba. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker-Verlag, 1987). Page 126
[72] Beethoven: In seinen Gesprächen mit Drury über Musik antwortete Wittgenstein auf Drurys Äußerung, daß der langsame Satz des vierten Klavierkonzerts von Beethoven eines der größten musikalischen Werke sei: „Was Beethoven hier schreibt, ist nicht nur für seine eigene Zeit oder Kultur bestimmt, sondern für das ganze Menschengeschlecht.“ (Vgl. Porträts, S. 164). Ein anderes Mal bemerkte er: „Ich habe einmal geschrieben, Mozart habe sowohl an den Himmel als auch an die Hölle geglaubt, während Beethoven nur an den Himmel und das Nichts geglaubt habe.“ (Porträts, S. 160). Page 126
Es ist ganz Religion: Unklar, ob „Es“ oder „Er“. Page 126
in wirklichen Schmerzen: im Original: in wirkliche Schmerzen. Page 126
Protestant: im Original: Potestant. Page 126
[73] Engelmann: Paul Engelmann: Geb. Juni 1891, Olmütz; gest. 5.2.1965, Tel Aviv. Architekt und Philosoph. Studierte Architektur bei Adolf Loos in Wien und war ein Jahr lang freiwilliger Privatsekretär von Karl Kraus. Wittgenstein lernte Engelmann anläßlich einer militärischen Ausbildung an der Artillerie-Offiziersschule im Herbst 1916 in Olmütz kennen. Es kam zu allabendlichen Treffen im Hause Engelmann, an denen u.a. Engelmanns Mutter Ernestine, der Jusstudent Heinrich Groag, der Musikstudent Fritz Zweig und dessen Cousin, der spätere Dramatiker Max Zweig, teilnahmen. 1934 emigrierte Engelmann nach Tel Aviv, wo er als Möbelzeichner arbeitete. Seine
Erinnerungen an Wittgenstein wurden zusammen mit den Briefen Wittgensteins an Engelmann posthum veröffentlicht: Ludwig Wittgenstein. Briefe und Begegnungen. Hrsg. von Brian McGuinness. Wien und München: Oldenbourg 1970. Page Break 127 Page 127
Viele Werke Engelmanns sind noch unveröffentlicht, u.a. Orpheus und Eurydike, Psychologie graphisch dargestellt, Die urproduzierende Großstadt und eine von ihm zusammengestellte Lyrikanthologie. Page 127
Werke u.a.: In: Gedanken, 1944; in: Im Nebel, 1945; Adolf Loos, 1946; Dem Andenken an Karl Kraus, 1949. In der Fackel Nr. 317/318 vom 18.2.1911 publizierte Engelmann ein Gedicht auf das von Loos erbaute Haus am Michaelerplatz, in dem er dieses „als erstes Zeichen einer neuen Zeit“ bezeichnete. Page 127
während des Baues: Bezieht sich auf den Bau des Hauses für Margarete Stonborough im III. Bezirk Wiens – auf einem zwischen Kundmanngasse, Geusaugasse und Parkgasse gelegenen Grundstück. Paul Engelmann wurde von Margarete als Architekt beauftragt und begann 1926 mit der Arbeit. Wittgenstein engagierte sich im Laufe der Zeit derart, daß er schließlich sozusagen die Führung übernahm und nach seinem Austritt als Volksschullehrer im April 1926 sich ganz der Architektur widmete. Das Haus war im Herbst 1928 fertiggestellt. Page 127
Bauunternehmer: Es handelt sich dabei wahrscheinlich um den Baumeister namens Friedl; Näheres nicht ermittelt. Page 127
Menschen: nicht klar leserlich, ob „Mensch“ oder „Menschen“. Page 127
[75]
verhältst: im Original: verhälst.
Page 127
„Es ist gut, weil es Gott so befohlen hat“ ist der richtige Ausdruck für die Grundlosigkeit: Vgl. dazu Wittgensteins Bemerkungen gegenüber Schlick über das Wesen des Guten in WWK, S. 115, wo er sagt: „Wenn es einen Satz gibt, der gerade das ausdrückt, was ich meine, so ist es der Satz: Gut ist, was Gott befiehlt.“ Schlick hatte nämlich bezüglich der zwei Auffassungen vom Wesen des Guten in der theologischen Ethik diejenige Deutung als die tiefere befunden, derzufolge Gott das Gute deshalb wolle, weil es gut sei. Wittgenstein hingegen fand diejenige Deutung des Wesen des Guten als die tiefere, derzufolge das Gute gut sei, weil Gott es wolle. „Ich meine, daß die erste Auffassung die tiefere ist: gut ist, was Gott befiehlt. Denn sie schneidet den Weg einer jeden Erklärung, ‘warum’ es gut ist, ab, während gerade die zweite Auffassung die flache, die rationalistische ist, die so tut, ‘als ob’ das, was gut ist, noch begründet werden könnte.“ Page 127
[76] Ein ethischer Satz [...]: Vgl. dazu TLP, 6.422: „Der erste Gedanke bei der Aufstellung eines ethischen Gesetzes von der Form ‘Du sollst ....’ ist: Und was dann, wenn ich es nicht tue? Es ist aber klar, daß die Ethik nichts mit Strafe und Lohn im gewöhnlichen Sinne zu tun hat. Also muß diese Frage nach den Folgen einer Handlung belanglos sein. – Zum Mindesten dürfen diese Folgen nicht Ereignisse sein. Denn etwas muß doch an jener Fragestellung richtig sein. Es muß zwar eine Art von ethischem Lohn und ethischer Strafe geben, aber diese müssen in der Handlung selbst liegen. Page Break 128 Page 128
(Und das ist auch klar, daß der Lohn etwas Angenehmes, die Strafe etwas Unangenehmes sein muß.)“ Page 128
[77] mit dem inneren Ohr: Vgl. dazu MS 153a 127v: 1931, zit. nach VB, S. 38: „Ich glaube bestimmt daß Bruckner nur mit dem inneren Ohr & einer Vorstellung vom spielenden Orchester, Brahms mit der Feder komponiert hat. Das ist natürlich einfacher dargestellt als es ist. Eine Charakteristik aber ist damit getroffen.“ Page 128
[80] ùé Gegensätze: Hier hat Wittgenstein ein mit Wellenlinien unterstrichenes Einfügungszeichen gesetzt, aber keinen Text eingefügt. Page 128
(siehe diplomatische Fassung). Page 128
[81]
a priori: Vgl. MS 157b, 27.2.37, S. 2f.:
Page 128
„Die ‘Ordnung der Dinge’, die Idee der Form(en) der Vorstellung, also des a priori ist selber eine grammatische Täuschung.“ Page 128
[82] Paul Ernst: Geb. 7.3.1866, Elbingerode, Harz; gest. 13.5.1933, St. Georgen an der Stiefing, Steiermark. Deutscher Schriftsteller. Einer der Hauptvertreter der Neuklassik. Kunst- und kulturkritische Theorien (u.a. „Der Weg zur Form“). Erneuerte die Novelle nach dem Vorbild der formstrengen Renaissancenovelle (konzentrierte Handlung, Verzicht auf psychologische Begründung, Geschlossenheit der Form). Page 128
Werke u.a.: Der Tod des Cosimo (Novellen, 1912), Komödiantengeschichten (1920), Der Schatz im Morgenbrotstal (Roman, 1926), Das Glück von Lautenthal (Roman, 1933). Page 128
McGuinness schreibt, daß in dem sog. Olmützerkreis (in der Zeit von 1916/17) häufig über Paul Ernst gesprochen wurde. Wittgenstein schätzte besonders das von Ernst verfaßte Nachwort zu seiner Ausgabe der Grimmschen Märchen, worin darauf hingewiesen wird, wie uns die Sprache durch wörtlich genommene anschauliche Ausdrucksweisen und Sinnbilder in die Irre führt. Dieser Text habe Wittgenstein nach eigenem Bekunden stark beeinflußt. Rhees gegenüber soll er geäußert haben, daß er in künftigen Ausgaben des Tractatus deshalb gern im Vorwort auf Paul Ernst hinweisen würde. (Vgl. McGuinness, S. 388f.) Page 128
wie Dostojewski es getan hat (Wunder auf der Hochzeit zu Kana): Höchstwahrscheinlich spielt Wittgenstein dabei auf Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasoff an (auf das IV. Kapitel, „Die Hochzeit zu Kana in Galiläa“, im Siebenten Buch: „Aljoscha“): Neben dem Sarg von Staretz Sossima liest Pater Paissij aus den Evangelien über die Hochzeit von Kana vor. Die Wirkung dieser Geschichte wird uns über Aljoscha vermittelt, der, vor Müdigkeit teilweise eingeschlummert und halb im Traum, den tieferen Sinn des Wunders zu Kana erfährt: mit seiner Verwandlung von Wasser in Wein wollte Jesus den Menschen vor allem Freude schenken, denn nicht das Leid, sondern die Freude der Menschen sei ihm am Herzen gelegen. „Wer die Menschen liebt, der liebt auch ihre Freude“ – so Page Break 129
hatte der Staretz immer wieder gesagt. Er erscheint Aljoscha im Traum und erzählt ihm, daß auch er nun zur Hochzeit geladen sei und Jesus immer neue Gäste erwarte, für die er Wasser in Wein verwandle, damit die Freude nicht aufhöre. Nach diesem Traum hat Aljoscha in Einklang und in Liebe mit der Erde und den Menschen ein mystisches Erlebnis, ähnlich dem des Steinklopferhanns aus dem Stück „Die Kreuzelschreiber“von Ludwig Anzengruber, das auf Wittgenstein einen ähnlich tiefen Eindruck hinterlassen hatte. – Page 129
Die Verwandlung von Wasser in Wein ist also ein Symbol für die Liebe Christi zu den Menschen. Page 129
Vgl. auch Wittgensteins Vortrag über Ethik, in dem er über den Sinn des Wunders bzw. unser Staunen über ein Wunder spricht: auch hier gibt es einen Unterschied zwischen der wissenschaftlichen Betrachtung einer Tatsache und der Betrachtung einer Tatsache als Wunder bzw. dem Staunen im relativen und im absoluten Sinn: unser Staunen im relativen Sinn wäre das Staunen über etwas noch nie Dagewesenes und käme der Tatsache der Verwandlung von Wasser in Wein gleich. Unser Staunen im ethischen Sinn jedoch bedeutet ein Staunen anderer Art – wie das Staunen über die Existenz der Welt, die, obwohl uns täglich gegenwärtig, als ein Wunder betrachtet werden sollte, über das jeder sprachliche Ausdruck jedoch in Unsinn münden würde. Page 129
[85] Mahler: im Original: Maler: Gustav Mahler (1860-1911): Wittgensteins Haltung gegenüber Mahler war sehr kritisch: vgl. dazu eine seiner Bemerkungen: „Wenn es wahr ist, wie ich glaube, daß Mahlers Musik nichts wert ist, dann ist die Frage, was er, meines Erachtens, mit seinem Talent hätte tun sollen. Denn ganz offensichtlich gehörten doch eine Reihe sehr seltener Talente dazu, diese schlechte Musik zu machen. Hätte er z.B. seine Symphonien schreiben & verbrennen sollen? Oder hätte er sich Gewalt antun, & sie nicht schreiben sollen? Hätte er sie schreiben, & einsehen sollen daß sie nichts wert seien? Aber wie hätte er das einsehen können? Ich sehe es, weil ich seine Musik mit der der großen Komponisten vergleichen kann. [...]“ (MS 136 110b: 14.1.1948, zit. nach VB, S. 130f.). Page 129
John King gegenüber bemerkte Wittgenstein jedoch, daß man viel von Musik, ihrer Geschichte und ihrer Entwicklung verstehen müsse, um Mahler zu begreifen. (Porträts, S. 111). Page 129
[87] raryfied: richtig: rarefied. (Von „rarify“ = verdünnen, verfeinern). In diesem Zusammenhang soviel wie „in einer höheren, einer geistigeren Sphäre“.
Page 129
mit Andern: im Original: mit Adern. Page 129
[89] meines Bruders Rudi: Rudolf Wittgenstein: Geb. 27.6.1881, Wien; gest. 1904, Berlin. Student der Chemie. Viertes Kind und drittältester Sohn von Karl und Leopoldine Wittgenstein. Er wird als verängstigtes, nervöses Kind beschrieben und als derjenige, der am meisten Sinn für die Literatur hatte. Sein Selbstmord – er vergiftete sich im Alter von 23 Jahren in Berlin – wird auf seine vermeintliche Homosexualität zurückgeführt, doch sollen auch die Schwierigkeiten Page Break 130
mitgespielt haben, auf die er als erwachsener Mann in Berlin nach einem behaglichen Leben im Elternhaus gestoßen war. (Vgl. McGuinness, S. 59). Page 130
etwas Oberländerisches: wahrscheinlich Anspielung auf Adolf Oberländer, einen Karikaturisten der „Fliegenden Blätter“. Page 130
Fliegende Blätter: Fliegende Blätter: Illustrierte humoristische Zeitschrift des Verlags Braun & Schneider, München. Erschien 1844 bis 1944. Bedeutende Mitarbeiter wie Wilhelm Busch, Adolf Oberländer, Moritz von Schwind, Carl Spitzweg, Felix Dahn, Ferdinand Freiligrath, Emanuel Geibel und Joseph Victor von Scheffel lieferten Texte und Graphiken für Karikaturen zeittypischer Verhaltensformen des deutschen Bürgertums. Page 130
[93] Rosalie: Rosalie Herrmann: Daten nicht ermittelt, allem Anschein nach eine Haushälterin der Wittgensteins. Es finden sich Photos von ihr im Album der Familie Wittgenstein. In einem Brief vom 26.II.1916 schreibt Hermine Wittgenstein an Ludwig von der „guten alten Rosalie“, die sehr krank sei, vermutlich zu der Zeit im Sterben lag. Page 130
Kumäische Sybille: richtig: Cumaeische Sibylle: legendäre griech. Prophetin orientalischen Ursprungs, die in einer Quellgrotte in Eretria ihre Orakel verkündete (wahrscheinlich im 5. Jhdt. v. Chr.) Bei der Besiedlung Unteritaliens durch die Eretrier gelangten diese Orakel nach Cumae, woraus die Vorstellung einer eigenen Sybille von Cumae entstand, der man die 83 v. Chr. verbrannten Sibyllinischen Bücher zuschrieb, die unter der etruskischen Dynastie der Tarquinier nach Rom kamen. Page 130
[94]
seit: im Original: sei.
Page 130
daweil: Wiener Dialekt. Bedeutet dasselbe wie „derweil“, „indessen“, „unterdessen“, „während“, „währenddessen“, „einstweilen“. (Vgl. Wörterbuch des Wiener Dialektes von Julius Jakob, 1929). Page 130
[95] Claudius: Matthias Claudius (Pseudonym: Asmus): Geb. 15.8.1740, Reinfeld bei Lübeck (Holstein); gest. 21.1.1815, Hamburg. Studierte Theologie und Jura. Herausgeber des Wandsbecker Boten. Wandte sich nach anakreontischen Gedichten religiös-moralischen Themen zu. Seine volksliedhafte, schlichte Lyrik erlangte in ihrer Frömmigkeit, kindlichen Gläubigkeit und persönlichen Färbung zeitlose Gültigkeit. Bekannt sind vor allem Claudius’ Gedichte „Der Mond ist aufgegangen“, „Stimmt an mit hellem Klang“, „Der Tod und das Mädchen“. Die Verbreitung des Claudius wurde vor allem durch Karl Kraus bewirkt. Page 130
Zitat aus Spinoza: Wahrscheinlich bezieht sich Wittgenstein dabei auf eine Stelle im Fünften Theil des Zweiten Bandes aus den Sämmtlichen Werken des Wandsbecker Boten, in der Zugabe zu „Gespräche[n], die Freiheit betreffend“, Page Break 131
S. 42ff.: A. und B. diskutieren über das Finden der Wahrheit und kommen dabei auf Johann Huß, Mendelssohn und Spinoza zu sprechen. A. sagt: „[ ...] Wenn aber Spinoza mit seinem Kopf und mit seinem Ernst anstieß; so lerne daraus: daß es nicht leicht sey, die Wahrheit zu finden. Spinoza sagt aber so: No. databases: 1873 Page 131
‘Nachdem die Erfahrung mich gelehret hat, daß alles, wovon im Leben gewöhnlich die Rede ist, leer und eitel sey; da ich einsahe, daß alles, wofür und was ich fürchtete, weder Gutes noch Böses in sich habe, als in so weit das Gemüth davon in Bewegung gesetzt wurde; so beschloß ich endlich, zu forschen: ob es etwas gäbe, das ein wahrhaftiges Gut sey, und das sich mittheile, und von dem, wenn ich allem übrigen entsagte, das Gemüth allein reactionirt würde; ja, ob es etwas gäbe, dadurch ich, wenn ich es fände und mir verschafte, eine immerwährende und höchste Freude in Ewigkeit genösse. Ich sage, daß ich endlich beschloß; denn beym ersten Anblick schien es mir ungerahten, um eine damals ungewisse Sache eine gewisse verliehren zu wollen. Ich sahe nämlich die Vortheile, die
Ehre und Reichthümer bringen, und daß ich diese nicht weiter suchen müßte, wenn ich mit Ernst einer andern neuen Sache nachtrachten wollte; und es leuchtete mir ein: daß, wenn die höchste Glückseligkeit in diesen Dingen etwa bestehen sollte, ich solcher Glückseligkeit entbehren müsse; bestehe sie aber nicht darinn, und ich trachtete nur ihnen nach, so würde ich denn auch der höchsten Glückseligkeit entbehren. Page 131
Ich sann also in mir nach, ob es nicht möglich seyn sollte, zu meinem Werk, oder wenigstens zur Gewißheit darüber zu gelangen, ohne daß meine bisherige Lebensordnung und Weise verändert würde. Das aber habe ich oft umsonst versucht. Denn wovon im Leben gewöhnlich die Rede ist, und was bey den Menschen, nach ihren Werken zu urtheilen, als das höchste Gut geachtet wird, läuft auf diese drey Stücke hinaus, nämlich: Reichtum, Ehre und Wollust. Durch diese drey Dinge wird aber das Gemüth so zerstreuet, daß es auf keine Weise an ein anderes Gut denken kann. – Da ich also einsahe, daß alles dieses so sehr im Wege sey, einem neuen Vornehmen nachzugehen, ja daß es damit in einem solchen Widerspruch stehe, daß ich nothwendig von einem von beyden abstehen müsse; so mußte ich entscheiden, welches von beyden mir nützlicher wäre. – Ich habe nicht ohne Ursache die Worte gebraucht: wenn ich nur ernsthaft bedenken könnte. Denn ob ich gleich dies alles im Gemüth ganz klar einsahe; so konnte ich doch deswegen nicht allen Geiz, Wollust und Ehrsucht ablegen.*) ‘“ Page 131
*) Siehe in Spinoza’s Werken das Fragment: de Intellectus emendatione, et de via, qua optime in veram rerum cognitionem dirigitur. Page 131
(Vgl. Matthias Claudius. Werke. ASMUS omnia sua SECUM portans, oder Sämmtliche Werke des Wandsbecker Bothen, Erster und zweiter Theil. Wandsbeck, 1774. Beym Verfasser. Hamburg: Bei Perthes und Besser 1819). Page 131
[96] schwätz nicht! Am Rand oben links eingefügt, als Kommentar zu den ersten beiden Sätzen, die mit Wellenlinie durchgestrichen sind. Page 131
[97]
Keine Pagina sichtbar, da Wittgenstein im oberen Rand der Seite Text einfügte.
Page Break 132 Page 132
[99] Gesichtstypus zeichnen: im Original als ein Wort, durch einen Querstrich voneinander getrennt.(siehe diplomatische Fassung). Page 132
Haydens: richtig: Haydns: Joseph Haydn (1732-1809). Page 132
[100] "Ring": „Der Ring des Nibelungen“: Bühnenfestspiel in vier Teilen von Richard Wagner. „Das Rheingold“, „Die Walküre“, „Siegfried“ und „Götterdämmerung“. Page 132
Bühnenweisungen: richtig: Bühnenanweisungen. Page 132
[101] [Etwas ist nur so ernst [...]: Variante in eckiger Klammer, aber als eigener Absatz. Page 132
Übrigens [...]: Mit einem Pfeil hat Wittgenstein angedeutet, daß er den Absatz „Übrigens heißt das nicht, daß [...]“ früher, auf Seite 100, nach dem Absatz „Ich bin in meine Art der Gedankenbewegung [...]“ einordnen wollte. Page 132
[102] auf dem Theater (Kierkegaard) in meiner Seele: Wahrscheinlich bezieht sich Wittgenstein dabei auf Kierkegaards Bemerkungen über das Theaterpublikum in Die Wiederholung. Page 132
Vgl. Sören Kierkegaard: Gesammelte Werke. In 12 Bänden unverkürzt herausgegeben von Hermann Gottsched und Christoph Schrempf. Bd. 3: Furcht und Zittern. Die Wiederholung. Dritte, umgearbeitete Auflage. Übersetzt von H.C. Ketels, H. Gottsched und Chr. Schrempf, Nachwort von Chr. Schrempf. Jena: Eugen Diederichs Verlag, 1923. Page 132
[107] im letzten Satz des Violinkonzerts: Konzert für Violine und Orchester D-dur op. 77 von Johannes Brahms. Page 132
– Allegro non troppo – Kadenz. Adagio. Allegro giocoso, ma non troppo vivace – Poco pin presto. Page 132
die Harfe am Schluß des ersten Teils des Deutschen Requiems: Johannes Brahms: Ein deutsches Requiem (nach Worten der Heiligen Schrift) für Soli, Chor, Orchester und Orgel, Opus 45, 7 Sätze, entstanden 1868. – Wahrscheinlich spielt Wittgenstein mit seiner Äußerung auf den zweiten Satz des Deutschen Requiems an. Page 132
[108] Die Freude an meinen Gedanken: Page 132
Vgl. dazu MS 155 46r: 1931 (zit. nach VB, S. 46): „Die Freude an meinen Gedanken ist die Freude an meinem eigenen seltsamen Leben. Ist das Lebensfreude?“ Page 132
[113] Essay von Emerson: Ralph Waldo Emerson: Geb. 25.5.1803, Boston; gest. 27.4.1882, Concord, (Mass.). Emerson legte sein geistliches Amt aus Gewissensgründen nieder. Suchte durch seine vom deutschen Idealismus und der Page Break 133
englischen Romantik beeinflußte Philosophie des „Transzendentalismus“ einen dogmenfreien, dem Pantheismus nahestehenden Glauben zu begründen. Werke: Essays (1841 und 1844), Representative Men (1850), English Traits (1856). Page 133
Am 15.11.1914 schrieb Wittgenstein in sein Tagebuch: „Lese jetzt in Emersons ‘Essays’. Vielleicht werden sie einen guten Einfluß auf mich haben.“ (Vgl. Baum, Geheime Tagebücher, S. 42). Page 133
seinen Freund einen Philosophen: Höchstwahrscheinlich ist damit Henry David Thoreau gemeint. Page 133
Henry David Thoreau: Geb. 12.7.1817, Concord, (Mass.); gest. 6.5.1862, Concord. Amerikan. Schriftsteller und Mitglied der Transzendentalisten. Radikaler Nonkonformist und Individualist. Lebte für ca. zwei Jahre in einer selbstgebauten Blockhütte am Walden Pond bei Concord. Werke: Walden (1854), Civil Disobedience. Tagebücher. Page 133
[114] im richtig geschriebenen: im Original: im richtig geschriebene. Page 133
Lichtenbergs: Georg Christoph Lichtenberg: Geb. 1.7.1742, Ober-Ramstadt bei Darmstadt; gest. 24.2.1799, Göttingen. Deutscher Physiker und Schriftsteller. Vielseitiger Naturwissenschaftler und einer der führenden Experimentalphysiker seiner Zeit. Als Schriftsteller trat er vor allem durch seine naturwiss. und philosophisch-psychologischen Aufsätze, besonders aber durch seine ironisch-geistvollen „Aphorismen“, hervor. Page 133
Auf die Ähnlichkeiten zwischen Wittgenstein und Lichtenberg hat von Wright in seinem Artikel „Georg Christoph Lichtenberg als Philosoph“ in Theoria 8, 1942, S. 201-217, hingewiesen. McGuinness schreibt über Gemeinsamkeiten zwischen Lichtenberg und Wittgenstein in Wittgensteins frühe Jahre, S. 74f.: Auch bei Lichtenberg spiele das Thema der Irrtümer und Fehler, die sich aus dem Mißbrauch oder Mißverständnis der Sprache ergeben, eine hervorstechende Rolle. Page 133
J. P. Stern diskutierte Parallelen zwischen Lichtenberg und Wittgenstein in „Comparing Wittgenstein and Lichtenberg“ in Lichtenberg: A Doctrine of Scattered Occasions. Bloomington (Indiana): Indiana Univ. Press, 1959. Page 133
J.P. Stern schreibt, daß Lichtenberg in einer seiner letzten Eintragungen die wichtigsten Einsichten des jungen Wittgenstein – über das, was sich bloß „zeigt“ – vorweggenommen habe. (Vgl.: Joseph Peter Stern: „Lichtenbergs Sprachspiele“. In: Aufklärung über Lichtenberg. Kleine Vandenhoeck-Reihe. Mit Beiträgen von Helmut Heißenbüttel, Armin Hermann, Wolfgang Promies, Joseph Peter Stern, Rudolf Vierhaus. Göttingen: Vandenhoeck 1974, S. 60-75, S. 66). Page 133
Vgl. auch Helmut Heißenbüttel: „Georg Christoph Lichtenberg – der erste Autor des 20. Jahrhunderts“ (in: Aufklärung über Lichtenberg, S. 76-92), und Johannes Roggenhofer: Zum Sprachdenken Georg Christoph Lichtenbergs. Linguistische Arbeiten 275. Hrsg. von Hans Altmann, Peter Blumenthal, Herbert E. Brekle, Gerhard Helbig, Hans Jürgen Heringer, Heinz Vater und Richard Wiese. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1992. Page Break 134 Page 134
lügen: nicht klar leserlich.
Page 134
die Gestalt der Furcht vor der Lächerlichkeit: nicht ermittelt. Page 134
[115] Dabei weiß, ich daß: richtig: dabei weiß ich, daß. Page 134
[116] Entschluß: im Original: Enschluß. Page 134
[117] wenn: im Original als „wem“ zu lesen. Page 134
Übligkeiten: veraltet für Übelkeit. Im Handwörterbuch der Deutschen Sprache, hrsg. von Joh. Christ. Aug. Heyse (Hildesheim: Georg Olms Verlagsbuchhandlung, Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Magdeburg 1849) wird „Übligkeit“ als gem. unr. für Übelkeit angeführt. Auch in anderen alten deutschen Wörterbüchern findet sich der Ausdruck „Üblichkeit“ für „Übelkeit“ (Handwörterbuch der deutschen Sprache von Dr. Daniel Sanders. Leipzig: Verlag Otto Wigand 1888). Vgl. auch das Wörterbuch des Wiener Dialektes von Julius Jakob, wo „Üblichkeit“ für „Übelkeit“, „Unwohlsein“ angegeben ist. Page 134
[119] im geist: Zuerst schrieb Wittgenstein „geistig“, entschied sich dann für die Variante „im geist“ und vergaß offensichtlich, das „g“ zu korrigieren. Richtig: im Geist. Page 134
Selbstmord: Mit einem Pfeil hat Wittgenstein angedeutet, daß die in einer Schlinge eingefügten Worte „& der Selbstmord endet sie nicht“ an „Die Verzweiflung hat kein Ende“ anschließen sollte. Page 134
[122] Resentiment: richtig: Ressentiment. Page 134
[123] Wehrmuth: richtig: Wermut. Page 134
er ahmt dem Dichter: richtig: er ahmt den Dichter .... nach. Page 134
zu etwas: im Original: zu etwa. Page 134
[124] meine Beichte: Ob Wittgenstein zu dieser Zeit bereits eine Beichte abgelegt hatte oder nur daran dachte, dies zu tun, kann nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden. Drury schreibt zwar von einer Beichte Wittgensteins im Jahre 1931, ist sich aber des angegebenen Jahres nicht ganz sicher. (Vgl. Porträts und Gespräche, S. 171). Page 134
Bekannt ist jedoch, daß Wittgenstein Ende 1936 und Anfang 1937 eine Beichte gegenüber mehreren seiner Freunde und seiner Familie ablegte. (Vgl. Kommentar zu Seite 142). Page Break 135 Page 135
„& hätte der Liebe nicht u.s.w.“: Vgl. den ersten Brief Paulus’ an die Korinther, Kapitel 13, in der Übersetzung von Martin Luther: „Wenn ich mit Menschen= und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.“ Page 135
(Vgl. Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers. Berlin: Trowitzsch & Sohn, 1919). Page 135
[125] meines Bruders Kurt: Kurt bzw. Konrad Wittgenstein: Geb. 1.5.1878, Wien; gest. 9.9.1918, Italien, Kriegsschauplatz. Kurt war der zweitälteste von Wittgensteins Brüdern. Er erschien „harmlos heiter veranlagt“ (vgl. Familienerinnerungen, S. 102f.) und übernahm eine der Firmen seines Vaters. Als ihm im Ersten Weltkrieg seine Truppe den Gehorsam verweigerte und desertierte, nahm er sich das Leben. Page 135
[126] Traum: Vgl. die Zeichnung des Traumes in der diplomatischen Fassung. Page 135
[128]
„but you have fettered me“: aber Sie haben mich gefesselt.
Page 135
[130] Was Du geleistet hast,[...]: Page 135
Mit einem Pfeil hat Wittgenstein angedeutet, daß der Absatz „Was Du geleistet hast, [...]“ vor den vorhergehenden Absatz „Soviel es Dich gekostet hat, [...]“ gehören sollte. Page 135
[131] tu te fache, donc tu as tort: Page 135
richtig: tu te fâche = „Du ärgerst Dich, folglich hast Du Unrecht.“ Page 135
[132] sündlich: veraltet: in der Weise der Sünde oder des Sündhaften, einer Sünde ähnlich. In älteren Ausgaben der Bibel wird „sündlich“ auch für sündig, mit Sünde behaftet, gebraucht. Page 135
(Vgl. Deutsches Wörterbuch von Moriz Heyne. Leipzig: Hirzel Verlag 1895; Vgl. auch: Wörterbuch der Deutschen Sprache. Hrsg. von Joachim Heinrich Campe. Hildesheim-New York: Olms 1969/70, Nachdruck der Ausgabe Braunschweig, 1810.) Vgl. die bereits zitierte Bibel-Ausgabe nach der Übersetzung von M. Luther (Berlin, 1919): „der sündliche Leib“ (Römer 6, 6); „die sündlichen Lüste“ (Römer 7, 5), „in der Gestalt des sündlichen Fleisches“ (Römer 8, 3). Page 135
daß ein Augenblick: im Original: das ein Augenblick [...]. Page 135
[134] Corsischer Briganten: Briganten: (ital.) Bezeichnung für Aufwiegler, Unruhestifter, auch für Straßenräuber und Freibeuter. Vgl. dazu Wittgensteins Äußerung im MS 153b 39v: 1931, zit. nach VB, S. 40. Page 135
„Sehe die Photographien von Corsischen Briganten und denke mir: die Gesichter sind zu hart & meines zu weich als daß das Christentum darauf schreiben könnte. Die Gesichter der Briganten sind schrecklich anzusehen & doch sind sie gewiß Page Break 136
nicht weiter von einem guten Leben entfernt & nur auf einer andern Seite desselben gelegen als ich“ Page 136
[138] als ihrer Zuflucht: nicht klar leserlich, ob „ihrer“ oder „ihren“. Page 136
[[139] Verstümmle: Vgl. dazu Wittgensteins Bemerkungen über Frazers The Golden Bough im MS 143, S. 681: „[...] Aber es kann sehr wohl sein daß der völlig enthaarte Leib uns in irgend einem Sinne den Selbstrespekt zu verlieren verleitet. (Brüder Karamasoff) Es ist gar kein Zweifel daß eine Verstümmelung die uns in unseren Augen unwürdig, lächerlich, aussehen macht uns allen Willen rauben kann uns zu verteidigen. Wie verlegen werden wir manchmal – oder doch viele Menschen (ich) – durch unsere physische oder aesthetische Inferiorität.“ (Diese Stelle ist nicht in allen Ausgaben über Wittgenstein’s Remarks on Frazer’s Golden Bough publiziert: sie findet sich – wenn auch in nicht ganz originalgetreuer, da teils korrigierter, Wiedergabe – in Ludwig Wittgenstein. Philosophical Occasions 1912-1951. Ed. by James C. Klagge and Alfred Nordmann. Indianapolis & Cambridge: Hackett Publishing Company 1993, S. 154. Weiters in der von Rush Rhees edierten Ausgabe von 1967: Bemerkungen über Frazers THE GOLDEN BOUGH. In: Synthese, ed. bei Jaakko Hintikka. Dordrecht, Holland: D. Reidel Publishing Company, P.O. Box 17, pp. 233-253). Page 136
[142] an Hänsel: Ludwig Hänsel. Geb: 8.12.1886, Hallein (Salzburg); gest. 8.9.1959, Wien. Mittelschulprofessor für Latein und Französisch. Wittgenstein lernte Hänsel in der Zeit seiner Kriegsgefangenschaft bei Monte Cassino im Jahre 1919 kennen und war mit ihm bis an sein Lebensende befreundet. (Vgl. Ludwig Hänsel – Ludwig Wittgenstein. Eine Freundschaft. Briefe. Aufsätze. Kommentare. Brenner-Studien Bd. XIV. Innsbruck: Haymon Verlag, 1994). Page 136
ein Geständnis: Am 7. November 1936 legte Wittgenstein in einem Brief an Ludwig Hänsel ein Geständnis seiner angeblichen Lüge bezüglich seiner Abstammung ab, d.h. er gestand, nur zu einem Viertel von „Ariern“ und zu drei Vierteln von Juden abzustammen und nicht umgekehrt, wie er immer behauptet hätte. Er bat Hänsel, seinen Brief auch dessen Familie sowie Wittgensteins Geschwistern mit Kindern und seinen Freunden zu zeigen. In einem weiteren Brief an Hänsel sprach er von seinem Vorhaben, anläßlich seines Besuches zu Weihnachten in Österreich allen Freunden und Verwandten ein umfassenderes Geständnis abzulegen. (Vgl. Hänsel, S. 136-138). Laut Auskunft von John Stonborough an die Herausgeberin ließ Wittgenstein ein schriftliches Geständnis zu Weihnachten in der Alleegasse aufliegen, als sich die Familie zum Essen traf. Auf Margarete Stonboroughs Äußerung „Ehrenleute lesen anderer Leute Beichten nicht“ rührte keiner der Familie – mit einer Ausnahme – das Geständnis an. Wittgenstein
schrieb auch an Engelmann, und Anfang 1937 suchte er in England G.E. Moore, Fania Pascal und Rush Rhees auf, um ihnen seine „Sünden“ zu gestehen. Laut Fania Pascal habe Wittgenstein aber nie etwas Falsches über seine rassische Herkunft gesagt und es könne nur auf eine bewußte oder unbewußte Unterlassung Page Break 137
seinerseits zurückgeführt werden, wenn man ihn für etwas Anderes hielt, als was er wirklich war. Sie habe nie jemanden getroffen, der weniger imstande war zu lügen als er. (Vgl. Porträts und Gespräche, S. 67). Auch Rush Rhees schreibt, er habe noch nie gehört, daß jemand behauptet habe, Wittgenstein habe seine Herkunft verheimlichen wollen. (Vgl. Porträts und Gespräche, S. 241). Page 137
Vgl. Wittgensteins Eintragung im MS 154 1r (1931): „Eine Beichte muß ein Teil des neuen Lebens sein.“ (Zit. nach VB, S. 40). Page 137
[144] Francis: Sidney George Francis Skinner: Geb. 9.6.1912, South Kensington; gest. 11.10.1941, Cambridge. Skinner kam 1930 als Mathematikstudent nach Cambridge, wo er Wittgenstein kennenlernte. Trotz seiner hohen Begabung – er erhielt 1931 ein „first class“ im ersten Teil der „Mathematics Tripos“ und 1933 ein weiteres „first class“ im zweiten Teil – verzichtete er auf eine akademische Laufbahn, um in Wittgensteins Sinn ein Handwerk zu erlernen. Zur Bestürzung seiner Familie nahm Francis eine Lehrstelle in der Cambridge Scientific Instrument Company an und wechselte später auf die Firma Pye über. Von 1933 bis 1941 (dem Jahr, in dem Francis an Poliomyelitis starb) war er der engste Freund Wittgensteins und bewohnte mit ihm eine Zeitlang eine Wohnung in der East Road in Cambridge. Die beiden unternahmen des öfteren gemeinsame Reisen, Skinner besuchte im Herbst 1937 (vom 18.9.-1.10.) Wittgenstein in Norwegen. In ihrer Beziehung spielte Wittgensteins philosophische Arbeit eine große Rolle: 1934/35 diktierte Wittgenstein Skinner das „Braune Buch“, doch es ist anzunehmen, daß sich die Niederschrift auch aus den gemeinsamen Dialogen der Freunde entwickelte. (Vgl. Fania Pascal, in Porträts und Gespräche, S. 49-54). Skinner war von stillem, bescheidenem Wesen und fügte sich Wittgenstein fast „blindlings“. Sein Tod löste in diesem Schuldgefühle aus: vgl. folgende Eintragung Wittgensteins vom 28.12.1941 im MS 125: „Denke viel an Francis, aber immer nur mit Reue wegen meiner Lieblosigkeit; nicht mit Dankbarkeit. Sein Leben und Tod scheint mich nur anzuklagen, denn ich war in den letzten 2 Jahren seines Lebens sehr oft lieblos und im Herzen untreu gegen ihn. Wäre er nicht so unendlich sanftmütig und treu gewesen, so wäre ich gänzlich lieblos gegen ihn geworden.“ (Zit. nach Monk, S. 625). Page 137
eine schöne & rührende Antwort: Page 137
Vgl. Hänsels Brief vom 15. Nov. 1936 an Wittgenstein in Hänsel, S. 136f. Page 137
Mining: Hermine Wittgenstein: Geb. 1.12.1874, Eichwald bei Teplitz, Böhmen; gest. 11.2.1950, Wien. Älteste Schwester von Ludwig Wittgenstein, die nach einer Figur von Fritz Reuters Roman Ut mine Stromtid („Das Leben auf dem Lande“, 3 Teile. Wismar: Hinstorrf’sche Hofbuchhandlung 1863-64) „Mining“ genannt wurde. Sie blieb unverheiratet und wurde nach dem Tod von Karl Wittgenstein faktisch zum Familienoberhaupt. Sie sorgte sich in mütterlicher Weise um ihre jüngeren Geschwister, insbesondere um Ludwig, dessen Wohl ihr sehr am Herzen lag. Dieser bemerkte gegenüber Rush Rhees einmal, daß Hermine unter seinen Geschwistern „bei weitem die tiefste“ sei. (Vgl. Porträts und Gespräche, S. 7). Page Break 138 Page 138
[146] Anna Rebni: (1869-1970). Bauersfrau in Skjolden, mit Wittgenstein befreundet. Sie war Lehrerin in Oslo, kehrte aber 1921 wieder nach Skjolden zurück, wo sie einen Bauernhof – den „Eide-Hof“ – bewirtschaftete und ab 1925 die dortige Jugendherberge übernahm. Als Wittgenstein im Sommer 1937 von Cambridge nach Skjolden zurückkehrte, wohnte er eine Zeitlang – vom 16. bis zum 24. August – im Haus von Anna Rebni. Wittgenstein war Anna Rebni herzlich zugetan, und als durch ein Mißverständnis die gute Beziehung der beiden getrübt war, machte er über seinen Kummer Aufzeichnungen in seinen Tagebüchern. (Vgl. seine Eintragungen vom 15. und 16. Nov. 1937 (MS 119), vom 20. und 27. Nov. wie auch vom 7. und 9. Dez. 1937 (MS 120). Page 138
Arne Draegni: Arne Thomasson Draegni: Geb. 21.9.1871, Skjolden; gest. 4.1.1946, Skjolden. Bauer auf einem der Bolstad-Höfe. Zur Ortschaft Bolstad gehörten mehrere, verstreut liegende Bauernhöfe. Arne Draegni war der Bruder von Halvard Draegni und Inga Sofia Thomasdotter Draegni, die Hans Klingenberg heiratete und unter dem Namen Sofia Klingenberg bekannt ist. Arne Draegni war einer der Menschen in Skjolden, mit denen Wittgenstein nach seinem norwegischen Aufenthalt von 1936/37 engen brieflichen Kontakt pflegte. (Vgl.
Wittgenstein and Norway, letters Nr. 43, 44, 46, 48). Page 138
In einem Brief vom 18.7.1946 an Anna Rebni zeigt sich Wittgenstein bestürzt über den Tod von Arne Draegni und schreibt: „I was extremely sorry to hear of Arne Draegni’s death. He was the best friend I had in Skjolden.“(Vgl. Wittgenstein and Norway, Brief Nr. 49). Page 138
[148] Bergen: Wittgenstein kam bereits im September 1913 – gemeinsam mit seinem Freund David Pinsent – nach Bergen, wo er für zwei Nächte im Hotel Norge übernachtete, bevor er nach Öistesö aufbrach. (Vgl. A Portrait of Wittgenstein As A Young Man. From the Diary of David Hume Pinsent 1912-1914. Edited by G. H. von Wright. Oxford: Basil Blackwell, 1990). Page 138
Skjolden: Nach seinem ersten Aufenthalt in Norwegen im September 1913 entschloß sich Wittgenstein im Oktober desselben Jahres zu einem längeren Aufenthalt, um in der Einsamkeit über Fragen der Logik nachzudenken. Mitte Oktober ließ er sich in Skjolden, einer kleinen Ortschaft am Sogne-Fjord, nordöstlich von Bergen, nieder. Zunächst wohnte er in einem Gasthof, später bei dem Postmeister Hans Klingenberg, dessen Frau Sofia und deren Tochter Kari. Weiters fand er Freunde in Anna Rebni, Halvard Draegni und dem damals 13 Jahre alten Schüler Arne Bolstad. Am 26. März kam George Edward Moore für ca. zwei Wochen (Ende März bis Mitte April) nach Norwegen und Wittgenstein diktierte ihm die Ergebnisse seiner Arbeit über Logik, die als Notes dictated to Moore veröffentlicht sind. Im Frühjahr 1914 begann Wittgenstein mit dem Bau einer Hütte oberhalb des Eidsvatnet Sees, die er im Sommer 1921, anläßlich seiner nächsten Reise nach Norwegen mit Arvid Sjögren, zum ersten Mal bezog. (Vgl. Monk, S. 85ff., S. 93ff. und Nedo, S. 353. Vgl. auch Wittgenstein and Norway, S. 84ff.) Page 138
Im Sommer 1931 verbrachte Wittgenstein wiederum ein paar Wochen in Skjolden, Page Break 139
eine Zeitlang davon in Gesellschaft von Marguerite Respinger. Im August 1936 entschloß er sich für einen längeren Aufenthalt, der bis zum Dezember 1937 dauern sollte. Dort schrieb er die erste Version der Philosophischen Untersuchungen. Zu Weihnachten 1936 reiste Wittgenstein nach Wien, anschließend nach Cambridge, wo er bis Ende Jänner blieb und dann nach Norwegen zurückkehrte. Im Mai 1937 fuhr er wieder nach Österreich, danach nach England und kehrte um den 9. August nach Norwegen zurück. Page 139
Hotell: richtig: Hotel. Page 139
Bibel: Es ist anzunehmen, daß Wittgensteins Interesse an der Bibel durch seine Lektüre von Tolstois Büchlein Kurze Darlegung des Evangelium geweckt wurde. Diese Schrift hatte er während des Ersten Weltkrieges auf einer Dienstreise nach der galizischen Stadt Tarnow in einem Buchladen gekauft und sie wurde ihm zum unentbehrlichen Begleiter während der Kriegsjahre. Als er später zu einer Artillerie-Ausbildung in Olmütz stationiert war und es zu abendlichen Treffen im Hause Engelmann kam, wurde auch in der Bibel, vor allem im Neuen Testament, gelesen. Dabei soll Wittgenstein darauf bestanden haben, dies auf lateinisch zu tun. (Vgl. McGuinness, S. 394). Aus seinen Zitaten im vorliegenden Tagebuch geht hervor, daß er sich des öfteren auf eine Übersetzung nach Martin Luther bezog. (Vgl. Kommentar zu S. 124 und S. 220). Page 139
[149] Lessing: Gotthold Ephraim Lessing: Geb. 22.1.1729, Kamenz (Bezirk Dresden); gest. 15.2.1781, Braunschweig. Page 139
Wittgenstein spielte mit seiner Äußerung wahrscheinlich auf Lessings Erziehung des Menschengeschlechts an, wo Lessing sich mit der Bibel auseinandersetzt. Vgl. eine andere Eintragung Wittgensteins, wo er auf Lessings Auseinandersetzung mit der Bibel Bezug nimmt: Page 139
„Ich lese in Lessing: (über die Bibel) ‚Setzt hierzu noch die Einkleidung und den Stil ......, durchaus voll Tautologien, aber solchen, die den Scharfsinn üben, indem sie bald etwasanderes zu sagen scheinen, und doch das nämliche sagen, bald das nämliche zu sagen scheinen, und im Grunde etwas anderes bedeuten oder bedeuten können: ...‘“ Page 139
(Vgl. dazu Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, § 48-49.) Page 139
(MS 110 5: 12.12.1930, zit. nach VB, S. 33). Page 139
[153] [Bemerkg im Band XI.]: Page 139
Im Band XI bzw. MS 115 konnte zwar keine eindeutig entsprechende Stelle gefunden werden, doch in den PU finden sich Bemerkungen ähnlicher Art: vgl. § 105-109. Page 139
[155] Paul: Paul Wittgenstein: Geb. 5.11.1887, Wien; gest. 3.3.1961, Manhasset (New York); Pianist. Viertältester Bruder von Ludwig Wittgenstein. Von großer musikalischer Begabung; nachdem er im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren hatte, spielte er weiterhin, mit nur einer Hand, Klavier und trat sogar in Page Break 140
Konzerten auf. Er ließ mehrere Komponisten wie Maurice Ravel, Franz Schmidt, Richard Strauss, Sergej Prokofieff und Josef Labor Klavierkonzerte schreiben, von denen Ravels Klavierkonzert in d-Moll für die linke Hand wohl das bekannteste sein dürfte. In der Zeit der Judenverfolgung emigrierte Paul in die Vereinigten Staaten. No. databases: 1873 Page 140
der Elektrischen: = der Straßenbahn. Umgangssprachlich, veraltet, vor allem im Wiener Dialekt. Nicht klar leserlich, ob klein- oder großgeschrieben. Page 140
Jérome: Jerome Stonborough: Geb. 7.12.1873, New York; gest. 15.6.1938, Wien. Dr. der Chemie. Gatte von Margarete Wittgenstein (vgl. Kommentar zu S. 28). Page 140
[156] Mendelsohn: richtig: Mendelssohn: Felix Mendelssohn-Bartholdy: Geb. 3.2.1809, Hamburg; gest. 4.11.1847, Leipzig. Enkel von Moses Mendelssohn. Deutscher Komponist. – Wittgensteins Bemerkungen über Mendelssohn sind vielfältig: im MS 107, S. 72, (1929) schreibt er, daß Mendelssohn „wohl der untragischste Komponist“ sei – in Zusammenhang damit, daß die Tragödie „etwas unjüdisches“ sei. (zit. nach VB, S. 22). Brahms tue „das mit ganzer Strenge was Mendelssohn mit halber getan hat“. Brahms sei oft „fehlerfreier Mendelssohn“. (Vgl. MS 154 21v: 1931, zit. nach VB, S. 44f.) Im MS 156b 24v (ca. 1932-1934) schrieb Wittgenstein: „Wenn man das Wesen der Mendelssohnschen Musik charakterisieren wollte, so könnte man es dadurch tun daß man sagte es gäbe vielleicht keine schwer verständliche Mendelssohnsche Musik.“ (Zit. nach VB, S. 56). Page 140
Drury gegenüber bemerkte Wittgenstein allerdings, daß Mendelssohns Violinkonzert das letzte große Violinkonzert sei, das je geschrieben wurde. Im zweiten Satz gebe es eine Stelle, die zu den großartigsten Momenten der Musik gehöre. (Vgl. Porträts und Gespräche, S. 160). Page 140
Die Bachanten: richtig: Bacchánten: Teilnehmer an den Bacchusfesten; im Mittelalter die fahrenden Schüler, deren jüngere zum „Schießen“ (Stibitzen) benutzte Gefährten Schützen hießen. Page 140
Da sich bei Mendelssohn kein Werk mit dem Titel „Die Bacchanten“ finden läßt, ist anzunehmen, daß Wittgenstein sich träumend geirrt hat. Page 140
[158] Unser Gegenstand ist doch sublim: Page 140
Vgl. PU, § 94: „ ‘Der Satz, ein merkwürdiges Ding!’: darin liegt schon die Sublimierung der ganzen Darstellung. Die Tendenz, ein reines Mittelwesen anzunehmen zwischen dem Satzzeichen und den Tatsachen. Oder auch, das Satzzeichen selber reinigen, sublimieren, zu wollen. – Denn, daß es mit gewöhnlichen Dingen zugeht, das zu sehen, verhindern uns auf mannigfache Weise unsere Ausdrucksformen, indem sie uns auf die Jagd nach Chimären schicken.“ Page 140
Vgl. weiters PU, § 38, 89. Vgl. auch MS 157a, S. 130f, 9.2.1937: ‘Der Satz ein merkwürdiges Ding.’: darin liegt irgendwie schon die Sublimierung der ganzen Darstellung [Betrachtung| Betrachtungsweise], die Tendenz entweder ein reines, Page Break 141
sublimes, Mittelwesen zwischen dem groben Satzzeichen & den Tatsachen anzunehmen, oder auch das Satzzeichen selber quasi reinigen, sublimieren, zu wollen. Page 141
Denn, daß es ganz hausbacken zugeht, – das zu sehen, verhindert uns unsere Ausdrucksweise. || verhindert uns auf mannigfache Weise unsere Sprechweise || || das zu sehen, verhindern auf mannigfache Weise unsre Sprachformen [Ausdrucksformen] indem sie uns auf die Jagd nach Fabelwesen [Chimairen]schicken.“
Page 141
des profunden: richtig: des Profunden. Page 141
Seiten 158/159: Zwischen diesen zwei Seiten hat Wittgenstein vermutlich ein Blatt herausgerissen. Allerdings gibt es im Text keinen Hinweis auf eine fehlende Stelle. Page 141
[159] Erinnere Dich!: diese zwei Worte in Geheimschrift hat Wittgenstein oben in der linken Ecke eingefügt. Page 141
Adam benennt die Tiere: Vgl. die Bibel: Das erste Buch Mosis. Genesis 2, 19 und 20: „Also bildete Gott der Herr aus Erde alle Tiere des Feldes und alles Geflügel des Himmels, und er führte sie zu Adam, daß er sähe, wie er sie nennte; denn wie Adam jedes lebende Wesen nannte, so ist sein Name. Und Adam nannte mit gehörigen Namen alles zahme Vieh und alles Geflügel des Himmels und alle wilden Tiere der Erde; [...]“. (Vgl. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes. Aus der Vulgata mit Bezug auf den Grundtext übersetzt von Dr. Joseph Franz von Allioli. München: Druck von R. Oldenbourg, 1923). Page 141
fromm: Geheimschrift nicht klar leserlich. Page 141
[160] gestolen: richtig: gestohlen. Page 141
[162] Bachtin: Nicholas Bachtin, Philologe, war ein Bruder des bekannten Literaturwissenschaftlers Michail M. Bachtin (1895-1975). Nicholas arbeitete in den frühen Dreißigerjahren an seiner Dissertation in Cambridge und war einer von Wittgensteins Freunden, der neben Piero Sraffa, George Thomson und Maurice Dobb einer Gruppe von Kommunisten/Marxisten angehörte. (Vgl. Monk, S. 343, 347). Nicholas Bachtin lehrte später alte Sprachen in Southampton und dann in Birmingham, wo er schließlich Dozent der Sprachwissenschaft wurde. Wittgensteins Wunsch, die Logisch-Philosophische Abhandlung zusammen mit den Philosophischen Untersuchungen zu veröffentlichen, entstand, als er Bachtin im Jahre 1943 die Gedanken seines ersten Werkes erklärte. (Vgl. Nedo, S. 359). Bachtin starb ein Jahr vor Wittgenstein. Bachtins Witwe Constance bemerkte gegenüber Fania Pascal, daß Wittgenstein „an Bachtin hing“. In seiner Gegenwart soll er ungewöhnlich fröhlich und glücklich gewirkt haben, obwohl die beiden in ihrer Einstellung und ihrem Charakter voneinander gänzlich verschieden waren. (Vgl. Porträts und Gespräche, S. 37f.). Page Break 142 Page 142
Ideal: Vgl. VB, S. 61f. Vgl. auch PU, § 101, 103, 105ff. Page 142
Vgl. auch MS 157a, S. 122: „Warum wird denn diese Idee in uns zum Ideal? Page 142
(Oder ist diese Frage nicht in gewissem Sinne unberechtigt: weil wir uns eben an eine Idee festhängen?) Page 142
Warum sage ich, der Satz muß so & so gebaut sein? Page 142
Warum wird denn bei Plato immer geschlossen: also „muß“ es sich auch dort so & so verhalten.“ Page 142
[163] das Urbild zu dieser Idee: Vgl. dazu MS 157a und b, wo Wittgenstein sich in ähnlich kritischer Weise mit dem Begriff des Urbilds (der Platonischen Ideenlehre) bzw. mit dem Begriff der „Idee“ und des „Ideals“ auseinandersetzte. Dort finden sich mehrere Stellen, z. B.: „(Der ideale Name); | Was war es, was an dieser Idee falsch war? Was, worauf sich unmittelbar zeigen läßt? [...]“ (MS 157a, S. 115). Page 142
Und weiters: „Die Idee das Ideal ‘müsse’ sich in der Realität finden. Während man noch nicht sieht, wie es sich darin findet; & nicht das Wesen dieses „Muß“ versteht.“ [...] „Das ‘Ideal’ muß jetzt schon seine volle Anwendung ||Anwendbarkeit|| haben. Und außerhalb dieser ist es Ideal nur sofern es eine Form der Darstellung ist. Page 142
| Woher hast Du dieses ‘Ideal’? Was ist sein Urbild? Denn das ist es ja, was ihm Leben gibt.“ (Vgl. MS 157a, S. 115f., Eintragungen vom 9.2.1937). Page 142
Vgl. weiters MS 157b, (nach dem 27.2.1937):
Page 142
„Zu „Idealer Name“ & Ursprung des Ideals gehört die Bemerkung daß wir die Wörter die der Philosoph in Metaphysischer Weise verwendet ihrer gewöhnliche Verwendung wieder zuführen Siehe Typescript.“ Page 142
In diesem Zusammenhang sei aber auch auf den Tractatus verwiesen, wo Wittgenstein noch von einem logischen Urbild sprach: vgl. TLP, 3.315, TLP, 3.24. Page 142
hausbacken: Wittgenstein verwendet häufig das Wort „hausbacken“, um auf das Konkrete, Alltägliche im Gegensatz zu der Vorstellung einer Idee hinzuweisen. Vgl. Phil. Gram., S. 108: „Der Gedanke kann nur etwas ganz hausbackenes, gewöhnliches, sein. (Man pflegt sich ihn als etwas Ätherisches, Unerforschtes, zu denken; als handle es sich um Etwas, dessen Außenseite bloß wir kennen, dessen Inneres noch nicht bekannt ist, etwa wie unser Gehirn.) Man möchte sagen: ‘Der Gedanke, welch ein seltsames Wesen.’ [...]“ Page 142
Vgl. auch Phil. Gram., S. 121, Zeile 15: „Wir können leicht, beim Nachdenken über Sprache und Bedeutung, dahin kommen, zu denken, man redete in der Philosophie eigentlich nicht von Wörtern und Sätzen im ganz hausbackenen Sinn, sondern in einem sublimierten, abstrakten Sinn. – So als wäre ein bestimmter Satz nicht eigentlich das, was irgend ein Mensch ausspricht, sondern ein Idealwesen (die ‘Klasse aller gleichbedeutenden Sätze’, oder dergleichen). Aber ist auch der Schachkönig von dem die Schachregeln handeln ein solches Idealding, ein abstraktes Wesen? (Über unsre Sprache sind nicht mehr Skrupel gerechtfertigt, als ein Schachspieler über das Schachspiel hat, nämlich keine.)“ Page 142
Vgl. auch Bem. über die Grundlagen der Mathem., S. 266, Zeile 3; S. 291, Zeile 7. Page Break 143 Page 143
[164] vom eigentlichen Zeichen: Page 143
Vgl. PU, § 105: „Wenn wir glauben, jene Ordnung, das Ideal, in der wirklichen Sprache finden zu müssen, werden wir nun mit dem unzufrieden, was man im gewöhnlichen Leben ‘Satz’, ‘Wort’, ‘Zeichen’, nennt. Page 143
Der Satz, das Wort, von dem die Logik handelt, soll etwas Reines und Scharfgeschnittenes sein. Und wir zerbrechen uns nun über das Wesen des eigentlichen Zeichens den Kopf. – Ist es etwa die Vorstellung vom Zeichen? oder die Vorstellung im gegenwärtigen Augenblick?“ Page 143
Vgl. auch MS 157b, 27.2.37: „Das Mißverständnis, welches zu der Idee führt, der Satz, der eigentliche Satz, müsse ein reineres Wesen sein, als, was wir für gewöhnlich das „Satzzeichen“ nennen, ist ein sehr zusammengesetztes.“ Page 143
Vgl. auch PU, § 106, 107, 108. Page 143
Glatteis: Vgl. PU, § 107: „[...] Wir sind aufs Glatteis geraten, wo die Reibung fehlt, also die Bedingungen in gewissem Sinne ideal sind, aber wir eben deshalb auch nicht gehen können. Wir wollen gehen; dann brauchen wir die Reibung. Zurück auf den rauhen Boden!“ Page 143
Montgolfieren: durch erwärmte Luft gehobene Luftballons. Erfinder: Étienne Jacques de Montgolfier (1745-1799) und sein Bruder Michel Joseph de Montgolfier (1740-1810), der auch den Fallschirm, den Stoßheber und einen Verdampfapparat erfand. Page 143
[165] fallschirmartigen: nicht klar leserlich, ob Groß- oder Kleinschreibung des „f“. Page 143
Koupé: richtig: Coupé. Hier hat Wittgenstein offensichtlich die nach der Rechtschreibreform erfolgten Änderungen der „c“ vieler Fremdwörter auf „k“ an der falschen Stelle angewandt oder die skandinavische Schreibweise für „Coupé“ übernommen. Page 143
[166] in Schriften Kierkegaards: „in“ nicht klar leserlich; nur ein Querstrich und ein Punkt sichtbar. Page 143
[167] was immer: nicht klar leserlich, ob Groß- oder Kleinschreibung des „w“. Page 143
[170] der weiß daß das: im Original: „der weiß das ...“ Page 143
[171] Die letzte Rede des Mephisto im Lenauschen Faust: Page 143
Nikolaus Lenau (eigentlich Nikolaus Franz Niembsch, Edler von Strehlenau): Geb. 13.8.1802, Csatád (Ungarn; = Lenauheim, Rumänien); gest. 22.8.1850, Oberdöbling ( = Wien). Österr. Dichter. Studierte u.a. in Wien, wo er mit F. Grillparzer, J.C. Zedlitz, F. Raimund und A. Grün verkehrte. Persönliche Enttäuschung steigerte seine Schwermut bis zum geistigen Zusammenbruch; ab 1844 war er in einer Heilstätte. Neben Naturlyrik schuf Lenau auch episch-dramatische Page Break 144
Dichtungen um monumentale Stoffe der Weltliteratur, u.a. „Die Albigenser“ (1842), sowie Fragmente: „Faust“(1836) und „Don Juan“ (im Nachlaß). No. databases: 1873 Page 144
Wittgenstein äußerte sich mehrmals über Lenau, vgl. dazu: Page 144
„Ich fürchte mich oft vor dem Wahnsinn. Hab ich irgend einen Grund anzunehmen, daß diese Furcht nicht sozusagen einer optischen Täuschung entspringt: ich halte irgend etwas für einen nahen Abgrund, was keiner ist? Die einzige Erfahrung von der ich weiß, die dafür spricht, daß dies keine Täuschung ist, ist der Fall Lenaus. In seinem „Faust“ nämlich finden sich Gedanken der Art, wie ich sie auch kenne. Lenau legt sie in den Mund Fausts, aber es sind gewiß seine eigenen über sich selbst. Das Wichtigte ist, was Faust über seine Einsamkeit, oder Vereinsamung sagt. Page 144
Auch sein Talent kommt mir dem meinen ähnlich vor: Viel Spreu – aber einige schöne Gedanken. Die Erzählungen im Faust sind alle schlecht, aber die Betrachtungen oft wahr & groß.“ Page 144
(MS 132 197: 19.10.1946, zit. nach VB, S. 107) Page 144
Am 20. 10. 1946, im MS 132 202, heißt es: „Lenaus Faust ist in sofern merkwürdig, als es der Mensch hier nur mit dem Teufel zu tun hat. Gott rührt sich nicht. (Zit. nach VB, S. 107). Page 144
Vgl. auch VB, S. 24, 75. Page 144
Peer Gynt: Dramatisches Gedicht von Henrik Ibsen (1828-1906). Page 144
Zu teuer erkauft man das Bißchen Leben mit solch einer Stunde verzehrendem Beben: richtig: „Zu teuer erkauft man das bißchen Leben / Mit solch einer Stunde verzehrendem Beben.“ Peer Gynt. Ein dramatisches Gedicht von Henrik Ibsen. Übersetzt von L. Passarge. Zweite umgearbeitete Ausgabe. Leipzig: Reclam jun. Verlag 1887. Zweiter Aufzug. S. 52. Page 144
[173] Gleichnis: Vgl. Wittgensteins Äußerungen über Religion in WWK, S. 117: „Ist das Reden wesentlich für die Religion? Ich kann mir ganz gut eine Religion denken, in der es keine Lehrsätze gibt, in der also nicht gesprochen wird. Das Wesen der Religion kann offenbar nicht damit etwas zu tun haben, daß geredet wird, oder vielmehr: wenn geredet wird, so ist das selbst ein Bestandteil der religiösen Handlung und keine Theorie. Es kommt also auch gar nicht darauf an, ob die Worte wahr oder falsch oder unsinnig sind. Page 144
Die Reden der Religion sind auch kein Gleichnis; denn sonst müßte man es auch in Prosa sagen könnnen. Anrennen gegen die Grenze der Sprache? Die Sprache ist ja kein Käfig.“ Page 144
fröhlich: Geheimschrift nicht korrekt und nicht klar leserlich; vermutlich wollte Wittgenstein „fröhlich“ schreiben. Page 144
[175] Heuchelei: Geheimschrift wiederum nicht korrekt und nicht klar leserlich; wahrscheinlich „Heuchelei“. Page 144
[176] Grade: unklar, ob Wittgenstein „Grade“ oder „Gnade“ meinte. Page Break 145
Page 145
V.: (siehe diplomatische Fassung). Möglicherweise V. in Geheimschrift für E. (Ende), könnte aber auch ein leeres Einfügungszeichen bedeuten. Page 145
[177] meine Schrift: In Geheimschrift, nur „Schrif“ lesbar. Wahrscheinlich „Schrift“ oder „Schriften“, doch die letzte Silbe (am Rand der Seite) fehlt. Page 145
G.z.o.: könnte nach Meinung der Herausgeberin „Gott zu opfern“ bedeuten. Page 145
[183] Nicht erklären!- Beschreiben!: Page 145
Vgl. dazu PU, § 109: „Richtig war, daß unsere Betrachtungen nicht wissenschaftliche Betrachtungen sein durften. Die Erfahrung, ‘daß sich das oder das denken lasse, entgegen unserm Vorurteil’ – was immer das heißen mag – konnte uns nicht interessieren. (Die pneumatische Auffassung des Denkens.) Und wir dürfen keinerlei Theorie aufstellen. Es darf nichts Hypothetisches in unsern Betrachtungen sein. Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten. Und diese Beschreibung empfängt ihr Licht, d.i. ihren Zweck, von den philosophischen Problemen. Diese sind freilich keine empirischen, sondern sie werden durch eine Einsicht in das Arbeiten unserer Sprache gelöst, und zwar so, daß dieses erkannt wird: entgegen einem Trieb, es mißzuverstehen. Diese Probleme werden gelöst, nicht durch Beibringen neuer Erfahrung, sondern durch Zusammenstellung des längst Bekannten. Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache.“ Page 145
Vgl. auch PU, § 124: „Die Philosophie darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten, sie kann ihn am Ende also nur beschreiben. Page 145
Denn sie kann ihn auch nicht begründen. Page 145
Sie läßt alles, wie es ist. Page 145
Sie läßt auch die Mathematik, wie sie ist, und keine mathematische Entdeckung kann sie weiterbringen. Ein “führendes Problem der mathematischen Logik” ist für uns ein Problem der Mathematik, wie jedes andere.“ Page 145
Vgl. weiters PU, § 126: „Die Philosophie stellt eben alles bloß hin, und erklärt und folgert nichts. – Da alles offen daliegt, ist auch nichts zu erklären. Denn, was etwa verborgen ist, interessiert uns nicht. Page 145
„Philosophie“ könnte man auch das nennen, was vor allen neuen Entdeckungen und Erfindungen möglich ist.“ Page 145
Unterwirf dein Herz & sei nicht bös, dass du so leiden musst! Das ist der Rat,den ich mir geben soll: Vgl. dazu Tolstois Interpretation des ersten Briefes des Johannes, in Kurze Darlegung des Evangelium, „Erste Epistel Johannis des Theologen“, Kap. III, Vers 19: „Und wer so liebt, dessen Herz ist ruhig, darum, daß er eins geworden ist mit dem Vater.“ Vers 20: „Wenn sein Herze kämpft, dann unterwirft er sein Herze Gott.“ Vers 21: „Darum, daß Gott wichtiger ist, als die Wünsche des Herzens. Wenn aber sein Herze nicht kämpft, dann ist er selig.“ Page Break 146 Page 146
[[185] Wahnsinn: Wittgenstein schrieb häufig über den Wahnsinn und seine Angst davor. Vgl. seine vorhin zitierte Äußerung in Zusammenhang mit Lenau (zu S.171). Vgl. auch MS 127 77v: 1944, zit. nach VB, S. 91: „Wenn wir im Leben vom Tod umgeben sind, so auch in der Gesundheit des Verstands vom Wahnsinn.“ [so auch im täglichen Verstand vom Wahnsinn.] Page 146
Diese Bemerkung ging folgenden Worten voran: „Der Philosoph ist der, der in sich viele Krankheiten des Verstandes heilen muß, ehe er zu den Notionen des gesunden Menschenverstandes kommen kann.“ (Vgl. dazu: Bemerk. über die Grundlagen der Mathem., S. 302). Vgl. auch: „Den Wahnsinn muß man nicht als Krankheit ansehen. Warum nicht als eine plötzliche – mehr oder weniger plötzliche – Charakteränderung? (MS 133 2:
23.10.1946, zit. nach VB, S. 108). Page 146
[187] Bußpsalmen: Unter Psalmen versteht man eine Sammlung von Liedern, inhaltsverschiedenen Gebeten, Weisheitsgedichten, die den verschiedenen Zeiten der israelitischen Geschichte, verschiedenen Verfassern und mannigfachen Gelegenheiten ihren Ursprung verdanken. Unter den 150 Psalmen, die in fünf Bücher geteilt sind, finden sich sieben Bußpsalmen, fünf davon sind von David. Page 146
Möglicherweise bezog sich Wittgenstein auf Martin Luther. Vgl.: „Die sieben Bußpsalmen. Erste Bearbeitung 1517.“ In: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. 1. Band. Weimar: Hermann Böhlau, 1883, S. 154-220. Page 146
[188] durchzufechten: „f“ und „zu“ übereinander geschrieben; nicht klar leserlich, ob das „zu“ als Einfügung oder als Überschreibung von „f“ gedacht, daher unklar, ob Wittgenstein „durchfechten“ oder „durchzufechten“ gemeint hat. Page 146
von von: im Original zweimal hintereinander „von“. (siehe diplomatische Fassung). Page 146
[190] aber ihn suchen das wäre Verwegenheit: Vor diesem Satz schrieb Wittgenstein in Geheimschrift folgende Worte, die er aber durchstrich: „Lass mich ja nicht vor jenem ‘Wahnsinn’ fliehen!“ Page 146
[195] Briefen des Apostel Paulus: Vgl. dazu eine Bemerkung Wittgensteins vom 4.10.1937 im MS 119, S. 71 (zit. nach VB, S. 69): Page 146
„Die Quelle, die in den Evangelien ruhig & klar [durchsichtig] fließt, scheint in den Briefen des Paulus zu schäumen. Oder, so scheint es mir. Vielleicht ist es eben bloß meine eigene Unreinheit die hier die Trübung hineinsieht; denn warum sollte diese Unreinheit nicht das klare verunreinigen können? Aber mir ist es, als sähe ich hier menschliche Leidenschaft, etwas wie Stolz oder Zorn, was sich nicht mit der Demut der Evangelien reimt. Als wäre hier doch ein Betonen der eigenen Person, & zwar als religiöser Akt, was dem Evangelium fremd ist. Ich möchte fragen – & möge dies keine Blasphemie sein – : ‘Was hätte wohl Christus zu Paulus gesagt?’ Page 146
Aber man könnte mit Recht darauf antworten: Was geht Dich das an? Schau, daß Du anständiger wirst! Wie Du bist, kannst Du überhaupt nicht verstehen, was hier die Wahrheit sein mag. Page Break 147 Page 147
In den Evangelien – so scheint mir – ist alles schlichter, demütiger, einfacher. Dort sind Hütten; – bei Paulus eine Kirche. Dort sind alle Menschen gleich & Gott selbst ein Mensch; bei Paulus gibt es schon etwas wie eine Hierarchie; Würden, & Ämter. – So sagt quasi mein GERUCHSSINN.“ Page 147
(Vgl. auch VB, S. 72). Page 147
[196] Habe Mut & Geduld auch zum Tod, dann wird dir vielleicht das Leben geschenkt: Vgl. dazu eine Eintragung Wittgensteins vom 4.5.1916, zit. nach Geheime Tagebücher, S. 70: Page 147
„[...] Dann wird für mich erst der Krieg anfangen. Und kann sein – auch das Leben! Vielleicht bringt mir die Nähe des Todes das Licht des Lebens. [...]“ Page 147
[197] Schubert-Lied: Betrittst du wissend meine Vorgebir-ge[...]: nicht ermittelt. Page 147
„Will ich vielleicht [...]“: vermutlich meinte Wittgenstein „Weil ich ...“ Page 147
[199] alles ist tot: ab hier bis einschließlich „die volle Wahrheit“ mit langen Linien kreuz und quer gestrichen. (siehe diplomatische Fassung). Page 147
das blosse ‘Ende des Lebens’erlebt man ja nicht...: Vgl. Tractatus, 6.4311: „Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht.“ Page 147
[202] diesem Zustand: im Original: „driesem Zuhganw“: offensichtlich setzte Wittgenstein irrtümlicherweise zuerst das „r“ aus der Geheimschrift für ein „i“, wie er auch bei „Zustand“ anstelle von „st“ „hg“ und anstelle von „d“ ein „w“ schrieb.(siehe diplomatische Fassung). Page 147
[203] Luther hätte geschrieben, die Theologie sei die "Grammatik des Wortes Gottes", der heiligen Schrift: Page 147
Vgl. dazu Wittgenstein in den PU, § 373: „Welche Art von Gegenstand etwas ist, sagt die Grammatik. (Theologie als Grammatik.)“ Page 147
ausser als: bis zum Rand der Seite nur „ausse“ lesbar. Page 147
Ich will sagen [...]: In Geheimschrift, darüber aber von Wittgensteins Hand die Entzifferung in Normalschrift. Page 147
[205] zur ‘klingenden Schelle‘ geworden: Vgl. die Bibel, Korinther 1, 13. Page 147
[206] Gott besser es: nicht klar leserlich, bis zum Rand der Seite nur „besser“ zu lesen. Page Break 148 Page 148
[207] Joh. Bolstad: Johannes Johannesson Bolstad: Geb. 7.11.1888, Skjolden; gest. 16.6.1961, Skjolden. Zweitältester Sohn von Johannes Johannesson Bolstad (1843-1930), auf dessen Land Wittgenstein seine Hütte gebaut hatte. Der Sohn, gleichen Namens, war zuerst Seefahrer und emigrierte 1907 in die USA. Dort arbeitete er mehrere Jahre auf einer Farm in Wisconsin und kehrte 1929 zurück nach Norwegen – nach Luster. Er übernahm den Rest des bäuerlichen Anwesens der Bolstads, d.h. den Teil, der 1919 von seinem Bruder Halvard nicht übernommen worden war. Johannes Bolstad war einer der Brüder von Arne Bolstad, dem Wittgenstein bereits 1921 seine Hütte vermacht hatte. Page 148
Frk: norweg. Abkürzung für „Froeken“ bzw. „Fräulein“. Page 148
tod sein: richtig: tot sein. Page 148
[209] erst muß man leben, - dann kann man auch philosophieren: Vgl. Aristoteles: „primum vivere deinde philosophari“. Page 148
[210] hier her: im Original als ein Wort, dann aber durch einen Querstrich getrennt. Page 148
Wieviel leichter ist es doch noch, [...]: nicht klar leserlich, ob „noch“ oder „auch“. Page 148
[212] den ich jetzt schon sehe: im Original: denn ich jetzt schon sehe. Page 148
[214] Einmal sagst Du nun: "Gott hat die Welt erschaffen": Vgl. dazu Wittgensteins Gespräche mit dem Wiener Kreis: auf die Frage Waismanns, ob das Dasein der Welt mit dem Ethischen zusammenhänge, antwortete Wittgenstein: „Daß hier ein Zusammenhang besteht, haben die Menschen gefühlt und das so ausgedrückt: Gottvater hat die Welt erschaffen, Gott-Sohn (oder das Wort, das von Gott ausgeht) ist das Ethische. Daß man sich die Gottheit gespalten und wieder als eines denkt, das deutet an, daß hier ein Zusammenhang besteht.“ Page 148
(Mittwoch, 17.Dezember 1930, Neuwaldegg. Zit. nach Wittgenstein und der Wiener Kreis, S. 118). Page 148
[215] Factum: nicht klar leserlich, ob „Factum“ oder „Faktum“. Page 148
[216] „ein reines Herz“: Vgl. Matthäus 5, 8: „Selig sind, die ein reines Herz haben; denn sie werden Gott anschauen.“(Vgl. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes. München: R. Oldenbourg, 1923). Page 148
[218] dieses Wort: damit ist „Gott“ in der oberen Zeile gemeint. Mit einem Pfeil hat Wittgenstein darauf hingewiesen. Page 148
[220] „Glaubt daran, daß ihr nun ausgesöhnt seid, & sündiget Page Break 149
‘hinfort nicht mehr’!“: Wahrscheinlich bezog sich Wittgenstein auf die Heilung eines Kranken am Sabbat in Johannes, Kapitel 5, 14 oder die Begegnung Jesu mit der Ehebrecherin in Johannes, Kapitel 8, 11 in der Übersetzung von Martin Luther: vgl. Johannes 5, 14: „Danach fand ihn [den Geheilten] Jesus im Tempel und sprach zu ihm. Siehe zu, du bist gesund geworden; sündige hinfort nicht mehr, daß dir nicht etwas Ärgeres widerfahre.“ Vgl. auch Johannes, Kapitel 8, 11: „[...] Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht; gehe hin und sündige hinfort nicht mehr.“ Page 149
Vielleicht spielte Wittgenstein aber auch auf das Kapitel „In der Zuversicht der Heilsgnade“ (Römer, 5 und 6) an, wo von der Versöhnung die Rede ist, die wir durch Christus erlangt haben und von der Gnade, die uns von der Sünde befreit hat. Page 149
[221] Max: Dr. Max Salzer: Geb. 3.3.1868, Wien; gest. 28.4.1941, Wien. Sektionschef. Gatte von Wittgensteins Schwester Helene, mit der er vier Kinder hatte: Felix, Fritz, Marie und Clara. Page 149
[222] reluctantly: engl.: widerstrebend, widerwillig, zögernd. Page 149
[224] meine Mama: Leopoldine (Poldy) Wittgenstein, geb. Kallmus: Geb. 14.3.1850, Wien; gest. 3.6.1926, Wien. Leopoldine war eine feinsinnige Frau, deren Liebe vor allem der Musik galt. Sie spielte ausgezeichnet Klavier und Orgel und galt dabei als strenge Kritikerin. Rudolf Koder behauptete, daß sie besser Klavier spielte als alle anderen Mitglieder der Familie, selbst als ihr Sohn Paul, der Pianist (Mitteilung von John Stonborough an die Herausgeberin, 2.4.1993). Hermine Wittgenstein schrieb in ihren Familienerinnerungen: „Wenn ich aus eigener Anschauung über meine Mutter sprechen soll, so leuchten mir als die hervorstechendsten Züge ihres Wesens ihre Selbstlosigkeit, ihr hohes Pflichtgefühl, ihre Bescheidenheit, die sie fast sich auslöschen liess, ihre Fähigkeit des Mit-Leidens und ihre große musikalische Begabung entgegen. [...] Die Musik war gewiss auch das schönste Bindeglied zwischen ihr und ihren Kindern, später auch ihren Enkeln. [...] Ich sah oder fühlte aber doch deutlich, daß meine Mutter geradlinig tat, was sie als recht und gut erkannt hatte, und dass sie dabei nie ihre eigenen Wünsche im Auge hatte, ja gar keine zu haben schien. [...] Sie schonte sich nie, ja sie war sehr hart gegen sich selbst und verheimlichte besonders vor ihrem Mann und vor ihrer Mutter jeden Schmerz.[...]“ (Familienerinnerungen, S. 90-92). Page 149
[225] Charfreitag: veraltetete Schreibweise für Karfreitag. Page 149
[227] Keine Pagina von Wittgenstein, da Text im oberen Rand der Seite eingefügt. Page 149
[228] Oben rechts in der Ecke Datum vom „27.3.“ eingefügt, durch Markierung vom Text abgehoben. Page Break 150 Page 150
[229] nach Russland: richtig: Rußland. Im September 1935 war Wittgenstein nach Rußland gereist – in der Absicht, sich dort eine Arbeitsstelle zu beschaffen und für längere Zeit zu bleiben. Als ihm jedoch nur eine akademische Stelle an einer Universität geboten wurde, während er sich eine einfache Arbeit in einer Kolchose vorgestellt hatte, verließ er Rußland bereits Anfang Oktober. Über die Gründe seiner Rußlandreise vgl. Monk, S. 342f., S. 347f., S. 354. Page 150
Vgl. auch Wittgensteins Brief an Keynes vom 6.Juli 1935: Page 150
„ [...] Ich bin sicher, daß Du meine Gründe für den Wunsch, nach Rußland zu gehen, zum Teil verstehst, und ich gebe zu, daß es teilweise schlechte und sogar kindische Gründe sind, aber es stimmt auch, daß hinter all dem tiefe und sogar gute Gründe stehen.“(Vgl. Briefe, S. 191f.). Page 150
Der Wunsch, nach Rußland zurückzukehren, schien Wittgenstein auch später noch beschäftigt zu haben. Vgl. seinen Brief vom 21. Juni 1937 an Paul Engelmann: [...] „Ich bin jetzt auf kurze Zeit in England; fahre vielleicht nach Rußland.“ [...] (Vgl. Briefe, S. 206).
Page 150
nach Irland: Im August 1936 hatte Wittgenstein für einige Tage seinen Freund Maurice O’ Connor Drury in Dublin besucht. Er hegte zu der Zeit den Gedanken, Medizin zu studieren und dann gemeinsam mit Drury eine Praxis zu eröffnen. Später reiste er noch des öfteren nach Irland (in den Jahren 1947, 1948 und 1949), wo er entweder in Dublin im Ross’s Hotel wohnte oder, 1948, in einem Bauernhaus in Red Cross in der Grafschaft Wicklow und anschließend in Drury’s einsamer Ferien-Cottage in Rosro an der Westküste von Connemara. Dort schrieb er am MS 137, „Band R“, dessen zweiter Teil, zusammen mit dem MS 138, zum größten Teil in den Letzten Schriften über die Philosophie der Psychologie, veröffentlicht ist. (Vgl. Nedo, S. 358, 360). Page 150
[230] mein norwegischer Aufenthalt: Page 150
Vgl. dazu eine Eintragung Wittgensteins vom 19.8.1937 im MS 118, S. 5f.: Page 150
„Ich fühle mich sehr seltsam; ich weiß nicht ob ich ein Recht oder einen guten Grund habe, jetzt hier zu leben. Ich habe kein wirkliches Bedürfnis nach Einsamkeit, noch einen überwältigenden Trieb zu arbeiten. Eine Stimme sagt: warte noch, dann wird es sich zeigen. – Eine Stimme sagt: Du wirst es hier unmöglich aushalten können; Du gehörst nicht mehr hierher! – Aber was soll ich machen? Nach Cambridge? Dort werde ich nicht schreiben können. [...] Eines ist klar: ich bin jetzt hier – wie und warum immer ich hierher gekommen bin. So laß mich mein Hiersein benützen, soweit es geht. [...] D.h. ich kann etwa 6 Wochen dableiben, wie immer meine Arbeit gehen sollte, habe ich aber nach dieser Zeit keinen klaren Grund anzunehmen, daß ich hier besser arbeite als anderswo, dann wird es Zeit zu gehen. Möge Gott geben, daß ich die Zeit, welche ich hier bin, gut benütze!“ Page 150
[231] meinen Freund: damit ist wohl Francis Skinner gemeint. Page 150
[232] Du brauchst aber nun Erlösung: Vgl. dazu eine Eintragung Wittgensteins vom 12.12.1937 im MS 120, S. 108 (Code): „[...] Wenn ich aber Page Break 151
WIRKLICH erlöst werden soll, – so brauche ich Gewißheit – nicht Weisheit, Träume, Spekulation – und diese Gewißheit ist der Glaube. Und der Glaube ist Glaube an das, was mein Herz, meine Seele braucht, nicht mein spekulierender Verstand. Denn meine Seele, mit ihren Leidenschaften, gleichsam mit ihrem Fleisch & Blut muß erlöst werden, nicht mein abstrakter Geist. Man kann vielleicht sagen: Nur die Liebe kann die Auferstehung glauben. Oder: Es ist die Liebe, was die Auferstehung glaubt.[...]“ (Zit. nach VB, S. 74f.) Page 151
[233] hängst im Himmel: Vgl. die Fortsetzung der vorhin zitierten Stelle: „[...] Was den Zweifel bekämpft, ist gleichsam die Erlösung. Das Festhalten an ihr muß das Festhalten an diesem Glauben sein. Das heißt also: sei erst erlöst & halte an Deiner Erlösung (halte Deine Erlösung) fest – dann wirst Du sehen, daß du an diesem Glauben festhältst. Das kann also nur geschehen, wenn Du dich nicht mehr auf diese [die] Erde stützst, sondern am Himmel hängst. [...]“ Page 151
(MS 120 108 c: 12.12.1937, zit. nach VB, S. 74f.) Page 151
[234] „Du mußt den Vollkommenen lieben über alles,[...]“: Vgl. dazu das „größte“ bzw. „erste Gebot“ der Bibel: vgl. Matthäus, 22, 37: „Jesus sprach zu ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen, und aus deiner ganzen Seele, und aus deinem ganzen Gemüte.“ Vgl. auch Lukas, 10, 27 und Markus, 12, 30. (Vgl. auch Deuteronomium 6, 5). Page 151
[235] geängstet: im Original: geängtet. Richtig: geängstet, geängstigt. (von: ängstig, sich oder jem. ängsten, ängstigen). Page 151
nach Wien zu reisen: Page 151
Wittgenstein reiste Anfang Mai nach Wien, von wo er am 2. Juni nach Cambridge aufbrach und bis zum 9. August blieb. Er diktierte dort eine Überarbeitung der Philosophischen Untersuchungen, das „Typoskript TS 220“. Am 10. August fuhr er wieder – über London, Bergen, Mjömna – nach Skjolden, wo er am 16. August ankam und bis Mitte Dezember blieb. (Vgl. Nedo, S. 358). Page 151
beim Aufwachen: im Original: beim Auffwachen. Page 151
Wir sollen ja nur Mißverständnisse beseitigen: Vgl. PU, § 91: „[...] Man kann das auch so sagen: Wir beseitigen Mißverständnisse, indem wir unsern Ausdruck exakter machen: aber es kann nun so scheinen, als ob wir einem bestimmten Zustand, der vollkommenen Exaktheit, zustreben; und als wäre das das eigentliche Ziel unserer Untersuchung.“ Page 151
Vgl. auch PU, § 87, 90, 93, 109, 111, 120. Page 151
das ist ein guter Satz: im Original: daß ist ein guter Satz Page 151
[237] Keiser & Galiläer: Kejser og Galilaeer (norweg.: Übersetzung: Kaiser und Galiläer). „Welthistorisches Schauspiel“ von Henrik Ibsen (1828-1906), erschienen Page Break 152 Page 152
Das Werk besteht aus zwei Schauspielen in je fünf Akten. Caesars frafald (Cäsars Abfall) und Kejser Julian (Kaiser Julian). Page 152
[238] Pedantrie: richtig: Pedanterie. Page 152
verunglücken: im Original wegen Trennung „verunglükken“. Page 152
[239] historischen Tatsache: Page 152
Vgl. dazu: „Das Christentum gründet sich nicht auf eine historische Wahrheit, sondern es gibt uns eine (historische) Nachricht & sagt: jetzt glaube! Aber nicht glaube diese Nachricht mit dem Glauben, der†1 zu einer geschichtlichen Nachricht gehört, – sondern: glaube, durch dick & dünn & das kannst Du nur als Resultat eines Lebens. Hier hast Du eine Nachricht! – verhalte Dich zu ihr nicht, wie zu einer andern historischen Nachricht! Laß sie eine ganz andere Stelle in Deinem Leben einnehmen. – Daran ist nichts Paradoxes!“ Page 152
(MS 120 83 c: 8.- 9.12.1937, zit. nach VB, S. 72). Page 152
Nicht daß man...: im Original: Nicht das man ... Page 152
[...] & in der Früh: & nicht klar leserlich. Page 152
[240] ich vegetiere: Vgl. dazu Wittgensteins Eintragungen in seinem Tagebuch zur Zeit des Krieges, wo er sich in ähnlicher Weise Vorwürfe wegen seiner „primitiven“ Bedürfnisse machte: Page 152
„Ich werde von Zeit zu Zeit zum Tier. Dann kann ich an nichts denken als an Essen, Trinken, Schlafen. Furchtbar! Und dann leide ich auch wie ein Tier, ohne die Möglichkeit innerer Rettung. Ich bin dann meinen Gelüsten und meinen Abneigungen preisgegeben. Dann ist an ein wahres Leben nicht zu denken.“(29.7.16, Geheime Tagebücher, S. 74.) Page 152
[241] beängstigt: nicht klar leserlich, ob „beänztigt“ oder „beängtigt“. Page 152
29.4.: 9 und 8 übereinandergeschrieben; nicht klar leserlich, welche Zahl Wittgenstein schließlich lassen wollte. Page Break 153 Page Break 154
Literaturverzeichnis: Primärliteratur: Page 154
Ludwig Wittgenstein. Werkausgabe in 8 Bänden. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990. Page 154
Tractatus-logico-philosophicus. Werkausgabe Bd. 1. (= TLP) Page 154
Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Bd. 1. (= PU) Page 154
Tagebücher 1914-1916. Werkausgabe Bd. 1 (= Tagebücher) Page 154
Philosophische Bemerkungen. Werkausgabe Bd. 2. (= Phil. Bem.) Page 154
Wittgenstein und der Wiener Kreis. Werkausgabe Bd. 3. (= WWK) Page 154
Philosophische Grammatik. Werkausgabe Bd. 4. (= Phil. Gram.) Page 154
Das Blaue Buch. Werkausgabe Bd. 5 Page 154
Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik. Werkausgabe Bd. 6 (= Bem. über die Grundlagen der Mathem.) Page 154
Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie. (= Bem. Phil. Psych.) Page 154
Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie. (= LS) Page 154
Über Gewißheit. (= ÜG) Page 154
Zettel. (= Zettel) Page 154
Ludwig Wittgenstein. Geheime Tagebücher 1914-1916. Herausgegeben und dokumentiert von Wilhelm Baum. Vorwort von Hans Albert. Wien: Turia & Kant 1991.(= Geh.TB) Page 154
Ludwig Wittgenstein. Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlaß. Herausgegeben von Georg Henrik von Wright unter Mitarbeit von Heikki Nyman. Neubearbeitung des Textes durch Alois Pichler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. (= VB) Page 154
Ludwig Wittgenstein. Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften. Hrsg. von Joachim Schulte. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989. Page 154
Ludwig Wittgenstein. Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben. Zusammengestellt und herausgegeben aus Notizen von Yorick Smythies, Rush Rhees und James Taylor von Cyril Barrett. Deutsche Übersetzung von Ralf Funke. Düsseldorf und Bonn: Parerga, 1994. Page 154
Wittgenstein’s Lectures. Cambridge 1930-1932. Edited by Desmond Lee. Oxford: Basil Blackwell, 1980. Paperback edition 1982. Page Break 155
Briefe: Page 155
Ludwig Wittgenstein. Briefe an Ludwig von Ficker. Herausgegeben von Georg Henrik von Wright unter Mitarbeit von Walter Methlagl. Salzburg: Otto Müller Verlag 1969. Page 155
Ludwig Wittgenstein. Briefe. Briefwechsel mit B. Russell, G.E. Moore, J.M. Keynes, F.P. Ramsey, W. Eccles, P. Engelmann und L. von Ficker. Frankfurt am Main: Wissenschaftliche Sonderausgabe Suhrkamp Verlag 1980. (= Briefe) Page 155
Engelmann, Paul: Ludwig Wittgenstein. Briefe und Begegnungen. Herausgegeben von Brian McGuinness. Wien und München: R. Oldenbourg 1970. (= Engelmann) Page 155
Ludwig Hänsel – Ludwig Wittgenstein. Eine Freundschaft. Briefe. Aufsätze. Kommentare. Herausgegeben von Ilse Somavilla, Anton Unterkircher und Christian Paul Berger. Innsbruck: Haymon Verlag 1994. (= Hänsel)
Page 155
Malcolm, Norman: Ludwig Wittgenstein. A Memoir. With a Biographical Sketch by G.H. von Wright. Second edition with Wittgenstein’s letters to Malcolm. Oxford, New York: Oxford University Press 1984. (= Malcolm) Page 155
Pinsent, David Hume: Reise mit Wittgenstein in den Norden. Tagebuchauszüge. Briefe. Hrsg. von G.H. von Wright mit einer Einführung von Anne Pinsent Keynes sowie einem Nachwort von Allan Janik. Aus dem Englischen von Wolfgang Sebastian Baur. Wien, Bozen: Folio Verlag 1994. (= Pinsent) Page 155
Wittgenstein. Familienbriefe. Herausgegeben von Brian McGuinness, Maria Concetta Ascher, Otto Pfersmann. Schriftenreihe der Wittgenstein-Gesellschaft. Band 23. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky, 1996 Page Break 156
Sekundärliteratur: Page 156
McGuinness, Brian: Wittgensteins frühe Jahre. Übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988. (=McGuinness) Page 156
Huitfeldt, Claus: „Das Wittgenstein-Archiv der Universität Bergen. Hintergrund und erster Arbeitsbericht“. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv, Nr. 10/1991, S. 93-106. Page 156
Koder, Johannes: „Verzeichnis der Schriften Ludwig Wittgensteins aus dem Nachlaß Rudolf und Elisabeth Koder“. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv, Nr.12/1993, S. 52-54. Page 156
Monk, Ray: Ludwig Wittgenstein. The Duty of Genius. New York: Penguin Books, 1990. (= Monk) Page 156
Ludwig Wittgenstein. Sein Leben in Texten und Bildern. Hrsg. von Michael Nedo und Michele Ranchetti. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983. (=Nedo) Page 156
Wittgenstein and Norway. Hrsg. von Kjell S. Johannessen, Rolf Larsen, Knut Olav Amas. Oslo: Solum Verlag 1994. Page 156
Ludwig Wittgenstein: Porträts und Gespräche. Hrsg. von Rush Rhees. Page 156
Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1992. (=Porträts) Page 156
Von Wright, Georg Henrik: Wittgenstein. Oxford: Basil Blackwell 1982. Page 156
Wittgenstein, Hermine: Familienerinnerungen. Wien, Hochreit, Gmunden 1944-1947. Typoskript. (= Familienerinnerungen) Page Break 157
Personenregister Page 157
Das Personenregister bezieht sich auf die im Tagebuch und im Kommentar genannten Personen. Verfasser von im Kommentar erwähnter Sekundärliteratur sind nicht berücksichtigt. Die Zahlen bedeuten die Seitenzahlen des Bandes der normalisierten Fassung. Page 157
Adam: 75, 141 Page 157
Anzengruber, Ludwig: 129 Page 157
Augustinus: 41, 125 Page 157
Bachtin, Constance: 141 Page 157
Bachtin, Michail M.: 141
Page 157
Bachtin, Nicholas: 76, 141 Page 157
Baumayer, Marie: 111 Page 157
Beethoven, Ludwig von: 21, 39, 42, 53, 109, 110, 115, 123, 126 Page 157
Bolstad, Arne: 138, 148 Page 157
Bolstad, Halvard: 148 Page 157
Bolstad, Johannes: 92, 148 Page 157
Boltzmann, Ludwig: 112 Page 157
Brahms, Johannes: 22, 38, 44, 55f., 111, 115, 132, 140 Page 157
Bruckner, Anton: 22, 44, 55f., 110f., 128 Page 157
Busch, Wilhelm: 130 Page 157
Casals, Pablo: 111 Page 157
Chambrier, Benoît de: 108 Page 157
Chamisso, Adelbert von: 33, 119 Page 157
Chopin, Frédèric: 115 Page 157
Claudius, Matthias: 51, 130 Page 157
Cumae, Sybille von: 50, 130 Page 157
Dahn, Felix: 130 Page 157
Darwin, Charles: 114 Page 157
David: 85, 146 Page 157
Dobb, Maurice: 141 Page 157
Dostojewski, Fjodor: 46, 58, 91, 125, 128f. Page 157
Draegni, Arne: 70, 138 Page 157
Draegni, Halvard: 138 Page 157
Drury, Maurice O’Connor: 125, 126, 134, 140, 150 Page 157
Ebner-Eschenbach, Marie von: 28, 38f., 116 Page 157
Einstein, Albert: 25, 114 Page 157
Emerson, Ralph Waldo: 58, 132f. Page 157
Engelmann, Ernestine: 126 Page 157
Engelmann, Paul: 43, 116, 122, 126f., 136, 150 Page 157
Ernst, Paul: 46, 128 Page 157
Ficker, Ludwig von: 116, 125 Page 157
Frazer, James George, Sir: 136 Page 157
Frege, Gottlob: 112 Page 157
Freiligrath, Ferdinand: 130 Page 157
Freud, Sigmund: 21, 24f., 28, 34, 68, 109f., 121 Page 157
Geibel, Emanuel: 130 Page 157
Goethe, Johann Wolfgang: 110 Page 157
Grimm, Gebrüder: 128 Page 157
Groag, Heinrich: 126 Page Break 158 Page 158
Hamann, Johann Georg: 40f., 124 Page 158
Hänsel, Ludwig: 69, 116, 122, 125, 136, 137 Page 158
Haydn, Josef: 53, 132 Page 158
Herrmann, Rosalie: 50, 130 Page 158
Hertz, Heinrich: 112 Page 158
Ibsen, Henrik: 79, 103, 144 Page 158
Joachim, Joseph: 111 Page 158
Johannes: 145, 149 Page 158
Keller, Gottfried: 38, 122 Page 158
Keynes, John Maynard: 20, 109, 150 Page 158
Kierkegaard, Sören: 41, 43, 54, 61, 66, 77, 81, 91, 94, 132 Page 158
King, John: 129 Page 158
Kleist, Heinrich von: 42, 125f. Page 158
Klingenberg, Hans: 138 Page 158
Klingenberg, Inga Sofia: 138 Page 158
Klingenberg, Kari: 138 Page 158
Koder, Rudolf: 149
Page 158
Kopernikus: 25, 113f. Page 158
Kraus, Karl: 28, 45, 53, 55, 91, 112, 116f., 126 Page 158
Labor, Josef: 38f., 111, 122f., 140 Page 158
Lenau, Nikolaus: 79, 110, 143f., 146 Page 158
Lessing, Gotthold Ephraim: 71, 139 Page 158
Lichtenberg, Georg Christoph: 58, 133 Page 158
Loos, Adolf: 28, 112, 116, 126 Page 158
Lukas: 151 Page 158
Luther, Martin: 41f., 90, 135, 139, 146, 147, 149 Page 158
Mahler, Gustav: 47, 129 Page 158
Maisky, Ivan: 109 Page 158
Mann, Thomas: 24, 113 Page 158
Markus: 151 Page 158
Matthäus: 148, 151 Page 158
Mendelssohn-Bartholdy, Felix: 73, 140 Page 158
Mendelssohn, Moses: 41, 124, 140 Page 158
Montgolfier, Étienne Jacques de: 143 Page 158
Montgolfier, Michel Joseph de: 143 Page 158
Moore, Dorothy Mildred: 22, 110 Page 158
Moore, George Edward: 32, 34, 110, 111, 119, 136, 138 Page 158
Mozart, Wolfgang Amadeus: 53, 126 Page 158
Murakami: 30, 117 Page 158
Nietzsche, Friedrich: 35, 122 Page 158
Oberländer, Adolf: 49, 130 Page 158
Pascal, Fania: 136f., 141 Page 158
Pattisson, Gilbert: 30f., 67, 118 Page 158
Paulus: 88, 135, 146f. Page 158
Pinsent, David: 138 Page 158
Plato: 142 Page 158
Prokofieff, Sergej: 140 Page 158
Quiggin, Alison: 33, 120 Page 158
Quiggin, George: 33, 120 Page 158
Ramsey, Frank Plumpton: 20f., 108, 111 Page 158
Ramsey, Lettice: 31, 67, 118 Page 158
Ravel, Maurice: 140 Page 158
Rebni, Anna: 70, 92, 138 Page Break 159 Page 159
Respinger, Marguerite: 19, 23f., 26f., 29-32, 37, 41f., 59ff., 64, 66ff., 108, 118f., 139 Page 159
Reuter, Fritz: 137 Page 159
Rhees, Rush: 109f. 136f. Page 159
Rothe: 40, 123 Page 159
Russell, Bertrand: 108, 109, 111, 112 Page 159
Salzer, Felix: 149 Page 159
Salzer, Fritz: 149 Page 159
Salzer, Max: 98, 149 Page 159
Scheffel, Joseph Victor von: 130 Page 159
Schlick, Moritz: 127 Page 159
Schmidt, Franz: 140 Page 159
Schönberg, Arnold: 122 Page 159
Schopenhauer, Arthur: 21, 109, 112 Page 159
Schubert, Franz: 88, 111 Page 159
Schumann, Clara: 28, 38, 111, 115 Page 159
Schumann, Robert: 40, 111, 115 Page 159
Schwind, Moritz von: 130 Page 159
Silesius, Angelus: 41, 125 Page 159
Sjögren, Arvid: 117, 138 Page 159
Sjögren, Carl: 117
Page 159
Sjögren, Clara geb. Salzer: 149 Page 159
Sjögren, Hermine (Mima): 117 Page 159
Sjögren, Talla: 29f., 61, 108, 117, 118 Page 159
Skinner, Francis: 69, 81, 101, 137, 150 Page 159
Soldat-Röger, Marie: 111 Page 159
Spengler, Oswald: 24, 28, 94, 112 Page 159
Spinoza, Baruch de: 51f., 130f., 115 Page 159
Spitzweg, Carl: 130 Page 159
Sraffa, Piero: 112, 141 Page 159
Stockert, Marie von geb. Salzer: 149 Page 159
Stonborough, Jerome: 73, 115, 140 Page 159
Stonborough, John: 115, 136, 149 Page 159
Stonborough, Thomas: 108, 115 Page 159
Strauss, Richard: 140 Page 159
Thomson, George: 141 Page 159
Thoreau, Henry David: 58, 133 Page 159
Tolstoi, Leo: 139 Page 159
Vischer, Robert: 27, 114 Page 159
Vischer, Friedrich Theodor: 27, 114 Page 159
Wagner, Richard: 22, 53, 111, 132 Page 159
Waismann, Friedrich: 148 Page 159
Weininger, Otto: 112 Page 159
Whitehead, Alfred North: 108 Page 159
Wittgenstein, Clara: 29, 111, 117 Page 159
Wittgenstein, Fanny geb. Figdor: 111 Page 159
Wittgenstein, Hermine (Mining): 69f., 73, 130, 137, 149 Page 159
Wittgenstein, Karl: 117 Page 159
Wittgenstein, Kurt: 62, 135 Page 159
Wittgenstein, Leopoldine: 98f., 149 Page 159
Wittgenstein, Paul (Bruder): 73, 139, 149 Page 159
Wittgenstein, Paul (Onkel): 117 Page 159
Wittgenstein, Rudolf: 49, 129f. Page 159
Wittgenstein-Salzer, Helene: 32, 102, 119, 149 Page 159
Wittgenstein-Stonborough, Margarete (Gretl): 28, 31, 38, 58, 96, 108, 115, 118, 127, 136 Page 159
Wright, Georg Henrik von: 112 Page 159
Zweig, Fritz: 126 Page 159
Zweig, Max: 126
Anmerkungen Page 8 †1
Seit Frühjahr 1996 ist das Tagebuch von G.H. von Wright in die Reihe von Wittgensteins philosophischen Manuskripten aufgenommen worden und als MS 183 definiert. Page 10 †1
Vgl. Johannes Koder: „Verzeichnis der Schriften Ludwig Wittgensteins im Nachlaß Rudolf und Elisabeth Koder“. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv, Nr. 12/1993, S. 52-54. Page 10 †2
In diesem Punkt stimme ich nicht mit Johannes Koder überein, der – mit Berufung auf G. H. von Wright – den Ort der Eintragungen Wittgensteins vom 24. September mit Cambridge vermutet. Da Wittgenstein im MS 118 am 18.9. davon schreibt, von Skjolden nach Bergen zu reisen, um Francis Skinner abzuholen, am 22. September dann notiert, Francis in Bergen abgeholt zu haben und am 1. Oktober ihn wieder zurückbringt, muß er während dieser Zeit in Norwegen gewesen sein. Page 10 †3
Die in Normalschrift abgefaßten Tagebücher sind als Tagebücher 1914-1916 publiziert, die in Geheimschrift in den sogenannten Geheimen Tagebüchern, die von Wilhelm Baum ediert wurden. Vgl. dazu Wilhelm Baum, ed. Ludwig Wittgenstein. Geheime Tagebücher 1914-1916. Wien, Turia & Kant: 1991, S. 171. Page 11 †1
Vgl. Claus Huitfeldt: „Das Wittgenstein-Archiv der Universität Bergen. Hintergrund und erster Arbeitsbericht“. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv, Nr. 10/1991, S. 93-106. Page 11 †2
Bezeichnung nach MECS-WIT, wo zwischen „normalized version“ und „diplomatic version“ unterschieden wird. Page 14 †1
Vgl. MS 136 128b: 18.1.1948, zit. nach VB, S. 131: „Ich möchte eigentlich durch fortwährende [meine häufigen] Interpunktionszeichen das Tempo des Lesens verzögern. Denn ich möchte langsam gelesen werden. (Wie ich selbst lese.)“ Page 20 †1
[zu Pferden kommen werde, so werde ich sie | zu Pferden komme, werde ich sie]
†1
[von ihm. | wenn er es sagte.]
†1
[wird | ist]
†2
[wäre | bin]
†1
[etwa | vielleicht]
†2
[Methoden | Gedanken]
Page 21 Page 22 Page 22 Page 25 Page 25 Page 27
†1
[Schmutz | Dreck]
†1
[dort | dann]
†2
[wo | wenn]
†1
[beinahe | wenn auch]
†1
[wäre.| ist.]
†2
[entgegenbringt | entgegenträgt]
†1
[ähnlich dem | eine Art]
†2
[muß.| soll.]
†3
[Großstadt-Zivilisation | großstädtischen Zivilisation]
†4
[Gottes.| der Gottheit.]
†5
[seine | eine]
†6
[zur Ruhe | zum Arbeiten]
†1
[Klugheit | Verstand]
†2
[so | dahin]
†1
[one always makes a fool of oneself | fühlt man immer das man has made a fool of oneself]
†1
[als meine Mitmenschen | als die Anderen]
†1
[aller | der vergangenen]
†2
[eine | gute]
†1
[angezündet | verbrannt]
†2
[in | mit]
†1
[seines | unseres]
†2
[der Türken | eines andern]
†1
[& | sondern]
†1
[dies | dieser]
†2
[quasi | gleichsam]
†3
[der | ein]
Page 28 Page 28 Page 30 Page 32 Page 32 Page 33 Page 33 Page 33 Page 33 Page 33 Page 33 Page 34 Page 34 Page 35 Page 37 Page 38 Page 38 Page 39 Page 39 Page 41 Page 41 Page 42 Page 43 Page 43 Page 43 Page 44 †1
[unser ganzes Leben entscheiden kann.| über unser ganzes Leben entscheiden kann.| unser ganzes Leben bestimmen kann.] Page 45 †1 Page 45
[Raum | Raumbegriff]
†2
[sind | ist]
†3
[es | sie]
†4
[erschienen | erschienen sind]
†5
[wäre | ist]
†6
[a priori | A-priori]
†7
[formen | schaffen]
†8
[Dinge | Sachlage]
†9
[ in der Kultur selbst | in der ganzen Kultur]
Page 45 Page 45 Page 45 Page 45 Page 45 Page 45 Page 45 Page 46 †1
[daß er dann so & so handeln würde.| daß er dann so & so handeln – & dadurch der Verachtung Ausdruck geben – würde.] Page 46 †2
[getan hat | tat]
†3
[daß er ihnen den Wein | daß er den Wein ihnen]
†4
[verschafft | gibt | zukommen läßt]
†5
[einen | den]
†6
[vollbracht | getan]
†7
[Tat.| Tatsache.]
†8
[um das Wunderbare darin zu empfinden | um das Wunder darin zu sehen | empfinden]
†1
[mir | auf mich]
†2
[Andern | Gegner]
†3
[klaren | einfachen]
†4
[Verhältnissen | Fortgängen]
Page 46 Page 46 Page 46 Page 46 Page 46 Page 46 Page 47 Page 47 Page 47 Page 47 Page 47 †5
[dann ist es [als bekennten sie sich zu ihrer Stammutter. | als wollten sie sich zu ihrer Stammutter bekennen.] | dann bekennen sie sich zu ihrer Stammutter.] Page 47 †6
[Manchen | Den Einen]
†7
[begeht damit quasi das väterliche Erbe | lernt damit quasi das väterliche Erbe kennen]
†8
[fremde | wesensfremde]
†9
[& ohne jeden Schliff | & ungeschliffen]
Page 47 Page 47 Page 47 Page 47 †10
[Ich bin beinahe immer aus Feigheit gerecht.| Meine Gerechtigkeit, wenn ich gerecht bin, entspringt [beinahe immer | meistens] der Feigheit.] Page 48 †1 Page 48
[Abscheu | Furcht]
†2
[wo | auf der]
†3
[so zu leben | in dem Stockwerk]
†4
[Einen | uns]
†1
[aber keine Kunst. | aber nicht Kunst, noch feine Empfindung.]
Page 48 Page 48 Page 49 Page 49 †2
[so beginnt mein Bild vor meinen Augen zu verschwimmen. | so beginnt [sich mein Bild | mein Bild sich mir] zu verwischen] Page 49 †3
[rede | spreche]
†1
[anständige | anständigere]
†2
[merkte, daß ein solches Entsetzen etwas bedeute | sah plötzlich, daß ein solches Entsetzen ja etwas
Page 50 Page 50
bedeute] Page 50 †3
[war | wurde]
†4
[in mir | für mich]
†5
[hat.| habe.]
†1
[der | dieser]
†2
[erkennt | erkannt hat]
†3
[weiß | sagen muß]
†1
[von | aus]
†2
[manchen Waaren | mancher Waare]
Page 50 Page 50 Page 51 Page 51 Page 51 Page 52 Page 52 Page 52 †3
[die Käufer sehn sie & da ihnen die Farbe [oder | oder der Glanz] in die Augen sticht so nimmt jeder die Sache [auf | in die Hand] sieht sie einen Augenblick an, & läßt sie dann als [unerwünscht | nicht erwünscht] auf den Ladentisch zurückfallen. | die Käufer sehen sie, die Farbe, oder der Glanz, sticht ihnen in die Augen & sie nehmen den Gegenstand einen Augenblick in die Hand & lassen ihn dann als unerwünscht auf den Tisch zurückfallen.] Page 52 †4
[zur | in die]
†1
[diesen | den]
†2
[Etwas ist nur so ernst, als es ernst ist. | Etwas ist nur so ernst, als es wirklich ernst ist]
†1
[bei | an]
†2
[durch das Bohren des Denkens | während des bohrenden Denkens]
†3
[auf die Straße | in’s Freie]
†4
[dürfen.| können.]
†1
[er | Bruckner]
†1
[das selbstverständliche Fleisch zu den | die selbstverständliche Umkleidung der]
Page 53 Page 53 Page 54 Page 54 Page 54 Page 54 Page 55 Page 56 Page 56
†2
[seiner | dieser]
†3
[verstanden hat | den Fehler durchschaut hat]
†4
[für Trug zu halten | als Trug zu erklären]
†5
[hängen | kleben]
†1
[wirklichen Konturen | wirkliche Gestalt]
Page 56 Page 56 Page 56 Page 58 Page 59 †1
[So daß sie nur zum Schein besiegt ist wenn sie sich [an manchen Stellen | von manchen Plätzen] zurückgezogen hat da sie sich ruhig in diese Festung begibt & dort sicher ist (& von dort das ganze Land wieder einnehmen wird). Der ganze Sieg war nur Komödie.| So daß sie nur zum Schein besiegt ist, wenn sie den einen oder andern Platz preisgibt, da sie sich endlich ruhig in diese Festung zurückzieht & dort sicher ist.] Page 59 †2
[werde | will]
†1
[kaum | nicht]
Page 60 Page 61 †1
[Dann sieht man einen Teil eines Satzes & merkt: das war es was ich vor ein paar Tagen oder Wochen immer habe sagen wollen.| Dann bemerkt man einen Teil eines Satzes & sieht: das war es, was ich vor einigen Tagen immer habe sagen wollen.] Page 61 †2
[sehe | weiß]
†1
[gut | recht]
†1
[Ich | Und]
†1
[gehen | hängen]
†2
[bedeuten | sein]
†3
[will | möchte]
†1
[ist gewiß zu überwinden | soll gewiß überwunden werden]
†1
[, nur auf einer andern Seite|, stehen nur auf einer andern Seite abseits vom Rechten]
†2
[daß ich mich tadle | daß ich meine Fehler sehe]
†1
[:|,]
†2
[Namens | Wortes]
†1
[ganz anders | eine ganz andere]
†2
[den | dem]
†3
[Weite | Entfernung]
†1
[in sich | durch das was in ihr vorgeht]
†1
[der | unsrer | unserer]
†2
[scheint es | möchte man glauben]
Page 62 Page 63 Page 64 Page 64 Page 64 Page 65 Page 66 Page 66 Page 67 Page 67 Page 68 Page 68 Page 68 Page 71 Page 72 Page 72 Page 73
†1
[Mensch | Mann]
†2
[größere | schwächere]
†3
[mitgewirkt | mitgesungen]
†1
[umkommen lassen soll | hinwerfen soll]
†2
[Eigentliche, Interessante | eigentliche & interessante]
†3
[Sublimes | Tiefes]
†4
[unserer Sprachformen | der Formen unserer Sprache]
†1
[zurückweisen | ablehnen]
†1
[, während | : Während]
†2
[doch nichts | es doch nur]
†3
[mit [dessen Hilfe | Hilfe dessen] | wodurch ]
†4
[wie sie ist; nicht | wie es sich verhält. Nicht,]
†1
[Anwendbarkeit | Bedeutung]
†1
[Elendigkeit | Jämmerlichkeit]
†2
[furchtbar | hoch]
†1
[hast | tust]
†1
[die | seine]
†2
[. Aber | ; aber]
†1
[ertappe | finde]
†2
[da | soweit]
†1
[angeben | sagen]
†2
[heißt | bedeutet]
†3
[wäre | ist]
†4
[muß | soll]
†5
[Stellung | Attitude]
†1
[, | also]
†1
[hätte | hat]
Page 73 Page 73 Page 74 Page 74 Page 74 Page 74 Page 75 Page 76 Page 76 Page 76 Page 76 Page 77 Page 78 Page 78 Page 79 Page 80 Page 80 Page 81 Page 81 Page 83 Page 83 Page 83 Page 83 Page 83 Page 85 Page 86 Page 87 †1
[Leid haben muss, so [ist | wäre] es doch besser [solches | das], was aus dem Kampf des Guten gegen das Schlechte entsteht, als [solches | das], [das | was] aus dem Kampf des Schlechten mit sich selbst wird. | leiden muss so ist es doch besser durch den Kampf des Guten mit dem Schlechten in mir, als durch den Kampf im
Bösen.] Page 87 †2
[darf | soll]
†3
[Wenn er auch | Auch wenn er]
†1
[Vortragenden.| Lehrenden.]
†1
[Will | Wenn]
†2
[beim | mit dem]
†3
[von dessen Anerkennung alles abhängt | von dessen freundlichem Zusehen alles abhängt]
†4
[in die | zur]
†1
[lerne | Lerne]
†1
[an die richtige Stelle | in die wahre Höhenlage]
†2
[setzst.| stellst.]
†3
[erlaubt | gestattet]
†1
[Wozu | Warum]
†2
[annehmen | postulieren]
†3
[diese Welt | dies Leben]
†1
[Und darin | Darin]
†1
[unrichtigen | falschen]
†2
[An der richtigen Stelle nur leisten sie ihre volle Arbeit! | Sie müssen dort stehen, wo sie ihre volle Arbeit
Page 87 Page 88 Page 89 Page 89 Page 89 Page 89 Page 90 Page 91 Page 91 Page 91 Page 92 Page 92 Page 92 Page 93 Page 94 Page 94
leisten!] Page 95 †1
[wesentliche | lebendige]
†1
[ Es ist ein Aberglaube | Du bist in einem Aberglauben.]
†2
[muß | müßte]
†1
[nach Wunsch | zu Recht]
†1
[nicht ohne Widerstreben | reluctantly]
†1
[, | –]
†1
I.O. „mit dem, Glauben, der“.
Page 96 Page 96 Page 97 Page 98 Page 105 Page 152
Ficker-Wittgenstein Engführung. Ludwig von Ficker, Ludwig Wittgenstein, Rainer Maria Rilke und Georg Trakl im Briefwechsel. Mit Ludwig von Fickers Essay „Rilke und der unbekannte Freund“.
Herausgegeben und kommentiert von Anton Unterkircher Im Auftrag des Forschungsinstituts Brenner-Archiv der Universität Innsbruck. Innsbruck, Herbst 2001
Die Briefe 1 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, 14.7.1914 Klicken Sie hier für Seite 1 und Seite 2 des Briefes. Hochreit Post Hohenberg N. Ö. 14. 7. 14. Sehr geehrter Herr! Verzeihen Sie, daß ich Sie mit einer großen Bitte belästige. Ich möchte Ihnen eine Summe von 100,000. Kronen überweisen und Sie bitten, dieselbe an unbemittelte österreichische Künstler nach Ihrem Gutdünken zu verteilen. Ich wende mich in dieser Sache an Sie, da ich annehme, daß Sie viele unserer besten Talente kennen, und wissen, welche von ihnen der Unterstützung am bedürftigsten sind. Sollten Sie geneigt sein mir meine Bitte zu erfüllen, so bitte ich Sie, mir an die obige Adresse zu schreiben, in jedem Falle aber die Sache bis auf weiteres geheim halten zu wollen. In vorzüglicher Hochachtung Ihr sehr ergebener Ludwig Wittgenstein jun.
2 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 16.7.1914 Schriftleitung "Der Brenner" Innsbruck-Mühlau 16. VII. 1914 Sehr geehrter Herr! Nein, ehe ich Ihnen danken will, gestatten Sie mir die möglicherweise unziemlich erscheinende Frage: Darf ich die Gewißheit haben, daß Ihr Angebot auch wirklich ernst gemeint ist? Diese Frage darf Sie nicht verletzen. Ich möchte so gerne ohne weiteres vertrauen; Ihre Zeilen athmen einen so edlen und geraden Geist, daß mir jeder Zweifel an dem Ernst Ihrer Gesinnung wie eine Ungehörigkeit erscheinen will. Aber Ihre Anfrage kommt so überraschend, sie stellt etwas so Ungewöhnliches und in ihrer Art menschlich so Erhebendes dar - etwas, das so außerhalb aller Erfahrungen liegt, die meine persönliche Stellungnahme zu Welt und Menschen fixierten -, daß ich, der ich mich im wesentlichen doch stets gerecht zu sein bemühe, zittere vor dem Gedanken, es könnte jemand sein Spiel mit mir treiben. Nicht, weil sich mein Stolz, der fern allem Hochmut ist, verletzt fühlen könnte, befürchte ich dies, sondern im Gegenteil: weil ich eine klare und, wie ich glaube, gerechte Einsicht in die Grenzen meines Verdienstes habe. Ich frage mich nämlich: Wieso kann dieses Verdienst ausreichen, das beispiellose Vertrauen zu rechtfertigen, das in einem so hochherzigen Anerbieten wie dem Ihren beschlossen liegt! Glauben Sie mir, nur dieses Empfinden ist es, was mich in Gefahr bringt, dem Entschluß eines reinen Herzens, als den ich Ihre Mitteilung weiß Gott wie gerne ansehen möchte, mit einem Zweifel nahe zu treten. Dies und noch etwas, was mir wie eine Schicksalsfügung erscheinen muß, nämlich der Umstand: daß ich zwar nicht viele Talente kenne, aber ein paar schöpferische Begabungen (für deren Genialität ich vor der Nachwelt die Verantwortung übernehme), die in so dürftigen, zum Teil prekären Verhältnissen leben, daß ihnen eine Zuwendung in der Höhe, wie sie das von Ihnen
angebotene Kapital ermöglichen würde, wie ein Gnadenakt der Vorsehung erscheinen müßte, der sie mit einem Schlag aller Misère entreißt. Für die volle Würdigkeit der Wenigen, die hier in Betracht kämen, würde ich ebenso die Verantwortung übernehmen wie dafür, daß es sich um Begabungen handelt, deren außerordentliche Bedeutung erst die Nachwelt voll erkennen wird. Um so herzlicher und ernster muß ich Sie daher bitten, in einem so ernsten und bedeutenden Augenblick (der - wenn er sich bewähren sollte - Ihnen in den Herzen einiger Berufener ein Denkmal der Erkenntlichkeit stiften kann, das über ihr Zeitliches hinausragt) meine letzten Zweifel dadurch zu bannen, daß Sie mir freimütig mitteilen, was Sie bewogen hat, mich zum Anwalt eines Entschlusses auszuersehen, dessen kaum faßliche Hochherzigkeit mich gleicherweise beunruhigt wie beglückt. Ich glaube nicht erst betonen zu müssen, daß Sie meiner Diskretion in jedem Falle und - sollte der Ernst Ihrer Entschließung seine Begründung erfahren - meiner unbegrenzten Verehrung für einen in unseren Tagen wohl einzig dastehenden Edelmut versichert sein dürfen. Es begrüßt Sie, hochgeehrter Herr, in Ergebenheit lhr Ludwig v. Ficker
3 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, 19.7.1914 Hochreit Post Hohenberg N. Ö. 19. 7. 14. Sehr geehrter Herr! Um Sie davon zu überzeugen, daß ich mein Angebot ehrlich meine, kann ich wol nichts besseres tun, als Ihnen die bewußte Summe tatsächlich anzuweisen; und dies wird geschehen, wenn ich das nächste mal - im Laufe der nächsten 2 Wochen - nach Wien komme. Ich will Ihnen nun kurz mitteilen, was mich zu meinem Vorhaben bewogen hat. Durch meines Vaters Tod erbte ich vor 1 1/2 Jahren ein großes Vermögen. Es ist in solchen Fällen Sitte eine Summe für woltätige Zwecke herzugeben. Soviel über den äußeren Anlass. Als Anwalt meiner Sache wählte ich Sie, auf die Worte hin, die Kraus in der Fackel über Sie & Ihre Zeitschrift geschrieben hat; & auf die Worte hin, die Sie über Kraus schrieben. Ihr freundlicher Brief hat mein Vertrauen in Sie noch vermehrt. Ich möchte jetzt schließen, vielleicht darf ich Sie einmal treffen & mit Ihnen reden. Dies wünschte ich sehr! Nehmen Sie meinen wärmsten Dank für Ihre Bereitwilligkeit entgegen. Ihr hochachtungsvoll ergebener Ludw Wittgenstein jun
4 GEORG TRAKL AN LUDWIG WITTGENSTEIN, [23.7.1914] Schriftleitung "Der Brenner" Innsbruck-Mühlau [23.7.1914] Sehr geehrter Herr! Herr L. v. Ficker überwies mir gestern in Ihrem Namen 20.000 Kronen. Erlauben Sie mir, Ihnen für Ihre Hochherzigkeit ergebenst zu danken. Seit Jahren jeglichem Zufall des Lebens preisgegeben, bedeutet es mir alles der eigenen Stille nun ungestört nachgehen zu können. Möge was davon zum Gedicht wird des edlen Menschen würdig sein, dem ich so vieles schulde. Nehmen Sie, hochverehrter Herr, die Ausdrücke respektvollster Hochachtung entgegen Ihres sehr ergebenen Georg Trakl
5 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 27.7.1914 Klicken Sie hier für Seite 1 und Seite 2 des Briefes. Schriftleitung "Der Brenner" Innsbruck-Mühlau 27. VII. 1914 Verehrter Herr Wittgenstein!
Nehmen Sie nochmals meinen verbindlichsten Dank für Ihre Gastfreundschaft entgegen. Ich hoffte, Ihnen mit diesen Zeilen bereits auch eine Auskunft über Rilke geben zu können, da ich nach meiner Rückkehr hieher daran erinnert wurde, daß ein Innsbrucker Universitäts-Professor, der in dem benachbarten Städtchen Hall wohnt, mit Rilke gut bekannt sei. Ich fuhr gestern nach Hall, um bei dem Mann persönlich vorzusprechen, er befand sich aber mit seiner Familie in der Sommerfrische. Darauf schrieb ich ihm und hoffe in den nächsten Tagen eine Antwort zu erhalten. Einstweilen erlaube ich mir, ein paar Zeilen Dallagos an mich beizuschließen, die den ersten Eindruck kennzeichnen, den meine Verständigung auf ihn ausübte. Ihrem Wunsche entsprechend habe ich keinen Namen genannt. So richtet sich Dallagos Dankbarkeit zunächst an die falsche Adresse, nämlich an mich, was ich mit Rücksicht darauf, daß ich dem Beschenkten noch nicht jene näheren Aufklärungen geben konnte, die ihm die seltene Hochherzigkeit Ihres Entschlusses erst voll zu Gemüte führen mußten, gütigst nachzusehen bitte. Mir selbst aber wollen Sie gestatten, Ihnen auf persönlich besonders tiefempfundene Art nochmals für die so munifizente Unterstützung zu danken, die Sie meiner Zeitschrift in einem Augenblick, da ihr Bestand in Frage stand, bereitwilligst zuteil werden ließen. Sie haben mir damit eine Sorge vom Herzen genommen, die mich in letzter Zeit oft schwer beunruhigt hat. Ich hoffe Ihnen in absehbarer Zeit über jene Daten, die für die Verteilung der restlichen Summe in Frage kommen, Bescheid geben zu können, und begrüße Sie für heute mit dem Ausdrucke meiner aufrichtigen Verehrung als Ihr ergebener Ludwig v. Ficker
6 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, 1.8.1914 Wien XVII. Neuwaldeggerstr 38 1. 8. 14. Sehr geehrter Herr v. Ficker! Vielen Dank für Ihren freundlichen Brief & den beigelegten Dalagos. (Ich weiß nicht, ob Sie für diesen noch eine Verwendung haben, schließe ihn aber für alle Fälle bei). Nochmals besten Dank für lhren lieben Besuch, wie dafür, daß Sie mich mit Loos bekannt machten. Es freut mich sehr, ihn einmal getroffen zu haben. Meine Adresse ist vorläufig die obige, da wir des Krieges wegen nach Wien gezogen sind. Mit den besten Grüßen Ihr sehr ergebener Ludw Wittgenstein
7 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [14.8.1914] Herrn Ludwig v. Ficker Innsbruck-Mühlau Tirol [Poststempel: Krakow, 14. VIII. 14] Sehr geehrter Herr v. Ficker! Verzeihen Sie daß ich Ihnen mit Bleistift schreibe; ich habe keine Tinte in der Nähe. Ich möchte Ihnen nur mitteilen, daß ich freiwillig auf Kriegsdauer zum Militär gegangen bin und daß meine Adresse für eventuelle Mitteilungen jetzt ist: Festungsartillerie Regiment N° 2, 2. Kader Krakau Mit den aller besten Grüßen Ihr sehr ergebener L. Wittgenstein
8 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 21.8.1914
Innsbruck-Mühlau 102 21. VIIl.1914 Sehr geehrter Herr Wittgenstein! Nehmen Sie meinen besten Dank für Ihren freundlichen Kartengruß! Im ersten Moment schwankte ich zwischen Freude und Bestürzung, als ich sah, daß auch Sie in den Krieg gezogen seien. Dann aber ging mir wahrhaftig das Herz auf vor freudigem Mitgefühl für Sie und Ihren herrlichen Entschluß. Und ich möchte Sie beglückwünschen dürfen, daß es Ihnen vergönnt ist, als Freiwilliger mitzukämpfen. Ist es doch kaum zu ertragen und fast beschämend, als ein wenn auch nur leidlich junger Mensch beiseite stehen zu müssen in einer Zeit, die über alles, was uns zutiefst berührt, entscheidet. Sie müssen nämlich wissen: auch ich hatte mich gestellt - gleich am ersten Tag -, obwohl ich nicht gedient habe. Aber man hat mich zurückgestellt. Und ich warte vorläufig noch immer auf die in Aussicht gestellte weitere Weisung und zweifle, ob sie überhaupt noch erfolgen wird, nachdem bereits ein neues Aufgebot erlassen wurde. Zum ersten Mal in meinem Leben fällt es mir schwer, eine Zurücksetzung zu ertragen - umso schwerer, als meine liebsten Freunde und Mitarbeiter (auch Trakl, der als Medikamenten-Akzessist zu einem Feldspital nach Galizien kommt) einberufen sind. Und nun also auch Sie! Nein, weiß Gott, es macht mich doch traurig. Aber genug davon. Es dürfte geziemender sein, von jener Sache zu sprechen, deren Durchführung Sie mir anzuvertrauen so gütig waren. Ich hätte Ihnen darüber bereits Weiteres berichtet, wenn nicht die Information über Rilke noch ausständig wäre. Wie Sie wissen, hatte ich mich seinetwegen an einen hiesigen Univ.-Professor gewandt, der früher einmal mit ihm bekannt war, und ich habe mit diesem Herrn auch persönlich über die Angelegenheit konferiert. Von ihm erfuhr ich, daß Rilke wenigstens früher einmal eine Zeit gehabt habe, wo es ihm sehr schlecht gegangen sei; um zu erfahren, wie seine Verhältnisse jetzt seien - glänzend seien sie keinesfalls - erbot sich mein Gewährsmann, sich an Professor Sauer in Prag zu wenden, der mit Rilke auch jetzt noch in engerer Fühlung stehe und daher zuverlässig Bescheid wisse. Leider steht die Verständigung von Professor Sauer noch aus, obwohl ihn der betreffende Herr bereits einmal gemahnt hat. Sobald ich die Antwort in Händen habe, werde ich sie Ihnen sofort zugehen lassen. Hingegen gelang es mir, über Stoessl Sicheres in Erfahrung zu bringen, und zwar von Kraus, der vor ungefähr 10 Tagen hier durchkam, und dann von Herrn und Frau Dr Schwarzwald aus Wien, die mich vorgestern besuchten und die mit Stoessl gut bekannt sind. Nach ihren übereinstimmenden Aussagen lebt Stoessl zwar nicht in glänzenden, aber doch guten und gesicherten Verhältnissen. Er ist Ministerialbeamter in der VII. Rangsklasse und besitzt sogar ein eigenes kleines Haus in Wien, ist also jedenfalls nicht in dem Maße bedürftig, daß er (nach Ansicht meiner Gewährsleute) in diesem Falle, wo nicht nur das Verdienst, sondern auch die Bedürftigkeit entscheiden soll, noch weiter in Betracht kommen könnte. Auch wurde mir angedeutet, daß er selbst wahrscheinlich sich weigern würde, etwas anzunehmen, wenn er erführe, daß hauptsächlich bedürftige Künstler beteilt werden sollen. Über Kokoschkas Lage zuverlässigen Aufschluß zu erhalten, stößt auf Schwierigkeiten. Auch Leute, die ihn gut kennen, sind sich darüber nicht im Klaren. Schwarzwalds z. B. meinten, daß ihm nichts abgehe. Ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob diesem Urteil nicht am Ende irgend eine kleine persönliche Verstimmung mit einverwoben ist. Jedenfalls halte ich es für angezeigt, die Entscheidung darüber noch offen zu lassen. Eminent bedürftig jedoch ist, wie ich zur Beruhigung meines Gewissens nicht nachdrücklich genug betonen kann, die Lasker-Schüler. Sie ist lediglich auf ihren geringen schriftstellerischen Erwerb und gelegentliche Unterstützungen mildtätiger Freunde angewiesen und hat dabei für einen dreizehnjährigen Sohn zu sorgen, für den sie von ihrem geschiedenen Gatten, der selbst nicht viel erübrigen kann, nur einen Unterhaltsbeitrag von monatlich 50 Mark erhält. Hier also glaube ich wäre vor allem ein gutes Werk zu tun. Sehr schlecht geht es auch Karl Hauer. Er hat die Buchhandlung, die er in München übernommen hatte, wieder aufgeben müssen, und zwar ohne den geringsten Gewinn. Auch vertrug er das Klima nicht, und seine Gesundheit ist so angegriffen, daß er wenn irgend möglich wieder nach Davos oder sonst an einen geschützten Ort soll. Ich denke, mit einer Summe von etwa 5000 Kronen wäre ihm wohl sehr gedient. Sehr hart müssen sich auch L. E. Tesar und Richard Weiß (die beide verheiratet, bzw. geschieden sind) durchschlagen. Sie sind beide Mittelschulprofessoren und müssen außerdem noch Stunden geben, um ihr Auskommen zu finden. Wenn man vielleicht jedem von ihnen 2000 Kronen geben könnte, so könnten sie sich wohl einmal jene gründliche Erholung gönnen, deren sie - wie mir auch Herr und Frau Dr Schwarzwald bestätigen dringend bedürftig wären. Und damit bin ich an dem Punkte angelangt, wo es mir angezeigt erscheint, Ihnen eine Übersicht meiner Verteilungsvorschläge zur Begutachtung, bzw. zur Genehmigung zu unterbreiten, wobei ich wohl nicht erst vorauszuschicken brauche, daß ich jede von Ihnen gewünschte Änderung gewissenhaft berücksichtigen werde. Mein Vorschlag geht also dahin: Zunächst 30000 Kronen zu reservieren zur Aufteilung zwischen Rilke, Lasker-Schüler, Kokoschka. Und zwar wäre Rilke, falls seine Bedürftigkeit feststeht, mit einem Mindestteilbetrag
von 15000 Kronen zu bedenken, während der übrige Betrag in der gleichen Höhe zwischen Frau Lasker-Schüler und Kokoschka entsprechend dem Grad ihrer Bedürftigkeit zu verteilen wäre. Bei den nun folgenden Vorschlägen zur Verteilung der restlichen 20000 Kronen gehe ich - soweit sie Ihnen nicht schon bekannt sind - von der Voraussetzung aus, daß Sie mir, nachdem Sie mich schon durch Ihr Vertrauen in so seltener Weise auszeichneten, jenes Maß von Urteilskraft und Gewissenhaftigkeit zutrauen, um Ihrerseits versichert sein zu dürfen, daß ich für die volle Würdigkeit der zu Beteilenden in künstlerischer wie ökonomischer Hinsicht mit meinem ganzen Verantwortlichkeitsgefühl einstehe. Ich muß dies betonen, weil sich Namen darunter befinden, die Ihnen möglicherweise - obwohl sie schon durchwegs an die Öffentlichkeit getreten sind - noch gar nicht bekannt sind. Es handelt sich dabei um dichterische - oder wie im Falle Theodor Haecker - um denkerische Existenzen, die schon Hervorragendes (einer von ihnen: der Triestiner Theodor Däubler mit seinem dreibändigen epischen Werk "Das Nordlicht" sogar Monumentales) geleistet haben und denen sämtlich mit einer Ehrengabe von 1000 bis 2000 Kronen aus ihrer gegenwärtigen Notlage geholfen wäre. Ich glaube Ihnen wirklich keine besseren Vorschläge nach reiflicher Überlegung machen zu können und nenne also noch: Theodor Haecker (2000 K.) Theodor Däubler, Hauptwerk "Das Nordlicht", dessen einzigartige Bedeutung in der deutschen Literatur durch Mombert, Johannes Schlaf und durch den "Brenner" wiederholt hervorgehoben wurde (2000 K.) Franz Kranewitter, der tirolische Dramatiker, dessen Tragödie aus den Bauernkriegen "Michel Geißmayr" (bei S. Fischer, Berlin), vor Hauptmanns "Florian Geyer" entstanden, dieses Werk an dramatischer Verve fast überragt, wenn es auch dichterisch in manchem hinter ihm zurücksteht. (2000 K.) Carl Borromäus Heinrich ( 1000 K. ) Hermann Wagner, Deutschböhme, Romancier, dessen Erzählung "Die rote Flamme" als ein novellistisches Meisterwerk gelten darf (1000 K.) Hugo Neugebauer, dessen Gedichte im "Brenner" vielfach Aufsehen erregt haben; lebt als Konzipist im lnnsbrucker Statthalterei-Archiv. (1000 K) Jos. Georg Oberkofler, ein sehr vielversprechender Lyriker, ebenfalls durch den "Brenner" bekannt geworden, lebt als Student in entsetzlicher Armut. (1000 K). Ich schließe diesem Briefe eine Gesamtaufstellung bei, die noch einen unberücksichtigten Rest von [1]000 Kronen ergibt, die man ja vorläufig mit den früher erwähnten 30000 K. noch zurückstellen kann. Und nun wünsche ich Ihnen alles Gute im Feldzug - hoffentlich kehren Sie heil zurück - und begrüße Sie wärmstens in dankbarer Ergebenheit Ihr Ludwig v. Ficker P.S. Darf ich Sie um baldigen Bescheid bitten?
9 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 15.9.1914 Innsbruck-Mühlau 102 15. IX. 1914 Sehr geehrter Herr Wittgenstein! Hoffentlich ist mein Ietzter Brief, den ich Ihnen vor ungefähr drei Wochen sandte und der meine Vorschläge zur Verteilung der restlichen Summe enthielt, in Ihre Hände gelangt. Mittlerweile ist nun auch die Auskunft über Rilke eingelangt, der nach den Angaben des Professors Sauer in Prag gegenwärtig in sehr beengten, fast drückenden Verhältnissen leben soll, so daß es mir wohl angezeigt schiene, auch den auf ihn entfallenden Betrag mit 20.000 festzusetzen. Vielleicht darf ich Sie bitten, mir mitzuteilen, ob Sie meinen letzten Brief erhalten haben, da ich bis heute ohne Nachricht bin. Ich besorge schon, daß die von Ihnen zuletzt mitgeteilte Adresse inzwischen sich geändert haben könne oder daß sie am Ende nicht genügend vollständig war. Aber Sie haben jetzt wohl einen anstrengenden Dienst und wohl kaum die nötige Muße, sich mit der Angelegenheit zu befassen. Das scheint mir wahrscheinlicher. Trotzdem - wenn es Ihnen nur irgend möglich sein sollte, Zeit für ein paar Zeilen zu erübrigen, so bitte ich Sie, wie gesagt, recht bald um eine kurze Verständigung. Einstweilen wünsche ich Ihnen alles Gute und verbleibe mit herzlichen Grüßen in aufrichtiger Ergebenheit Ihr Ludwig v. Ficker
10 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [22.9.1914] Ludwig Wittgenstein
Militär Kommando Krakau Feldpost N° 186 [22. 9. 1914] Herrn Ludwig von Ficker Innsbruck-Mühlau 102 Tirol Sehr geehrter Herr v. Ficker! Erst heute erhielt ich Ihre beiden freundlichen Briefe. Vielen Dank! Ich war seit 4 Wochen auf einem Weichsel-Schiff in Russland und bin erst heute nach Krakau zurückgekehrt. Mit Ihrem letzten Vorschlag bezüglich Rilkes bin ich selbstverständlich höchst einverstanden. Bitte veranlassen Sie daß er das Seine so rasch als möglich erhält. Meine Adresse auf der Rückseite. Herzlichsten Dank für Ihre Freundlichkeit und herzlichste Grüße. Ihr ganz ergebener Ludwig Wittgenstein
11 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [22.9.1914] Ludwig Wittgenstein Militär Kommando Krakau Feldpost N° 186 [22. 9. 1914] Herrn Ludwig von Ficker Innsbruck-Mühlau 102 Tirol Sehr geehrter Herr v. Ficker! Dies ist nur eine Nachschrift zu einer Karte die ich heute früh an Sie geschickt habe. Ich vergas zu sagen daß ich überhaupt mit allen Ihren Vorschlägen einverstanden bin. - Also Trackl ist auch im Krieg! Es ist vielleicht lächerlich zu denken daß wir uns treffen könnten; aber lieb wäre es mir. Ich wünsche Ihnen das aller Beste. Ihr ganz ergebener Ludwig Wittgenstein
12 AN RAINER MARIA RILKE, 25.9.1914 Schriftleitung "Der Brenner" Innsbruck-Mühlau 25. IX. 1914 Sehr geehrter Herr! Ein junger oesterreichischer Mäzen, der als Freiwilliger ins Feld gezogen ist, hat mir kurz vor Kriegsausbruch eine beträchtliche Summe mit dem Ersuchen überwiesen, sie an oesterreichische Dichter nach Maßgabe ihrer Bedeutung und ihrer Bedürftigkeit zu verteilen. Auf Grund meiner Vorschläge, die die Billigung des edlen Gönners fanden, erlaube ich mir die Anfrage zu stellen, ob und wohin ich Ihnen den auf Sie entfallenden Teilbetrag von 20000 (zwanzigtausend) Kronen überweisen darf. In hochachtungsvoller Ergebenheit Ludwig v. Ficker Herrn Rainer Maria Rilke
13 VON RAINER MARIA RILKE, 30.9.1914 Z. Zt. München, Finkenstr. 2, Pension Pfanner. am 30. September 1914 Sehr geehrter Herr, Sie haben, in Ihrem Briefe, für eine außerordentliche Nachricht einen so selbstverständlichen Ausdruck gefunden, dass ich versuchen darf, Ihnen meinen Dank und meine unmittelbare Freude in wenig Zeilen einfach und offen mitzutheilen. Wenn ich sie - Dank und Freude - groß nenne, so ist das nur ein höchst vorläufiger Überschlag; erst wenn ich wieder in der Arbeit stehe, werde ich ganz die Bedeutung der Hülfe einsehn, die mir da in der wunderbarsten Weise widerfährt.
Die ungeheuere Ausnahme des Krieges hat ja jeden von uns in seinem eigentlichsten Wirken und Wissen unterbrochen, - und nun geht mir, mitten aus ihr, diese Fügung hervor, in der eine menschlich-große Vorsehung sich meiner künftigen Arbeit annimmt -, sagen Sie selbst, ob mir Erstaunlicheres begegnen konnte! Es liegt mir viel daran, dass irgend ein Gerücht wenigstens meines zuversichtlichen, fast bestürzten Dankes den großmüthigen Verfüger im Felde erreiche; Sie werden sicher die Möglichkeit haben, dafür zu sorgen. Sie selbst aber bitte ich, bei dieser Weitergabe, einen bedeutenden Theil meiner gegenwärtigen Verfassung für Ihre eigene Person in Anspruch zu nehmen; sind es doch Ihre Vorschläge, die mir jene unvermuthliche Zuwendung eingetragen haben. Es ergreift mich, dass meine Bücher im Stillen mir solche Freunde aneignen; dass das einmal Hervorgebrachte aus überzeugten Menschen heraus, auf den, der sich darin versuchte, bis ins Greifbarste zurückwirkt und ihm Schicksal und Zukunft befreundet. Was den praktischen Vollzug angeht, so wäre es mir am Angenehmsten, wenn jener Betrag an die hiesige Filiale der Deutschen Bank für mich könnte überwiesen werden. Empfangen Sie, sehr geehrter Herr, den Ausdruck meiner wirklichen Ergebenheit: Rainer Maria Rilke
14 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 4.10.1914 Schriftleitung "Der Brenner" Mühlau, 4. Okt.1914 Sehr geehrter Herr Wittgenstein! Verbindlichsten Dank für Ihre beiden Karten, Ihre Zustimmung! Durch Vermittlung des Insel-Verlags ist es mir endlich gelungen, Rilkes gegenwärtige Adresse aufzuspüren und ihn von der Sache zu verständigen. Soeben habe ich seine Antwort erhalten, die hier beiliegt. Ich werde nicht verfehlen, Rilke - der mir ein Verdienst an der Sache zuschreibt, dessen ich mich, wie Sie wissen, nicht rühmen kann - dahin aufzuklären, daß diese Zuwendung ganz besonders Ihnen selbst am Herzen lag. Ich brauche Ihnen aber wohl nicht zu versichern, wie glücklich auch ich darüber bin, daß durch Ihren hochherzigen Entschluß diesem zweifellos hervorragenden Dichter eine Hilfe zuteil werden konnte, die - wie es scheint - zur rechten Zeit gekommen ist, und die er mit Recht als eine verdiente Auszeichnung empfindet. Sonst konnte ich bis heute nur noch Else Lasker-Schüler verständigen, daß sie einige Tausend Kronen zu erwarten hat. Ihr Dank-Telegramm (sie unterzeichnet immer als "Prinz von Theben") lege ich ebenfalls bei. Möge es Ihnen recht, recht gut gehen. Ich hoffe, daß Sie alle Gefahren Ihres jetzigen Daseins heil überstehen, und ich freue mich schon jetzt auf ein Wiedersehen, sobald Sie zurückgekehrt sind. In aufrichtiger Ergebenheit Ihr Ludwig v. Ficker
15 AN RAINER MARIA RILKE, 5.10.1914 Schriftleitung "Der Brenner" Innsbruck-Mühlau 5. Okt. 1914 Sehr geehrter Herr! Nehmen Sie meinen besten Dank für Ihre freundlichen Zeilen! Ich habe unter heutigem die Überweisung des bewußten Betrags durch die hiesige Filiale der oesterreichischen Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe an die Münchener Filiale der Deutschen Bank veranlaßt. Die warmempfundenen Worte und Gefühle, die Sie in Ihrer Zuschrift äußerten, ermächtigen, ja verpflichten mich zu dem Geständnis, daß jene Verfügung, die Sie und Ihr Werk betraf, auf einem Vorschlag beruht, der nicht nur meinem eigenen Empfinden und Gewissen, sondern überdies auch einem offenkundigen Herzenswunsch des Spenders entsprach. Und ich möchte dies nicht ohne Innigkeit betonen; war es mir doch vergönnt, in diesem Fünfundzwanzigjährigen eine geistige Existenz von so edler und reifer Selbstbesonnenheit kennen zu lernen, dass die kargen Worte hellster Bewunderung, die er gesprächsweise über Ihren "Brigge" aus sich und seiner Einsamkeit herauszuholen vermochte, zugleich die Tiefe und Lauterkeit eines in unseren Tagen unsäglich ergreifenden Menschentums enthüllten. Und da es ihm eine große Freude sein wird, habe ich mir erlaubt, die schöne Kundgebung, die Sie an mich richteten, ihm ins Feld nachzusenden.
Es begrüßt Sie, sehr geehrter Herr, in Ergebenheit Ihr Ludwig v. Ficker P. S. Sollten Sie einmal dem Brenner - der seine Mitarbeiter leider nie entschädigen konnte und der des Krieges halber vorläufig nicht als periodische Druckschrift, sondern im März als Jahrbuch erscheint - einen kleinen Beitrag zur Verfügung stellen können, so empfände ich es als eine Auszeichnung und Genugtuung. D. O.
16 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [Oktober? 1914] Ludwig Wittgenstein Militär Komando Krakau S.M.S. Goplana [Oktober? 1914] Herrn Ludwig von Ficker Innsbruck-Mühlau 102 Tirol Nur einen Gruß damit Sie mich nicht vergessen! Ludwig Wittgenstein
17 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 17.10.1914 Ludwig v. Ficker Innsbruck-Mühlau 102 Herrn Ludwig Wittgenstein Militär-Kommando, S. M. S. Goplana Krakau Innsbruck-Mühlau, 17. X. 1914 Lieber Herr Wittgenstein! Es scheint, daß Sie meinen Brief mit dem inliegenden Schreiben Rilkes - den ich vor ungefähr zwei Wochen sandte - nicht erhalten haben. Bitte, recherchieren Sie, es wäre schade, wenn Sie Rilkes Dankzeilen nicht zu Gesicht bekämen. Und noch eins für heute: Im Garnisonsspital 15, Abteilung 5, zu Krakau ist gegenwärtig Georg Trakl untergebracht, der an schweren Gemütsdepressionen zu leiden scheint. Bitte, machen Sie ihm die Freude und besuchen Sie ihn! Ich muß anfangs der nächsten Woche nach Wien reisen, und bei dieser Gelegenheit werde ich trachten, einen Abstecher nach Krakau machen zu können. Es wäre ein schönes Zusammentreffen. Also auf recht baldiges Wiedersehen hoffend herzlichst Ihr Ludwig v. Ficker
18 VON RAINER MARIA RILKE, 18.10.1914 München, Pension Pfanner, Finkenstr. 2. am 18. Okt. 1914 Sehr geehrter Herr, die hiesige Filiale der Deutschen Bank hat mir schon vor ein paar Tagen das Eintreffen der Zwanzigtausend Kronen angezeigt, ich bin etwas verspätet mit meiner Bestätigung an Sie; aber es lag mir daran, Ihnen in einer ruhigeren Stunde für den guten Brief zu danken, durch den Sie mich Ihre eigene Geneigtheit und die Gestalt meines nur geahnten Gebers etwas deutlicher gewahren ließen. Ich kann Ihnen versichern, dass der Eindruck und Eingriff jenes Ereignisses mir heute noch ebenso wunderbar und unbegreiflich im Gefühle wirkt, wie in dem Augenblick, da ich Ihre erste sachliche Mittheilung las und wiederlas. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie meinen Brief in's Feld weitergegeben haben, - ich bedenke seither immer, was ich wohl sonst noch hinausschicken könnte, um mit einer wirklichen Gegenwart den verwandten Geist zu erfreuen, der doch wahrhaftig das unbeschreiblichste Anrecht hat, dass ich ihm Freude bereite. Wenn ich die ungeheueren Umstände in Rechnung stelle, unter denen sein junges Leben jetzt vor sich geht, so bin ich freilich recht rathlos - und überlasse es Ihnen, sehr werther Herr v. Ficker, zu entscheiden, ob der Ausweg, den ich da zu finden glaubte, thatsächlich gangbar sei. Ich habe nämlich ein paar von
den wichtigsten Arbeiten meiner letzten Jahre für den unbekannten Freund abgeschrieben und bitte Sie nun, die einliegenden Blätter zu lesen und sie, wenn es Ihrem Ermessen entspricht, weiterzusenden; ich meine nicht zu irren, wenn ich vermuthe, dass gerade diese Gedichte, selbst unter jenen ausgeschalteten Verhältnissen, draußen, im Feld, ihre Stimme nicht ganz verlieren, und es hat insofern Sinn, sie in besonderer Weise zugänglich zu machen, als ich, wahrscheinlich, jede Veröffentlichung der "Elegien" weit hinausschieben werde. So bitte ich Sie denn auch, meine Sendung ganz vertraulich zu behandeln, umsomehr, als das ursprüngliche Manuskript im Besitz einer mir befreundeten Dame ist, als deren völliges Eigenthum ich meine Arbeit betrachtet wissen möchte. Schließlich noch Eines: sollte der Fall eintreten, dass Sie irgend eine schicksalsvolle Nachricht aus dem Felde erhalten, so wäre ich Ihnen überaus dankbar, wenn Sie sie mir nicht vorenthielten; ich weiß nicht, wie Sie denken -, aber meinem Impuls entspräche es unbedingt, den unbekannten Helfer in jeder ernsten oder bedrohten Lage aufzusuchen; das würde seiner Anonÿmität kaum Eintrag thun: denn unsere Berührung wäre doch eine von denen, in der Namen keine Rolle spielen. Ihr aufrichtig ergebener R M Rilke P. S. In Hinblick auf das im März erscheinende Jahrbuch des "Brenner" wäre es mir sehr angenehm, gelegentlich zu erfahren, welche Art Beitrag Ihnen dafür am passendsten wäre. D. O. BEILAGE Elegieen I Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? Und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich. Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf dunkelen Schluchzens. Ach, wen vermögen wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht, und die findigen Thiere merken es schon, dass wir nicht sehr verlässlich zuhaus sind in der gedeuteten Welt. Es bleibt uns vielleicht irgend ein Baum an dem Abhang, dass wir ihn täglich wiedersähen; es bleibt uns die Straße von gestern und das verzogene Treusein einer Gewohnheit, der es bei uns gefiel, und so blieb sie und ging nicht. O und die Nacht, die Nacht, wenn der Wind voller Weltraum uns am Angesicht zehrt -, wem bliebe sie nicht, die ersehnte, sanft enttäuschende, welche dem einzelnen Herzen mühsam bevorsteht. Ist sie den Liebenden leichter? Ach, sie verdecken sich nur miteinander ihr Loos. Weißt du's noch nicht? Wirf aus den Armen die Leere zu den Räumen hinzu, die wir athmen; vielleicht dass die Vögel die erweiterte Luft fühlen mit innigerm Flug. * Ja, die Frühlinge brauchten dich wohl. Es mutheten manche Sterne dir zu, dass du sie spürtest. Es hob sich eine Woge heran im Vergangenen, oder, da du vorübergingst am geöffneten Fenster,
gab eine Geige sich hin. Das alles war Auftrag. Aber bewältigtest du s? Warst du nicht immer noch von Erwartung zerstreut, als kündigte alles eine Geliebte dir an? (Wo willst du sie bergen, da doch die großen fremden Gedanken bei dir aus- und eingehn und öfters bleiben bei Nacht.) Sehnt es dich aber, so singe die Liebenden, lange noch nicht unsterblich genug ist ihr berühmtes Gefühl. Jene, du neidest sie fast, Verlassenen, die du so viel liebender fandst als die Gestillten. Beginn immer von Neuem die nie zu erreichende Preisung; denk: es erhält sich der Held, selbst der Untergang war ihm nur ein Vorwand zu sein: seine letzte Geburt. Aber die Liebenden nimmt die erschöpfte Natur in sich zurück, als wären nicht zweimal die Kräfte dieses zu leisten. Hast du der Gaspara Stampa denn genügend gedacht, dass irgend ein Mädchen, dem der Geliebte entging, am gesteigerten Beispiel dieser Liebenden fühlt: dass ich würde wie sie? Sollen nicht endlich uns diese ältesten Schmerzen fruchtbarer werden? Ist es nicht Zeit, dass wir liebend uns vom Geliebten befrein und es bebend bestehn: wie der Pfeil die Sehne besteht, um gesammelt im Absprung mehr zu sein als er selbst. Denn Bleiben ist nirgends. * Stimmen. Stimmen. Höre mein Herz, wie sonst nur Heilige hörten: dass sie der riesige Ruf aufhob vom Boden; sie aber knieten, Unmögliche, weiter und achtetens nicht: so waren sie hörend. Nicht dass du Gottes ertrügest die Stimme, bei Weitem. Aber das Wehende höre, die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet. Es rauscht jetzt von jenen jungen Toten zu dir. Wo immer du eintratst, redete nicht in Kirchen zu Rom und Neapel ruhig ihr Schicksal dich an, oder es trug eine Inschrift sich erhaben dir auf wie neulich die Tafel in Santa Maria Formosa. Was sie mir wollen? Leise soll ich des Unrechts Anschein abthun, der ihrer Geister reine Bewegung manchmal ein wenig behindert. Freilich ist es seltsam, die Erde nicht mehr zu bewohnen, kaum erlernte Gebräuche nicht mehr zu üben, Rosen und andern eigens versprechenden Dingen nicht die Bedeutung menschlicher Zukunft zu geben. Das, was man war in unendlich ängstlichen Händen, nicht mehr zu sein, und selbst den eigenen Namen wegzulassen wie ein zerbrochenes Spielzeug. Seltsam die Wünsche nicht weiterzuwünschen. Seltsam, alles, was sich bezog, so lose im Raume flattern zu sehen. Und das Totsein ist mühsam und voller Nachholn, dass man allmählich ein wenig Ewigkeit spürt. - Aber Lebendige machen alle den Fehler, dass sie zu stark unterscheiden. Engel (sagt man) wüssten oft nicht, ob sie unter
Lebenden gehn oder Toten. Die ewige Strömung reißt durch beide Bereiche alle Alter immer mit sich und übertönt sie in beiden. Schließlich brauchen sie uns nicht mehr, die Früheentrückten, man entwöhnt sich des Irdischen sanft, wie man der Brüste nicht mehr der Mutter entbehrt. Aber wir, die so große Geheimnisse brauchen, denen aus Trauer sooft seeliger Fortschritt entspringt: könnten wir sein ohne sie? Ist die Sage umsonst, dass einst in der Klage um Linos wagende erste Musik dürre Erstarrung durchdrang, dass erst im erschrockenen Raum, dem ein beinah göttlicher Jüngling plötzlich für immer enttrat, das Leere in jene Schwingung gerieth, die uns jetzt hinreißt und tröstet und hilft. *
*
II Jeder Engel ist schrecklich. Und dennoch, weh mir, ansing ich euch fast tötliche Vögel der Seele, wissend um euch. Wohin sind die Tage Tobiae, da der Strahlendsten einer stand an der einfachen Hausthür, zur Reise ein wenig verkleidet und schon nicht mehr furchtbar, (Jüngling dem Jüngling, wie er neugierig hinaus sah). Träte der Erzengel jetzt, der Gefährliche, hinter den Sternen eines Schrittes nur nieder und herwärts: hochaufschlagend erschlüg uns das eigene Herz. Wer seid ihr? Frühe Geglückte, ihr Verwöhnten der Schöpfung, Höhenzüge, morgenröthliche Grate aller Erschaffung, Pollen der blühenden Gottheit, Gelenke des Lichtes, Gänge Treppen Troh Throne Räume aus Wesen, Schilde aus Wonne, Tumulte stürmisch entzückten Gefühls und plötzlich, einzeln, Spiegel: die die entströmte eigene Schönheit wiederschöpfen zurück ins eigene Antlitz. * Denn wir, wo wir fühlen, verflüchtigen. Ach wir athmen uns aus und dahin; von Holzgluth zu Holzgluth geben wir schwächern Geruch. Da sagt uns wohl einer: Ja, du gehst mir ins Blut, dieses Zimmer, der Frühling füllt sich mit dir. Was hilfts, er kann uns nicht halten, wir schwinden in ihm und um ihn. Und jene, die schön sind, o wer hält sie zurück? Unaufhörlich steht Anschein auf in ihrem Gesicht und geht fort. Wie Thau von dem Frühgras hebt sich das Unsre von uns, wie die Hitze von einem heißen Gericht. O Lächeln, wohin? O Aufschaun: neue warme entgehende Welle des Herzens -, weh mir: wir sinds doch. Schmeckt denn der Weltraum, in den wir uns lösen, nach uns? Fangen die Engel wirklich nur Ihriges auf, ihnen Entströmtes, oder ist manchmal, wie aus Versehen, ein wenig unseres Wesens dabei? Sind wir in ihre Züge soviel nur gemischt wie das Vague in die Gesichter
schwangerer Frauen? Sie merken es nicht in dem Wirbel ihrer Rückkehr zu sich. (Wie sollten sie's merken.) Liebende könnten, verstünden sie's, in der Nachtluft wunderlich reden. Denn es scheint, dass uns alles verheimlicht. Siehe die Bäume sind, die Häuser, die wir bewohnen, bestehn noch. Wir nur ziehen allem vorbei wie ein luftiger Austausch. Und alles ist einig, uns zu verschweigen, halb als Schande vielleicht und halb als unsägliche Hoffnung. Liebende, euch, ihr ineinander Genügten frag ich nach uns. Ihr greift euch. Habt ihr Beweise? Seht, mir geschiehts, dass meine Hände einander inne werden, oder dass mein gebrauchtes Gesicht in ihnen sich schont. Das giebt mir ein wenig Empfindung. Doch wer wagte darum schon zu sein? Ihr aber, die ihr im Entzücken des Andern zunehmt, bis er euch überwaltigt anfleht: nicht mehr -; die ihr unter den Händen euch reichlicher werdet wie Traubenjahre, die ihr manchmal vergeht, nur weil der Andre ganz überhand nimmt: euch frag ich nach uns. Ich weiß, ihr berührt euch so seelig, weil die Liebkosung verhält, weil die Stelle nicht schwindet, die ihr, Zärtliche, zudeckt; weil ihr darunter das reine Dauern verspürt. So versprecht ihr euch Ewigkeit fast von der Umarmung. Und doch, wenn ihr der ersten Blicke Schrecken besteht und die Sehnsucht am Fenster und den ersten gemeinsamen Gang, ein Mal durch den Garten: Liebende, seid ihrs dann noch? Wenn ihr einer dem Andern euch an den Mund hebt und ansetzt -: Getränk an Getränk: o wie entgeht dann der Trinkende seltsam der Handlung. Erstaunte euch nicht auf attischen Stelen die Vorsicht menschlicher Geste? War nicht Liebe und Abschied so leicht auf die Schultern gelegt, als wär es aus anderm Stoffe gemacht, als bei uns? Gedenkt euch der Hände, wie sie drucklos beruhen, obwohl in den Torsen die Kraft steht. Diese Beherrschten wussten damit: so weit sind wirs, dieses ist unser uns so zu berühren; stärker stemmen die Götter uns an. Doch dies ist Sache der Götter. Fänden auch wir ein reines verhaltenes schmales Menschliche, einen unseren Streifen Fruchtlands zwischen Strom und Gestein. Denn das eigene Herz übersteigt uns noch immer wie jene. Und wir können ihm nicht mehr nachschaun in Bilder, die es besänftigen, noch in göttliche Körper, in denen es größer sich mäßigt. *
*
Fragmente aus folgenden Elegieen /
Feigenbaum, seit wie lange schon ists mir bedeutend, wie du die Blüthe beinah ganz überschlägst und hinein in die zeitig entschlossene Frucht
ungerühmt drängst dein reines Geheimnis. Wie der Fontäne Rohr treibt dein gebognes Gezweig abwärts den Saft und hinan: und er springt aus dem Schlaf, fast nicht erwachend, ins Glück seiner süßesten Leistung. Sieh, wie der Gott in den Schwan . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wir aber verweilen, ach uns rühmt es zu blühn, und ins verspätete Innre unserer endlichen Frucht gehn wir verrathen hinein. Wenigen steigt so stark der Andrang des Handelns, dass sie schon anstehn und glühn in der Fülle des Herzens wenn die Verführung zum Blühn wie gelinderte Nachtluft ihnen die Jugend des Munds, ihnen die Lider berührt. Helden vielleicht und die frühe Hinüberbestimmten, denen der gärtnernde Tod anders die Adern verbiegt. Diese stürzen dahin: dem eigenen Lächeln sind sie voran wie das Rossegespann in den milden muldigen Bildern von Karnak dem siegenden König. Wunderlich nah ist der Held doch den jugendlich Toten. Dauern ficht ihn nicht an. Sein Aufgang ist Dasein. Beständig nimmt er sich fort und tritt ins veränderte Sternbild seiner steten Gefahr. Dort fänden ihn wenige. Aber, das uns finster verschweigt, das plötzlich begeisterte Schicksal singt ihn hinein in den Sturm seiner aufrauschenden Welt. Hör ich doch keinen wie ihn. Auf einmal durchgeht mich mit der strömenden Luft sein verdunkelter Ton ... Dann, wie verbärg ich mich gern vor der Sehnsucht: 0 wär ich wär ich ein Knabe und dürft es noch werden und säße in die künftigen Arme gestützt und läse von Simson, wie seine Mutter erst nichts und dann alles gebar. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Wie hinstürmte der Held durch Aufenthalte der Liebe, jeder hob ihn hinaus, jeder ihn meinende Herzschlag, abgewendet, schon schon, stand er am Ende der Lächeln, - anders *
*
Eines ist, die Geliebte zu singen. Ein anderes, wehe, jenen verborgenen schuldigen Fluss-Gott des Bluts. Den sie von weitem erkennt, ihren Jüngling, was weiß er selbst von dem Herren der Lust, der aus dem Einsamen oft ehe das Mädchen noch linderte, oft auch als wäre sie nicht, ach, von welchem Unkenntlichen triefend, das Gotthaupt aufhob, aufrufend die Nacht zu unendlichem Aufruhr. 0 des Blutes Neptun, o sein furchtbarer Dreizack, o der dunkele Wind seiner Brust aus gewundener Muschel. Horch, wie die Nacht sich muldet und höhlt. Ihr Sterne, stammt nicht von euch des Liebenden Lust zu dem Antlitz seiner Geliebten? Hat er die innige Einsicht in ihr reines Gesicht nicht aus dem reinen Gestirn? Du nicht hast ihn, wehe, nicht seine Mutter hat ihm die Bogen der Braun so zur Erwartung gespannt. Nicht an dir, ihn fühlendes Mädchen, an dir nicht bog seine Lippe sich zum fruchtbarern Ausdruck.
Meinst du wirklich, ihn hätte dein leichter Auftritt also erschüttert, du, die wandelt wie Frühwind? Zwar, du erschrakst ihm das Herz; doch ältere Schrecken stürzten in ihn bei dem berührenden Anstoß. Ruf ihn. Du rufst ihn nicht ganz aus dunkelem Umgang. Freilich er will und entspringt; erleichtert gewöhnt er sich in dein heimliches Herz und nimmt und beginnt sich. Aber begann er sich je? Mutter, du machtest ihn klein, du warsts, die ihn anfing; dir war er neu, du beugtest über die neuen Augen die freundliche Welt und wehrtest der fremden. Wo, ach, hin sind die Jahre, da du ihm einfach mit der schlanken Gestalt wallendes Chaos vertratst? Vieles verbargst du ihm so. Da nächtlich-verdächtige Zimmer machtest du harmlos; aus deinem Herzen voll Zuflucht mischtest du menschlichern Raum seinem Nachtraum hinzu. Nicht in die Finsternis, nein, in dein näheres Dasein hast du das Nachtlicht gestellt, und es schien wie aus Freundschaft. Nirgends ein Knistern, das du nicht lächelnd erklärtest, so als wüsstest du längst, wann sich die Diele benimmt. Und er horchte und linderte sich. So vieles vermochte zärtlich dein Aufstehn; hinter den Schrank trat hoch im Mantel sein Schicksal und in die Falten des Vorhangs passte, die leicht sich verschob, seine unruhige Zukunft. Und er selbst, wie er lag, der Erleichterte, unter schläfernden Lidern deiner leichten Gestaltung Süße lösend in den gekosteten Vorschlaf: schien ein Gehüteter. Aber innen: wer wehrte, hinderte innen in ihm die Fluthen der Herkunft? Ach da war keine Vorsicht im Schlafenden; schlafend, aber träumend, aber in Fiebern: wie er sich einließ. Er, der Neue, Scheuende, wie er verstrickt war, mit des innern Geschehens weiterschlagenden Ranken schon zu Mustern verschlungen, zu würgendem Wachsthum, zu thierhaft jagenden Formen. Wie er sich hingab. Liebte. Liebte sein Inneres, seines Inneren Wildnis diesen Urwald in ihm, auf dessen stummem Gestürztsein lichtgrün sein Herz stand. Liebte. Verließ es, ging die eigenen Wurzeln hinaus in gewaltigen Ursprung, wo seine kleine Geburt schon überlebt war. Liebend stieg er hinab in das ältere Blut, in die Schluchten wo das Furchtbare lag, noch satt von den Vätern. Und jedes Schreckliche kannte ihn, blinzelte, war wie verständigt. Ja das Entsetzliche lächelte. Selten hast du so zärtlich gelächelt, Mutter. Wie sollte er es nicht lieben, da es ihm lächelte. Vor dir hat ers geliebt, denn da du ihn trugst schon war es im Wasser gelöst, dass den Keimenden leicht macht Siehe, wir lieben nicht, wie die Blumen, aus einem einzigen Jahr. Uns steigt, wo wir lieben, unvordenklicher Saft in die Arme. 0 Mädchen, dies, dass wir liebten in uns, nicht eines, ein Künftiges, sondern das zahllos Brauende, nicht ein einzelnes Kind, sondern die Wörter, die wie Trümmer Gebirgs uns im Grunde beruhn, sondern das trockene Flussbett einstiger Mütter, sondern die ganze
lautlose Landschaft unter dem wolkigen oder reinen Verhängnis -: dies kam dir, Mädchen, zuvor - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - *
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Dass ich dereinst an dem Ausgang der grimmigen Einsicht Jubel und Ruhm aufsinge zustimmenden Engeln. Dass von den klar geschlagenen Hämmern des Herzens keiner versage an weichen, zweifelnden oder jähzornigen Saiten. Dass mich mein strömendes Antlitz glänzender mache; dass das unscheinbare Weinen blühe. 0 wie werdet ihr dann, Nächte, mir lieb sein, gehärmte. Dass ich euch knieender nicht, untröstliche Schwestern hinnahm, nicht in euer gelöstes Haar mich gelöster ergab. Wir Vergeuder der Schmerzen. Wie wir sie absehn voraus in die traurige Dauer ob sie nicht enden vielleicht. Sind aber sind ja Zeiten von uns, unser winterwähriges Laubwerk, Wiesen Teiche angeborene Landschaft, von Geschöpfen im Schilf und von Vögeln bewohnt. Oben, der hohen, steht nicht die Hälfte der Himmel über der Wehmuth in uns der bemühten Natur? Denk, du beträtest nicht mehr dein verwildertes Leidthum, sähest die Sterne nicht mehr durch das herbere Blättern schwärzlichen Schmerzlaubs, und die Trümmer von Schicksal böte dir höher nicht mehr der vergrößernde Mondschein, dass du an ihnen dich fühlst wie ein einstiges Volk? Lächeln auch wäre nicht mehr, das zehrende derer, die du hinüberverlorest: so wenig gewaltsam, eben an dir nur vorbei traten sie rein in dein Leid. (Fast wie das Mädchen, das grade dem Freier sich zusprach, der sie seit Wochen bedrängt, und sie bringt ihn erschrocken an das Gitter des Gartens, den Mann, der frohlockt und ungern fortgeht: da stört sie ein Schritt in dem neueren Abschied, und sie wartet und steht, und da trifft ihr vollzähliges Aufschaun ganz in das Aufschaun des Fremden, das Aufschaun der Jungfrau, die ihn unendlich begreift: den draußen, der ihr bestimmt war, draußen den wandernden Andern, der ihr ewig bestimmt war. Hallend geht er vorbei..) So immer verlorst du; als ein Besitzender nicht: wie sterbend einer, vorgebeugt in die feucht herwehende Märznacht, ach, den Frühling verliert in die Kehlen der Vögel. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - *
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Unwissend vor dem Himmel meines Lebens anstaunend steh ich. 0 die großen Sterne. Aufgehendes und Niederstieg. Wie still. Als wär ich nicht. Nehm ich denn Theil? Entrieth ich dem reinen Einfluss? Wechselt Fluth und Ebbe in meinem Blut nach dieser Ordnung? - Abthun will ich die Wünsche, jeden andern Anschluss,
mein Herz gewöhnen an sein Fernstes. Besser es lebt im Schrecken seiner Sterne, als zum Schein beschützt, von einer Näh beschwichtigt - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - *
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19 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 26.10.1914 Krakau (Hôtel Royal) 26. X. 1914 Lieber Herr Wittgenstein! Wie gerne hätte ich Sie hier wiedergesehen und gesprochen! Ich kam vorgestern hier an und fahre nun wieder nach Wien und Innsbruck zurück. Georg Trakl liegt hier krank im Garnisonsspital 15 (Abteilung 5); er leidet an schweren psychischen Erschütterungen. Er hätte Sie auch so gerne kennen gelernt und hofft, daß Sie vielleicht doch diese oder nächste Woche nach Krakau zurückkommen; besuchen Sie ihn dann bitte, er dürfte so lange noch im Spital bleiben, wo er sich sehr vereinsamt fühlt. Er hat hier sonst keinen Menschen, der ihn kennt und besucht. Zu meiner immerhin nicht geringen Freude war es mir jedoch vergönnt, Ihren früheren Kommandanten Leutnant Molé (wenn ich nicht irre, jedenfalls so ähnlich) - kennen zu lernen, als ich mich beim Militär-Kommando nach Ihnen erkundigte. Er sprach in der wärmsten und herzlichsten Weise von Ihnen, war voll Anerkennung Ihres Diensteifers und erzählte mir, wie Sie beide oft nachts auf dem Schiffe - während Sie den Scheinwerfer bedienten zusammen philosophierten. Also immerhin konnte ich erfahren, daß es Ihnen gut geht und Sie anregende Tage verbringen. Rilkes Brief, der meinem letzten Schreiben beilag, ist inzwischen wohl in Ihre Hände gelangt. Und nun weiterhin alles Gute und herzlichste Grüße Ihres Ludwig v. Ficker
20 RUDOLF MOLÈ AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 26.10.1914 Lieber Wittgenstein! Hoffentlich haben Sie die Briefe; die ich Ihnen nachgeschickt habe, bekommen. Gestern (Sonntag) war bei mir der Herr v. Ficker und erkundigte sich über Sie. Leider konnte ich ihm nur die Mitteilung machen, daß Sie sich in Szczucin befänden und Ihnen die Briefe nachgeschickt werden. Wie geht es Ihnen? Mir ziemlich gut. Grüssen Sie mir recht schön den wackeren Szybínski und sagen Sie ihm, er möge mir sobald als möglich genaue Daten über sein Assentjahr, Avancement, Auszeichnungen u.s.w. nachschicken. Es grüßt Sie herzlichst ergebenster [D ?] R Molè Krakau, 26/ 10. 1914.
21 GEORG TRAKL AN LUDWIG WITTGENSTEIN, [wahrsch. 26.10.1914] Georg Trakl, Medik. Akz. Garnisons Spital Nr. 15 Krakau V. Abt. [wahrsch. 26. 10. 1914] Herrn Ludwig Wittgenstein Krakau Militär Kommando S. M. S. Goplana Sehr verehrter Herr!
Sie würden mich zu großem Dank verpflichten, wenn Sie mir die Ehre Ihres Besuches geben würden. Ich bin seit beiläufig 14 Tagen im hiesigen Garnis. Spit. auf der fünften Abteilung für Geistes und Nervenkranke. Möglicherweise werde ich das Spital in den nächsten Tagen verlassen können um wieder ins Feld zurückzukehren. Bevor darüber eine Entscheidung fällt, möchte ich herzlich gerne mit Ihnen sprechen. Mit den besten Grüßen Ihr ergebener Georg Trakl
22 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [wahrsch. 28.10.1914] Ludwig Wittgenstein Militär Komando Krakau S.M.S. Goplana [wahrsch. 28. 10. 1914] Herrn Ludwig von Ficker Innsbruck-Mühlau 102 Tirol Sehr geehrter Herr v. Ficker! Besten Dank für lhre liebe Karte und den beigelegten Brief Rilkes. Er schreibt daß der Krieg die Menschen aus ihrer Arbeit herausreisse - und, denken Sie, ich arbeite gerade in den letzten 6 Wochen so gut wie selten! Möge es vielen gehen wie mir! Auch ich freue mich auf ein, hoffentlich baldiges, Wiedersehen. Ihr aufrichtig ergebener Ludwig Wittgenstein
23 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [wahrsch. 30.10.1914] Ludwig Wittgenstein Militär Komando Krakau S.M.S. Goplana [wahrsch. 30. 10. 1914] Herrn Ludwig von Ficker Innsbruck-Mühlau 102 Tirol Lieber Herr v. Ficker! Besten Dank für Ihre Karte. Zugleich kam ein Brief von Ltnd. Molé, der mir schrieb, Sie hätten sich bei ihm nach mir erkundigt. Wie schade, daß wir einander nicht treffen konnten!! - Den armen Trackl bedaure ich sehr, vielleicht kann ich ihn doch noch sehen, wenn ich wieder nach Krakau komme. Herzlichsten Gruß! Ihr Ludwig Wittgenstein
24 AN RAINER MARIA RILKE, 3.11.1914 Schriftleitung "Der Brenner" Innsbruck-Mühlau 3. XI. 1914 Hochverehrter Herr! Gestatten Sie mir, Ihnen aus tiefstem Herzen Dank zu sagen für Ihre freundlichen Zeilen sowohl wie für die herrliche Gabe, die den edlen Jüngling, dem sie zugedacht ist, aufs innigste beglücken wird. Ich konnte sie ihm noch nicht zugehen lassen, da ich erst gestern aus Krakau zurückgekehrt bin, wohin ich einem traurigen Ruf eines Freundes, des Dichters Georg Trakl, gefolgt war, der aufs tiefste verstört von dem Furchtbaren, das er im Feld erlitten, dort im Garnisonsspital darniederliegt. Meine Hoffnung, dort auch unseren jungen Freund, der der Festungsartillerie in Krakau zugeteilt ist, anzutreffen, ging leider nicht in Erfüllung; denn er verrichtet auf einem Schiff der Weichselflottille Dienst, das bis auf weiteres in der Nähe von Sandomierz stationiert ist. Doch hatte ich das Glück, mit seinem bisherigen Kommandanten zu sprechen, der des Lobes über ihn voll war und mir erzählte, wie gern er sich der schönen Nächte erinnere, die sie beide zusammen auf Deckwacht verbrachten, und wie sie dabei oft tief ins Gespräch gekommen seien, während der junge Mann, der jede, auch die geringste und die schwerste Arbeit gewissenhaft verrichtete, Kartoffeln schälte oder den Scheinwerfer bediente.
Aus dieser Andeutung bitte ich Sie zu entnehmen, dass trotz der ungewöhnlichen Umstände, in denen er sich befindet, es ihm gar wohl vergönnt sein wird, den Anruf Ihrer Stimme so in sich aufzunehmen, dass er aufs tiefste davon erfüllt sein wird. Zugleich aber möchte ich annehmen, dass sein Leben nicht so unmittelbar bedroht ist wie das vieler anderwärts im Felde Stehenden. Sollte sich, was die Vorsehung verhüten möge, dennoch etwas Unerwartetes ereignen, das sein Schicksal bedroht, so sollen Sie sich darauf verlassen, dass ich Ihnen unverzüglich davon Mitteilung machen werde. Selbstverständlich werde ich keinem Menschen Einblick in Ihre Elegien gewähren außer ihm, für den sie bestimmt sind und dem ich sie morgen zugehen lassen werde. Ihren Brief beizulegen gestatten Sie mir ja wohl ohne weiteres. Zum Schlusse danke ich Ihnen noch im Besonderen für Ihre Bereitwilligkeit, mein Brenner-Jahrbuch durch einen Beitrag auszuzeichnen. Welcher Art er sei - am liebsten freilich ein rein dichterischer, Prosa oder Verse - dies zu bestimmen möchte ich, verehrter Herr, vorerst ganz Ihrer Neigung überlassen. Es begrüßt Sie in Ergebenheit Ihr Ludwig v. Ficker
25 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [6.11.1914] Ludwig Wittgenstein Militär Komando Krakau S.M.S. Goplana [6. 11. 1914] Herrn Ludwig von Ficker Innsbruck-Mühlau 102 Tirol Lieber Herr v. Ficker! Gestern nachts kam ich hier an, und erhielt heute früh im Garnisons Spital die Nachricht vom Tode Trakls. Ich bin erschüttert; obwohl ich ihn nicht kannte! Möchte es mir vergönnt sein Sie doch noch einmal hier zu sehen! Ihr ergebener Ludwig Wittgenstein
26 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, [9.11.1914] Ludwig v. Ficker Innsbruck-Mühlau 102 Herrn Ludwig Wittgenstein S. M. S. Goplana Krakau Militär-Kommando Lieber, verehrter Freund! Bin fassungslos über Ihre Nachricht. Bitte teilen Sie mir umgehend Näheres über Trakls erschütterndes Hinscheiden mit. Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden könnte. Und haben Sie tausendmal Dank, auch für die letzte Wohltat, die Sie dem Armen erweisen wollten. Herzlichst und tief ergeben Ihr Ludwig v. Ficker 9. XI. 1914
27 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, 16.11.1914 [Krakau] 16. 11. 14. Lieber Herr v. Ficker! Ich danke Ihnen für Ihre Karte vom 9.ten. Alles was ich über das Ende des armen Trakl erfahren habe ist dies: Er ist drei Tage vor meiner Ankunft an Herzlähmung gestorben. -
Es widerstrebte mir, mich auf diese Nachricht hin noch weiter nach Umständen zu erkundigen, wo doch das einzig Wichtige schon gesagt war. Am 30ten October hatte ich von Trakl eine Karte erhalten mit der Bitte ihn zu besuchen. Ich antwortete umgehend: ich hoffte in den nächsten Tagen in Krakau einzutreffen und würde dann sofort zu ihm kommen. Möchte Sie der gute Geist nicht verlassen! Und auch nicht Ihren ergebenen Ludwig Wittgenstein
28 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [28.11.1914] Ludwig Wittgenstein Militär Kommando Krakau S.M.S. Goplana [Poststempel: 28. XI. 14] Herrn Ludwig von Ficker Innsbruck-Mühlau 102 Tirol Lieber Herr v. Ficker! Ich danke Ihnen für die Zusendung der Gedichte Trakls Ich verstehe sie nicht; aber ihr Ton beglückt mich. Es ist der Ton der wahrhaft genialen Menschen. Wie gerne möchte ich Sie sehen und mich über manches aussprechen! Sein Sie herzlichst gegrüßt von Ihrem Ludwig Wittgenstein
29 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [Mitte Dezember 1914] Ludwig Wittgenstein K u k Werkstätte der Festung Krakau Art. Autodetachement [Mitte Dezember 1914] Herrn Ludwig von Ficker Innsbruck-Mühlau 102 Tirol Lieber Herr v. Ficker! Vor kurzer Zeit bin ich von dem Weichsel-Schiff "Goplana" abkommandiert worden und bin jetzt als Techn. Beamter beim Artillerie Autodetachement (genaue Adresse auf der anderen Seite) Ich grüße Sie herzlichst. Ihr ergebener Ludwig Wittgenstein
30 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 29.12.1914 Innsbruck-Mühlau 102, am 29. Dezember 1914 Lieber Herr Wittgenstein! Bisher wagte ich es nicht, Ihnen die weiteren Belege für die Verteilung des Kapitals zuzusenden, da die Unsicherheit der Lage um Krakau zur Vorsicht riet - wer weiß, ob ein Brief nicht verloren gegangen wäre! Ein Schaden, der nicht mehr gut zu machen gewesen wäre; denn es befindet sich darunter eine handschriftliche Widmung Rilke's an Sie, die Ihnen die tiefste Freude bereiten dürfte. Um so froher war ich, als ich heute soeben Ihre Karte mit der neuen Adresse erhielt; denn nun glaube ich die Sendung unbesorgt der Post anvertrauen zu können. Wie Sie sehen, habe ich bei Realisierung der von Ihnen gebilligten Vorschläge nachträglich Albert Ehrenstein mit 1000 Kronen und auf einen Wink dieses letzteren den augenscheinlich momentan etwas bedrängten Adolf Loos mit 2000 Kronen einbezogen. Durch die Zuwendung an Loos, die unter den gegebenen Umständen ohne weiteres geboten schien (ich bin überzeugt, Sie selbst stimmen ihr rückhaltlos zu), mußte ich die Beträge für Richard Weiß und L. E. Tesar, die ursprünglich auf je 2000 Kronen angesetzt waren, um je 1000 Kronen mindern, was sich noch machen ließ, da diese Zuwendungen noch nicht gemacht werden konnten; Tesar befindet sich nämlich im Feld und Weiß, der zuletzt in England war, ist vorderhand nicht zu ermitteln.
Das Kapital, das Trakl aus Ihrer Stiftung besaß, ist auf Grund einer letztwilligen Verfügung an seine in großer Armut lebende Schwester gefallen, an der er mit großer Zärtlichkeit hing. Der Brief an mich, in dem er diese Verfügung traf, - sein letzter - lautet: "Krakau, am 27. Okt. 1914. Lieber, verehrter Freund! Anbei übersende ich Ihnen die Abschriften der beiden Gedichte, die ich Ihnen versprochen. Seit Ihrem Besuch im Spital ist mir doppelt traurig zu Mute. Ich fühle mich fast schon jenseits der Welt. - Zum Schlusse will ich noch beifügen, daß im Fall meines Ablebens es mein Wunsch und Wille ist, daß meine liebe Schwester Grete alles, was ich an Geld und sonstigen Gegenständen besitze, zu eigen haben soll. Es umarmt Sie, lieber Freund, innigst Ihr G. T." Darf ich bei dieser Gelegenheit eine Bitte, vielmehr nur eine Anfrage an Sie richten? Wäre es Ihnen möglich nachsehen zu lassen, ob Trakls Grab in einer Weise kenntlich gemacht ist, daß ein Irrtum bei einer späteren Exhumierung ausgeschlossen ist? Mir und der Schwester des Dichters läge nämlich alles daran, seine Gebeine nach Friedensschluß nach Tirol überführen und sie hier im herrlich gelegenen neuen Friedhof von Mühlau beisetzen zu lassen. Denn hier sind seine bedeutendsten Dichtungen entstanden, von hier - vom "Brenner" - aus drang seine Bedeutung durch und hier, wo er durch ein Jahr mein Hausgenosse war, hatte er vor dem Krieg, in den er mit Begeisterung zog, die letzte Zuflucht gefunden. Auch habe ich persönlich so sehr an ihm gehangen, daß mir dieser letzte Liebesdienst zu seinen Ehren als eine besondere Freundespflicht erscheint. Ich selbst werde nun auch in absehbarer Zeit zur Kriegsdienstleistung einberufen werden, nachdem ich bei der Stellung für das erste Landsturm-Aufgebot für waffentauglich befunden wurde. Möglich also, daß ich Sie doch noch dort oben wiedersehen werde. Einstweilen grüßt Sie herzlichst in Ergebenheit Ihr Ludwig v. Ficker
31 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 10.1.1915 Abs. Ludwig von Ficker, Innsbruck-Mühlau 102 Herrn Ludwig Wittgenstein k. u. k. Werkstätte der Festung Krakau Artillerie-Autodetachement Schriftleitung "Der Brenner" / Innsbruck-Mühlau 102 10. 1. 1915 Lieber Herr Wittgenstein! Ich hatte Ihnen Ende Dezember ein ausführliches Schreiben und als Beilage eine größere Anzahl von Dankbriefen der bedachten Autoren an Ihre neue Adresse gesandt. Diese Sendung erhielt ich zu meiner Überraschung heute als unbestellbar mit dem Vermerk zurück, daß der Adressat dort unbekannt sei. Es ist Ihnen doch hoffentlich nichts zugestoßen. Oder sind Sie inzwischen wieder einem anderen Dienstzweig zugeteilt worden? Falls diese Karte, die ich nochmals an die zuletzt mitgeteilte Adresse sende, in Ihre Hände gelangt, dann schreiben Sie mir bitte freundlichst, an welche sichere Adresse ich Ihnen die retournierte Sendung überweisen kann. Inzwischen grüßt Sie in herzlicher Ergebenheit Ihr Ludwig v. Ficker
32 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [17.1.1915] Ludwig Wittgenstein Art. Autodetachement "Oblt Gürth" Feldpost N° 186 [Poststempel: 17. I. 15] Herrn Ludwig von Ficker Innsbruck-Mühlau 102 Tirol Lieber Herr v. Ficker! Ich erhielt heute Ihre Karte vom 10.1.. Sie ist ganz richtig adressiert und die Rücksendung jenes Briefes nur dem Betriebe unserer Post zuzuschreiben. Am sichersten ist jedoch die Adresse auf der Rückseite dieser Karte. Herzlichste Grüße von Ihrem ergebenen Ludwig Wittgenstein
33 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [1.2.1915] Ludwig Wittgenstein K. u. k. Art. Werkstätte der Festung Krakau. FELDPOST Nr. 186. [Poststempel: 1. II. 15] Herrn Ludwig von Ficker Innsbruck-Mühlau 102 Tirol Lieber Herr v. Ficker! Den angekündigten Brief habe ich leider noch nicht erhalten. Man ist wirklich "von der Mitwelt durch die Feldpost abgeschnitten". Wie schön wäre es wenn Sie einmal hierher kommen könnten! Versuchen Sie bitte in jedem Falle eine Nachricht durchzudrücken. Herzlichste Grüße von Ihrem ergebenen Ludw Wittgenstein
34 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 3.2.1915 Ludwig von Ficker Innsbruck-Mühlau 102 Herrn Ludwig Wittgenstein K. u. k. Artillerie-Werkstätte der Festung Krakau Art. Autodetachement "Oblt. Gürth" 3. II. 1915 Lieber Herr Wittgenstein! Ich sende Ihnen mit gleicher Post die Briefbelege, die vor einigen Wochen an mich zurückkamen. Ich muß am 15. ds. einrücken, und zwar werde ich zur Abrichtung voraussichtlich nach Brixen zum 2. Tiroler Kaiserjäger-Regiment kommen. Vor ich dann ins Feld muß, hoffe ich noch mein Brenner-Jahrbuch erscheinen lassen zu können. Es wird Ihnen dann das erste Exemplar zugehen; für heute sende ich Trakls eben erschienenes nachgelassenes Gedichtbuch. Herzlich ergeben grüßt Sie Ihr Ludwig v. Ficker
35 AN RAINER MARIA RILKE, 4.2.1915 DER BRENNER Herausgeber Ludwig von Ficker / Innsbruck-Mühlau Nr. 102 4. II. 1915 Sehr geehrter Herr! Sie waren so freundlich, auf meine seinerzeitige Einladung hin mir einen Beitrag für das im Frühjahr erscheinende Brenner-Jahrbuch in Aussicht zu stellen. Da ich am 15. dieses Monats einrücken muß (zum 2. Tiroler Kaiserjäger-Regiment nach Brixen) und dieser Umstand mich nötigt, die Herausgabe des Jahrbuchs zu beschleunigen, so gestatte ich mir die höfliche Anfrage, ob ich auf Ihr Entgegenkommen nach wie vor rechnen darf, rückhaltloser gesagt: ob ich einen Beitrag - am liebsten wären mir Verse - möglichst im Verlauf der nächsten vierzehn Tage erwarten darf. Für genaueste Korrektur verbürge ich mich. Das Jahrbuch wird im ungefähren Umfang von 200 Seiten erscheinen, wobei folgende Beiträge (in nachstehend geplanter Anordnung) in Aussicht genommen sind : Georg Trakl: Die letzten Gedichte Sören Kierkegaard: Vom Tode (Rede) (Erste deutsche Übertragung von Theodor Haecker) Georg Trakl: Offenbarung und Untergang
(Prosastück) Rainer Maria Rilke: (Verse) Carl Dallago: Der Anschluss an das Gesetz (Versuch einer vollständigen Wiedergabe des Taoteking auf Grund einer vergleichenden Kritik der bisher erschienenen, völlig von einander abweichenden und verworrenen Übertragungen) Theodor Haecker: Der Krieg und die führenden Geister (Essay) Ein Bildnis Georg Trakls († am 3. Nov. 1914 in Krakau) Zur Orientierung über Format und beiläufige Ausstattung des Jahrbuchs lasse ich Ihnen eine Publikationsprobe und einen privaten Sonderdruck unseres Verlags zugehen. Unser Freund im Feld konnte bisher nur in ein paar einfachen Dankeszeilen seiner Freude über die Überreichung Ihrer Verse Ausdruck geben. Es begrüßt Sie, sehr geehrter Herr, Ihres gütigen Bescheids gewärtig in ausgezeichneter Hochachtung Ihr ergebener Ludwig v. Ficker
36 VON RAINER MARIA RILKE, 8.2.1915 z. Zt. Irschenhausen bei Ebenhausen (Isarthal) Pension Landhaus "Schönblick". am 8. Febr. 1915 Sehr geehrter Herr v. Ficker, längst würde ich Ihnen geschrieben haben, wenn nicht das Gewicht der Zeit auf der mindesten Mittheilung und Aussprache läge, so dass ich kein Wort schreiben kann, ohne unverhältnismäßige Anstrengung: vor der würde ich nicht zurückscheuen, wenn ich nicht fürchten müsste, dass dieses Anstreben gegen unfassliche und unübersehliche Widerstände, den Inhalt selbst des Geschriebenen gleichsam aufhebt und überwiegt; da doch ein innerer eindeutiger Impuls nicht da ist, der die mühsam durchgesetzte Bewegung in einen reinen Ausdruck triebe, sondern das bloße Schreibenkönnen schon Phänomen genug ist. So schwieg ich denn. Aber ich bin Ihnen dankbar, dass Sie das Schweigen aufgegeben haben, um mich an meinen versprochenen Beitrag für den "Brenner" zu erinnern. Ich könnte Ihnen sofort etwas aus meinen Papieren schicken, ein paar Verse, da indessen noch etwa zehn Tage, oder wenigstens acht, mir zugestanden sind, lasse ich es darauf ankommen, ob nicht vielleicht irgend ein Gedicht entsteht, ein neues, jetziges, - sei es auch nicht mehr, als das Geräusch, mit dem ein Stück Schweigens abbröckelt von der großen Masse Stummseins in mir: denn wie ich den Inhalt des Brenner-Heftes, den Sie mir, dem Namen nach, vorstellen, betrachte, vermuthe ich, dass ein solcher Beitrag Ihnen willkommener und dem Zusammenhang durchaus angepasster wäre. Was mich angeht, so hatte ich innerlich und von Außen her unruhige Wochen; eine Zeit lang war ich in Berlin, bin aber dann doch wieder nach München zurückgegangen, von wo ich jetzt, nur für ein paar Tage, die reine Jahreszeit aufgesucht habe, die hier verschneite Thäler und dunkle Waldstreifen unter ausgedehnte Himmel zusammenfasst. Längstens gegen Mitte der Woche bin ich wieder in München (Finkenstr. 2IV). Auf Ihrigen letzten Brief hätte ich Ihnen gerne berichtet, wie ich im Julÿ in Paris, mit Georg Trakl's Gedichten gerade sehr viel, sehr ergriffen umgegangen war; inzwischen hat sich sein Schicksal um ihn geschlossen, und nun ist freilich noch deutlicher zu erkennen, wie weit sein Werk schon aus dem schicksalhaft Untergänglichen ausgetreten und ausgeworfen war. (Ich erwarte dieser Tage den "Sebastian", den ich mir gleich, da ich ihn angezeigt las, bestellt habe.) Die kleine Zeile in der Sie seiner Erwähnung thun, nehme ich als Zeugnis für das Wohlergehen des unbekannten Freundes draußen recht herzlich in Anspruch. Bis zum nächsten Mal Ihr aufrichtig ergebener R. M. Rilke Dienstag früh. (Nachschrift) Gestern abend erst fand ich in dem Umschlag, aus dem ich mir den Kierkegaard entnommen hatte, Trakl's Helian -, und danke Ihnen nun ganz besonders für die Sendung. Jedes Anheben und Hingehen in diesem schönen Gedicht ist von einer unsäglichen Süßigkeit, ganz ergreifend ward es mir durch seine inneren Abstände, es ist gleichsam auf seine Pausen aufgebaut, ein paar Einfriedigungen um das grenzenlos Wortlose: so stehen die Zeilen da. Wie Zäune in einem flachen Land, über die hin das Eingezäunte fortwährend zu einer unbesitzbaren großen Ebene zusammenschlägt. Wann ist der Helian geschrieben? Vielleicht haben Sie irgendwo ein paar Daten und Erinnerungen über den
Dichter zusammengestellt?; sollten Sie Derartiges an die Öffentlichkeit geben, so bitte ich um einen Hinweis, wo es zu lesen ist. Trakl's Gestalt gehört zu den linoshaft Mÿthischen; instinktiv fass ich sie in den fünf Erscheinungen des Helian. Greifbarer hat sie wohl nicht zu sein, war sie es wohl nicht aus ihm selbst. Trotzdem erwünscht ich mir für manche Zeile einen Hinweis auf ihn, nicht um wörtlich zu "verstehn", sondern nur um im Instinkt da und dort bestärkt zu sein. (Die Nachrichten über T. in den "Weißen Blättern" und in der "Neuen Rundschau" hab ich gelesen.) Seien Sie mir herzlich, dankbar, gegrüßt. Ihr R. M. R.
37 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, 9.2.1915 Ludwig Wittgenstein K.u.k. Art. Werkstätte der Festung Krakau. FELDPOST Nr. 186 Herrn Ludwig von Ficker Innsbruck-Mühlau 102 Tirol 9. 2. 15. Lieber Herr v. Ficker! Ich erhielt soeben Trakl's Buch. Vielen Dank! Ich bin jetzt in einer sterilen Zeit und habe keine Lust fremde Gedanken aufzunehmen. Diese habe ich nur während des Abfalls der Produktivität, nicht wenn sie schon ganz aufgehört hat. Aber - leider - fühle ich mich jetzt ganz ausgebrannt! Man muß eben Geduld haben. Wie gern würde ich Sie jetzt sehen! Ihr ergebener Ludwig Wittgenstein P.S. Den angekündigten Brief habe ich noch nicht erhalten
38 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, 13.2.1915 K. u. k. Art. Werkstätte der Festung Krakau. FELDPOST Nr. 186. 13. 2. 15 Lieber Herr von Ficker! Vielen Dank für Ihren lieben Brief vom 21.12.14.! Anbei schicke ich die Belege zurück, mit Ausnahme der an mich gerichteten Zeilen Hauers und von Rilkes liebem, edlem Brief. Die anderen Briefe hätte ich als Belege nicht gebrau[ch]t; als Dank waren sie mir - offen gestanden - größtenteils höchst unsympathisch. Ein gewisser unedler fast schwindelhafter Ton - etc. Rilkes Schreiben an Sie hat mich gerührt und tief erfreut. Die Zuneigung jedes edlen Menschen ist ein Halt in dem labilen Gleichgewicht meines Lebens. Ganz unwürdig bin ich des herrlichen Geschenkes, das ich als Zeichen und Andenken dieser Zuneigung am Herzen trage. Könnten Sie Rilke meinen tiefsten Dank und meine treue Ergebenheit übermitteln! Trakls Grab hat die Exhibit Nummer 3570 und die Bezeichnung: Gruppe XXIII. Reihe 13 Grab N° 45. Möchte Ihnen Ihre militärische Tätigkeit Freude bereiten! Wie schön wäre es wenn sie uns zusammen brächte! Herzlichst grüßt Sie Ihr ergebener Ludwig Wittgenstein
39 VON RAINER MARIA RILKE, 15.2.1915 München, Finkenstr. 2IV am 15. Februar 1915. Sehr geehrter Herr v. Ficker,
es ist nun doch nichts Neues -, ich bin unergiebiger als ich dachte, - sondern im Blättern durch mein Taschenbuch fanden sich die beiliegenden Verse; es will mir scheinen, als könnten sie Ihnen recht sein. Ist dies nicht der Fall, so lassen Sie michs wissen, ich suche dann rasch noch etwas anderes. Ich zögerte, über diese Abschrift einen Titel zu setzen und unterließ es schließlich. Vielleicht stimmen wir auch darin gefühlsmäßig überein. Was den Druck angeht, so wäre es mir lieb, wenn man meinem Manuscript genau folgte, die Unterscheidungszeichen beibehielte, ebenso wie die kleingeschriebenen Zeilenanfänge. Wollen Sie gütigst den Corrector in diesem Sinne beauftragen. Inzwischen habe ich den "Sebastian im Traum" bekommen und viel darin gelesen: ergriffen, staunend, ahnend und rathlos; denn man begreift bald, dass die Bedingungen dieses Auftönens und Hinklingens unwiderbringlich einzige waren, wie die Umstände, aus denen eben ein Traum kommen mag. Ich denke mir, dass selbst der Nahstehende immer noch wie an Scheiben gepresst diese Aussichten und Einblicke erfährt, als ein Ausgeschlossener: denn Trakl's Erleben geht wie in Spiegelbildern und füllt seinen ganzen Raum, der unbetretbar ist, wie der Raum im Spiegel. (Wer mag er gewesen sein?) Alles Gute für Sie, lieber Herr von Ficker, und die Grüße eines stetigen Gedenkens. Ihr R M Rilke BEILAGE So angestrengt wider die starke Nacht werfen sie ihre Stimmen ins Gelächter, das schlecht verbrennt. O aufgelehnte Welt voll Weigerung. Und athmet doch den Raum, in dem die Sterne gehen. Siehe, dies bedürfte nicht und könnte, der Entfernung fremd hingegeben, in dem Übermaß von Fernen sich ergehen, fort von uns. Und nun geruhts und reicht uns ans Gesicht wie der Geliebten Aufblick; schlägt sich auf uns gegenüber und zerstreut vielleicht an uns sein Dasein. Und wir sinds nicht werth. Vielleicht entziehts den Engeln etwas Kraft, dass nach uns her der Sternenhimmel nachgiebt und uns hereinhängt ins getrübte Schicksal. Umsonst. Denn wer gewahrts? Und wo es einer gewärtig wird: wer darf noch an den Nachtraum die Stirne lehnen wie ans eigne Fenster? Wer hat dies nicht verleugnet? Wer hat nicht in dieses eingeborne Element gefälschte schlechte nachgemachte Nächte hereingeschleppt und sich daran begnügt? Wir lassen Götter stehn um gohren Abfall; denn Götter locken nicht. Sie haben Dasein und nichts als Dasein, Überfluss von Dasein, doch nicht Geruch, nicht Wink. Nichts ist so stumm wie eines Gottes Mund. Schön wie ein Schwan auf seiner Ewigkeit grundlosen Fläche: so zieht der Gott und taucht und schont sein Weiß Alles verführt. Der kleine Vogel selbst thut Zwang an uns aus seinem reinen Laubwerk die Blume hat nicht Raum und drängt herüber -, was will der Wind nicht alles? Nur der Gott, wie eine Säule, lässt vorbei, vertheilend, hoch oben, wo er trägt, nach beiden Seiten die leichte Wölbung seines Gleichmuths. ----
Rainer Maria Rilke.
40 AN RAINER MARIA RILKE, 20.2.1915 Herrn Rainer Maria Rilke Pension Pfanner München Finkenstr. 2 Brixen, am 20. Feber 1915 Verehrter Herr Rilke! Gestatten Sie mir einstweilen - ehe ich mich in das völlig Neue und Fremde meines gegenwärtigen Lebens gefunden - Ihnen mit diesen wenigen Worten Gruß und Dank zu entbieten für Ihre freundlichen Briefe sowohl wie für die Verse, die veröffentlichen zu dürfen mir eine Ehre sein wird. Leider läßt die äußere Anordnung des Jahrbuchs keine Nichtbetitelung zu. Würde "Verse" genügen? Tief ergeben grüßt Sie Ihr Ludwig v. Ficker Landsturm Einj. Freiw. im 2. Tiroler Kaiserjäger-Regiment
41 AN RAINER MARIA RILKE, [17.3.1915] rainer maria rilke finkenstr 2 pension kanner muenchen Brixen [17.3.1915] darf ich wegen betittelung der pferde um kuerzesten beschejd bitten ergebenste gruesse ludwig von ficker hotel tirol brixen
42 VON RAINER MARIA RILKE,18.3.[1915] Herrn Ludwig von Ficker Hotel Tirol BRIXEN München, 18 / III [1915] Bezeichnung Verse durchaus recht herzliche Gute grüse Rilke
43 VON LEOPOLDINE WITTGENSTEIN, 8.7.[1915] Poldy Wittgenstein Wien XVII Neuwaldeggerstr. 38 H. Ludwig von Ficker dz. Einj. Freiw. Unterjäger im II. Regim. d. Tiroler Kaiserjäger III Ersatzcompagnie Beneschau Böhmen Wien Neuwaldegg d. 8. Juli [1915] Sehr geehrter Herr! Im Besitze Ihrer geehrten Zeilen danke ich Ihnen für Ihre freundliche Erkundigung nach dem Ergehen meines Sohnes Ludwig. Ich habe häufige und bisher glücklicherweise immer gute Nachricht von ihm. Er ist gesund und in seiner Tätigkeit sehr zufrieden. Seine Adresse lautet: Landsturm Ingenieur L. W. K. u. K. Artillerie Werkstätten der Festung Krakau Hoffendlich erhält er dahin Ihr nächstes Schreiben. Ihre sehr ergebene Poldy Wittgenstein
44 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 11.7.1915
Beneschau, 11. VII. 1915 Lieber Herr Wittgenstein! Ihre Frau Mutter hatte die Freundlichkeit, mir Ihre Adresse und zugleich beruhigende Auskunft über Sie zu geben. Ich hatte Ihnen vor mehr als vier Monaten von Brixen aus geschrieben, blieb aber solange ohne weitere Nachricht, daß ich nachgerade unruhig zu werden begann und mit der Möglichkeit rechnete, es sei Ihnen etwas zugestoßen. Zumindest dachte ich, Sie seien von Krakau weggekommen und möglicherweise an der Front. Nun aber will mir scheinen, als habe Sie mein Brief (der allerdings nichts wesentlich Beantwortenswertes enthielt) nicht erreicht, obwohl ich ihn auch nicht zurückerhielt. So will ich neuerdings versuchen, Ihnen über mein bisheriges Schicksal beim Militär einiges Wenige mitzuteilen. Die Zeit der Abrichtung in Brixen (Februar - Mai) ist mir, obwohl mir meine Situation oft ganz unfaßlich vorkam (ich hatte mit einigen wenigen älteren Landstürmern unter einer überlauten Horde von kaum Zwanzigjährigen einen genug schweren Stand), in freundlichster Erinnerung geblieben. Die mitunter ausgedehnten und auch anstrengenden Marschübungen in das Berggelände des Eisacktals waren herrlich, ich ertrug alle Strapazen in einer Weise, über die ich mich selbst oft wundern mußte, so frei und leicht fühlte ich mich körperlich bei aller Müdigkeit. Ich versäumte auch, seit ich beim Militär bin, nie eine Ausrückung und meldete mich nie marod. Bisweilen allerdings litt und leide ich noch an Schlaflosigkeit. Allerdings war und bin ich geistig ganz benommen und betäubt, so daß ich kaum lesen, geschweige denn zu schreiben vermag. Ich kann auch nicht sagen, ob und wie lange ich diesen Ausnahmszustand seelisch ertrage; denn ich weiß noch immer nicht, wie ich mir das alles zurecht legen soll. Ich fühle mich so aus mir selbst herausgerissen, daß ich mir über nichts Rechenschaft zu geben vermag. Ich versehe meinen Dienst, so gut es eben geht, ohne besondere Ambition, aber so gewissenhaft, wie es mir 35jährigem, der stets fern diesem Milieu gelebt hat, möglich ist. Täglich kostet es mich Überwindung, aber täglich tue ich meine Pflicht, so daß ich bisher nie einen Anstand hatte, obschon ich immer deutlicher empfinde, wie wenig ich mich im Grunde zum Feldsoldaten eigne. Von Brixen kam ich nach Innsbruck auf die Chargenschule, wo es mir schon weniger behagte. Denn bei aller Willigkeit wollte sich mein anders geschulter Kopf in dem Studium des Reglements und bei den taktischen Übungen nicht prompt genug zurecht finden. Ich bekam Angst, selbständige Entschlüsse fassen zu müssen in einem Wirkungskreis, der meiner Natur noch immer fremd und verschlossen ist, ich fürchte die Verantwortung, je mehr die Kommando-Befugnis wächst, und seit ich von Innsbruck hieher nach Beneschau zur Kompagnie kam, lebe ich förmlich unter einem Alpdruck, obwohl der Dienst im allgemeinen weniger anstrengend ist. Dazu kommt noch, daß wir Einjährigen-Chargen hier in der Kaserne schlafen müssen - 36 Mann in einem Zimmer Strohsack an Strohsack auf dem Boden - ohne Möglichkeit, sich ordentlich zu waschen, immer in Gemeinschaft also, ohne eine Stunde des Alleinseins, weder bei Tag noch bei Nacht - es ist fürchterlich. Manchmal heißt es, daß wir von hier weg kommen, zurück nach Tirol. Aber keiner glaubt mehr daran. Und so werde ich wohl hier in dieser qualvollen Verlorenheit aushalten müssen, bis ich ins Feld komme, was auch kaum vor September zu erwarten ist. Manchmal ist mir, lieber Freund, als sei mein Dasein schon erledigt. Kaum an Frau und Kinder vermag ich mehr ein Lebenszeichen zu geben. So sehr haben diese Verhältnisse nachgerade meiner Widerstandskraft zugesetzt. Verzeihen Sie diese Anwandlung von Schwäche! Ich bin sonst nicht sehr mitteilsam - heute weniger denn je - und ich hoffe mich schon wieder zusammennehmen zu können. Schreiben Sie mir ein paar Zeilen, wie es Ihnen geht. Es grüßt Sie in herzlicher Ergebenheit Ihr Ludwig v Ficker dz. Einj. Freiw. Unterjäger im II. Rgt. der Tir. Kaiserjäger, I. Ersatz-Komp. Beneschau (Böhmen)
45 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [24.7.1915] [Poststempel: K. U. K. FELDPOSTAMT 186, 24. VII. 15] Lieber Herr v. Ficker! Vor einer Woche erhielt ich Ihren Brief vom 11ten. Am selben Tag erlitt ich durch eine Explosion in der Werkstätte einen Nervenshock und ein paar leichte Verletzungen, konnte also nicht gleich antworten. Dies schreibe ich im Spital. Ihren Brief aus Brixen habe ich nicht erhalten. Ihre traurigen Nachrichten verstehe ich nur zu gut. Sie leben sozusagen im Dunkel dahin und haben das erlösende Wort nicht gefunden. Und wenn ich, der so Grund verschieden von Ihnen bin, etwas raten will, so scheint das vielleicht eine Eselei. Ich wage es aber trotzdem. Kennen
Sie die "Kurze Erläuterung des Evangeliums" von Tolstoi? Dieses Buch hat mich seinerzeit geradezu am Leben erhalten. Würden Sie sich dieses Buch kaufen und es lesen?! Wenn Sie es nicht kennen, so können Sie sich auch nicht denken, wie es auf den Menschen wirken kann. Wären Sie jetzt hier so möchte ich vieles sagen. In einer Woche werde ich vielleicht auf etwa 14 Tage nach Wien fahren. Wenn wir uns dort treffen könnten! Schreiben Sie mir wieder. Ihr ergebener L Wittgenstein
46 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [Ende August 1915] L Wittgenstein K. u k. Art. Werkstättenzug 1 Feldpost N° 12 [Ende August 1915] Herrn Ludwig von Ficker Einj. Freiw. Unterjäger im II. Regt. der Tiroler Kaiserjäger I Ersatz Komp Böhmen Beneschau Lieber Herr v. Ficker! Meine Adresse ist jetzt: K. u. k. Art. Werkstättenzug I. Feldpost N° 12 Wie geht es Ihnen?? Möchte es mir vergönnt sein Sie wiederzusehen. Ihr ergebener Wittgenstein
47 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [12.9.1915] Wittgenstein K u k. A. W. Z. 1. Feldpost N° 12 [Poststempel: 12. IX. 15] Herrn Ludwig von Ficker Einj. Freiw. Unterjäger im Tiroler Kaiserjäger Reg N° 2 2. Ersatz Komp. Böhmen Beneschau Lieber Herr v. Ficker! Ich weiß nicht ob ich Ihnen schon meine neue Adresse mitgeteilt habe: K u k. Artillerie Werkstätten Zug 1 Feldpost N° 12 Bitte schreiben Sie mir bald wie es Ihnen geht. Gott mit Ihnen! Ihr ergebener L Wittgenstein
48 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, 2.11.1915 Wittgenstein K.u k. Art. Werkstätten Zug 1 Feldpost 12 Herrn Ludwig von Ficker Einj. Freiw. Unterjäger im II. Regt. der Tiroler Kaiserjäger I. Ersatz Komp.
Beneschau Böhmen 2. 11. 15. Lieber Herr v. Ficker! Es ist schon viele Monate her seit ich das letzte Mal von Ihnen hörte! Wie geht es Ihnen. Wenn man nichts von seinen Freunden hört, so scheint diese schreckliche Zeit endlos zu dauern. Oft wird man von Ekel fast überwältigt. Gott mit Ihnen. Ihr treu ergebener L Wittgenstein
49 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 14.11.1915 Beneschau, am 14. November 1915 Lieber, verehrter Freund! Dank, Dank für Ihre wiederholten Grüße! Ich fühlte mich nicht mehr imstande, Ihnen auch nur andeutungsweise zu sagen, was in mir vorgeht - ich kann es ja selbst kaum begreifen und weiß nur, daß Sie ein Wort zu mir gesprochen haben, das mich im Tiefsten zu Recht getroffen hat - das nämlich, daß ich im Dunkel lebe. Und es ist eine Schuld, gewiß - ich fühle es nur zu gut und ich weiß, daß nichts außer mir anzuklagen ist. Aber ich stehe manchmal wie außer mir vor dem Furchtbaren der Erwartung: Erweckung zu diesem oder Erwachen in jenem Leben? Was wird mir vergönnt, was wird mir verhängt sein? Wie oft habe ich Sie mir in der letzten Zeit herbeigesehnt, denn niemand, niemand hat das Wort für mich gehabt: Gott schütze Sie! Das einzige Wort, das einem not tut und das kein Mensch mehr heute findet, keiner, dem das Herz dabei hinüberschlüge zu des anderen Bedrängnis. Nur Sie, der Sie mir ferne und ach so seltsam entrückt sind, daß mir oft bange ist, ob Sie es, wirklich Sie es sind, zu dem mein Schweigen wandert - Sie plötzlich fühle ich zu mir geneigt, so nahe, daß mir ist, als spürte ich Ihren Herzschlag über mir, und Sie sagen so, daß ich es nie vergessen werde: Gott schütze Sie! Wie ist das alles rätselhaft und tief erschütternd! Möge es Ihnen gut gehen, hören Sie - möge Gott auch mit Ihnen sein! Vielleicht hat auch mein Wunsch in diesem Augenblick die Kraft, erhört zu werden. Ich bin in dieses Marschbataillon eingeteilt, das in einer Woche von hier abgeht. Meine Adresse für die nächsten drei Wochen ist: II Rgt. d. Tiroler Kaiserjäger, 17. Marschbataillon, 1. Kompagnie, Zirl in Tirol. So um Weihnachten herum dürfte ich dann in unsere Stellung an der Südwestfront kommen. Möge es mir gegönnt sein, Sie wiederzusehen! Es grüßt Sie innigst Ihr Ludwig v. Ficker
50 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 4.10.1919 DER BRENNER Herausgeber Ludwig von Ficker / Innsbruck-Mühlau Nr. 102 4. X. 1919 Lieber Herr Wittgenstein! Durch Herrn Professor Brücke, der in meiner Nachbarschaft wohnt, erfuhr ich soeben zu meiner großen Freude, daß Sie aus der Gefangenschaft zurückgekehrt sind, wodurch mir Gelegenheit geboten ist, endlich - nach so langer Zeit! - wieder mit Ihnen in Verbindung zu treten. Weiß Gott, ich habe in diesen bewegten Jahren oft an Sie gedacht und wie es lhnen wohl gehen möge, aber ich war selber im Feld und an der Front bald da-, bald dorthin und von einer Unsicherheit in die andere geworfen, auch fand ich mich in all dem Ungewohnten, Fremden und Betäubenden nur schwer zurecht, sodaß ich es vorzog, Sie mit keiner Mitteilung von meiner Seite zu belasten, solange ich Sie in der Prüfung eines ähnlichen Geschicks befangen wußte. Denn niemals, habe ich gefunden, war man so auf sich selbst und auf die Tragweite seiner Innerlichkeit zurückverwiesen wie in jenen bangen Tagen eines außerweltlichen Verhängnisses, da einem die Möglichkeit, heut' oder morgen tot zu sein, als Erlebnis näher stand als das Bewußtsein, das gesteigerte Bewußtsein, in diesem Augenblick und seiner Grenzenlosigkeit noch am Leben zu sein. In diesem Sinne glaube ich an Ernst und Reife der geistigen Empfindung, an innerer Haltung, durch den Krieg gewonnen zu haben; und so, wie ich Sie kenne, wie mir manches Ihrer schwerbedachten Worte in Erinnerung steht, glaube ich nicht nur - nein, ist es mir gewiß, daß auch Sie diese Prüfung mit einem ähnlichen Erfolg bestanden haben. Dabei verhehle ich mir keinen Augenblick - denn ich weiß es leider (aus Mitteilungen, die mir Professor Brücke machte) - daß für Sie diese Prüfung noch ungleich schwerer war als für mich. Aber, ich weiß nicht, mir sagt ein Gefühl: daß möglicherweise auch der innere Gewinn für Sie noch größer war als für mich. Erhielte ich über
nichts, als nur über dieses Eine, von Ihnen - wenn auch flüchtigen - Bescheid, so wäre mir dies eine Beruhigung jene letzte Beruhigung, die mir noch fehlt, nachdem ich Sie nun, Gott sei Dank und endlich!, heimgekehrt weiß. Wissen Sie, damals als ich erfuhr, daß Sie in Gefangenschaft geraten seien, und erfuhr, daß es Ihnen schlecht ergehe, damals habe ich es einen Augenblick, einen sicher nur mit Rücksicht auf Frau und Kinder unseligen Augenblick lang bedauert, beim Zusammenbruch nicht an der Front, sondern in Galizien gewesen zu sein. Denn ich sagte mir, am Ende wäre ich als Mitgefangener in Italien mit Ihnen zusammengetroffen, und wer weiß, hätten wir uns das gemeinsame Los nicht gegenseitig erleichtern können. Aber auch so, denke ich, ist es gut und ist es eine Wohltat für mich, Ihnen dies schreiben zu dürfen. Möchten Sie selbst es nicht als eine Belästigung empfinden! Wie Sie aus einem Prospekt, den ich diesen Zeilen beilege, ersehen, gebe ich in allernächster Zeit den Brenner wieder heraus: nicht nur äußerlich, auch innerlich ein Wagnis in diesen haltlosen Tagen. Aber ich bin so sehr davon überzeugt, daß die Zeitschrift erst jetzt zu ihrer eigentlichen Bedeutung gelangen wird, daß mir das künftige Verdienst ihrer Sendung nicht in Frage steht, auch wenn die Ungunst der äußeren Verhältnisse sich noch so sehr gegen sie verschworen haben sollte. Sie gestatten mir doch, daß ich Ihnen die Hefte zusende? Und wenn Sie mir durch Bekanntgabe von Adressen, an die ich den Prospekt mit Aussicht auf Erfolg schicken könnte, an die Hand gehen wollten, wäre ich Ihnen noch besonders dankbar. Denn - warum sollte ich es verschweigen? - : es handelt sich bei diesem Versuch auch um die Sicherung meiner Existenz. Und nun lassen Sie mich nochmals meiner Freude über Ihre Rückkehr Ausdruck geben und seien Sie herzlichst und in aufrichtiger Ergebenheit begrüßt von Ihrem Ludwig Ficker
51 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [ca. 7.10.1919] [Wien, ca. 7. 10. 1919] Lieber Herr v. Ficker! Es ist ein merkwürdiger Zufall, daß ich heute Ihr Schreiben erhalte wie ich eben zu Herrn Loos gehen will, um mich nach Ihrer Adresse zu erkundigen, da ich Ihnen schreiben wollte. Ich habe mich nämlich entschlossen, Sie um etwas zu bitten und ich will gleich damit herausrücken; nur muß ich Sie vor allem bitten, über die ganze Angelegenheit und alles was mit ihr zusammenhängt gegen jedermann vollkommenes Stillschweigen zu bewahren. Und noch ein's: ich habe keine Ahnung ob meine Bitte nicht vielleicht ganz unausführbar ist; ist sie das, so glauben Sie jedenfalls nicht, daß ich unverschämt bin und antworten Sie einfach mit einem runden Nein. - Und nun: Ich habe vor etwa einem Jahr kurz vor meiner Gefangennahme ein philosophisches Werk abgeschlossen, an welchem ich in den vorhergehenden 7 Jahren gearbeitet hatte. Es handelt sich, ganz eigentlich, um die Darstellung eines Systems. Und zwar ist die Darstellung äußerst gedrängt, da ich nur das darin festgehalten habe, was mir - und wie es mir wirklich eingefallen ist. Gleich nach Abschluß der Arbeit, als ich auf Urlaub in Wien war, wollte ich einen Verleger suchen. Aber damit hat es eine große Schwierigkeit: Die Arbeit ist von sehr geringem Umfang, etwa 60 Seiten stark. Wer schreibt 60 Seiten starke Broschüren über philosophische Dinge? Die Werke der großen Philosophen sind alle rund 1000 Seiten stark und die Werke der Philosophieprofessoren haben auch ungefähr diesen Umfang: die Einzigen, die philosophische Werke von 50-100 Seiten schreiben sind die gewissen ganz hoffnungslosen Schmierer, die weder den Geist der großen Herren noch die Erudition der Professoren haben und doch um jeden Preis einmal etwas gedruckt haben möchten. Solche Produkte erscheinen daher auch meistens im Selbstverlag. Aber ich kann doch nicht mein Lebenswerk - denn das ist es - unter diese Schriften mischen. Also dachte ich an einen ganz isolierten Verleger an Jahoda & Siegel. Der hat aber die Sache, angeblich wegen technischer Schwierigkeiten, abgelehnt. Aus der Gefangenschaft zurückgekehrt und schon etwas mürber geworden wandte ich mich an den Verlag Braumüller. (Ich verfiel auf ihn, weil er den Weininger verlegt). Der ist schon so gnädig und meint - nachdem ich ihm eine sehr heiße Empfehlung meines Freundes des Prof. Russell aus Cambridge verschafft habe - er wäre eventuell geneigt, den Verlag zu übernehmen, wenn ich Druck und Papier selber zahlen wollte. (Ich habe ihm selbstverständlich ganz offen gesagt, daß er mit meinem Buch kein Geschäft machen werde, da es niemand lesen wird und noch weniger es verstehen werden) Zu diesem Fall muß ich noch eine Bemerkung machen: Erstens habe ich nicht das Geld, um den Verlag meiner Arbeit selbst zu zahlen, weil ich mich meines gesammten Vermögens entledigt habe (wie, das werde ich Ihnen einmal erzählen. Die Sache ist übrigens streng geheim!). Zweitens aber könnte ich mir zwar das Geld dazu verschaffen, will es aber nicht; denn ich halte es für bürgerlich unanständig ein Werk der Welt - zu welcher der Verleger gehört - in dieser Weise aufzudrängen: Das Schreiben war meine Sache; annehmen muß es aber die Welt auf die normale Art & Weise. Nun wandte ich mich endlich noch an einen Professor in Deutschland, der den Verleger einer Art philosophischen Zeitschrift kennt. Von diesem erhielt ich die Zusage die Arbeit zu übernehmen, wenn ich sie vom
Anfang bis zum Ende verstümmeln, und mit einem Wort eine andere Arbeit daraus machen, wollte. Da fiel mir endlich ein ob Sie nicht geneigt sein könnten, das arme Wesen in Ihren Schutz zu nehmen. Und darum möchte ich Sie eben bitten: Das Manuscript würde ich Ihnen erst schicken wenn Sie glauben daß überhaupt an eine Aufnahme in den Brenner zu denken ist. Bis dahin möchte ich nur soviel darüber sagen: Die Arbeit ist streng philosophisch und zugleich literarisch, es wird aber doch nicht darin geschwefelt. Und nun bitte überlegen Sie Sich die Sache und schreiben Sie mir möglichst bald. Meine Adresse ist: Wien III. Untere Viaduktgasse 9, bei Frau Wanicek. Ich gehe jetzt in die Lehrerbildungsanstalt, da ich Lehrer werden will. Ob ich die für mich ungemein großen Schwierigkeiten der Abrichtungszeit werde übertauchen können, wird sich noch zeigen. Ich habe viel zu tun und kann nicht einmal daran denken Wien zu verlassen. Vielleicht aber kommen Sie einmal hierher und dann könnte ich Ihnen viel erzählen. Sein Sie vorläufig bestens gegrüßt von Ihrem ergebenen Ludwig Wittgenstein
52 AN LUDWIG WITTGENSTEIN. 14.10.1914 DER BRENNER Herausgeber Ludwig von Ficker / Innsbruck-Mühlau Nr. 102 14. X. 1919 Lieber Herr Wittgenstein! Wollen Sie bitte mir das Manuskript Ihrer Arbeit umgehend senden! Warum haben Sie nicht gleich an mich gedacht? Denn Sie können sich wohl denken, daß ich, der ich Sie kenne, von vorneherein ein ganz anderes, d.h. tiefer gegründetes Interesse an Ihrer Arbeit nehmen werde als ein Verleger, der nur sein Geschäftsinteresse im Auge hat. Sie wissen, das bin ich nie gewesen und brauchte es früher auch nicht zu sein, solange mir die Verhältnisse gestatteten, das ganze Brenner-Unternehmen mehr oder weniger im Charakter einer Liebhaberei zu führen. Heute ist das ja anders. Heute bin ich mit Rücksicht auf Frau und Kinder gezwungen, den Verlag womöglich so auszugestalten, daß er mir künftig die Existenz sichern hilft. Die Aussichten sind derzeit freilich trübe genug. Aber über den Anfang sehe ich mich wohl hinaus, zumal mir ein vermögender Freund, Kurt Lechner (wir haben uns im Felde kennengelernt) finanziellen Beistand leistet, indem er als Mitinhaber in den Verlag eintritt und mir das Risiko tragen hilft. Er ist vorgestern hier eingetroffen, und wir haben die Agenden so geteilt, daß er die Leitung des Buchverlags übernimmt, während mir nach wie vor die Leitung der Zeitschrift ganz allein überlassen bleibt. Selbstverständlich bleibt aber auch meine Ingerenz auf den Buchverlag insoweit aufrecht, als da nichts erscheinen darf, was sich mit dem Geist und der Richtung des Brenner nicht verträgt. Nur versteht sich ebenso von selbst, daß die Entscheidung über Annahme oder Ablehnung eines Werkes, das ich in Vorschlag bringe, letzten Endes von Lechners Entschluß abhängt, da ich ohne seine Zustimmung das Unternehmen nicht mit einem Risiko belasten darf, das ihn eventuell zum Austritt aus dem Verlag bestimmen könnte. Nun ist aber Lechner selbst ein Mensch, der nicht ausschließlich den geschäftlichen Erfolg im Auge hat und sehr viel Sinn und Willigkeit besitzt, im Rahmen der gemeinsamen Sache meinen Intentionen zu folgen und meine Vorschläge zu respektieren, daß ich von seiner Seite kaum unerwünschten Widerstand zu befürchten brauche. Ich habe ihm auch gleich (ohne zunächst Ihren Namen zu nennen) Ihre Sache vorgetragen und nichts von alledem verschwiegen, was Ihr Angebot für den Brenner eben so besonders beherzigenswert macht, trotzdem Sie mit keiner Absatzmöglichkeit Ihres Buches rechnen und es für den Verlag somit geschäftlich ein verlorener Posten wäre. Das Ergebnis unserer Unterredung ist also, daß ich Sie nun bitte, uns unverzüglich Ihre Arbeit zur Einsicht zu senden. Ist sie so beschaffen, daß sie im Rahmen unserer Bestrebungen Geltung beanspruchen kann (und dies möchte ich nach Ihren Ausführungen nicht von vorneherein bezweifeln, obwohl streng wissenschaftliche Arbeiten nicht eigentlich unser Gebiet sind), so glaube ich Ihnen keine ungünstige Vorhersage geben zu können, es wäre denn, daß die momentan phantastischen Herstellungskosten eine Publikation im gegenwärtigen Augenblick unmöglich machen würden und wir zuwarten müßten, bis wieder geregeltere und gesichertere Verhältnisse eintreten. Augenblicklich konnten wir ja die Publikation überhaupt nur in Betracht ziehen, weil sie von verhältnismäßig geringem Umfang ist. Also seien Sie überzeugt, lieber Herr Wittgenstein, daß ich mein Möglichstes tun werde, um Ihrem Wunsche entgegenzukommen. Werde ich doch stets Ihres eigenen hochherzigen Entgegenkommens aufs dankbarste eingedenk bleiben, das Sie dem Brenner und seinen führenden Mitarbeitern in besseren Zeiten bewiesen haben. Und liegt mir doch alles daran, Ihnen gerade jetzt, da Sie sich selbst aller äußeren Vorteile einer gesicherten Lebenshaltung begeben haben, ein Zeichen dieser meiner tiefen und dauernden Erkenntlichkeit geben zu können. Und nun seien Sie bis auf weiteres herzlich gegrüßt und meines Stillschweigens hinsichtlich Ihrer
vertraulichen Nachrichten versichert! In Erwartung Ihres Manuskripts, in Ergebenheit Ihr Ludwig Ficker
53 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [nach dem 20.10.1919] [Wien, um den 20. 10. 1919] Lieber Herr Ficker! Zugleich mit diesem Brief geht das Manuscript an Sie ab. Warum ich nicht gleich an Sie dachte? Ja, denken Sie, ich habe gleich an Sie gedacht; allerdings zu einer Zeit, wo das Buch noch gar nicht verlegt werden konnte, weil es noch nicht fertig war. Wie es aber dann so weit war, da hatten wir ja Krieg und da war wieder an Ihre Hilfe nicht zu denken. Jetzt aber hoffe ich auf Sie. Und da ist es Ihnen vielleicht eine Hilfe, wenn ich Ihnen ein paar Worte über mein Buch schreibe: Von seiner Lektüre werden Sie nämlich - wie ich bestimmt glaube - nicht allzuviel haben. Denn Sie werden es nicht verstehen; der Stoff wird Ihnen ganz fremd erscheinen. In Wirklichkeit ist er Ihnen nicht fremd, denn der Sinn des Buches ist ein Ethischer. Ich wollte einmal in das Vorwort einen Satz geben, der nun tatsächlich nicht darin steht, den ich Ihnen aber jetzt schreibe, weil er Ihnen vielleicht ein Schlüssel sein wird: Ich wollte nämlich schreiben, mein Werk bestehe aus zwei Teilen: aus dem, der hier vorliegt, und aus alledem, was ich nicht geschrieben habe. Und gerade dieser zweite Teil ist der Wichtige. Es wird nämlich das Ethische durch mein Buch gleichsam von Innen her begrenzt; und ich bin überzeugt, daß es, streng, nur so zu begrenzen ist. Kurz, ich glaube: Alles das, was viele heute schwefeln, habe ich in meinem Buch festgelegt, indem ich darüber schweige. Und darum wird das Buch, wenn ich mich nicht sehr irre, vieles sagen, was Sie selbst sagen wollen, aber Sie werden vielleicht nicht sehen, daß es darin gesagt ist. Ich würde Ihnen nun empfehlen das Vorwort und den Schluß zu lesen, da diese den Sinn am Unmittelbarsten zum Ausdruck bringen. Das M. S., das ich Ihnen jetzt sende, ist nicht das eigentliche Druckmanuscript, sondern eine von mir nur flüchtig durchgesehene Kopie, die aber zu Ihrer Orientierung genügen wird. Das Druck M. S. ist genau durchgesehen; es befindet sich aber augenblicklich in England bei meinem Freund Russell, dem ich es aus der Gefangenschaft geschickt habe. Er wird es mir aber in der nächsten Zeit zurückschicken. Und so wünsche ich mir einstweilen viel Glück. Sein Sie herzlichst gegrüßt von Ihrem ergebenen Ludwig Wittgenstein Meine Adresse ist jetzt: XIII. St. Veitgasse 17 bei Frau Sjögren
54 AN RAINER MARIA RILKE, 2.11.1919 DER BRENNER Herausgeber Ludwig von Ficker / Innsbruck-Mühlau Nr. 102 2. Nov. 1919 Sehr verehrter Herr! Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen - nun, da nach mehr als vierjähriger Unterbrechung unsere Zeitschrift wieder erscheint - das soeben hinausgehende erste Heft mit gleicher Post zur Einsicht vorlege. Ich weiß nicht, ob es mir geglückt ist, in der Zusammenstellung des Heftes jenen Ernst zur geistigen Wahrhaftigkeit, der mir und meinen Freunden vorschwebt, über eine bloße Andeutung hinaus zur Geltung zu bringen. Jedenfalls war ich bemüht, dem was uns bewegt ein möglichst eindeutiges und unmißverständliches Relief zu geben. Sollte also - was ich immerhin zu hoffen wage - von der Bewegung, die uns trägt, im Ausdruck Wesentliches wahrgeworden und wahrzunehmen sein: würden Sie dann dem Brenner die Ehre erweisen, wieder einmal einen Beitrag von Ihnen bringen zu dürfen? Seien es nun Verse oder ein Stück Prosa, eine geistige Betrachtung oder eine Übersetzung (wie herrlich war z. B. das Gedicht der Comtesse de Noailles im letzten Insel-Almanach!). Im übrigen wage ich Sie um Berücksichtigung dieser Bitte natürlich nur in der Voraussetzung zu ersuchen, daß sie Ihnen nicht in irgend einer Hinsicht lästig fällt. Vielleicht interessiert es Sie zu wissen, daß jener geistig so ungemein bewegte junge Mann, dessen Edelsinn es mir ermöglicht hat, der Ehre Ihrer brieflichen Bekanntschaft teilhaftig zu werden, erst kürzlich aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt ist, sein ganzes beträchtliches Vermögen bis auf einen kleinen, notdürftigen Rest unter ein paar arme Familien verteilt hat und - solchermaßen einen Ernst der Lebensauffassung bekundend, der mir
über seine individuelle Besonderheit hinweg als ein Zeichen der Zeit erscheint - sich gegenwärtig auf den Lehrberuf vorbereitet. Er hat mir eine "Logisch-Philosophische Abhandlung", die ich bedeutend finde - einen Extrakt letzter Erkenntnisse, fußend auf den Forschungen seines Freundes, des englischen Philosophen Bertrand Russell - mit dem Ersuchen gesendet, sie wenn irgend möglich (sie umfaßt im Manuskript kaum sechzig Seiten) in meinem Verlag zu publizieren. Nun sind aber der Bewegungsfreiheit meines Unternehmens äußerlich so enge und innerlich so bestimmte Grenzen gezogen, daß ich bei aller persönlichen Bereitschaft, jede andere Erwägung in diesem Falle hinter die rein menschliche zurückzustellen, unter den gegenwärtigen, so drückenden Verhältnissen das Risiko nicht werde auf mich nehmen können. (Diesem Risiko aus Eigenem zu begegnen, ist der Autor in seiner jetzigen Lage außerstande - ganz abgesehen davon, daß mir dergleichen widerstrebt). Darum möchte ich Sie fragen: hielten Sie es für möglich, daß irgend ein angesehener Verlag in Deutschland, für den das Risiko von vorneherein ein ungleich geringeres wäre und dem es jedenfalls nicht schwer fiele, dieses im Umsatz seiner anderen Publikationen auszugleichen, sich der Sache annehmen wollte? Und könnten Sie mir da einen Rat geben? Verzeihen Sie, bitte, diese allzu unvermittelte Belästigung! Derjenige, um dessentwillen ich mich an Sie wende, weiß nichts davon; wahrscheinlich würde er mir gram sein, wenn er es erführe. Aber mir geht das nahe, es ist mir eine Herzenssache, und ich weiß nicht, wie ich ihr gerecht werden soll. Es grüßt Sie in Verehrung Ihr Ludwig Ficker
55 VON RAINER MARIA RILKE, 12.11.1919 Bellevue Palace Berne, am 12. November 1919 Mein lieber Herr von Ficker, das freundlichste Zusammentreffen: lassen Sie sich erzählen. Gestern bin ich hier in eine Buchhandlung eingetreten, in deren Schaufenster ich einige Stunden vorher ein "Brenner"-Heft bemerkt hatte (es war nicht mehr da, leider) -, am selben Abend kam Ihr guter Brief. Mit meiner Antwort eine Verbindung wieder aufzunehmen, die durch die unnatürlichsten Verhältnisse in ihren Anfängen unterbrochen worden war, gehört für mich nun - glauben Sie es mir - zu jenen Wiederherstellungen, die man stark und zuversichtlich empfindet, weil mit jeder von ihnen, über das Thatsächliche hinaus, ein Bewusstsein arglosen und vollzähligen Daseins Recht bekommt. Sie schreiben nichts über sich selbst, aber ich sehe Sie thätig im ursprünglichen Bestreben, und so mag ich gerne annehmen, dass Ihr persönliches Schicksal, nach allen Missbräuchen der letzten Jahre, Sie wieder am vertrauten Ufer der eigenen Aufgaben abgesetzt hat: mögen Sie dort nun recht fest sich ansiedeln dürfen. Diesem zunächst wäre eine besorgteste Frage aufgekommen, die Sie, mir vorfühlend, schon beantwortet haben. Die Handlungsweise des (aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten) unbekannten Helfers und Freundes ist mir umso ergreifender, als sie, über soviel Wirrnis und Unterbrechung hinüber, als die stille, reine Vollendung dessen erscheint, was mit jenen großmüthigen Entschlüssen des Jahres Vierzehn begonnen war. Wieviele Menschen haben wir aus leichteren Bahnen geworfen gesehen, wie viele erschüttert in ihren innersten Absichten -; dieser ist von allem Anfang an in seinen schweren Weg eingesetzt worden -, man kann es nicht ohne Ehrfürchtigkeit einsehen. Lassen Sie es, bitte, still zwischen uns bleiben, dass ich von jenem Manuscript weiß; welche Freude wäre es für mich, ganz im Verborgenen an seiner Veröffentlichung mitzuwirken, obwohl mir ja da nur der bescheidenste und zufälligste Antheil eingeräumt wäre. Sie kennen die Arbeit Ihres Freundes, Sie schätzen sie; schiene Ihnen ihre Einreichung beim Insel-Verlag angemessen zu sein? Philosophische Schriften sind dort nicht recht einheimisch, wenn man nicht etwa die Bücher Kassners anführen will. Bei der Insel würde ich selbstverständlich mit einigem Gewicht mich einsetzen können, bei Verlagen wissenschaftlicher Art bliebe ich ohne Einfluss. Eine gewisse Beziehung hat sich während des vergangenen Sommers ergeben zu einem Verleger Otto Reichl in Darmstadt, dadurch, dass er die Schriften des Grafen Hermann Keyserling übernahm; es fällt mir eben ein, dass die "Logisch-Philosophische Abhandlung" vielleicht an dieser Stelle einen passenden Verlagsboden fände. Wenn Sie die Bücher Keyserling's bedenken (zuletzt das bedeutende große "Reisetagebuch eines Philosophen") werden Sie diese Frage mit mir erwägen können. Nennen Sie mir überhaupt, nach Ihrem Ermessen, andere deutsche Verlage, - ich will Ihnen dann schreiben, wie weit ich bei dem oder jenem meine, mich geltend machen zu dürfen. Am Geiste des "Brenner" wünsche ich nach wie vor betheiligt zu bleiben, auch ehe ich das neue Heft durchgesehen habe; leider aber muss ichs zunächst offen lassen, wie bald ich diese sÿmpathische Zugehörigkeit beitragend zu beweisen vermöchte. Noch hab ich die eindringliche Erstarrung der Kriegsjahre in mir nicht überwunden, - ein paar Sommermonate im Bündner'schen waren ein Anfang dazu. Von den äußeren Umständen, die mich nächstens in einer tessiner Gastfreundschaft erwarten, wird es zu einem Theile abhängen, ob ich den Weg
der Besinnung und Einkehr so still verfolgen darf, wie ich mir's erhoffe. Im herzlichsten Einverständnis, Ihr R M Rilke. P.S.: Briefe über den "Lesezirkel Hottingen", Gemeindestraße Zürich, oder auch über das Hôtel Bellevue, Bern.
56 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 18.11.1919 DER BRENNER Herausgeber Ludwig von Ficker / Innsbruck-Mühlau Nr. 102 18. XI. 1919 Lieber Herr Wittgenstein! Bitte, wollen Sie sich, bis ich Ihnen einen bindenden Bescheid geben kann, noch ein bischen gedulden! Ich habe mich für den Fall, daß wir das Buch in unserem Verlag nicht bringen könnten (da wir uns über die Diskrepanz zwischen Herstellungskosten und Absatzmöglichkeit momentan, wo unser Unternehmen noch nach allen Seiten der Stütze und der Sicherung bedarf, kaum hinaussehen) - ich habe mich mit Rilke in Verbindung gesetzt und ihn, der da vielleicht Bescheid weiß, um Rat und Auskunft gebeten, wo etwa Ihre Arbeit untergebracht werden könnte, und erwarte nun jeden Tag seinen Bescheid. Ich habe ihm die Gedankenabfolge und den geistigen Charakter Ihres Werkes nach bestem Vermögen kurz skizziert und ihn, auf die Schwierigkeiten, die der Publizierung in einem verlagstechnisch noch so gut wie gar nicht fundierten Unternehmen wie dem Brenner-Verlag, der noch keine laufenden Einnahmen mangels umzusetzender Bücher hat, entgegenstehen, hingewiesen. Ich denke, Rilke wird mir in dieser Sache zuverlässig an die Hand gehen. In jedem Falle bitte ich Sie überzeugt zu sein, daß ich mein Möglichstes tun werde, um die Publizierung Ihrer Arbeit zu fördern. Gegenwärtig ist das Manuskript bei meinem Freund und Mitarbeiter, dem - wie Sie wissen - die letzte Entscheidung über Annahme und Ablehnung von Werken für den Buchverlag zusteht. Er hat nur bedauert, daß Ihre Arbeit eben doch eine spezielle Vertrautheit mit einem gewissen wissenschaftlichen Forschungsgebiet voraussetzt, wodurch sie an sich schon, wie er meint, aus dem Rahmen unserer Publikationsabsichten fällt. Dennoch möchte ich annehmen, daß auch von seiner Seite das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Übrigens möchte ich Sie fragen, ob ich das Manuskript nicht auch einem Philosophieprofessor an der hiesigen Universität zur Einsicht geben dürfte, dem ich kürzlich davon sprach und der sich sehr dafür interessiert. Er ist nämlich mit den Forschungen Russells vertraut und schätzt ihn außerordentlich. Vielleicht könnte auch er mir einen Fingerzeig betreffs der Publikation geben. Für heute also bitte ich Sie noch um ein bischen Geduld und grüße Sie aufs herzlichste als Ihr ergebener Ludwig Ficker
57 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, 22.11.1919 22. 11. 19. Lieber Herr Ficker! Ihr Brief hat mich natürlich nicht angenehm berührt, obwohl ich mir ja Ihre Antwort ungefähr denken konnte. Ja, wo meine Arbeit untergebracht werden kann, das weiß ich selbst nicht! Wenn ich nur selbst schon wo anders untergebracht wäre als auf dieser beschissenen Welt. Von mir aus können Sie das Manuscript dem Philosophieprofessor zeigen (wenn auch eine philosophische Arbeit einem Philosophieprofessor vorzulegen heißt, Perlen ... .) Verstehen wird er übrigens kein Wort. Und jetzt nur noch eine Bitte: Machen Sie's kurz mit mir und schmerzlos. Sagen Sie mir lieber ein rasches Nein als ein gar so langsames; das ist österreichisches Zartgefühl, welches auszuhalten meine Nerven momentan nicht ganz stark genug sind. Ihr ergebener Ludwig Wittgenstein
58 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, [28.11.1919]
ludwig wittgenstein st vejtgasze 17, - win rm 13, = [28. 11. 1919] sejen sye unbesorgt abhandlung erscheint unter allen umstaenden brief folgt inzwischn herzlychn gruss = ficker
59 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 29.11.1919 DER BRENNER Herausgeber Ludwig von Ficker / Innsbruck-Mühlau Nr. 102 29. XI. 1919 Lieber Herr Wittgenstein! Kurz nachdem ich das Telegramm an Sie aufgegeben hatte, erhielt ich den beiliegenden Brief Rainer Maria Rilkes. Er hat die Bestürzung, in die mich Ihre Mitteilung versetzte, einigermaßen gemildert und beschwichtigt. Denn ich sagte mir, wenn Sie schon etwas davon überzeugen kann, daß Ihre Auffassung, als wollte ich Ihnen mit einem österreichischen Nein begegnen, unbegründet sei, dann ist es dieser Brief, aus dem doch wahrlich das Eine hervorgeht, daß mir die Förderung Ihrer Angelegenheit eine Herzenssache ist. Ich muß gestehen, daß ich mich zu Unrecht getroffen fühlte und tief unglücklich war, als ich Ihre Zeilen erhielt und das Unheil zu ermessen begann, das mein vorerst notgedrungen unentschiedener Bescheid - ganz gegen meine Absicht und Erwartung - angestiftet hatte. Ich sah Ihr Herz von Bitternis erfüllt, die auf mich übergriff, und da ich plötzlich spürte, was auf dem Spiele stand, war mein Entschluß gefaßt: Lieber alles Risiko, das meine äußeren Existenzverhältnisse betrifft, auf mich zu nehmen als das Vertrauen zu enttäuschen, das Sie mir entgegenbrachten. Sollte also selbst Rilkes Bemühung nicht das gewünschte Ergebnis zeitigen, so mögen Sie sich darauf verlassen, daß ich alles daran setzen werde (und so viel Einfluß glaube ich mir noch zusprechen zu dürfen, obwohl die Entscheidung darüber nicht mehr von mir allein abhängt), die Publikation Ihrer Arbeit im Rahmen unseres Verlags sicherzustellen. (Bei dieser Gelegenheit möchte ich Sie gleich fragen, ob Sie sich eventuell dazu entschließen könnten, die Dezimal-Numerierung, die das logische Gewicht Ihrer Sätze bezeichnet, für den Buchdruck preiszugeben?) Den Brief Rilkes erbitte ich mir umgehend zurück, damit ich zunächst seiner Anregung folgen und mich diesbezüglich weiter mit ihm ins Einvernehmen setzen kann. Und nun seien Sie für heute in herzlicher Ergebenheit gegrüßt von Ihrem Ludwig Ficker
60 KARL RÖCK AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 2.12.1919 Innsbruck, den 2. Dezember 1919. Geehrter Herr Wittgenstein! Durch Herrn von Ficker zum Leser Ihrer "logisch-philosophischen Abhandlung" erkoren, möge mir nun auch erlaubt sein, Ihnen mein Urteil über dieselbe kundzutun. Ihre Sätze erläuterten mir Manches, vor allem: wie sich in einem mathematischen Gehirne der Begriff von Philosophie zu einer beinah endlosen, doch aber witzig bezifferten Tauto-logik reduzieren könne, zu einer Art Hypnotisiermaschine. Und Ihre Sätze erläuterten mir dies dadurch, dass ich sie, der ich Sie verstehe, als unsinnig erkannte; hoffentlich ganz im Sinne Ihrer Zahl 6.54; wenn auch nicht erst am Ende, sondern schon im Anfang Ihrer Lektüre und trotz Ihres fast verführerischen Vorworts. Ich erkannte den Unsinn Ihrer Sätze gewissermaßen nach den ersten 3 "Worten" und bestätigte mir durch Weiterlesen nur noch, dass Sie in der Tat in den ersten 3 Weis-sagungen 1, 1.1, 1.11 schon alles sagen, was Sie zu sagen wissen. Alles übrige empfand ich dann im Wesentlichen nur noch als bloßes Geräusch, welches Sie wohl deshalb erzeugten, weil Sie brausen, nein rasseln, bzw. russelln gehört haben. (Ich für meine Person hatte bei Ihren Russell-Echo-Geräuschen den akustischen Eindruck, als ob ich niemand anderen als eine tollgewordene Schreibmaschine tippen und klappern hörte, eine Type Underwood, die, sich selbst betippend, sozusagen ihr Selbstbestimmungsrecht geltend macht. Und hiermit werf ich denn, Ihrer Schlussaufforderung gehorchend, die von Ihnen dargebotene logologische Leiter weg, überwinde Ihre Sätze und sehe u. höre nun die Welt wieder richtig. Und zuguterletzt: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Solcherweise das α und Ω Ihrer philosophischen Abhandelung ehrlich und internest beherzigend, zeichne und verbleibe ich als Ihr aufrichtiger
Karl Röck Rechnungsbeamter, im Übrigen längst schon durch Ihresgleichen, mehr aber noch an Ihresgleichen erstickter, seitdem mit Gleichmut sich verewigender Student der Philosophie P. S. Nachträglich befällt mich noch die Befürchtung, dass mein Schreiben Ihnen leicht den Glauben erwecken könnte, Ihre Abhandlung habe mir, der ich sie augenscheinlich mit Verständnis las, auch Vergnügen bereitet. Doch solcher Glaube wäre der Aberglaube. P.S2: Durch die nochmalige Lektüre Ihrer Sätze 6.4 bis 6.54 etwas milder gestimmt, muss ich nun doch noch Folgendes meinem Schreiben hinzufügen: Der Sinn der genannten Sätze ist, wenn man sie als fernhingeworfenen Schatten des Münsterberg'schen Münsterbaus ("Prinzipien der Psychologie", und "Philosophie der Werte", welches gleichsam die Kritiken der reinen und der praktischen Vernunft für unsere Zeit sind), auffasst, immerhin ganz richtig. Ihre diesbezüglichen Sätze wieder lesend, war mir, als begegne ich dem mathematisierten (mithin macerierten) Skelette eines Abortusses der Münsterbergischen Sophia, während diese selbst, wenn auch unerkannt in deutschen Landen, noch blut- und lebensvoll unter uns wandelt. Und schließlich muss ich für Sie nun auch noch hinzufügen, dass ein besonderer Umstand mir eine gewissen Kompetenz, über Ihre Abhandlung zu urteilen verleihen dürfte. Der besteht darin, dass ich selbst bereits seit 3 Jahren den Gedanken einer Begründung der Logik auf die Syntax, bzw. der Syntax auf die Logik im Sinne hege und heuer, vor wenig Monaten, (übrigens ohne von Russell oder andern jemals auch nur ein Wort vernommen zu haben,) eine Bilderschrift, d.h. Begriffszeichenschrift zu erfinden anfieng, mittels welcher ich eben die Syntax durch die Logik und die Logik durch eine bilderschriftlich dargestellte Syntax zu erläutern die Absicht habe. Doch dies ist eine Arbeit, deren Ausführung bei mir noch ihre gute Weile haben mag.
61 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [4.12.1919] Lieber Herr Ficker! Es war sehr schön von Ihnen, daß Sie mir auf meinen Brandbrief mit einem so freundlichen Telegramm geantwortet haben. Freilich, lieber wäre es mir Sie nähmen mein Buch, weil Sie etwas darauf halten als, um mir einen Gefallen zu tun. Und wie kann ich Ihnen mein eigenes Werk anempfehlen? - Ich glaube, es verhält sich damit in allen solchen Fällen so: Ein Buch, auch wenn es ganz und gar ehrlich geschrieben ist, ist immer von einem Standpunkte aus wertlos: denn eigentlich brauchte niemand ein Buch schreiben, weil es auf der Welt ganz andere Dinge zu tun giebt. Andererseits glaube ich sagen zu können: Wenn Sie den Dalago, den Hecker, u.s.w. drucken, dann können Sie auch mein Buch drucken. Und das ist auch alles, was ich zur Rechtfertigung meines Wunsches sagen kann, denn, wenn man mein Buch mit einem absoluten Maßstab mißt, dann weiß Gott wo es zu stehen kommt. Mit vielen Grüßen bin ich Ihr ergebener Ludwig Wittgenstein 4. 12. 19.
62 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [6.12.1919] Lieber Herr Ficker! Kaum hatte ich gestern meine Antwort auf Ihr Telegramm abgeschickt, als Ihr lieber Brief vom 28./11. eintraf. Das Opfer, das Sie mir, wenn alle Stricke reißen, bringen wollen, kann ich natürlich nicht annehmen. Ich könnte es nicht vor mir verantworten, wenn die Existenz eines Menschen (wessen immer) durch die Herausgabe meines Buches in Frage gestellt würde. So ganz verstehe ich es freilich nicht. Denn es haben ja schon oft Menschen Bücher geschrieben, die mit dem allgemeinen Jargon nicht zusammenfielen, und diese Bücher sind verlegt worden und die Verleger sind nicht an ihnen zu Grunde gegangen. (Im Gegenteil.) - Mein Vertrauen täuschen Sie durchaus nicht, denn mein Vertrauen, oder vielmehr, blos meine Hoffnung, bezog sich doch nur darauf, es möchte Ihnen vielleicht Ihr Spürsinn sagen, daß die Abhandlung kein Mist sei - wenn ich mich hierin nicht vielleicht selbst täusche - aber doch nicht darauf, Sie möchten sie, ohne etwas von ihr zu halten, aus Güte gegen mich und gegen Ihr lnteresse annehmen! - Kurz, ich bin Ihnen sehr dankbar, wenn Sie in meiner Sache durch Rilke etwas erreichen können; geht das aber nicht, so lassen wir Gras darüber wachsen. - (Nebenbei bemerkt, müßten die Dezimalnummern meiner Sätze unbedingt mitgedruckt werden, weil sie allein dem Buch Übersichtlichkeit und
Klarheit geben und es ohne diese Numerierung ein unverständlicher Wust wäre.) Und nun leben Sie wohl und machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen. Es wird schon alles in Ordnung kommen. Ihr ergebener Ludwig Wittgenstein 6. 12. 19. à propos: giebt es auch einen Krampus, der die schlimmen Verleger holt?
63 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, 28.12.1919 28. 12. 19. Lieber Herr Ficker! Vorgestern bin ich aus Holland zurückgekommen, wo ich Prof. Russell traf und mit ihm über mein Buch sprach. Falls ich es nicht in Österreich oder Deutschland verlegen kann, so wird Russell es in England drucken lassen (Er will es übersetzen.) Dies würde ich natürlich als die ultima ratio ansehen. Nun steht die Sache aber so: Russell will zu meiner Abhandlung eine Einleitung schreiben und damit habe ich mich einverstanden erklärt. Diese Einleitung soll ungefähr den halben Umfang der Abhandlung selbst haben und die schwierigsten Punkte der Arbeit erläutern. Mit dieser Einleitung nun ist das Buch für einen Verleger ein viel geringeres Risico, oder vielleicht gar keines mehr, da Russells Name sehr bekannt ist und dem Buch einen ganz bestimmten Leserkreis sichert. Damit will ich natürlich nicht sagen, daß es so in die rechten Hände kommt; aber immerhin ist dadurch ein günstiger Zufall weniger ausgeschloßen. Schreiben Sie mir bitte so bald als irgend möglich, was sie von der Sache halten, da ich Russell Bescheid geben muß. Besten Gruß Ihr Ludwig Wittgenstein XIII. St. Veitgasse 17 Wien bei Frau Sjögren
64 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 16.1.[1920] Innsbruck-Mühlau 102, am 16. I. 1919 Lieber Herr Wittgenstein! Ich bin kaum imstande, Ihnen zu schreiben, nicht weil ich gerade Rekonvaleszent nach Grippe und noch ziemlich schwach bin - nein: die Widerwärtigkeiten, die sich mir jetzt überall entgegenstellen, setzen meinen Nerven derart zu, daß ich mir oft keinen Rath mehr weiß und über allem, was mich angeht, die Augen schließen möchte. Noch vor etlichen Wochen glaubte ich Ihnen versprechen zu dürfen, Ihre Arbeit werde unter allen Umständen gedruckt werden. Heute kann davon keine Rede mehr sein. Heute liege ich mit dem Brenner selbst schon unter den Rädern und kann mich, wenn kein Wunder geschieht, nicht mehr erheben. Den Abonnenten habe ich mich auf eine Folge von 10 Heften verpflichtet, und diese Folge muß ich auch sonst unter allen Umständen durchsetzen, denn ich weiß - ja, vorderhand nur ich allein! -, welche Bedeutung ihr im geistigen Schicksal dieser Zeit zufällt. Binnen kurzem wird aber der Herstellungspreis des Heftes bereits das Doppelte - und späterhin vielleicht das Dreifache - des Verkaufspreises betragen, ohne daß ich die Möglichkeit habe, Nachtragsforderungen zu stellen; somit wird jeder neue Abonnent in Oesterreich das Defizit vermehren. Dazu kommt noch, daß die Druckerei gegen die Vereinbarung mir nur noch für zwei Hefte das Papier zur Verfügung hält, da sie es vorzieht, mit dem Rest des Papieres Schiebergeschäfte nach Italien zu machen. So sieht heute die Geschäftswelt aus und meine Situation in ihr als "Verleger". Eigenes Papier zu bekommen, ist bei dem Stillstand der Fabriken wegen Kohlenmangel bei aller Protektion in absehbarer Zeit nicht möglich. Mein Freund Lechner will ja nun unter allen Umständen noch versuchen, den Buchverlag zu retten (da wir doch einige Bücher in Vorbereitung hätten, die auch äußeren Erfolg haben dürften), und zwar auf einer Basis, die mir - noch ehe der bescheidene Rest meines Vermögens ganz aufgezehrt ist - sozusagen eine Anstellung im Verlag sichern würde. Aber die Verhältnisse haben mich schon etwas kopfscheu gemacht und ich überlege, ob es nicht besser wäre, mich gleich um einen anderen Verdienst umzusehen, um eine Anstellung abseits der ganzen Sphäre, in der ich mich geistig zu bewegen gewohnt bin und innerhalb deren ich jener Aufgabe gerecht zu werden versuchte, die mir, wie ich immer unerschütterlicher glaube, von der Vorsehung bestimmt war. Aber die Rücksicht auf Frau und Kinder hat eben, weiß Gott, mehr Gewicht, und keine Sorge wiegt so schwer wie diese. Lieber Herr Wittgenstein, ich weiß, Sie hören diese Dinge nicht gerne: lassen Sie es sich nicht verdrießen! Sie fragten ja selbst, ob es keinen Krampus gibt, der die "schlimmen" Verleger holt. Diesen Krampus gibt es - leider! -,
aber es sind nicht die schlimmsten Verleger - nicht immer! -, die er holt. Was hilft es mir, daß ich Sie nicht überzeugen kann, daß ich Ihnen kleinmütig erscheinen muß? Nichts! Mit oder ohne Russell: die Drucklegung Ihrer Abhandlung ist unter den gegenwärtigen Verhältnissen ein Wagnis, das in Oesterreich heute kein Verleger auf sich nehmen kann. Am wenigsten ich, der ich mir schon mit meiner Zeitschrift keinen Rath mehr weiß. Übrigens, wenn Sie schon die Gelegenheit dazu haben: wie wäre es, wenn Sie Ihre Arbeit im Sinne der Russell'schen Anregung zunächst englisch erscheinen ließen und dann erst - sobald es die Verhältnisse erlauben - im Deutschen? Es grüßt Sie in Ergebenheit Ihr Ludwig Ficker
65 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, 19.1.1920 19. 1. 20. Wien XIII. St. Veitgasse 17 bei Frau Sjögren Lieber Herr Ficker! Bitte sein Sie so, gut mir umgehend mein Manuscript zu schicken, da ich es an Reklam in Leipzig senden muß, der aller Wahrscheinlichkeit nach gewillt sein dürfte, mein Buch zu verlegen. Ich bin neugierig, wieviele Jahre es noch dauern wird, bis es erscheint. Hoffentlich geht es noch vor meinem Tod. Ihr Ludwig Wittgenstein
66 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, 26.1.1920 26. 1. 20. Lieber Herr Ficker! Es ist traurig zu hören, daß es Ihnen mit dem Brenner so schlecht geht. Ich bin davon überzeugt, daß es nicht Kleinmut Ihrerseits ist, daß Sie mein Buch nicht nehmen. Ich schrieb Ihnen vor einigen Tagen und bat Sie um umgehende Rücksendung meines Manuskripts, da ich es an Reklam schicken muß, der die Arbeit wahrscheinlich übernehmen wird. Welche Art von Beruf werden Sie denn ergreifen? Es würde mich freuen, wenn er uns irgendwie wiederum zusammenführte. Benachrichtigen Sie mich bitte davon, was Sie zu tun gedenken. Ihr Ludwig Wittgenstein P.S. Auch ich kämpfe jetzt mit großen Widerwärtigkeiten.
Kommentar 1 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, 14.7.1914 Brief, Kuvert adressiert an: "Herrn / Ludwig von Ficker / Brenner-Verlag / Innsbruck". Von fremder Hand wurde "Innsbruck" durchgestrichen und durch "Mühlau" ersetzt. Hochreit : des öfteren auch Hochreith geschrieben, Bauernanwesen im Mittelgebirge südlich von Wien, das Karl Wittgenstein 1894 erworben hatte. Herr : Ludwig von Ficker: geb. 13.4.1880, München; gest. 20.3.1967, Innsbruck/Mühlau. Ältester Sohn des Rechtshistorikers Julius von Ficker, wächst in München auf. 1896 Übersiedlung nach Innsbruck, wo er erste schriftstellerische Versuche unternimmt. Juristische, germanistische und kunsthistorische Studien in Innsbruck, Berlin, Wien und Rom kamen nicht zum Abschluß. Am 1. Juni 1910 erscheint das erste Heft des Brenner, der, neben seiner umfangreichen Korrespondenz, sein Lebenswerk werden sollte. Carl Dallago war lange Zeit der Hauptmitarbeiter. Schon bald wurde die Zeitschrift zur Stimme der Avantgarde in Österreich. Im Mai 1912 brachte der Brenner erstmals ein Gedicht von Georg Trakl, der von da an in fast jedem Heft der Vorkriegsjahrgänge vertreten war. Kritische und essayistische Beiträge erschienen u.a. von Max von Esterle, Adolf Loos und vor allem von Theodor Haecker, der in seinen Übersetzungen und Interpretationen nachdrücklich auf Sören Kierkegaard hinwies. Nach dem Krieg, an dem Ficker als Kaiserjäger an der Südfront teilnahm, kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen Dallago, Haecker und dem neu hinzugekommenen Ferdinand Ebner um Christentum und Kirche, die schließlich zum Ausscheiden Dallagos führte. Die lyrische Tradition setzten Anton Santer, Friedrich Punt, Josef Leitgeb und die Schriften aus dem Nachlaß von Franz Janowitz fort.
In der Phase der Beruhigung, die etwa 1926 auf die heftigen weltanschaulichen Auseinandersetzungen folgte, gewann der Brenner durch Beiträge von Gertrud von Le Fort, Paula Schlier und Hildegard Jone eine neue Identität innerhalb kirchlich vermittelter Glaubenswahrheit. Mit Paula Schliers Betrachtungen zum Wesen der Kirche und Ignaz Zangerles Analyse ihrer Situation, sowie mit Übersetzungen Haeckers aus dem Werk von Kardinal Newman äußerte sich die Zeitschrift in den dreißiger Jahren als Sprecherin für eine damals noch ungewohnte, dem Laien zugewandte Katholizität. Seit dem Ersten Weltkrieg war die Herausgabe des Brenner und der Betrieb des damit verbundenen Brenner-Verlags durch die prekäre ökonomische Lage Fickers beeinträchtigt. Er mußte den Verlag an den Innsbrucker Universitätsverlag Wagner verkaufen und wurde selbst Angestellter dieser Firma. 1928 verlor er diese Stelle und war dann Korrektor bei den Innsbrucker Nachrichten und beim Deutschen Alpenverlag in Innsbruck. Nach zwölfjähriger durch Krieg und Verbot bedingter Pause erschien der Brenner wieder 1946, 1948 und 1954, jeweils als Jahrbuch. In der letzten Folge gab ihm Ficker mit seinen Erinnerungen an die hervorragendsten Mitarbeiter, sowie an Rainer Maria Rilke und an Ludwig Wittgenstein sein "Abschiedsgesicht". Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieb Ficker bis zu seinem Tod in engsten Kontakt mit der jungen und jüngsten Künstlergeneration, u.a. Paul Celan, Christine Busta, Christine Lavant, Thomas Bernhard und H. C. Artmann. Ludwig Wittgenstein : Geb. 26.4.1889, Wien; gest. 29.4.1951, Cambridge. Achtes Kind von Karl und Leopoldine Wittgenstein. Nach anfänglicher Privaterziehung im Hause Wittgenstein kam Ludwig im Herbst 1903 an die Oberrealschule in Linz, wo er 1906 maturierte. Von 1906-1908 studierte er an Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg und ging dann nach England. Nach aeronautischen Experimenten bei Glossop/Derbyshire war er Research Student an der Universität Manchester. 1912 Immatrikulation im Trinity College in Cambridge und Freundschaft mit Bertrand Russell, George Edward Moore und John Maynard Keynes. Von Ende Oktober 1913 bis Ende Juni 1914 Aufenthalt in Skjolden in Norwegen.
2 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 16.7.1914 Brief, mit vorgedrucktem Briefkopf: "Schriftleitung „Der Brenner“ / Innsbruck-Mühlau".
3 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, 19.7.1914 Brief, Kuvert adressiert an: "Herrn / Ludwig von Ficker / Schriftleitung „Der Brenner“ / Innsbruck-Mühlau". meines Vaters Tod : Karl Wittgenstein: Geb. 8.4.1847, Gohlis bei Leipzig; gest. 20.1.1913, Wien. Großindustrieller. "Schöpfer" der österr. Stahlindustrie, die bis zum Jahre 1879 zum großen Teil aus unrentablen Einzelunternehmungen bestand, die von ihm zusammengefaßt, ausgebaut und rationalisiert wurden. Karl Wittgenstein war auch ein sehr kunstsinniger Mensch. "Wie bereits gesagt, war das Verhältnis Wittgensteins zur bildenden Kunst das des durchaus modernen Menschen. Er kam zur Kunst nicht auf dem Wege über die Kunstgeschichte und nicht durch die Achtung vor staatlich oder akademisch geeichten Autoritäten. Er verstand das Leben und Wirken als einen Kampf, und so war ihm auch in der Kunst nichts sympathischer, als die Auseinandersetzung zwischen künstlerischen Energien. So läßt es sich vielleicht erklären, daß Karl Wittgenstein der vornehmste Mäzen jener jungen Künstlergeneration wurde, die im Jahre 1897 daranging, nach dem Muster der anderen europäischen Kunststädte eine Sezession zu gründen. Als es sich darum handelte, den neuen Kunstbestrebungen ein eigenes Haus zu erbauen und die maßgebenden Faktoren des Stadterweiterungsfonds und der Wiener Gemeinde die Ueberlassung eines Bauplatzes vom Vorhandensein eines entsprechend hohen Garantiefonds abhängig machten, war es Karl Wittgenstein, der mit großzügiger Gebärde fast den größten Teil der nötigen Summe allein zeichnete. Bis dahin hatte er die wenigsten der jungen Künstler persönlich gekannt, und was ihn bewog, ihnen zu helfen, war nichts anderes als die Freude an ihrem Elan und die Erkenntnis ihrer äußerlichen Gedrücktheit. Von dieser Zeit an trat er mit den Künstlern selbst in ein intimeres Verhältnis und wußte sie sowohl in seinem Palais in der Alleegasse wie auch in seinem Blockhaus am Hochreith zu heiter verbrachten Tagen und Abenden zu vereinen, die manchem Teilnehmer dieser fröhlichen Zusammenkünfte unvergeßlich bleiben dürften. [...] Am meisten schätzte er aus diesem Kreis Gustav Klimt, der ein Bildnis seiner Tochter, der Frau Stonborough-Wittgenstein schuf, das zu den anmutigsten des Künstlers gehört, und dem Wittgenstein auch die Treue hielt, als es zu jener von Wittgenstein tief bedauerten Spaltung innerhalb der Sezession kam, die zum Ausscheiden der Klimt-Gruppe führte. Er besaß von Klimt neben den besten Landschaften bezeichnenderweise auch das schöne Bild „Das Leben ein Kampf“. Von auswärtigen Künstlern schätzte er Max Klinger besonders, von dem er auf der Klinger-Ausstellung in der Sezession im Jahre 1900 die berühmte Plastik des Meisters „Kauerndes Mädchen“ erwarb." "Bekannt ist seine Intervention anläßlich des Streites, um die im Auftrage der Regierung von Klimt für das Universitätsgebäude verfertigten großen Gemälde „Medizin“, „Philosophie“ und „Jurisprudenz“. Die Sezessionsbewegung stand damals in ihren ersten Anfängen und hatte in Klimt ihren bedeutendsten Repräsentanten in Oesterreich. Den Professorenkreisen und der Unterrichtsverwaltung erschien die Auffassung Klimts zu naturalistisch, und sie erhoben Bedenken gegen die Widmung der Gemälde für die Universität. Die Anhänger der Sezession entwickelten eine Ieidenschaftliche Agitation für Klimt, und der Streit entbrannte in beiden Lagern sehr heftig. Inmitten dieser Bewegung entschloß sich Wittgenstein zum Ankauf der Gemälde." (Neue Freie Presse, 21. 1.
1913). Im Hause Wittgenstein verkehrten aber auch mehrere Musiker - die Frau des Hauses, Leopoldine Wittgenstein, war selbst eine gute Pianistin - darunter Johannes Brahms, Hanslick, Max Kalbeck, Gustav Mahler, Robert Fuchs, Bruno Walter, Ferdinand Löwe. "Karl Wittgenstein besaß in Wien das Palais in der Alleegasse, dessen Festräume mit erlesenen Kunstwerken und namentlich mit Bildern, welche der modernen Richtung angehören, geschmückt waren und namentlich in früheren Zeiten den Schauplatz hervorragender musikalischer Produktionen bildeten. Joachim [sic] Brahms und Hanslick waren dort häufige Gäste. In Neuwaldegg hatte Wittgenstein eine große Villa mit einem ausgedehnten Garten und Waldbesitz. Noch vor seinem Rücktritt von seinen Stellungen hatte er sich am Hochreith [1894] angekauft. Dieser Besitz ist in Niederösterreich an der Bahn von St. Pölten nach Egyd, unweit von Hohenberg, gelegen und enthält ein enormes Waldterritorium, ein altes Blockhaus, das früher den Wohnsitz bildete und ein daneben von Karl Wittgenstein aufgeführtes schönes Jagdschloß. Er selbst war in jedem Jahre durch viele Monate im Sommer und Winter auf dem Hochreith und lag dort als passionierter Jäger dem Weidwerk ob. Er hat die Kultur außerordentlich gehoben, den Besitz durch Zukauf von Bauerngütern arrondiert, Straßen und Wege gebaut und zur Wohlhabenheit der Bevölkerung beigetragen. Gewöhnlich hatte er seine Wohnung in dem gemütlichen Blockhause, wo er auch die Freunde, die ihn besuchten, empfing. Die Räume dieses Hauses waren einfach, aber geschmackvoll eingerichtet und ein sehr angenehmer, gemütlicher Aufenthalt. Im Sommer öffnete dann das Schloß seine Tore. Dann zogen seine Kinder und ihre Angehörigen, zahlreiche Freunde und Bekannte zu ihm, das Schloß war der Schauplatz eines lebhaften Treibens und einer von ihm mit Vorliebe gepflegten großzügigen Gastfreundschaft. Auch dieses Haus ist mit zahlreichen Kunstwerken erfüllt, namentlich hängt dort das bekannte Bild Hohenbergers, die allegorische Darstellung der Huldigung, welche die Freunde Wittgensteins ihrem Haupte darbringen, und das seinerzeit den Anlaß zu einem Aufsehen erregenden Prozesse gebildet hatte, da die auf dem Bilde Dargestellten die Ausstellung des Kunstwerkes in der Sezession verhindern wollten." (Neue Freie Presse, 21. 1. 1913). Zu Karl Wittgenstein vgl.: Nachrufe in der Neuen Freien Presse vom 21. und 22. Jänner 1913; Karl Wittgenstein: Politico-Economic Writings. An onnotated reprint of "Zeitungsartikel und Vorträge", edited by J. C. Nyíri with an introduction by J. C. Nyíri und Brian F. McGuinness, and an Englisch summary by J. Barry Smith. Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins Publishing Company 1984. (Viennese heritage = Wiener Erbe, vol. I.) Kraus in der Fackel : Wahrscheinlich Anspielung auf den Aphorismus über den Brenner in der Fackel, Nr. 368/369, 5.2.1913, S. 32: "Daß die einzige ehrliche Revue Österreichs in Innsbruck erscheint, sollte man, wenn schon nicht in Österreich, so doch in Deutschland wissen, dessen einzige ehrliche Revue gleichfalls in Innsbruck erscheint." Vgl. auch: Ludwig von Ficker: Karl Kraus (B I, Heft 2, 15.6.1910, S. 46-48), Vorlesung Karl Kraus (B II, Heft 16, 15.1.1912, S. 563-569; Nachdruck in der Fackel, Nr. 341/342, 27.1.1912, S. 44-48). Anfang 1913 brachte Ficker im Brenner-Verlag eine Broschüre Studien über Karl Kraus heraus, die neben Fickers Essay Vorlesung über Karl Kraus die ebenfalls im Brenner veröffentlichten Aufsätze von Carl Dallago: Karl Kraus, der Mensch und Karl Borromäus Heinrich: Karl Kraus als Erzieher enhielt. In drei Folgen veranstaltete Ludwig von Ficker in Jg. III, Heft 18 bis Heft 20, 15.6.-15.7.1913, S. 835-852, S. 898-900, S. 934f. eine Rundfrage über Karl Kraus. Vgl. dazu Gerald Stieg: Der Brenner und Die Fackel. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte von Karl Kraus. Salzburg: Otto Müller 1976 (Brenner-Studien 3). - Karl Kraus: Geb. 28.4.1874, Jicin/Böhmen; gest. 12.6.1936, Wien. Schriftsteller, Herausgeber der Fackel (1899-1936). Schon vor dem Ersten Weltkrieg war Wittgenstein ein Bewunderer von Karl Kraus, dessen Schriften er sehr schätzte. Während seines ersten Aufenthaltes in Norwegen von Oktober 1913 bis Juni 1914 ließ er sich Die Fackel nachschicken. (Vgl. Paul Engelmann: Ludwig Wittgenstein. Briefe und Begegnungen. Wien, München: Oldenbourg 1970, S. 102).
4 GEORG TRAKL AN LUDWIG WITTGENSTEIN, [23.7.1914] Brief, undatiert, Briefkopf: "Schriftleitung „Der Brenner“ / Innsbruck-Mühlau". Zur Datierung dieses Briefes gibt es schon eine Reihe von Versuchen: Reinhard Merkel datiert ihn auf "Juli 1914" (Die Zeit, 14.8.1989); Christian Paul Berger auf den Zeitraum "zwischen dem 1. und ca. dem 23.8." (Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv, Nr. 8/1989, S. 68); Sigurd Paul Scheichl legt den Entstehungszeitraum "zwischen dem 28. und dem 30. Juli" fest (Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv, 9/1990, S. 23); Eberhard Sauermann nimmt an, daß der Brief "wahrscheinlich am 30.7.1914 abgefaßt" worden ist (editio 4/1990, S. 222f.) Ich schlage eine andere Datierung vor, muß dazu allerdings etwas weiter ausholen: Als Ficker von Wittgenstein den ersten Brief erhalten hatte, informierte er sich bei seinem Freund Max von Esterle über die Familie Wittgenstein. Esterle antwortete am 21.7: "es war mir gleich klar, daß der Antrag, den Sie erhielten, aufrichtig gemeint war". Zugleich nennt er Dallago und Trakl als besonders unterstützungswürdig. „Schließlich kommt auch, was geistigen Rang und Bedürftigkeit anlangt, niemand von den bild. Künstlern Dall. u. Trakl nahe. Ich schreibe Ihnen dies nur, damit Sie sich in Ihren Plänen bestärkt fühlen u. sie envent. Herrn W. gegenüber vertreten.“ (Bd. 1, Nr. 262, S. 236). Schon am nächsten Tag muß Esterle weitere Post von Ficker erhalten haben, denn am 22.7. schreibt Esterle an Ficker: "Sie können sich denken, wie mich Ihr Brief freut! In dieser Form ist es wirklich Ihr ausschließliches Verdienst, und ich finde es ganz selbstverständlich, dass Sie auch an Ihr Defizit denken - umsomehr, als ja die beiden Anderen durch diesen
geringfügigen Abstrich eine ganz unfühlbare Einbusse erleiden. (Man brauchte ja nur für den Betrag österreichische Reale zu kaufen, um es wettzumachen). Übrigens ist es ja möglich, daß Herr W. auch sonst etwas für den „Brenner“ als solchen tut. Jedenfalls schüttle ich Ihnen voll Freude die Hand wegen der persönlichen Genugtuung, die Sie so reichlich verdient haben und jetzt fühlen müssen. Ich sehe in der ganzen Sache weit mehr, als einen günstigen Zufall. Dallago schreibe ich auf jeden Fall sofort, aber nur ganz im Allgemeinen, dass es sich um eine bedeutende Summe handelt, die im Stande sein könnte, seine Existenz sicher zu stellen. Ich gönne auch ihm diesen Erfolg, den er seiner Familie gegenüber nötig braucht. Trakl sagen sie bitte von mir meinen herzlichen Glückwunsch u. dass ich mich freue, dass er alle überseeischen Pläne jetzt aufgeben kann und seine Freizügigkeit zurückerlangt. Gleichzeitig hoffe ich aber, dass er jetzt erst recht in Innsbruck bleibt. Auf Ihren Weg nach Hohenberg meinen intensivsten Segen. Bleiben Sie um Gotteswillen bei Ihrem Plan Trakl-Dallago! Lassen Sie das Glück nicht atomisieren! Sie haben vollkommen recht in allem! Dallago wird es sicher für unumgänglich halten, mit Ihnen zu sprechen. Kommen Sie also jedenfalls sobald mit W. alles geregelt ist - wenigstens auf kurz - hierher (wenn Sie halbwegs können). Herzliche Grüße Ihnen allen!" (Dieser Brief liegt unveröffentlicht im Brenner-Archiv). Dieses Schreiben belegt, daß Ficker - wahrscheinlich telefonisch - Kontakt mit Wittgenstein aufgenommen und seinen Wien-Besuch fixiert hatte. Außerdem wurde bei diesem Kontakt bereits die Hälfte der Spende verteilt: Trakl, Dallago, „Brenner“. Und Ficker hat wahrscheinlich auch angedeutet, warum Trakl so dringend eine finanzielle Aufmunterung braucht. Trakl wollte, da er offensichtlich nicht einmal mehr in Innsbruck eine Perspektive sah, auswandern. Alle Versuche, eine für ihn angemessene Anstellung zu finden, waren gescheitert. Am 8.6.1914 hatte sich Trakl sogar beim Königlich Niederländischen Kolonialamt nach einer Anstellungsmöglichkeit im Kolonialdienst erkundigt, am 18.6. aber einen ablehnenden Bescheid erhalten. Diese offensichtliche Dringlichkeit muß eine sofortige Anweisung der Spende zur Folge gehabt haben oder zumindest die Abmachung, daß Ficker die Summe für Trakl vorerst vorstrecken sollte. Da Trakls Dankbrief in der Korrespondenz Ficker-Wittgenstein nirgends erwähnt wird, obwohl in der Spendenabwicklung keine Lücke zu erkennen ist, muß angenommen werden, daß die Spendenangelegenheit Trakls als erste und persönlich abgewickelt worden ist. Damit gewinnt auch die Formulierung „gestern“ in Trakls Brief eine ganz präzise Bedeutung. Ficker hat die Überweisung am 22.7. vorgenommen und Trakl hat den Dankbrief am 23.7., möglicherweise sogar mit Ficker zusammen verfaßt und Ficker hat ihn Wittgenstein persönlich überbracht. Vgl. Anton Unterkircher: Der Briefwechsel Ludwig von Fickers mit Ludwig Wittgenstein und was ein Trakl-Brief damit zu tun hat. In: "Ich an Dich". Edition, Rezeption und Kommentierung von Briefen. Hg. von Werner M. Bauer, Johannes John und Wolfgang Wiesmüller. Innsbruck: Institut für deutsche Sprache, Literatur und Literaturkritik, 2001, S. 205-216. Georg Trakl : Geb. 3.2.1886, Salzburg; gest. 3.11.1914, Krakau. Lyriker. Im Herbst 1908 begann Trakl mit dem viersemestrigen Studium der Pharmazie in Wien, das er am 25.7.1910 mit der Sponsion zum Magister der Pharmazie beendete. Nach Beendigung des Präsenzdienstes als Einjährig Freiwilliger bei der k. k. Sanitätsabteilung Nr. 2 in Wien, einer kurzzeitigen Beschäftigung in einer Apotheke in Salzburg, trat Trakl einen sechsmonatigen Probedienst als k. u. k. Medikamentenbeamter im Garnisonsspital Nr. 10 in Innsbruck an. Im Mai 1912 machte er die persönliche Bekanntschaft mit Ludwig von Ficker, von da an erschienen seine Gedichte fast in jedem Heft des Brenner. Trakl hielt sich 1913/14 den größten Teil in Innsbruck bei Ludwig von Ficker und auf der Hohenburg in Igls bei Fickers Bruder Rudolf auf. Im Juli 1913 erschien die Sammlung Gedichte bei Kurt Wolff. Im Juli 1914 wurden die Korrekturarbeiten am zweiten Gedichtband Sebastian im Traum (ebenfalls bei Kurt Wolff) abgeschlossen.
5 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 27.7.1914 Brief, mit vorgedrucktem Briefkopf: "Schriftleitung „Der Brenner“ / Innsbruck-Mühlau". Ihre Gastfreundschaft : Ficker hatte Wittgenstein entgegen seinem Bericht schon am 23./24.7.1914 in Wien besucht. Dies geht aus einem Brief Fickers an Hugo Neugebauer vom 27.7.1914 (Bd. 1, Nr. 263, S. 238) hervor: "[...] ich war Donnerstag und Freitag in Wien, und zwar in einer völlig unerwarteten privaten Angelegenheit, die mir so nahe ging, daß ihrem Eindruck jede andere Besinnung meinerseits erlag und ich schließlich froh war, aus dieser persönlichen Bedrücktheit durch die Spannung, die die alarmierenden Kriegsnachrichten auf mich übertrugen, herausgerissen zu werden." ein Innsbrucker Universitäts-Professor : Alfred Kastil: geb. 12.5.1874, Graz; gest. 20.7.1950, Schönbühel/NÖ. Philosophieprofessor. Habilitierte sich 1902 in Prag bei Anton Matty, einem Schüler Franz Brentanos; von seiner Prager Zeit dürfte auch die Bekanntschaft mit Rilke herrühren. 1909 wurde er a. o. Prof. für Philosophie in Innsbruck, 1912 Ordinarius. Kastil widmete praktisch sein ganzes Lebenswerk der Verteidigung von Brentanos Philosophie. Nach Brentanos Tod 1917 übernahm er gemeinsam mit Oskar Kraus in Prag die Edition des Brentano-Nachlasses. Verließ Innsbruck 1934, offiziell aus gesundheitlichen Gründen, de facto aber aus Protest gegen das Anwachsen des NS-Einflusses an der Universität Innsbruck. Über Vermittlung von Kastil publizierte Ficker 1919 im ersten Nachkriegs-Brenner den Sonnengesang des heiligen Franziskus (in freier Übertragung des
Franz Brentano, B VI, Heft 1, S. 5f.). Vgl. die Postkarte Kastils an Ficker vom 11.8.1919, wo dieser die Zustimmung von Frau Brentano für die Publikation im Brenner übermittelt. Kastil war auch in den Skandal um die Kraus-Lesung vom 4.2.1920 verwickelt. An der Universität Innsbruck ist der "Fall Kastil" aktenkundig geworden, da sich der Ordinarius für Philosophie im Verlauf der Vorlesung durch demonstrativen Beifall mit Kraus solidarisiert hatte. Wegen dieses Verhaltens wurde er sowohl von der Innsbrucker Studentenschaft als auch von der lokalen Presse scharf angegriffen. Am 12.2.1920 meldete er sich im Allgemeinen Tiroler Anzeiger auch öffentlich zu Wort: "Es ist mir nicht eingefallen, Karl Kraus einen „großen Gelehrten“ zu nennen, wohl aber trat ich für ihn als Künstler, Ethiker und Menschen ein, fand seine lauteren Absichten schwer mißverstanden und verurteilte die terroristische Methode, in der sich der Widerspruch gegen ihn geäußert hat, als durchaus unpassend, unstudentisch und dem Geist unserer Stadt höchst gefährlich." (Vgl. Gerhard Oberkofler: Der "Fall Kastil". Akademischer Antisemitismus und die Innsbrucker Krausvorlesungen. In: Kraus Hefte, Heft 21, Januar 1982, S. 2-6) Rilke : Rainer Maria Rilke: geb. 4.12.1875, Prag; gest. 29.12.1926, Val-Mont bei Montreux. Rilke verließ am 19. Juli 1914 Paris, besuchte vom 23.7. bis 1.8. seinen Verleger Kippenberg in Leipzig und reiste am 1.8. nach München. Wolfgang Leppmann schreibt in seiner Rilke-Biographie (Rilke. Sein Leben, seine Welt, sein Werk. 3. Aufl. Bern, München 1982), S. 350: "Während einer hektischen, aber nur nach Tagen bemessenen Phase der Begeisterung stimmt auch er in den Jubel ein, mit dem das Ereignis in ganz Europa begrüßt wird. In der ersten Kriegswoche entstehen die Fünf Gesänge / August 1914 [...]." S. 352: "Rilke hingegen bringt es fertig, fünf Gesänge zu schreiben, in denen das Deutsche nicht verherrlicht und das Fremde nicht angefeindet, wohl aber der Krieg als elementare, mythische Macht gefeiert wird, die die Menschen aus dem gleichgültigen Alltag emporreißt [...] und - dies dürfte für ihn den Ausschlag gegeben haben - den Einzelnen aus seiner Vereinsamung erlöst." Rilke wurde erst Ende 1915 gemustert und rückte am 4.1.1916 beim Landwehrschützenregiment Nr. 1 in Wien ein, wo er zuerst die Ausbildung mitmachen mußte, dann aber auf Intervention seiner Freunde im Kriegsarchiv beschäftigt wurde. Anfang Juni 1916 wurde er vom Heeresdienst wieder entlassen. Zeilen Dallagos : Dallago dürfte sich in dem verschollenen Brief für die ihm zugedachte Spende von 20.000 Kronen bedankt haben. Am 30.7. nimmt Dallago in einem Brief an Ficker noch einmal auf die Spende Bezug: "Nochmals von Herzen Dank für die Überweisung der K 20000.- (Zwanzigtausend Kronen), die ich also dankbarst annehme. Das Bestimmende hierfür ist mir, daß wenigstens ein Teilbetrag auch Dir verblieb als einigermaßen Vergütung für die Führung u. Unkosten des Brenners. Gerade über diesen Punkt wollte ich mit Dir reden, denn ich kann schließlich auch schaffen, ohne daß ich Geld habe; aber der Brenner kann ohne Geld nicht geführt werden. Außerdem ist meine Lage so, daß ich wirklich froh bin zu etwas zu kommen; freilich so hoch hätte der Betrag nicht auszufallen brauchen, das hätte ich nie gehofft. [...] Meinen Dank dem Spender des Geldes zu übermitteln, überlasse ich also Dir, Deinen Mitteilungen nach. Daß ich höchst erfreut bin über einen solchen Menschen, daß ich ihm auch meinen innigen Dank u. die besten Wünsche ausdrücken möchte, ist natürlich. Was Du mir über ihn als Menschen noch mitteilst, ist geeignet in mir den Wunsch auszulösen, ich möchte ihm einmal begegnen können. Doch das sei ganz dem Walten des Lebens überlassen!" Vgl. auch die dem Brief beigelegte Quittung vom 30.7.1914. - Carl Dallago: geb. 14.1.1869, Bozen; gest. 18.1.1949, Innsbruck. Philosoph, Schriftsteller. Ficker gründete den Brenner mit und für Carl Dallago, der vor dem Ersten Weltkrieg Hauptmitarbeiter der Zeitschrift war. meiner Zeitschrift : In B XVIII, 1954, S. 237 schreibt Ficker, daß ihm Wittgenstein bei seinem Besuch in Wien "eine Abzweigung von zehntausend Kronen als Zuschuß für den Brenner nahegelegt" habe. Aus Esterles Brief vom 22.7. kann man entnehmen, daß schon vor Fickers Besuch bei Wittgenstein, wahrscheinlich telefonisch oder telegrafisch die Zuteilung dieses Betrags für den Brenner festgelegt wurde.
6 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, 1.8.1914 Brief. Neuwaldeggerstr : In der Neuwaldeggerstraße 38 im XVII Bezirk von Wien besaßen die Wittgensteins eine Sommervilla, die in den Siebzigerjahren abgerissen wurde. Ansonsten hatten sie einen Wohnsitz in der Alleegasse 16 im IV. Bezirk in einem von Karl Wittgenstein adaptierten Stadtpalais, in der Nähe der Karlskirche. Später wurde die Alleegasse in "Argentinierstraße" umbenannt; das Palais Wittgenstein wurde im Zweiten Weltkrieg beschädigt und ist mittlerweile abgerissen. Loos : Adolf Loos: geb. 10.12.1870, Brünn; gest. 23.8.1933, Kalksburg bei Wien. Architekt. Ficker hatte während seines Besuches bei Wittgenstein diesen am Nachmittag des 24.7. im Café Imperial mit Adolf Loos bekannt gemacht.
7 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [14.8.1914] Postkarte, undatiert. zum Militär : Wittgenstein meldete sich als Kriegsfreiwilliger, obwohl er wegen eines doppelseitigen Leistenbruchs vom Militärdienst freigestellt worden war. Am 9. August schrieb er in sein Tagebuch: "Vorgestern bei der Assentierung genommen worden und dem 2ten Festungsartillerie-Regiment in Krakau zugeteilt. Gestern vormittag von Wien ab. Komme heute vormittag in Krakau an." Wittgenstein wurde am 14.8.1914 zur Bedienung eines
Scheinwerfers auf das gekaperte Wachschiff Goplana zugeteilt, das ständig auf der Weichsel, dem Grenzfluß, patrouillierte. Am 21.9. kam es wieder nach Krakau zurück. (Geheime Tagebücher).
8 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 21.8.1914 Brief. Professor Sauer : August Sauer: geb. 12.10.1855, Wiener Neustadt; gest. 17.9.1926, Prag. Seit 1886 Literarhistoriker an der deutschen Universität Prag: Rilke war dort 1895 sein Schüler. In der Folge war Sauer Mäzen und Freund Rilkes und hat ihm öfters Darlehen und "Ehrengaben" vermittelt. Stoessl : Otto Stoessl: geb. 2.5.1875, Wien; gest. 15.9.1936, Wien. Dramatiker, Erzähler, Essayist. 1906-1911 Mitarbeiter der Fackel, 1913 am Brenner (allerdings nur mit 2 Beiträgen: Dem Beitrag zur Rundfrage über Karl Kraus (B IV, Heft 18, 15.6.1913, S. 841 und dem Aufsatz Lebensform und Dichtungsform, B IV, 15.11.1913, S. 179-185). Herrn und Frau D r Schwarzwald : Hermann Schwarzwald (1871-1938), Mathematiker, Jurist, Sektionschef im Handelsministerium; Eugenia Schwarzwald (1873-1940), Pädagogin, Schulreformerin, Begründerin der gleichnamigen Schule in Wien. Das Ehepaar Schwarzwald führte ein großes Haus, in dem u.a. Kraus, Schönberg, Kokoschka und Adolf Loos verkehrten. Kokoschkas Lage : Oskar Kokoschka: geb. 1.3.1886, Pöchlarn/NÖ; gest. 22.2.1980, Montreux. Maler, Dramatiker. Im Brenner nur mit seinem Beitrag zur Rundfrage über Karl Kraus vertreten (B III, Heft 20, 15.7.1913, S. 935). Kokoschka bedankte sich am 6. November 1914 bei Ficker: "Ich kann es mir nicht versagen, trotz Ihrer Ablehnung, Ihnen recht herzlich zu danken: Sie können es kaum erdenken, was diese große Hilfe mir für Befreiung von Sorgen verschafft, was ich seit Jahren mühsam erreichen wollte, und nie möglich wurde, tritt ein. Ich kann arbeiten und meine Kräfte werden nicht im Existenzkampf vergeudet. Kommt jetzt für mich die Einberufung, so werde ich meine Pläne ein gutes Stück vorwärts gebracht haben. Dem braven Mann, den ich nicht kenne, werde ich versuchen, eine Freude zu machen." Vgl. den beigelegten Überweisungsschein von 5.000 Kronen der Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe in Innsbruck, datiert vom 4. November 1914, adressiert an "Herrn Oskar Kokoschka, Maler, Wien 19, Hardtgasse 29" und von diesem am 6.11. gegengezeichnet, womit er den Erhalt bestätigt. Im Februar 1915 Kokoschka war bereits beim Militär - war das Geld schon verbraucht: "Aber wirklich eine dringende Calamität ist, das ich keine Zeit zum Malen habe und also meinen Unterhalt und die mancherlei Zuwendungen, die man als Einjähriger zu leisten genötigt ist nicht verdienen kann. Durch den Betrag, den Sie Ihren Freund für mich aussetzen ließen, ist mir wohl ein Jahr die Sorge um meine Eltern abgenommen, aber ich würde keinen Moment daran denken können, davon zu leben, denn dann würde die Zeit kommen, wo ich nicht mehr aus noch ein wüßte. Einen Teil, der über die für meine Eltern benötigte Summe reichte, habe ich leider nicht aufgehoben, ohne Ahnung daß ich so schnell zum Militär käme und daß ich jetzt in einer solchen hilflosen Lage sein würde. Wenn Sie denken, daß Sie unserem Gönner keine sehr unangenehme Stunde bereiten, in dem Sie nochmals sein Interesse für mich erwecken, hätte ich eine fröhliche Hoffnung aus diesen Strapatzen mit dem Gewinn hervorzugehen, daß ich mich körperlich gekräftigt habe und mit mehr Energie meine alten Ziele wieder verfolgen werde, weil ich dann vielleicht doch einmal meine Energie ein Jahr mit der Sorge um die Herbeischaffung des so dummen und doch so wichtigen Geldes nicht schwächen müßte". (Kokoschka an Ficker, 6.2.1915; Bd. 2, Nr. 361, S. 84f.) Am 21.2.1915 schrieb Kokoschka an Ficker (unveröff., Brenner-Archiv): "Ich erhielt neulich Ihr freundliches [sic] telegraphische Ankündigung, daß Sie mir noch 700 Kr. aus der Stiftung senden könnten. Ich telegraphierte sofort zurück, daß ich sehr glücklich darüber wäre und Loos schrieb Ihnen auf meine Bitte auch, daß Sie mir den Betrag möglichst telegraphisch anweisen lassen möchten, weil ich schon sehr Not habe. [...] Ich werde Alles selbstverständlich und mit Freuden zurückgeben, bis ich wieder zur [sic] meiner Arbeit zurückkehren kann, an die jetzt gar nicht zu denken ist." Möglicherweise hat Ficker diese Summe von den 10.000 Kronen für den Brenner Verlag abgezweigt. Ob die Anweisung tatsächlich erfolgt ist und ob es dann von Kokoschka wieder zurückgegeben wurde, konnte nicht ermittelt werden. Lasker-Schüler: Else Lasker-Schüler: geb. 11.2.1869, Wuppertal-Elberfeld; gest. 22.1.1945, Jerusalem. Lyrikerin, Erzählerin. Ihr Sohn Paul Schüler (1899-1927) war ein begabter Zeichner und schon mit 14 Jahren Mitarbeiter am Simplicissimus. Else Lasker-Schüler war 1909-1911 Mitarbeiterin an der Fackel, 1913-1914 am Brenner. Karl Hauer: geb. 29.10.1875, Gmunden/OÖ; gest. 17.8.1919, Salzburg. Volksschullehrer, Buchhändler, Schriftsteller. Mit Karl Kraus befreundet, 1905-1909 Mitarbeiter an der Fackel. 1913 erwarb er mit Unterstützung von Karl Kraus die Buchhandlung K. Tscheschlog in München, die er kurz darauf wieder verkaufen mußte. Hauer war im Brenner nur mit dem Beitrag zur Rundfrage über Karl Kraus vertreten (B III, Heft. 18, 15.6.1913, S. 845). In B III, Heft 7, 1.1.1913, S. 306-316 war von Ludwig Erik Tesar eine ausführliche Besprechung von Hauers Essayband Von den fröhlichen und unfröhlichen Menschen (Wien: Jahoda & Siegel 1911) erschienen. Offenbar sollte Hauer aber für das Brenner-Jahrbuch 1915 einen Beitrag verfassen. Am 26.1.1915 schrieb Hauer aus Bozen an Ludwig von Ficker: "Ich bringe nichts Rechtes für das Jahrbuch zusammen: der Krieg ist zu gegenwärtig u. nahe, daß man darüber ohne Hemmungen mannigfacher Art schreiben könnte, u. über etwas Anderes zu schreiben, hat jetzt erst recht keinen
Wert." Zur Überweisung der Spende ist nichts näheres bekannt. L.E. Tesar: Ludwig Erik Tesar: geb. 6.7.1879, Brünn; gest. 8.10.1968, Schwaz/Tirol. Mittelschullehrer, Pädagoge, Schriftsteller. 1910-1911 Mitarbeiter an der Fackel, 1912-1914 Mitarbeiter am Brenner. Richard Weiß: Geb. 31.5.1884, Wien; 1938 nach Holland verzogen. Lehrer, Schriftsteller. 1911 Mitarbeiter der Fackel. Trat im Herbst 1912 in brieflichen Kontakt zu Ludwig von Ficker und schickte ihm Gedichte. Im Brenner erschienen von ihm: Vergangener Zug, B III, 1.10.1912, S. 17; Stein und Der gelbe Stein, B III, 15.12.1912, S. 249. Auch Weiß erhielt von Ficker die Aufforderung, einen Beitrag zur Rundfrage über Karl Kraus zu liefern. Er schrieb darüber am 21.6.[1913]: "Ich bemühe mich seit mehreren Wochen, Ihrer Aufforderung nachzukommen, meine Ansicht über Karl Kraus auszusprechen. Das Brennerheft, das ich gestern bekommen habe, enthält nun schon die Antworten auf die Rundfrage und die Sätze, dich ich bis jetzt geschrieben habe, kommen zu spät und es ist wohl recht so. In meinem inneren Leben vollzieht sich eine Wandlung und Neuordnung, die meine Kraft ganz braucht, soweit sie nicht durch langdauernde äußere Kämpfe verzehrt wird, und so bin ich dem Werke Karl Kraus' gegenwärtig entfremdet. Im Lichte meiner neuen Erkenntnis finde ich mich unwissend, über Karl Kraus richtig zu urteilen. Denn ich muß in vielem neu anfangen." Am 12. Juli [1913] schrieb er an Ficker: "ich fahre heute auf unbestimmte Zeit nach England, ich habe hier gegenwärtig keine Stellung. In meinem Leben ist jetzt in vielfacher Weise ein Einschnitt." Damit bricht der Kontakt zu Ficker ab. Ob Weiß die Spende jemals erhalten hat, konnte nicht ermittelt werden. Theodor Haecker: geb. 4.6.1879, Eberbach; gest. 9.4.1945, Usterbach bei Augsburg. Schriftsteller, Übersetzer, Philosoph, Theologe. Seit dem 1. Mai 1914 erschienen im Brenner Haeckers Kierkegaardübertragungen, u.a. Kritik der Gegenwart und Der Pfahl im Fleisch (beide auch broschiert als Einzelpublikationen im Brenner-Verlag). Haecker reagierte auf Fickers Benachrichtigung vom 25.9.1914 (Bd. 2, Nr. 277, S. 19) zunächst ablehnend: "So sehr mich Ihr Anerbieten als Ausdruck Ihrer Schätzung erfreut hat, muß ich es doch ablehnen und zwar aus Gründen, die ich Ihnen sofort darlegen will. Nach nochmaligem Durchlesen Ihres Briefes und nach reiflicher Überlegung bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß es dem Geber darum zu tun war, nicht etwa bloß bedeutende Schriftsteller sondern eben auch bedürftige zu unterstützen. Wiewohl ich z. Zt nicht völlig meinen Ideen leben kann und nicht wie es nötig wäre, um die Bücher zu schreiben, die ich im Kopfe habe, jeden ganzen Tag zur Verfügung habe, so kann es sich bei mir doch unter keinen Umständen um Bedürftigkeit handeln, da ich einen festen Gehalt beziehe und außerdem von dem Verlagsinhaber, mit dem ich durch jahrzehntelange Freundschaft verbunden bin, wohl nie im Stiche gelassen werde. Gerade weil ich die Meinung habe, daß ein würdiger Schriftsteller oder Mensch überhaupt, wenn er bedürftig ist, eine Unterstützung ohne Scham annehmen kann, muß ich sie in meinem Fall, wo die Bedingung eben nicht zutrifft, ablehnen." Ficker antwortete am 11.12.1914: "Zunächst muß ich nachtragen, dass dem Spender jener Ehrengaben es in erster Linie darum zu tun war, das schriftstellerische Verdienst zu ehren, allderdings unter Berücksichtigung und nach Maßgabe der ökonomischen Lage des Einzelnen. (Nur ausgesprochen Wohlhabende sollten außer Betracht fallen). Im Sinne dieser beiden Richtlinien habe ich denn auch meine eingehenden Vorschläge erstattet - und zwar nicht nur schriftlich, sondern auch mündlich, so dass ich über Absicht und Einverständnis des Spenders ebenso zuverlässig orientiert bin wie er über die Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit meines Referats. Wie Sie wissen, war es mir bekannt - ich hatte es ja seinerzeit in München von Ihnen selbst erfahren -, dass Sie eine berufliche Stellung innehaben, durch die Ihre materielle Existenz geschützt und gesichert erscheint. Ich habe daraus in meinem Vorschlag auch kein Hehl gemacht und diesen Umstand bei Bemessung der Höhe des für Sie zu bestimmenden Betrags in Rechnung gezogen. Sie dürfen vor allem die beruhigende Gewißheit haben, dass die Zuwendung an Sie unter gewissenhafter Berücksichtigung aller hiebei in Betracht kommenden Umstände erfolgte, wobei ich noch besonders betonen möchte, dass sie auch nach keiner Richtung eine Schmälerung der gerechten Ansprüche Bedürftiger bedeutet. Denn ich habe z.B. Trakl und Dallago, die in der letzten Zeit ganz mittellos geworden waren, mit entsprechend höheren Beträgen bedenken können. [...] Auch möchte ich nicht vergessen hinzuzufügen, dass durch diese Schenkung es auch ermöglicht wurde, dem Brenner als Unternehmen etwas aufzuhelfen, sodass ich die bisherigen Defizite einigermaßen ausgleichen konnte. Es würde mich nun sehr bedrücken, selbst eine Hilfe angenommen zu haben, während ein Hauptmitarbeiter, dessen selbstlosem Wirken der Brenner so Außerordentliches zu danken hat, es ablehnt, eine Ehrengabe anzunehmen, die zu seinem Verdienst und der Unschätzbarkeit seines Entgegenkommens zwar in keinem Verhältnis steht, aber jedenfalls reinen Herzens und in der würdigsten Absicht dargeboten wird." (Bd. 2, Nr. 335, S. 60f.) Haecker stimmte am 16.12.1914 zu: "Nach Ihren klaren Ausführungen über die Spende von 2.000 Kr. kann ich allerdings kein Hindernis mehr sehen, das der Annahme im Wege stände. Ich nehme sie an und spreche zugleich meinen Dank aus, Ihnen und dem Spender. Was die Überweisung betrifft, nach der Sie mich im ersten Briefe gefragt haben, so halte ich es für das einfachste, wenn Sie den Betrag auf das Postsparkassenkonto in Wien N° 14508 J. F. Schreiber, München einzahlen. Dieser Verlag wird dann mit mir abrechnen. (ein Erlagschein liegt hier bei!)" (Bd. 2, Nr. 341, S. 66f.) Am 1. Jänner 1915 bedankte sich Haecker für den Erhalt des Geldes (Bd. 2, Nr. 349, S. 75). Theodor Däubler: geb. 17.8.1876, Triest; gest. 13.6.1934, St. Blasien/Schwarzwald. Schriftsteller. Unter dem Titel Ein
sybillinisches Buch besprach Hugo Neugebauer Däublers Nordlicht (3 Bde., München, Leipzig: Georg Müller 1910) am 1.12.1910 im Brenner. Ficker stand mit ihm seit 1912 in brieflichem Kontakt und publizierte seit Ende 1912 Däublers Gedichte im Brenner. Däubler schrieb am 27.11.1914 aus Dresden: "Ihr Brief war eine große Überraschung! Vor allem herzlichsten Dank, dass sie an mich gedacht haben. Sie können Sich wol denken, wie nötig ich grade zu Kriegszeiten eine Ermuntrung auch in klingender Gestalt habe. Man weiss ja oft nicht wie ein und aus. Solang der Krieg dauert heissts fristen und fasten. Wer hätte das nicht gern getragen. Immerhin: die 2000 Kronen kommen hereingeschneit: Ein guter Winteranfang! Lieber Herr von Ficker, ich bitte Sie halten Sie vorläufig noch die Summe, ich werde Sie um Weihnachten dann selber abheben, oder sonstwie in Östreich in Empfang nehmen. Zu viel möchte man nicht beim Eintausch verlieren. Schicken Sie mir nur freundl. sogleich 300 Mark. Damit komm ich aus und herunter Ende Jahres. Falls der generöse Spender nicht erreichbar sein sollte oder wollte, so bitte, Herr v. Ficker danken Sie ihm innigst, jetzt oder wann möglich." (Bd. 2, Nr. 328, S. 53) Am 12.12.1914 bedankte sich Däubler für die Zusendung der 300 Mark (Bd. 2, Nr. 337, S. 64) Den Rest wollte sich Däubler nach Weihnachten 1914 in Innsbruck persönlich abholen. Er war aber verhindert und bat Ficker die restliche Summe an Erhard Buschbeck in Salzburg zu schicken (vgl. Brief an Ficker vom 29.12.1914 aus Berchtesgaden, unveröff. Brenner-Archiv). Am 7.1.1915 übernahm Däubler dort Fickers Geldsendung (vgl. Postkarte vom 7.1.1915, unveröff. Brenner-Archiv). Am 8.1.1914 bedankte er sich noch einmal: "Gestern konnte ich Ihnen nur einen kurzen Gruss senden, heute danke ich Ihnen noch einmal für Ihre grosse Güte: Könnte ich nicht irgendwie dem Spender für den Kriegs- und Winterunterstand danken. Demnächst erscheinen Dinge von mir; Sie bekommen sie natürlicherweise sogleich, ich möchte sie aber auch dem ungenannten Herrn sofort nach Erscheinen zukommen lassen." (Bd. 2, Nr. 352, S. 77) Mombert : Alfred Mombert: geb. 6.2.1872, Karlsruhe; gest. 8.4.1942, Winterthur. Lyriker, Dramatiker. Eine Stellungnahme Momberts zu Däubler ist nicht bekannt. Hingegen hat Johannes Schlaf im Zeitgeist vom 17.6.1912 ausführlich über Däubler geschrieben (Nachdruck in B III, Heft 3, 1.11.1912, S. 120-127). Franz Kranewitter: geb. 18.12.1860, Nassereith; gest. 4.1.1938, ebenda. Dramatiker. Sein Drama Michel Gaißmayr war 1899 erschienen, drei Jahre nach Gerhart Hauptmanns Drama Florian Geyer, das im selben Verlag erschien. Fickers Behauptung, Kranewitters Drama sei vor Hauptmanns Florian Geyer entstanden, wird allerdings auch von Karl Schoßleitner unterstützt, der behauptet, die Entstehung reiche bis in die früheste Jugend zurück und vier Akte seien 1895 schon fertig vorgelegen. (Karl Schoßleitner: Michel Gaißmayr in Wien. In: Innsbrucker Nachrichten, 3.6.1914). Kranewitter war damals nicht sehr produktiv und schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Kranewitter hat von der Wittgenstein-Spende einen Betrag von 2.000 Kronen erhalten. Im Nachlaß Ludwig von Fickers findet sich in Fickers Scheckbuch der Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe in Innsbruck ein Abriß, datiert mit 26.IX.1914, der die Überweisung der 2.000 Kronen an Franz Kranewitter belegt. Am 29.12.1914 schrieb Kranewitter an Ficker: "Ich kann die letzten Tage dieses Jahres nicht vorübergehen lassen ohne Dich zum Antritte des neuen auf das wärmste zu beglückwünschen und dem edlen Menschen welcher mir das große Geschenk gestiftet, sowie Dir, der es mir zugewendet nochmals auf das herzlichste zu danken. Aus wie vollem Herzen dieser Dank aber kommt, weiß nur der, welcher Einblick hat in mein Leben und fühlt wie schwer mir dasselbe bis jetzt geworden ist. Jedes Kleinste, was ich erreicht mußte erkämpft und unter harter Not erstritten werden. Daß dabei meine Nerven heruntergekommen sind ist klaar und ich zweifelte oft ob ich noch im Stande sein werde etwas nach meinem Sinn Großes zu wirken. Und nun durch Dich diese Freude, eine Freude, für die ich schon deßhalb umso dankbarer bin, als sie nicht erstritten werden mußte sondern einmals eine solche war, welche wie das Glück plötzlich vom Himmel fällt. Wenn Du dem edlen Stifter dessen Name ich ja - hoffentlicht nicht für immer - nicht kenne einmal schreibst so sage ihm um zu wissen, was er mir getan, hätte er die Thränen sehen müssen, die mir im Freudesturme aus den Augen schossen. Wenn ich das Werk, das ich vorhabe, so vollende, wie ich es plane, war seine Tat des Himmels Segen, der es zur Reife brachte." (Bd. 2, Nr. 348, S. 74) Carl Borromäus Heinrich: geb. 22.7.1884, Hangenham/Bayern; gest. 25.10.1938, Einsiedeln. Romancier, Essayist. 1908-1910 Mitarbeiter an der Fackel, seit Anfang 1913 am Brenner. Heinrich befand sich damals in ständigen Geldschwierigkeiten und hatte bei Ficker 900 Kronen geliehen, die er in einem Brief an Ficker vom 22.7.1914 (unveröff., Brenner-Archiv) bald zurückzugeben versprach. Korrespondenz zwischen Ficker und Heinrich in Sachen der Wittgenstein-Spende hat sich nicht erhalten. Hermann Wagner: geb. 22.4.1880, Tannendorf bei Georgenthal; gest. 7.7.1927, Groß-Schönau/Sachsen. Erzähler. 1911-1913 Mitarbeiter am Brenner, nahm auch an der Rundfrage über Karl Kraus (B III, Heft 18, S. 848f.) teil. Die rote Flamme und andere Novellen waren 1908 bei Georg Müller (München, Leipzig) erschienen. In einem Brief vom 20.10.1914 (unveröff., Brenner-Archiv) erklärte Hermann Wagner ausführlich, warum es ihm aufgrund der Ablehnung seiner Bücher und Feuilletons bis jetzt nicht möglich war, von Ficker offenbar geliehenes Geld zurückzuzahlen (Summe wird keine genannt). Dann bedankte er sich für Fickers "neuesten lieben Brief" (verschollen), in dem ihm dieser von der Wittgenstein-Spende berichtete: "Wie soll ich Ihnen danken? Erlassen Sie mir Worte, ich schäme mich zu sehr! Natürlich wollen wir die Sache in der vorgeschlagenen Art ordnen! Ich atme
geradezu auf, durch Sie selbst von meinen Gewissensbissen befreit zu werden! Wie gut und edel Sie sind! Wie soll ich es Ihnen nur begreiflich machen, daß ich es, trotz allem!, verdiene?! Eine Quittung lege ich bei. Sie ist doch recht so? Und eine große Bitte habe ich an Sie! Der Weg von Innsbruck nach Gross-Schönau ist endlos. Schicken Sie mir das Geld also auf meine Kosten telegraphisch und zwar an meine Adresse nach: Warnsdorf in Böhmen, bahnpostlagernd Postamt 2.": Die beigelegte Quittung hat sich erhalten: "Quittung / über den Betrag von 1000 Kronen (Tausend Kronen), die ich unterfertigter Hermann Wagner in Gross-Schönau in Sachsen von Herrn Ludwig von Ficker in Innsbruck am heutigen Tage baar und richtig ausgezahlt erhalten habe. / Gross-Schönau in Sachsen, / 22. Oktober 1914 / Hermann Wagner". Am 22.10.1914 schrieb Wagner noch einen Brief an Ficker (unveröff., Brenner-Archiv): "Erst gestern fiel mir ein, daß ich dem edlen Spender der tausend Kronen selbst noch gar nicht gedankt habe. Die Nachricht traf mich nämlich so überraschend und sie schien mir nach dem, was ich in den letzten Monaten an Schlimmem und Entäuschungen erfahren habe, so unwirklich, daß es, damit ich mich sammelte, einiger Zeit bedurfte! Und so hole ichs also jetzt nach und bitte Sie, dem gütigen Geber des Geldes, das ich noch nie so nötig gebraucht habe wie gerade jetzt, meinen tiefen Dank zu sagen! Gott möge es Ihm vergelten, viele Male! Meine Depesche, worin ich Sie bat, mir das Geld telegraphisch nach Warnsdorf in Böhmen bahnpostlagernd Postamt 2 zu senden, werden Sie wohl erhalten haben. Ich wiederhole meine Bitte heute nochmals brieflich. Die Situation hier bei mir ist nämlich die, daß ich mich kaum mehr auf die Straße wagen kann, der Gläubiger wegen. Ich bekomme absolut keinen Pfennig Honorar herein, die letzte Sendung, allerdings von 80 Mark, kam vor 5 Wochen von der Jugend, aber sie war, nach Bezahlung des Allerdringendsten, nach 3 Tagen ausgegeben. Seit dieser Zeit leben wir sehr schlimm. Haben Sie also die Güte, mir das Geld, oder doch wenigstens einen Teil, telegraphisch zu senden! Und damit danke ich auch Ihnen nochmals vom ganzen Herzen! Es scheint, daß trotz allem doch ein gutes Schicksal über mir waltet - warum hätte ich sonst gerade in der jetzigen kritischen Situation dieses Geld erhalten?" Hugo Neugebauer: geb. 7.10.1877, Michelsdorf/Böhmen; gest. 18.7.1953, Innsbruck. Beamter, Schriftsteller. 1910-1913 Mitarbeiter am Brenner. Auf Fickers Verständigung vom 17.10.1914 (vgl. Bd. 2, Nr. 287, S. 26) antwortete Neugebauer am 22.10.1914 (Bd. 2, Nr. 290, S. 28): "das Geschenk von tausend Kronen, das ein unbekannter Gönner mir zugedacht, hat mich in große Verlegenheit gesetzt. Ich schwankte lange, ob ich es denn annehmen dürfte, und entschloß mich erst dazu, als Sie mich davon überzeugt hatten, daß ich es nicht ablehnen könnte, ohne den hochherzigen Spender zu kränken. Ich nehme es also an und bestimme den ganzen Betrag für eine Buchausgabe meiner Gedichte, eine Widmung, der Sie lebhaft zugestimmt haben. Da ich jedoch, wie Sie wissen, bei einem Versuche, meine Dichtung „Das Diadem der Melitta“ in Buchform zu veröffentlichen, betrogen wurde, und ich mich nachgerade zu der etwas absonderlichen Ansicht bekehrt habe, daß der Anstoß zu solchen Unternehmungen nicht von den Dichtern, sondern von den Lesern oder Verlegern ausgehen sollte, kann ich den Fall nicht unbedacht lassen, daß es (wenigstens zu meinen Lebzeiten) zu keiner Buchausgabe kommt. Tritt dieser Fall ein, so soll die Gabe des Unbekannten einen rein menschenfreundlichen Zweck erfüllen: sie soll nämlich der Grundstock eines Vermächtnisses sein, dessen Zinsen ich armen Mädchen der Stadtgemeinde P.[Pola in Istrien] als Beitrag zu Ihrer Aussteuer zuwenden möchte." Am 14. Dezember 1914 kündigte Neugebauer in einem Brief Ficker (unveröff., Brenner-Archiv) die Freundschaft auf und wies zugleich die Wittgenstein-Spende zurück: "Noch eines: Das Ehrengeschenk - sonderbares Ehrengeschenk an einen, den man verachtet - das Ehrengeschenk werde ich auf Ihr Einlagenblatt zurücküberschreiben lassen. Sie wissen ja, wie lange ich gezögert habe, es anzunehmen, und daß ich das schließlich nur tat, um den ahnungslosen Geber nicht zu kränken. Es wird Ihnen nicht schwer sein, ihn davon zu überzeugen, daß ich unter solchen Umständen darauf verzichten muß." Zugleich legte er die Briefe Fickers bei und forderte seine eigenen sowie alle Manuskripte zurück. Am 16.12.1914 schickte Neugebauer eine Postkarte an Ficker (unveröff, Brenner-Archiv): "Nachdem ich den Brief aufgegeben hatte, begab ich mich auf die Bank, wo man mir sagte, daß ich bis zum Eintreffen des Papieres (Kriegsanleihe), in dem ich den Betrag angelegt habe, warten müßte. Daher die Verzögerung." Ob die Rücküberweisung tatsächlich erfolgte, konnte nicht nachgewiesen werden. Die Freundschaft ging aber nicht endgültig in die Brüche, denn nach einer einjährigen Pause des brieflichen Kontakts redete Neugebauer Ficker wieder mit "Lieber Freund" an. Jos. Georg Oberkofler: geb. 17.4.1889, St. Johann/Ahrn, Südtirol; gest. 12.11.1962, Innsbruck. Lyriker, Epiker. Besuchte in Innsbruck medizinische, philosophische und theologische Vorlesungen (ohne Abschluß; promovierte aber 1922 zum Dr. jur.) 1911-1913 (und noch einmal 1922) Mitarbeiter am Brenner. Zur Wittgenstein-Spende sind keine Dokumente bekannt. Ein Brief von Oberkofler an Arthur von Wallpach vom 12.5.1914 bestätigt allerdings seine damalige Notlage: obwohl er von Ficker verköstigt wurde, konnte er aus dem spärlichen Erlös seiner schriftstellerischen Arbeiten seit 3 Monaten sein Zimmer nicht bezahlen und bat daher Wallpach um 150 Kronen: „Ich habe Herrn von Ficker nichts gesagt von meiner trostlosen Lage, weil ich sonst so viel Wohltaten genieße und weil er mir schon vor zwei Jahren einmal ausgeholfen hat.“ (Der Brief liegt im Nachlaß Arthur von Wallpachs im
Brenner-Archiv). [1]000 Kronen : Die Zahl ist nicht eindeutig lesbar, doch wenn man die im Brief angeführten Beträge addiert, bleibt ein Rest von 1000 Kronen übrig.
9 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 15.9.1914 Brief.
10 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [22.9.1914] Feldpostkorrespondenzkarte, undatiert, ohne Poststempel. Datierung nach einer Notiz in den Geheimen Tagebüchern vom 22.9.: "Erhielt eine Menge Karten und Briefe u.a. von Ficker und Jolles."
11 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [22.9.1914] Feldpostkorrespondenzkarte, undatiert, ohne Poststempel. Trackl : Aus Trakls Brief Nr. 128 an Maria Trakl (ca. 7.-10.9.1914, HKA I, 620) geht hervor, daß Trakls Einheit nicht sofort zum Einsatz gelangte, wahrscheinlich erst im Zeitraum vom 8.-11. September bei der großen Offensive zur Rückeroberung Lembergs. Kurt Rawski-Conroy ist in diesen Tagen Georg Trakl begegnet (Georg Trakl. Ein Gedenkblatt zum vierzigsten Todestag von einem Kriegskameraden. In: Österreichische Apothekerzeitung 8, 1954, S. 665, Zit. nach. Erinnerung an Georg Trakl, 3. Aufl. Salzburg 1966, S. 201): "Ich sah, wie Trakl mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen an der Bretterwand der Scheune lehnte. Die Kappe war seinen Händen entglitten. Er merkte es nicht und ohne auf Zuspruch zu hören, keuchte er: „Was kann ich tun? Wie soll ich helfen? Es ist unerträglich.“ - An der Uniform hatte ich erkannt, daß es ein engerer Kamerad war, der da in heller Verzweiflung zusammenzubrechen drohte. Ich wollte zu helfen suchen, hatte aber das Empfinden, daß der Bedauernswerte kaum auf meinen Zuspruch achtete, obwohl er seinen Namen murmelte, als ich den meinen nannte. Ich mußte weiter und hatte die beste Absicht, meinem Versprechen gemäß ärztliche Hilfe nach Möglichkeit herbeizuschaffen. Es gelang leider nicht." In der Erinnerung an Georg Trakl (3. Aufl.), S. 200f. hat Ficker die mündlichen Mitteilungen Trakls festgehalten: "In der Schlacht von Grodek, kurz vor der Entscheidung und schon im Rückschlag einer an der Front ausbrechenden Panik, war die Sanitätskolonne, der er angehörte, zum ersten Male eingesetzt worden. In einer Scheune, nahe dem Hauptplatz des Ortes, hatte er ohne ärztliche Assistenz die Betreuung von neunzig Schwerverwundeten zu übernehmen und machtlos, selber hilflos, diese Marter durch zwei Tage ausstehen müssen. Noch habe er das Stöhnen der Gepeinigten im Ohr und ihre Bitten, ihrer Qual ein Ende zu machen. Pötzlich, kaum hörbar in dem Jammer, sei eine schwache Detonation erfolgt: Einer mit einem Blasenschuß hatte sich eine Kugel durch den Kopf gejagt, und unversehens klebten blutige Gehirnpartikel an der Wand. Da hatte er hinaus müssen. Aber so oft er in das Freie trat, immer habe ihn ein anderes Bild des Grauens angezogen und erstarren gemacht. Da standen nämlich auf dem Platz, der wirr belebt und dann wieder wie ausgekehrt schien, Bäume. Eine Gruppe unheimlich regungslos beisammenstehender Bäume, an deren jedem ein Gehenkter baumelte. Ruthenen, justifizierte Ortsansässige. Einer von ihnen, der zuletzt Aufgeknüpfte, hatte sich, wie Trakl erfuhr (oder hat er's noch miterlebt?), die Schlinge selbst um den Hals gelegt. Tief habe er sich den Anblick eingeprägt: der Menschheit ganzer Jammer, hier habe er einen angefaßt! Nie könne er das vergessen, und auch den Rückzug nicht; nichts nämlich sei so schrecklich als ein Rückzug in Verwirrung."
12 AN RAINER MARIA RILKE, 25.9.1914 Brief mit vorgedrucktem Briefkopf: "Schriftleitung „Der Brenner“ / Innsbruck-Mühlau".
13 VON RAINER MARIA RILKE, 30.9.1914 Brief. Original im Wiener Brieffund von 1988, jetzt im Besitz der Österreichischen Nationalbibliothek. München : Nach einem einmonatigen Aufenthalt in Irschenhausen kehrte Rilke nach München zurück und wohnte bis Ende November in der Penison Pfanner in der Finkenstraße. Bedeutung der Hülfe : Anton Kippenberg, der von Rilke über die Spende informiert wurde, schrieb Rilke am 2.10., er wolle die 20.000 Kronen mündelsicher anlegen: "Ich möchte unter allen Umständen, daß diese Summe Ihnen ungeschmälert verbleibt und daß wir nur die Zinsen in die Aktion einbeziehen, die Ihnen nun für eine Reihe von Jahren hinaus alle Freiheit der Arbeit sichern soll." (Zit. nach Ingeborg Schnack: Rainer Maria Rilke. Chronik seines Lebens und seines Werkes. Bd. 1. Frankfurt/M.: Insel 1975, S. 483). Bereits im Juni 1914 hatte Fürstin Mechtilde Lichnowsky einen Aufruf ergehen lassen, man solle Rilke "den Grad materieller Unabhängigkeit, der für ungehemmtes Arbeiten nötig ist", verschaffen. "Dreißig bis vierzig Menschen, die bereit wären, jährlich einen Beitrag nicht unter 100.- Mark zu leisten, würden diese Hilfe schaffen können." (Ebenda, S. 473) Am 6.10. bat Rilke Kippenberg um ein paar tausend Mark zur Begleichung aller seiner Schulden, war aber einverstanden, daß 17.000 Kronen fest angelegt wurden. (Ebenda, S. 483) Bereits Anfang 1915 war die Aktion der Lichnowsky ins Stocken geraten und Rilke griff gegen den Widerstand von Kippenberg das Kapital der Spende an. Anfang November 1915 war die Schenkung bereits zur Gänze aufgebraucht. (Vgl. ebenda, S. 516) 1916 hat Rilke über Vermittlung von Karl Kraus und Adolf Loos noch einmal eine Spende von Wittgenstein erhalten. Karl Kraus erwähnt in einem Brief an
Sidonie Nádherný vom 27./28.10.1916 die schlechte finanzielle Lage Rilkes und eine von Freunden initiierte Sammlung: "Ich habe empfohlen, sich an den hilfsbereiten Mann zu wenden, von dem schon einmal eine größere Gabe gekommen ist." (Karl Kraus: Briefe an Sidonie Náderný von Borutin 1913-1936. Bd. 1. München: Kösel 1974, S. 374). Nähere Auskünfte zur Sammlung für Rilke gibt Kraus in einem Brief an Sidonie Nádherný vom 18./19.11.1916: "Die Sammlung geht weiter, der gewisse Mäzen hat 1000 Kr. zugesagt und ich will den Ertrag des 4. Dez. zwischen E. L. Sch. und R.[ilke] vertheilen (ohne daß er's weiß), aber noch einen Rest einem andern wohlthätigen Zweck geben. Man wird sich also auch betheiligen? Ich will das Geld vor dem 1. Dez. abführen, denn bis dahin soll die Sammlung abgeschlossen sein und das Ergebnis wird durch einen Freiherrn v. Schey via Berlin an R. gesandt, ohne daß er erfahren wird, woher das Geld kommt." (Ebenda, S. 392f.). Daß es sich bei dem Mäzen um Wittgenstein handelt, bestätigt ein Schreiben von Adolf Loos an Ludwig Wittgenstein vom 19.11.1916: "Lieber Herr Wittgenstein, ich danke Ihnen für Ihre Bereitwilligkeit dem guten Rilke in so grosszügiger Weise Hilfe zu bringen. An so viel habe ich nicht gedacht." (Österreichische Nationalbibliothek)
14 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 4.10.1914 Briefkarte mit Briefkopf: "Schriftleitung „Der Brenner“". Wittgenstein hielt sich zu der Zeit gerade in Krakau auf. Wie aus den Geheimen Tagebüchern hervorgeht, versuchte er vergeblich zu arbeiten. In der Nacht vom 6. auf den 7. Oktober war Wittgenstein wieder auf dem Schiff "Goplana" unterwegs. 7.10.1914: "Die Nacht durch nach Rußland gefahren; fast gar nicht geschlafen, Dienst beim Scheinwerfer etc. Wir sollen bald ins Feuer kommen. Der Geist mit mir. [...] Es ist mir eisig kalt - von innen. Ich habe jenes gewisse Gefühl: wenn ich mich nur noch einmal ausschlafen könnte, ehe die Geschichte anfängt. ----! Besseres Befinden. Wenig gearbeitet. Ich verstehe es noch immer nicht meine Pflicht nur zu tun weil es meine Pflicht ist und meinen ganzen Menschen für das geistige Leben zu reservieren. Ich kann in einer Stunde sterben, ich kann in zwei Stunden sterben, ich kann in einem Monat sterben oder erst in ein paar Jahren; ich kann es nicht wissen und nichts dafür oder dagegen tun: So ist dies Leben. Wie muß ich also leben um in jenem Augenblick zu bestehen? Im Guten und Schönen zu leben,bis das Leben von selbst aufhört." Am 28.10. vermerkt Wittgenstein, daß er Nachricht von Ficker erhalten habe. Lasker-Schüler : Fickers Verständigung und Else Lasker-Schülers Dank-Telegramm sind verschollen. Es gibt aber einen Brief von Else Lasker-Schüler an Ludwig von Ficker von [Ende September 1914] (Bd. 2, Nr. 280, S. 22), in dem sie u.a. schreibt: "Gerade war mein Kriegsgedicht beendet darin ich auch sprach vom Landvogt aus Mühlau und Georg Trakl aus Salzburg - ohne Lüge auf Ehrenwort - als Ihr Brief kam der mein Herz beruhigte, das krank danieder lag - auch einsam auf dem Schlachtfeld oder in einem Graben eigentlich schon tausend Jahr. Ich denke nun bei Eurem landvogtlichen, edlen Sinn - Ihr habt die Geschichte erfunden für mich, den Prinzen von Theben, der Kaiser wird im Buch. Wie soll ich Wort finden!!! Wenn Ihr soviel opfern würdet, wie weh täte mir das! Wenn Georg Trakl auch wie ich beschenkt ist, wie würde ich aufatmen - also zweimal. Ich möchte nur nicht, daß der Landvogt etwa sich beteiligt hätte - oder wenn die Geschichte wirklich mit dem Gutsbesitzer bestimmt [...]. Ich denke (wenn ich nehmen soll?) dann Scheck den ich einlöse. Das erfährt niemand und ich leg es fort wo es sicher ist. Im äußersten Fall nehm ich dann davon wenn es nicht anders geht für Aufrechterhaltung." Am 13.10.1914 bestätigte die Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe in Innsbruck Ludwig von Ficker die "beorderte Überweisung an die Deutsche Bank, Berlin, zu Gunsten der Frau Else Lasker-Schüler, Berlin W," in der Höhe von 5.000 Kronen. Am 21. Oktober richtete Else Lasker-Schüler einen weiteren Dankbrief an Ficker (Bd. 2, Nr. 289, S. 27f.): "Nun denke ich, Sie haben selbst einen Gutsbesitzer erfunden und Sie gaben mir das große Geschenk. Ich möcht sagen, ich glaub es mit Bestimmtheit und wie soll ich Ihnen danken, Ihnen? und Ihrer Frau Gemahlin? Sie haben mir ermöglicht eine kleine Wohnung zu mieten darin ich am 1. einzieh, eine kleine Palastwohnung, die Sachen dafür liegen schon lange wo auf einer Kammer. [...] Ich werde nun sehn, daß ich fast das ganze Geld aufbewahren kann. Ich habe es in die Filiale gelegt im Kaufhaus des Westens (der Deutschen Bank.) Ich fühle mich fast verpflichtet Ihnen das alles zu sagen. Ich bin ja ein Vogel und könnte mal stürzen wo von einem Steinbruch in die Tiefe. Auch bin ich traurig und atme nur manchmal auf, daß meinem Paul geholfen ist durch Sie und Ihrer Frau der goldgelben Tulpe [...]".
15 AN RAINER MARIA RILKE, 5.10.1914 Brief mit vorgedrucktem Briefkopf: "Schriftleitung „Der Brenner“ / Innsbruck-Mühlau". "Brigge" : Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. 2 Bde. Leipzig: Insel 1910.
16 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [Oktober? 1914] Feldpostkorrespondenzkarte, undatiert, ohne Poststempel. Recto oben in fremder Handschrift: "[Coelbar] Franz". Zur Datierung: Die Absenderadresse enthält zum ersten Mal den Namen des Wachschiffes "Goplana". In Fickers Briefkarte vom 17.10.1914 wird die von Wittgenstein angeführte Adresse verwendet. Die Karte ist mit Sicherheit zwischen dem 15.8. und 9.12.1914 - dem Zeitraum des Aufenthaltes Wittgesteins auf der "Goplana" - entstanden.
17 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 17.10.1914
Feldpostkorrespondenzkarte, Poststempel: "INNSBRUCK 2, 17.X.14", mit dem Vermerk "ZENSURIERT." gestempelt.
18 VON RAINER MARIA RILKE, 18.10.1914 Brief. Beiliegend die Abschrift der Duineser Elegien. Brief und Abschrift lagen im Wiener Brieffund von 1988; sie sind jetzt im Besitz der Österreichischen Nationalbibliothek. Das Postskript des Rilke-Briefes hat Ficker seinerzeit nicht an Wittgenstein weitergesandt. Es liegt daher heute im Nachlaß Ludwig von Fickers. Die Abschrift besteht aus 5 Doppelblättern und einem Deckblatt. Auf der Vorderseite des Deckblattes oben notierte Rilke: „Aus den Elegieen /“, rechts unten: „(5 Doppelblätter)“. Auf die Rückseite findet sich die Notiz Ludwig Wittgensteins: „Vom Verfasser Rainer Maria Rilke mir zugeeignet Februar 1915 Ludwig Wittgenstein“. Der Reihenfolge nach handelt es sich bei der Abschrift um folgende Elegien: 1. Elegie (vollständig), 2. Elegie (vollständig), 6. Elegie (unvollständig: Vers 33-42 fehlen, sie entstanden erst 1922), 3. Elegie (unvollständig, die letzten 10 Verse fehlen; die Arbeit an der 3. Elegie war aber schon Ende 1913 abgeschlossen), 10. Elegie (ursprüngliche Fassung der 10. Elegie, aber ohne die letzten 9 Verse, 1922 schrieb Rilke diese Elegie ab Vers 13 neu), am Schluß findet sich noch ein Fragment, entstanden im Frühjahr 1913, das aus der endgültigen Fassung der Elegien wieder ausgeschieden worden ist. Zur damaligen Zeit bestanden noch mehrere solcher Fragmente, außerdem die Verse 1-6a und 77-79 der 9. Elegie. Vgl. dazu Materialien zu Rainer Maria Rilkes 'Duineser Elegien'. Bd. 1. Hrsg. von Ulrich Fülleborn und Manfred Engel. Frankfurt: Suhrkamp 1980. Die an Wittgenstein übersandte Abschrift enthält eine ganze Menge von Abweichungen von der Druckfassung der Elegien. Die handschriftliche Abschrift hat einerseits Flüchtigkeitsfehler begünstigt, andererseits enthält sie für die damalige Zeit typische Schreibweisen, etwa die oftmalige Verwendung des stummen h (z.B. Thiere usw.), dann die konsequente Verwendung der ss- und ß-Schreibung nach der Österreichischen Rechtschreibung von 1879 bis 1901/02. Die Zeichensetzung ist inkonsequent gehandhabt: vielfach ergibt sich aber durch Weglassen (Vergessen?) oder Hinzufügen eine Sinnänderung. Auffällig ist, daß Rilke in vielen Fällen auf die Hervorhebung durch Unterstreichung verzichtet, wohl kaum immer vergessen hat. Es gibt aber auch einige bedeutsamere Varianten: 1. Elegie, V 29: "vorübergingst" "vorüberkamst", V 87-88: "[...] wie man der Brüste / der Mutter nicht mehr entbehrt." - "[...] wie man den Brüsten / milde der Mutter entwächst." 2. Elegie, V 2: "tötliche" - "tödliche". 6. Elegie, V 16: "die frühe Hinüberbestimmten" "den frühe Hinüberbestimmten", V 43: "Denn hinstürmte" - "Wie hinstürmte". 10. Elegie, V 5: "jähzornigen" "reißenden".
19 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 26.10.1914 Brief. Krakau : Über seinen Besuch berichtete Ficker in der Erinnerung an Georg Trakl (Salzburg: Otto Müller 1966), S. 197-209 u.a.: "Auf dem Korridor im Erdgeschoß der Psychiatrischen Klinik hielt ich einen Wärter an, der eben vorbeikam, und fragte ihn nach Trakl. Er trat auf die nächstgelegene, eine schwarz gestrichene Tür zu und öffnete ein Guckloch: „Meinen Sie den da?“ - Ich warf einen Blick hinein: „... danke - ja!“ Trakl saß, die Bluse lose zugeknöpft, auf dem Bettrand, rauchte eine Zigarette und schien sich eben ruhig mit einem (mir im Augenblick nicht sichtbaren) Gegenüber zu unterhalten. Die Zelle, schmal und hoch, war von feinem Tabaksrauch wie eingenebelt; aber durch ein hochgelegenes, kreuzweis starkvergittertes Fenster fiel ein voller Strahl der frühen Vormittagssonne, der die Rauchwölkchen wie leichtbewegten Morgennebel goldig durchleuchtete. Plötzlich wandte Trakl, die Zigarette weglegend, kaum merklich den Kopf, sah gespannt zur Tür her, als begegne er meinem Blick. Da hatte ich auch schon geöffnet - und nun geschah es, daß der Freund, der sich erhoben hatte, mich groß anblickend ruhig auf mich zukam und, ohne ein Wort zu sagen, mich in die Arme schloß. Sein Wesen schien in nichts alteriert und durchaus gefaßt. Auf meine Frage, wie er sich befinde, erwiderte er: leidlich. Übrigens sei es ein Zufall, daß ich ihn hier noch träfe. Er sei nämlich schon nahe daran gewesen, das Spital zu verlassen - zugleich nahm er eine Feldpostkarte vom Nachtkästchen und wies sie mir vor: „Sehen Sie, hier hatte ich es Ihnen mitgeteilt!“ Aber er hatte die Karte, (die ich flüchtig überlas und ihm zurückstellte) nicht abgeschickt. Denn eine leichte Angina, die er sich kürzlich zugezogen, habe ihn genötigt, vorläufig noch hier zu bleiben. Doch sei er schon fieberfrei und wieder hergestellt, er müsse sich nur wundern, daß von dem Entschluß, ihn aus dieser Situation zu entlassen, nun bei den Ärzten, wie es scheine, keine Rede mehr sei. Er habe den Eindruck, man wolle ihn mit Ausflüchten hinhalten. Ich suchte seine Bedenken zu zerstreuen. Mir war aber dabei selbst etwas beklommen zumute. Denn aus der Unterredung mit dem Arzt, dem bei der Briefzensur auch einige Gedichte Trakls zu Gesicht gekommen waren, war mir haften geblieben, daß er diesen Fall zum Kapitel „Genie und Wahnsinn“ rechne, womit er anzudeuten schien, daß weitere Vorsicht und Beobachtung geboten sei." (198-200). Am Nachmittag des ersten Tages waren Ficker und Trakl im Spitalsgarten. Dort erzählte Trakl von seinen
Kriegserlebnissen und von seinen Ängsten, wegen seines Selbstmordversuchs vor Gericht gestellt zu werden. Ficker konnte ihn anscheinend nur schwer beruhigen. "Ein Leutnant von den Windischgrätz-Dragonern, der an delirium tremens litt, doch in den nächsten Tagen schon von seinem Vater, einem Gutsbesitzer in der Slovakei, auf Erholungsurlaub nachhause gebracht werden sollte, teilte das Zimmer mit ihm. Die anspruchsvolle Kameradschaft dieses Menschen, doppelt beschwerlich in so engem Raum, von Trakl jedoch mit rührender Geduld und Nachsicht für den Unglücklichen ertragen, seine Wutausbrüche, die von Schlaf zu Schlaf mit Anwandlungen eines in seiner Aufgeräumtheit völlig sinnlos anmutenden Mitteilungsbedürfnisses wechselten, die unflätigen Beschimpfungen, die er in Ermangelung eines eigenen über Trakls Diener, der ihm zur Verfügung stand und ihm nichts recht machen konnte, ausgoß, Beschimpfungen, welche den Burschen einmal, in meiner Gegenwart, so in Harnisch brachten, daß er, am ganzen Leib bebend, gepeinigt aufschrie und auf Trakl weisend die Worte hervorstieß: „Der da ist mein Herr, nicht Sie!“ Worauf Trakl, sich mühsam beherrschend, den rabiaten Kameraden mit den Worten zurechtwies: „Ich bitt' Dich, schau - laß doch den armen Menschen, Du siehst, er tut ja, was er kann!“. Dazu die Unruhe, das stete Kommen und Gehen draußen auf dem Gang, die Roheit der Wärter, gelegentliches Gepolter und Geschrei der Irren im oberen Stockwerk, im übrigen der Eindruck einer Gefängniszelle, der sich bei einbrechender Dunkelheit ins Trostlose verdichtete. Und schließlich, sobald es Nacht geworden war: die Ausgesetztheit aller demütigen Kreatur in dieser Welt der sinnlosen Gewalt zu unvergeßlichem Eindruck gesteigert, wenn Trakls Diener, ein blasser, kränklich aussehender Mensch, Zeltblatt und Decke über ein Häuflein Holzwolle auf dem Boden ausbreitete, um in dem Winkel zwischen Fensterwand und Eisenbett zu Häupten seines Herrn sich schlafen zu legen: Dies also war das Milieu, in welchem meine letzte Begegnung mit dem Freunde stattfand." (203f.). Am Nachmittag des nächsten Tages, so erzählt Ficker weiter, las ihm Trakl die Gedichte Klage und Grodek vor. Neben sich auf dem Nachtkästchen hatte er die Reclamausgabe der Gedichte von Johann Christian Günther liegen, die er gerade zu lesen begonnen hatte und aus der er Ficker mehrere Stellen vorlas (205-207). Auf Fickers Frage, ob er noch immer Drogen besitze, antwortete er: " „No freilich, als Apotheker, ich bitt' Sie“, gab er fast aufgeräumt und gutmütig lächelnd zur Antwort: „wär ich denn sonst noch am Leben? ... Nur erfahren, versteht sich, darf's hier niemand - sonst, da käm' ich schön an!“ - Bald darauf steckte der Arzt den Kopf zur Tür herein: „Geht's gut?“ Es war die Abendvisite. Ich folgte ihm auf den Gang und beschwor ihn nochmals, für die baldige Entlassung Trakls und die Erwirkung eines Erholungsurlaubs besorgt zu sein, was er, da er es eilig hatte, leichthin, doch immerhin ganz herzlich versprach. Ich kehrte mit dieser günstigen Botschaft zu Trakl zurück. Der aber, seufzend und in sich gekehrt, wollte von Ärzten und ihren Sprüchen nicht mehr viel wissen. Und als dann sein Diener das Essen holen ging - es war inzwischen dunkel geworden -, hielt ich den Augenblick für gekommen, mich von dem Freund zu verabschieden. Ich trat an sein Bett, nahm mich zusammen und versprach, auch noch in Wien, auf der Rückreise, alles aufzubieten, damit seine Entlassung aus dem Spital auch von dort aus betrieben und beschleunigt werde; dann würden wir uns in Innsbruck ja bald wiedertreffen. „Glauben Sie?“, sagte er fremd und leise. „Ich - hoffe es“, erwiderte ich, momentan bestürzt. Trakl drückte mir kurz die Hand, dankte für den Besuch und bat, die Freunde zu grüßen. Dann legte er sich zurück, wie einer, der vor dem Einschlafen noch eine Weile in das Dunkel sinnen will, und zog die Decke an sich hoch. Kaum konnte ich sein Gesicht noch ausnehmen, so finster war es schon im Raum, als ich mich an der Tür umwandte. Ich nickte ihm noch einmal zu, unwillkürlich nochmals ein paar Schritte näher tretend, und - „Leben Sie wohl, lieber Freund! Auf baldiges Wiedersehen!“ sagte ich wie im Traum. Trakl lag regungslos, entgegnete kein Wort. Sah mich nur an. Sah mir noch nach... Nie werde ich diesen Blick vergessen." (208f.). Leutnant Molé : Mit größter Wahrscheinlichkeit handelt es sich um Rudolf Molè. Vgl. Walter Methlagl: Leutnant Molè. In: Pannonia 5/1990/91, in dem dieser Leutnant irrtümlich als Vojeslav Molé identifiziert wurde. In den Geheimen Tagebüchern Wittgensteins wird er öfters erwähnt: 21.8.1914: "Der Leutnant und ich haben schon oft über alles Mögliche gesprochen; ein sehr netter Mensch. Er kann mit den größten Halunken umgehen und freundlich sein, ohne sich etwas zu vergeben." 15.9.1914: "Am besten kann ich jetzt arbeiten während ich Kartoffeln schäle. Melde mich immer freiwillig dazu. Es ist für mich dasselbe was das Linsenschleifen für Spinoza war. Mit dem Leutnant stehe ich viel kühler als früher." 21.9.1914: "Abends erhielt ich die niederschlagende Nachricht daß der Leutnant der unser Kommandant war transferiert worden ist. Diese Nachricht hat mich tief deprimiert."
20 VON RUDOLF MOLÉ, 26.10.1914 Brief. Szczucin : Ort an der Weichsel östlich von Krakau. Szybínski : Nicht ermittelt.
21 GEORG TRAKL AN LUDWIG WITTGENSTEIN, [wahrsch. 26.10.1914] Feldpostkorrespondenzkarte, undatiert ohne Poststempel mit den übereinandergestempelten Vermerken: "ZENSURIERT" und "MILITÄR-AMTLICH / censuriert". Zur Datierung siehe die Geheimen Tagebücher, 30.10.1914: "(Abends) Erhielt soeben liebe Post. Eine sehr liebe Karte von Frege! Eine von Trakl und Ficker! Mama, Klara, Frau Klingenberg. Dies hat mich sehr gefreut. Sehr viel gearbeitet. ---" Da Wittgenstein Fickers und Trakls Schreiben zur gleichen Zeit erhalten hat, ist anzunehmen, daß auch Trakl seine Karte während Fickers Besuch oder unmittelbar nach Fickers Abschied, also wohl am 26.10. verfaßt hat. Vgl. Eberhard Sauermann: Die Chronologie der Briefe Georg Trakls. In: editio 4, 1990, S. 223f. Vgl. auch Wittgensteins Tagebucheintragung vom 1.11.1914: "Vormittag weiter gegen Krakau. Während des Wachdienstes heute nacht gearbeitet, auch heute sehr viel und noch immer erfolglos. Bin aber nicht mutlos weil ich das Hauptproblem immer im Auge habe. ---. Trakl liegt im Garnisonsspital in Krakau und bittet mich ihn zu besuchen. Wie gerne möchte ich ihn kennenlernen! Hoffentlich treffe ich ihn wenn ich nach Krakau komme! Vielleicht wäre es mir eine große Stärkung. --- ."
22 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [wahrsch. 28.10.1914] Feldpostkorrespondenzkarte, undatiert, ohne Poststempel. Datierung nach einer Eintragung in den Geheimen Tagebüchern vom 28.10.1914: "Erhielt heute viel Post [...]. Auch von Ficker und Jolles liebe Nachricht." Ihre liebe Karte: Die Karte Fickers vom 17.10.1914 und den Brief vom 4.10.1914 mit dem beiliegenden Brief Rilkes vom 25.9.1914. Zu Wittgensteins Situation vgl. seine Eintragungen in die Geheimen Tagebücher: 24.10.1914: "Schlecht geschlafen. (Zu wenig Bewegung!). Unser Kommandant ist sehr mäßig, hochmütig unfreundlich und behandelt jeden als seinen Diener. Nachmittag nach Tarnobrzeg wo wir diese Nacht bleiben. Sehr viel gearbeitet zwar noch ohne Erfolg aber mit viel Zuversicht. Ich belagere jetzt mein Problem. --- ." 25.10.1914: "Früh nach Sandomierz. Gestern abends kam uns die unsinnige Nachricht zu Paris sei gefallen. Auch ich war übrigens zuerst erfreut bis ich die Unmöglichkeit der Nachricht einsah. Solche unmöglichen Nachrichten sind immer ein sehr schlechtes Zeichen. Wenn wirklich etwas für uns Günstiges vorfällt dann wird das berichtet und niemand verfällt auf solche Absurditäten. Fühle darum heute mehr als je die furchtbare Traurigkeit unserer - der deutschen Rasse - Lage!! Denn daß wir gegen England nicht aufkommen können scheint mir so gut wie gewiß: Die Engländer - die beste Rasse der Welt - können nicht verlieren! Wir aber können verlieren und werden verlieren, wenn nicht in diesem Jahr so im nächsten! Der Gedanke daß unsere Rasse geschlagen werden soll deprimiert mich furchtbar denn ich bin ganz und gar deutsch! Werden plötzlich durch Gewehrfeuer von den Russen Gott mit mir! --- Es war nichts als ein russischer Aeroplan. --- --- Sehr viel gearbeitet. Stehen die Nacht über in Tarnobrzeg und fahren morgen früh gegen Szczucin. Gegen Mittag wich meine Depression."
23 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [wahrsch. 30.10.1914] Feldpostkorrespondenzkarte, undatiert, ohne Poststempel.
24 AN RAINER MARIA RILKE, 3.11.1914 Brief mit Briefkopf: "Schriftleitung „Der Brenner“ / Innsbruck-Mühlau".
25 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [6.11.1914] Feldpostkorrespondenzkarte, undatiert, eingeschrieben ("Krakau 1 / N° 4412") und mit dem Vermerk "ZENSURIERT" versehen. Der Originalpoststempel ist unlesbar, der Poststempel des Einlauftages in Mühlau datiert mit "9.XI.14". die Nachricht vom Tode Trakls : Vgl. Eintragung in die Geheimen Tagebücher vom 5.11.1914: "Früh weiter nach Krakau wo wir spät abends ankommen sollen. Bin sehr gespannt ob ich Trakl treffen werde. Ich hoffe es sehr. Ich vermisse sehr einen Menschen mit dem ich mich ein wenig ausreden kann. Es wird auch ohne einen solchen gehen müssen. Aber es würde mich sehr stärken. Den ganzen Tag etwas müde und zur Depression geneigt. Nicht sehr viel gearbeitet. In Krakau. Es ist schon zu spät Trakl heute noch zu besuchen. --- . Möge der Geist mir Kraft geben. --- " 6.11.1914: "Früh in die Stadt zum Garnisonsspital. Erfuhr dort daß Trakl vor wenigen Tagen gestorben ist. Dies traf mich sehr stark. Wie traurig, wie traurig!!! Ich schrieb darüber sofort an Ficker. Besorgungen gemacht und dann gegen 6 Uhr aufs Schiff gekommen. Nicht gearbeitet. Der arme Trakl! ---! Dein Wille geschehe. --- "
26 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 9.11.1914 Feldpostkorrespondenzkarte, Poststempel: "INNSBRUCK 2, 9.XI.14", mit dem Vermerk "ZENSURIERT." gestempelt.
27 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, 16.11.1914 Brief. für Ihre Karte : Vgl. Tagebucheintragung vom 16.11.1914: "Es wird Winter. - Gestern erhielt ich von Ficker eine
freundliche Karte. Es ist dann die Rede daß die Schiffsmannschaft von hier wegkommt da die Schiffe über Winter nicht zu verwenden sind. Was wird dann mit mir werden?? Wir hören starken Geschützdonner von den Werken. Nicht viel gearbeitet. Abends in der Stadt. Wieder keine Klarheit des Sehens obwohl ich ganz offenbar vor der Lösung der tiefsten Fragen stehe daß ich mir fast die Nase daran stoße!!! Mein Geist ist eben jetzt dafür einfach blind! Ich fühle, daß ich an dem Tor daran stehe kann es aber nicht klar genug sehen um es öffnen zu können. Dies ist ein ungemein merkwürdiger Zustand den ich noch nie so klar empfunden habe als jetzt. --- ! --- !"
28 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [28.11.1914] Feldpostkorrespondenzkarte, undatiert, Poststempel: "K.u.K. FELDPOS[T] 186". Zusendung der Gedichte Trakls : Am 24.11. schrieb Wittgenstein im Geheimen Tagebuch: "Ficker sandte mir heute Gedichte des armen Trakl die ich für genial halte ohne sie zu verstehen. Sie taten mir wohl. Gott mit mir!" Es handelte sich um Sonderdrucke des Helian ( ) und des Kaspar Hauser Lieds ( ). Wittgenstein war in diesen Tagen dabei, seine Versetzung zu betreiben, wollte sogar in die Ballonabteilung versetzt werden (Tagebuchnotiz vom 20.11.1914).
29 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [Mitte Dezember 1914] Felpostkorrespondenzkarte, undatiert, mit einem Stempel der Werkstätte: "K. U. K. ART. AUTODETACHEMENT", weiters mit dem Zensurvermerk "Überprüft!" versehen. abkommandiert worden : Wittgenstein begann am 10.12.1914 seine Arbeit in der Kanzlei der Artillerie-Werkstätte in Krakau.
30 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 29.12.1914 Brief. Albert Ehrenstein : Geb. 23.12.1886, Wien; gest. 8.4.1950, New York. Lyriker, Erzähler. Von 1910-1911 Mitarbeiter der Fackel, 1913-1914 am Brenner (mit Gedichten und einem Beitrag zur Rundfrage über Karl Kraus, B III, Heft 18, 15.6.1913, S. 846). Als sich Albert Ehrenstein bei Ficker am 23.11.1914 über die näheren Umstände von Trakls Tod erkundigte, muß Ficker ihm von der Spende berichtet und Ehrenstein einen Betrag angeboten haben (Fickers Briefe an Ehrenstein sind verschollen). Denn Ehrenstein schrieb Ficker am 29.11. u.a. (Bd. 2, Nr. 331, S. 54f.): "Es tut mir unsäglich leid, daß nicht auch Trakl durch jenen Mäzen vor dem bürgerlichen Leben zu schützen war. Ich danke Ihnen vielmals, daß Sie ihm meinen Namen nannten, seine Zusendung schützt mich vielleicht ein halbes Jahr lang vor öder journalistischer Arbeit. Und diese Sicherung war seit Kriegsausbruch, da mich mein Verleger im Stiche ließ, mein einziger Wunsch. Nun weiß ich sehr wohl, daß ich weder Ihnen noch dem unverhofften Schutzengel danken kann. Ich weiß nicht, ob er meine Novellen alle kennt - ich möchte ihm aber, wenn Sie so gütig sein wollen die Zusendung zu übernehmen, diese 2 Bände und mein einziges Exemplar des noch nicht erschienenen Versbandes „Die weiße Zeit“ mit einer Widmung schicken. Ein neues Exemplar vermag ich nicht zu beschaffen, da ich mit meinem Verleger nicht mehr so stehe, aber vielleicht ist einem im Felde Stehenden auch mein Handexemplar nicht ganz unerwünscht?" Eine von Ficker veranlaßte Zusendung der von Ehrenstein angesprochenen Bände Tubutsch (Wien, Leipzig: Jahoda und Siegel 1911), Der Selbstmord eines Katers (München: Georg Müller 1912, Die weiße Zeit (München: Georg Müller 1914) kann nicht nachgewiesen werden. Im März 1917 langte hingegen eine Büchersendung samt Begleitbrief (verschollen) von Ehrenstein aus Zürich bei Leopoldine Wittgenstein ein, adressiert an Ludwig Wittgenstein, die neben Tubutsch die 1916 bei Kurt Wolff erschienenen Bände Nicht da nicht dort und Der Mensch schreit enthielt. Leopoldine Wittgenstein sandte die Bücher einzeln an Ludwig Wittgenstein ab (vgl. Leopoldine Wittgenstein an Ludwig Wittgenstein, 17. und 26.3.1917). Am 31. März 1917 schrieb Wittgenstein darüber an Paul Engelmann (Briefe, Nr. 80, S. 77): "Ich erhielt heute aus Zürich zwei Bücher jenes Albert Ehrenstein, der seinerzeit in Die Fackel schrieb (Ich habe ihn einmal ohne es eigentlich zu wollen unterstützt) und zum Dank schickt er mir jetzt den Tubutsch und Der Mensch schreit. Ein Hundedreck; wenn ich mich nicht irre. Und so etwas bekomme ich hier heraus! Bitte schicken Sie mir - als Gegengift - Goethes Gedichte, zweiter Band, wo die venetianischen Epigramme, die Elegien und Episteln stehen! Und auch noch die Gedichte von Mörike (Reclam)!" Das dritte Buch von Ehrenstein hatte Wittgenstein offentbar noch nicht erhalten. Aus den im Brenner-Archiv liegenden Gegenbriefen Paul Engelmanns geht nicht hervor, wie Ehrenstein zu Wittgensteins Namen gelangt ist. Engelmann ging in seinem Antwortschreiben vom 4.4.1917 nur kurz auf Ehrenstein ein: "Ihre Meinung über den „Dichter“ Ehrenstein teile ich ganz, er ist aber ein äußerst anständiger Mensch, und ich habe schon vor zwei Jahren meine Meinung über ihn in den Schüttelvers zusammengefaßt: Sehr gerne hab' ich Ehrensteinen, / Nur seine Werke steeren einen." Loos : Vgl. Ehrenstein an Ficker, 29.11.1914 (Bd. 2, Nr. 331, S. 54f.): "Falls Ihnen noch ein größerer Betrag zur Verfügung steht, so erlaube ich mir Ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß es Loos - wie den meisten Architekten - höchstwahrscheinlich nicht sehr gut geht. Ich bitte Sie aber selbstverständlich meiner, wenn Sie bei ihm anklopfen, nicht Erwähnung zu tun." Ficker bat Ehrenstein daraufhin offenbar um nähere Auskünfte. Am 13.12. berichtete Ehrenstein (Bd. 2, Nr. 338, S. 64): "Sehr geehrter Herr von Ficker, in der Loosangelegenheit besprach ich
mich mit Kokoschka, und der meint, Sie könnten Loos ganz ruhig 2000 K. anbieten, umsomehr als Loos in letzter Zeit leider genötigt war, weit geringere Beträge in Anspruch zu nehmen." Am 19.12.1914 bedankte sich Loos bei Ficker (Bd. 2, Nr. 343, S. 69): "Ihr liebes Schreiben hat mich wirklich tief gerührt und dankbar nehme ich die Spende bei diesen verfluchten Zeiten an, immer daran denkend, dass sich einmal alles ändern muss und ich in der Lage sein werde, diese Summe einmal wieder der ursprünglichen Bestimmung zurückzugeben." Am 2.1.1915 bestätigte Loos auf einer Postkarte den Erhalt des Geldes. Schwester : Margarethe Langen-Trakl: Geb. 8.8.1892, Salzburg; gest. 21.9.1917, Berlin. Am 19.11.1914 schrieb ihr Mann Arthur Langen an Ficker (Bd. 2, Nr. 322, S. 48f.): "Sehr geehrter Herr, empfangen Sie besten Dank für Ihre ausführlichen Mitteilungen vom 13. d. Mts. über die letzten Stunden Georgs, sowie über seine letztwillige Verfügung zugunsten seiner Schwester. Die augenblickliche Notlage zwingt sie, sofort über das Legat zu verfügen, um so mehr, als sie ehestens nach Hause zu reisen wünscht und die nötigsten Vorkehrungen treffen möchte für Georgs Überführung und Bestattung in heimatlicher Erde. [...] Um nun die Reisen meiner Frau ohne Zeitverlust vorbereiten zu können, bittet Sie dieselbe, freundlichst von der Lagatsumme ihr, bei Empfang dieser Zeilen, etwa fünfhundert Mark telegrafisch und den Rest brieflich zu übermachen." Abschriften der beiden Gedichte : Klage und Grodek. nach Tirol überführen : Die Gebeine Trakls wurden erst 1925 nach Tirol überführt und am 7. Oktober auf dem Mühlauer Friedhof beigesetzt.
31 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 10.1.1915 Postkarte, Poststempel: "INNSBRUCK 2, 11.I.15", überstempelt mit dem Vermerk: "Zensuriert. / Hauptp[ostamt]", verso mit Briefkopf: "Schriftleitung „Der Brenner“ / Innsbruck-Mühlau 102".
32 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [17.1.1915] Felpostkorrespondenzkarte, undatiert, mit einem Stempel der Werkstätte: "K.U.K. ART. AUTODETACHEMENT", weiters mit dem Zensurvermerk "Überprüft!" und mit dem Poststempel: "K.u.k. FELDPOSTAMT 186" versehen.
33 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [1.2.1915] Felpostkorrespondenzkarte, undatiert. Poststempel: "K. U. K. FELDPOSTAMT 1[86]", überstempelt mit dem Zensurvermerk "Überprüft!", Absenderadresse bis auf den Namen gestempelt.
34 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 3.2.1915 Feldpostkorrespondenzkarte, Poststempel: "INNSBRUCK 2, 5.II.15", darüber von fremder Hand: "Feldpost N° 186". Brenner-Jahrbuch : Als fünfter Jahrgang des Brenners erschien im Juli 1915 das Brenner Jahrbuch 1915. nachgelassenes Gedichtbuch : Georg Trakl: Sebastian im Traum. Leipzig: Kurt Wolff Verlag 1915. Vgl. Eintragung Wittgensteins in den Geheimen Tagebüchern, 8.2.1915: "Von Ficker ein nachgelassenes Werk Trakls erhalten. Wahrscheinlich sehr gut."
35 AN RAINER MARIA RILKE, 4.2.1915 Brief mit Briefkopf: "DER BRENNER / Herausgeber Ludwig von Ficker / Innsbruck-Mühlau Nr. 102". eine Publikationsprobe : Wahrscheinlich Fahnen von: Sören Kierkegaard: Vom Tode. privaten Sonderdruck : Sonderdruck von Trakls Gedicht Helian. in ein paar einfachen Dankeszeilen : Diese Angabe kann nicht stimmen, denn Wittgenstein bedankt sich erst am 13.2.1915 für Rilkes Geschenk.
36 VON RAINER MARIA RILKE, 8.2.1915 Brief. "Sebastian" : Georg Trakl: Sebastian im Traum. Leipzig: Kurt Wolff 1915. Trakl hatte im Juli 1914 noch selbst die letzten Korrekturen gelesen. Ausgeliefert wurde das Buch allerdings erst im Dezember 1914. Nachrichten über T. : Albert Ehrenstein: Georg Trakl. In: Die weißen Blätter 2, 1. Quartal-Heft, Januar-März 1915, S. 132f.; Felix Braun: Zum Gedächtnis Georg Trakls. In: Die neue Rundschau 26, 1915, Heft 1, S. 140f.
37 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, 9.2.1915 Faltbrief mit der Aufschrift, recto "FELDPOST", Poststempel: "K.U.K. FELDPOSTAMT [186]", überstempelt mit dem Zensurvermerk "Überprüft!" Absenderadresse bis auf den Namen sowohl recto als auch verso gestempelt.
38 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, 13.2.1915 Brief, mit aufgestempelter Adresse und dem Zensurvermerk: "Überprüft!"; Kuvert adressiert an: "Herrn / Ludwig von Ficker / Innsbruck-Mühlau 102 / Tirol" . Brief vom 21.12.14.: Wittgenstein kann damit nur Fickers Brief vom 29.12.1914 meinen. Vgl. Wittgensteins Eintragung vom 10.2.1914: "Netten Brief von Ficker. Widmung von Rilke." (Geheime Tagebücher)
Zeilen Hauers : "Ich bestätige mit dem innigsten Dank an den mir unbekannten edlen Spender den Empfang von fünftausend Kronen durch Herrn Ludwig v. Ficker. Es war dies für mich wie ein Geschenk des Himmels, denn ich war durch verschiedene Schicksalsschläge ganz mittellos und überdies infolge eines Lungenleidens sehr erholungsbedürftig. Innsbruck, den 9. November 1914 Karl Hauer" (Österreichische Nationalbibliothek) Rilkes liebem, edlem Brief : Rilke an Ficker, 18.10.1914. Ihre militärische Tätigkeit : Vgl. Eintragung in die Geheimen Tagebücher vom 31.3.1915: "Denke daran, zu den Kaiserjägern zu gehen, da auch Ficker dort ist."
39 VON RAINER MARIA RILKE, 15.2.1915 Brief, dem Rilke die handschriftlichen Verse beilegte. nichts Neues : Rilkes Verse ( ) waren schon Ende Februar 1913 in Paris entstanden. Vgl. Ingeborg Schnack: Rainer Maria Rilke. Chronik seines Lebens und seines Werkes. Bd. 1. Frankfurt/M.: Insel 1975, S. 493. Im Brenner Jahrbuch 1915 (S. 60f.) hat Ficker die Doppel-s-Schreibung, die mehrmals vorkommende th-Schreibung, "nachgiebt" zu "nachgibt" korrigiert und in zwei Fällen Interpunktionszeichen hinzugefügt. In Vers 12 ist ihm außerdem ein Druckfehler unterlaufen: "sind" statt "sinds".
40 AN RAINER MARIA RILKE, 20.2.1915 Ansichtskarte. Die Vorderseite zeigt Schloß Pallaus in Sarns, südlich von Brixen. Der Poststempel ist bis auf "BRIXEN" unleserlich. Der Einlaufstempel lautet: "MÜNCHEN, 24.2.15", die Adresse wurde bis auf den Namen durchgestrichen und von fremder Hand auf "Irschenhausen Post Ebenhausen / Isarthal / Pension Schönblick" korrigiert.
41 AN RAINER MARIA RILKE , [17.3.1915] Telegramm, das Aufgabedatum ist nicht mehr eindeutig lesbar. kanner : sic! betittelung der pferde : sic!
42 VON RAINER MARIA RILKE, 18.3.[1915] Telegramm.
43 VON LEOPOLDINE WITTGENSTEIN, [8.7.1915] Feldpostkorrespondenzkarte, Poststempel: "WIEN, 8.7.15". In der Anschrift wurde der Name des Adressaten von fremder Hand rot unterstrichen, "III Ersatzcompagnie" durchgestrichen und durch "I Ers. Komp." ersetzt. Poldy Wittgenstein : Leopoldine Wittgenstein geb. Kalmus: Geb. 14.3.1850, Wien; gest. 3.6.1926, Wien. Briefe Wittgensteins an seine Mutter sind bis jetzt nicht bekannt, hingegen allein für den Zeitraum 1914-1918 rund 80 Briefe Leopoldine Wittgensteins an ihn. Ihrer geehrten Zeilen : Fickers Schreiben ist verschollen.
44 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 11.7.1915 Brief. von Brixen aus geschrieben : Der Brief ist verschollen. Ende Juni war Fickers Einheit nach Beneschau/Böhmen verlegt worden.
45 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [24.7.1915] Brief, undatiert, Kuvert recto adressiert an: "Herrn / Ludwig von Ficker / Einj. Freiw. Unterjäger im / II. Reg der Tiroler Kaiserjäger / I. Ersatz Komp. / Böhmen Beneschau", weiters Stempel: "Postkanzlei" und "K.u.k. Garnisons-Spital No. 15. Krakau"; Absenderadresse recto: "Ludwig Wittgenstein / Ing. Asp / K u k. Art. Werkstätte der / Festung Krakau / Feldpost N° 186". Nervenshock : Vgl. aber einen Brief David Pinsents an Wittgenstein vom 2. September 1914: "Thank you so much for your letter dated July 10th. I am so sorry about your nervous shock - still it must be nice to get a short furlough." (A Portrait of Wittgenstein as a Young Man. Ed. by G. H. von Wright. Oxford: Basil Blackwell 1990, S. 103) Da aber der Poststempel auf dem Kuvert von Wittgensteins Brief an Ficker eindeutig lesbar ist, muß sich wohl Pinsent bei der Datumsangabe des Briefes von Wittgenstein geirrt haben. Ihre traurigen Nachrichten : Zwischen "Nachricht" und "verstehe" wurde folgendes durchgestrichen: "in Ihrem letzten Brief". vielleicht eine Eselei : Zwischen "eine" und "Eselei" wurde "Dummheit" durchgestrichen. "Kurze Erläuterung des Evangeliums" : Leo Tolstoj: Kurze Darlegung des Evangelium. Aus dem Russ. von Paul Lauterbach. Leipzig: Reclam o. J. Am 2.9.1914 schrieb Wittgenstein in sein Tagebuch: "Gestern fing ich an,in Tolstois Erläuterungen zu den Evangelien zu lesen. Ein herrliches Werk." In den folgenden Aufzeichnungen kommt er immer wieder auf dieses Werk zu sprechen. Vgl. auch die Eintragung vom 11.10.1914: "Trage die „Darlegungen
des Evangeliums“ von Tolstoi immer mit mir herum, wie einen Talisman." so möchte ich vieles sagen : Zwischen "so" und "möchte" wurde "könnte" durchgestrichen.
46 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [Ende August 1915] Felpostkorrespondenzkarte, undatiert ohne Poststempel. Anstelle des Poststempels findet sich folgender Stempel: "K. u. k. Art. Werkstättenzug I." Wann Wittgenstein beim Artillerie-Werkstättenzug I in Sokal, einem nördlich von Lemberg gelegenen Ausladebahnhof eingesetzt worden ist, kann nicht mehr genau eruiert werden, wahrscheinlich aber Ende August 1915. Auf einer Postkarte von Adele Jolles vom 28.7. wurde vermerkt, daß sich Wittgenstein derzeit in Wien befinde. Am 12. 8. erwähnt Adele Jolles einen dreiwöchigen Urlaub, der offenbar noch nicht zur Gänze abgelaufen ist. Demnach dürfte Wittgenstein erst gegen Ende August in Sokal eingetroffen sein. Auf einer (verschollenen) Postkarte vom 25.8.1915 teilt Wittgenstein Gottlob Frege ebenfalls seine neue Adresse mit (vgl. Gottlob Frege: Wissenschaftlicher Briefwechsel. Hamburg 1976, S. 266).
47 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, 12.9.1915 Felpostkorrespondenzkarte, undatiert, Poststempel: "K. U. K. FELDPOSTAMT 12a", daneben gestempelt mit: "K. u. k. Art. Werkstättenzug I."
48 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, 2.11.1915 Felpostkorrespondenzkarte, Poststempel: "[K. U. K.] FELDPOSTAMT 1[3]", daneben gestempelt mit: "K. u. k. Art. Werkstättenzug I."
49 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 14.11.1915 Brief, Rückseite an den Faltungen beschädigt, mit Bleistiftnotizen Wittgensteins: "Z[...?] / (Bufi?] / Nagg / [Lazer?] / Mart[...?] / Neumann / Pfannhauser / Hampel / Steidel / Forster", weiters Zahlennotate mit Tintenstift: "S51 [...], 284 / 38 / S14· 25, 14 9 / S[...?]· 8, 120".
50 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 4.10.1919 Brief mit Briefkopf: "DER BRENNER / Herausgeber Ludwig von Ficker / Innsbruck-Mühlau Nr. 102". Auf der Rückseite mit einer Zeichnung, vermutlich von Wittgensteins Hand, versehen. Ludwig von Ficker wurde Anfang 1916 an der Dolomitenfront (Col di Lana) erstmals eingesetzt und nahm als Zugskommandant an der Frühjahrsoffensive, im Herbst an den Kämpfen an der Fleimstalfront teil. Anfang Jänner 1917 kam er wieder nach Beneschau, im Juli 1917 wurde Ficker am Kreuzbergsattel verwundet und ab Oktober wieder in Beneschau eingesetzt, ab Juni 1918 bis zum Zusammenbruch im Heimkehrlager Bukaczowce (Galizien). Ende 1918 kehrte er auf Umwegen über Tarnopol und Ungarn nach Innsbruck zurück. Wittgenstein war zu Beginn des Jahres 1916 zu einem Haubitzenregiment nach Sanok in Galizien versetzt worden, wo er als Artillerie-Beobachter an der Front eingesetzt wurde. Am 1.9.1916 wurde er zum Korporal befördert und auf die Offiziersschule nach Olmütz abkommandiert. Im Jänner 1917 kehrte er zu seinem alten Regiment zurück, wo er bis zum Zusammenbruch der russischen Front (Ende November) blieb. Im März 1918 kam er - inzwischen mit der Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet und zum Leutnant befördert - an die italienische Front nach Asiago. Im Sommer 1918 schrieb er in Hallein im Hause seines Onkels die Logisch-Philosophische Abhandlung endgültig nieder. Am 3. November 1918 geriet er in italienische Gefangenschaft, kam zuerst in ein Lager in Como, dann im Januar 1919 in ein Offiziersgefangenenlager in Monte Cassino. Am 25.8.1919 traf Wittgenstein wieder in Wien ein. Sein ganzes Vermögen verschenkte er an seine Geschwister und besuchte ab Mitte September die Lehrerbildungsanstalt. Zur Geschichte des Tractatus vgl. Georg Henrik von Wright: Die Entstehung des Tractatus-logico-philosophicus. In: Ludwig Wittgenstein: Briefe an Ludwig von Ficker. Salzburg: Otto Müller 1969, S. 73-110. v o n : Am 3. April 1919 hatte die Österr. Nationalversammlung die Aufhebung des Adelsstandes beschlossen. Ludwig von Ficker hat daraufhin auf seinem Briefpapier - mit wenigen Ausnahmen - das "von" durchgestrichen. Professor Brücke : Ernst Theodor Brücke: Geb. 8.10.1880, Wien; gest. 12.6.1941, Boston. 1916-1938 Prof. für Physiologie an der Universität Innsbruck. Brücke war ein Cousin von Wittgenstein, Sohn von Emilie Wittgenstein, einer Schwester von Karl Wittgenstein. den Prospekt: 12-seitig mit Urteilen über den Brenner und Anzeigen aller bisherigen Veröffentlichungen des Brenner-Verlags. Darin schreibt Ficker unter dem Titelt Rückblick und Voraussicht: "Als ein abschließendes Dokument seiner Entwicklung, das kaum mehr eine Spur des Beiläufigen aufwies, enthielt das Jahrbuch des Brenner zugleich die volle Andeutung seiner künftigen (der einzig möglichen, somit notwendigen) inneren Gestalt. Denn nicht von ungefähr war es erfüllt vom Widerschein der beiden großen Geistesrichtungen, die nur im tiefsten und bedeutungsvollsten Sinne eines Zufalls, im Sinne einer Fügung, die Schicksalspole unserer geistigen Bewegung werden konnten: der hohen Weisheit Chinas, die aus des Laotse Entrücktheit durch zweieinhalb Jahrtausende zu uns herüberschimmert, und der leidenschaftlichen Denk- und Glaubensinbrunst Sören Kierkegaards, die unheimlich unverrückt, ein ewig flammendes Gewitter, den stürzenden Horizont des Abendlandes überragt. Im Bannkreis dieser beiden Geistausstrahlungen, die dort, wo sie sich scheinbar durchkreuzen, die Tiefe ihres göttlichen Ursprungs oft am innigsten erhellen, im Brennpunkt also ihrer gegenseitigen
Durchleuchtung hat vielleicht eine Entscheidung zu fallen, die für die geistige Orientierung dieser Zeit, soweit sie ihrer religiösen Bestimmung habhaft werden will, von allergrößter Wichtigkeit ist. Denn daß die christliche Welt, die diesen Weltkrieg auf dem Gewissen hat: die christlich-jüdische Welt, in das letzte Stadium ihrer irdischen Vermessenheit getreten ist, das ihr Geschick für alle Zeit besiegelt, das haben nicht erst heute Menschen unter uns, das hat, zum Beispiel, schon vor nahezu vierzig Jahren Dostojewski in einer erschütternden Voraussicht der heutigen Ereignisse aufs deutlichste erkannt. Und wenn - den Spuren dieser sehenden Geister, den großen Dichtern und Künstlern folgend, die (nach einem Ausspruch Theodor Haeckers) die Apologeten unserer Zeit sind und nicht Gelehrte und weltfremde Theologieprofessoren - der Brenner nun vor allem das Christentum in den Mittelpunkt seiner Betrachtung rückt, so soll es mit jener letzten Bereitschaft zur Verantwortung vor einem höchsten Richter geschehen, die seinen führenden Männern gemäß ist und jede, auch die tiefste Gegensätzlichkeit, die in den Divergenzen ihrer geistigen Abschlußrichtungen zutage treten mag, in ihrer fraglosen Berufenheit zur Aussage, in der Rückhaltlosigkeit ihres Bekenntnisses und in der Lauterkeit ihrer Gesinnung bedingterweise ausgleicht und versöhnt. " Ficker setzt unter dem Titel Umriß der Bewegung fort: "Im Rahmen dieses lebendigen Kampfes um das Christentum - denn nicht um totes Für und Wider geht hier die Entscheidung - darf zunächst eine Kapitelfolge Carl Dallagos, die den zweiten Teil und Abschluß seines Werks „Der große Unwissende“ bildet, Anspruch und Beachtung erheben. Enthielt der erste Teil das Beispiel einer Lebensführung, die von dem Standpunkt ihrer geistigen Verbundenheit mit einer ursprünglicheren Ordnung der Dinge die Tragweite ihrer eigenen Gesetzlichkeit und deren Bedeutung für den Begriff der reinen Menschennatur ausmißt, so darf dieser zweite Teil, der die Auseinandersetzung mit dem Christentum bringt, in seinem Endergebnis kurz als der Versuch einer Wiederherstellung des Menschen bezeichnet werden. [...] Was hier, bei Dallago, wie ein Schimmer Morgenland, wie ein Stück Selbstbesinnung eines Unverloren-Heimatlichen, in das zerklüftete Massiv der abendländischen Geisteslandschaft versprengt erscheint, ist sprachlich notdürftig begrenzter, aber in sich ausgeweiteter und immer reiner ausgeweiteter Ausdruck eines Ursprünglich-Bewegten, das sich in Gottes offenkundigstes Geheimnis, in das ewige Wundergleichmaß der Natur im Bild der Schöpfung, wie in das letzte Richtmaß seiner eigensten Verwegenheit versenkt. Wohl: daß ein solcher Mensch lebt und sichtbar wird, ist an sich wichtiger vielleicht, als daß er innerhalb der Literatur in Erscheinung tritt. Aber einer literaturgewitzigten Epoche, die sich selbst so wenig als ein Zeitverhängnis begriffen hat, daß sie kaum spürt, wie sehr sie in allen ihren Voraussetzungen und Aeußerungen (auch in den urlautlich versiertesten und kosmisch verstiegensten) im Spielraum des Mondänen, d.h. des Zerrweltlichen, befangen bleibt, ihr sei hier mit Bedacht die Vollfigur einer Fragwürdigkeit gegenübergestellt, die freilich nicht nur welt-, sondern auch geistläufigem Begriffe vorerst widersteht. Aber so unverkennbar bei diesem späten Nachbildner des Laotse noch manches Vorlaut und Fragezeichen der Erregtheit ist, was bei dem großen Vorfahren Nachlaut und letztes Rufzeichen der Gestilltheit ist, so ist der eigentümliche und etwas weitschweifig in seine Eintönigkeit vertiefte Weltwidersinn des heute fünfzigjährigen Abendländers doch zweifellos von einer ähnlichen Witterung im Geiste bewegt; einer Witterung, die ihr Bedeutendes darin offenbart, daß sie als Ausdruck einer Existenz, die sich ursprünglicherem Daseinssinn verbunden weiß, sich erst neu zusammenreimen muß, was allzu flach- und allzu tiefgereimt den Sinn der Welt gespalten und in Frage gestellt hat. " Es folgt eine Anmerkung im Besonderen: "Zurückgezogen also auf die Wahrnehmung der wenigen führenden Mitarbeiter, die das Schicksal des Brenner als das einer Bekenntnisschrift von Grund auf gestalten, entgegen dem Vielerlei von Beiträgen, Namen und Ideen, das die vielfach bemerkenswerte, aber geistig seltsam zerstreute Physiognomie der meisten heutigen Revuen von einigem Wert bestimmt, und abseits insbesondere von jener tristen Revolution der Geister, die eine hingerissene Kopie der in der Außenwelt im Fluß befindlichen ist und deren mitgerissene „Führer“ ersichtlich keinem anderen Ziel zustreben, als auch noch, wenn's schon sein muß, auf der Fahrt ins Chaos wie der Schnittlauch auf der Suppe obenauf zu schwimmen: unberührt und ungerührt also von allem diesem, was sich heute so vielvortäuschend als „Freiheit des Geistes“ deklariert und seine Grenzen überspringt, und somit ganz nur aus der scheinbaren Beschränktheit seiner Innenweltichkeit heraus will der Brenner das Beispiel einer geistigen Erhebung bieten, die nichts anderes bezweckt als den Ausdruck der Bewegtheit im großen Unbewegten, das uns umgibt, den Anschluß an ein Urheimatliches, das der Welt verloren ging, eindeutig gegen alle Zweideutigkeiten einer aus den Fugen ihrer Selbstherrlichkeit geratenen Außenwelt zu verteidigen und zu vertiefen. Damit ist unsere Stellung zur Zeit und deren unterschiedlichen Verwesern auch schon wesentlich fixiert. Wem aber, wie uns, Weltgeschichte schließlich nichts anderes bedeutet als das ewige Nachsehen, das eine verblendete Menschheit der Vorsehung gegenüber hat, und wer sich, dieser Auffassung entsprechend, allenfalls noch zur Einsicht verstehen könnte, daß der wahre, der einzige Weltkrieg, für den Feuer und Flamme zu sein dem Geiste heute noch geziemen mochte, seit zwei Jahrzehnten im roten Heft der „Fackel“ von einem einzigen geführt und entschieden wurde, der wird nicht erwarten, daß wir dem verstörten Antlitz der Zeit noch mit Glossen und
satirischen Spitzfindigkeiten unter die Augen treten, die auch im besten Fall nur eine leichte Nachgeburt der schweren Wehen und immer eine Nachäffung des beispiellosen Nahkampfs wären, in dem ein Karl Kraus sein ganzes Leben eingesetzt hat. " Schließlich gibt es noch einen Ausblick: "So ist denn unsere Bestimmung im letzten: Wegbereiter zu sein; der Erkenntnis der Kommenden, der Tieferberufenen, Herz und Verstand der Gegenwart zu weiten; dieser selbst vorläufig im wahrsten Sinn des Wortes heimzuleuchten aus dem ungeheuerlichen Angst-Dickicht, in dem sich der Irrsinn der Zeit verfangen hat und darin er sich vom Auge des Ewigen, das er zu blenden wähnte, nun wie von etwas Furchtbarem fixiert fühlt. Und so zu verhindern, daß auch nur einer von denen, die eines guten Willens sind, an der Gerechtigkeit der Weltordnung verzweifle. [...]"
51 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [ca. 7.10.1919] Brief, undatiert. Jahoda & Siegel : Druckerei und Verlag, geleitet von Georg Jahoda und Emil Siegel. Seit 1901 wurden alle Hefte der Fackel bei Jahoda & Siegel gedruckt. Zu dem Versuch, den Tractatus bei Jahoda & Siegel unterzubringen, gibt es keine direkten Belege. Vgl. aber Wittgensteins Briefe an Paul Engelmann, 9.10.1918: "Jahoda hat noch immer nicht geruht mir sein Urteil zu schreiben. Ich bin schon sehr gespannt." (Briefe, Nr. 91, S. 83). Oder am 22.10.1918: "Noch immer habe ich keine Antwort vom Verleger erhalten! Und ich habe eine unüberwindliche Abneigung dagegen, ihm zu schreiben und anzufragen. Weiß der Teufel, was er mit meinem Manuskript treibt. Vielleicht untersucht er es chemisch auf seine Tauglichkeit." (Briefe, Nr. 92, S. 83). Und am 25.10.1918: "Heute erhielt ich von Jahoda die Mitteilung, daß er meine Arbeit nicht drucken kann. Angeblich aus technischen Gründen. Ich wüßte gar zu gern, was Kraus zu ihr gesagt hat. Wenn Sie Gelegenheit hätten es zu erfahren, so würde ich mich sehr freuen. Vielleicht weiß Loos etwas." (Briefe, Nr. 93, S. 83) Braumüller : Wilhelm Braumüller Universitäts-Verlagsbuchhandlung. Einen der größten Verlagserfolge brachte das 1903 herausgebrachte Werk Otto Weinigers: Geschlecht und Charakter, das in alle Weltsprachen übersetzt wurde. 1918 brachte der Verlag Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes heraus. Vgl. Wittgenstein an Russell, 30.8.1919: "Verzeih', daß ich Dich mit einer dummen Bitte belästige: Ich bin jetzt mit einer Kopie meines M.S.s zu einem Verleger gegangen, um den Druck endlich in die Wege zu leiten. Der Verleger, der natürlich weder meinen Namen kennt, noch etwas von Philosophie versteht, verlangt das Urteil irgend eines Fachmanns, um sicher zu sein, daß das Buch wirklich wert ist, gedruckt zu werden. Er wollte sich deshalb an einen seiner Vertrauensmänner hier wenden (wahrscheinlich an einen Philosophie-Professor). Ich sagte ihm, nun, daß hier niemand das Buch beurteilen könne, daß Du aber vielleicht so gut sein würdest, ihm ein kurzes Urteil über den Wert der Arbeit zu schreiben; was, wenn es günstig ausfällt, ihm genügen wird um den Verlag zu übernehmen. Die Adresse des Verleger ist: Wilhelm Braumüller XI. Servitengasse 5 Wien. Ich bitte Dich nun, dorthin ein paar Worte, so viel Du vor Deinem Gewissen verantworten kannst, zu schreiben." (Briefe, Nr. 102, S. 91) Am 12.9.1919 antwortete Russell (Original im Brenner-Archiv): "I have written to your publisher, praising your book in the highest terms. I hope the letter will reach him." Wittgenstein antwortete am 6.10.1919: "Auch mein Verleger hat schon längst Dein Empfehlungsschreiben bekommen, hat mir aber noch immer nicht geschrieben, ob, und unter welchen Bedingungen, er mein Buch nimmt (der Hund!)." (Briefe, Nr. 105, S. 93) Russells Empfehlungsschreiben ist verschollen. Prof. Russell : Bertrand Russell: Geb. 18.5.1872, Chepstow (Monmouthshire); gest. 2.2.1970, Penrhyhndendreath (Wales). Stand seit 1911 in freundschaftlicher Verbindung mit Wittgenstein, der ihn in Cambrigde kennengelernt hatte. Am 13.3.1919 schrieb Wittgenstein an Russell: "Ich habe ein Buch mit dem Titel „Logisch-philosophische Abhandlung“ geschrieben, das meine gesamte Arbeit der letzten sechs Jahre enthält. Ich glaube, ich habe unsere Probleme endgültig gelöst. Dies klingt vielleicht hochmütig, aber ich kann nicht umhin, es zu glauben." (Briefe, Nr. 96, S. 85) Über Keynes Vermittlung sandte Wittgenstein sein Manuskript im Juni 1919 an Russell. Am 13.8.1919 nahm Russell erstmals zur Abhandlung Stellung: "I have now read your book twice carefully - There are still points I don't understand - some of them important ones - I send you some queries on separate sheets. [...] I am sure you ar right in thinking the book of first-class importance. But in places it is obscure through brevity." Wittgenstein antwortete am 19.8.1919: "Was Deine Fragen angeht, so kann ich sie jetzt nicht beantworten. Denn erstens weiß ich nicht immer, worauf sich die Zahlen beziehen, da ich kein Exemplar des M.S. hier habe. Zweitens bedürfen einige Deiner Fragen einer sehr ausführlichen Antwort, und Du weißt, wie schwer es mir fällt, über Logik zu schreiben. Das ist auch der Grund, weshalb mein Buch so kurz und folglich so dunkel ist. Daran kann ich aber nichts ändern. - Nun habe ich die Befürchtung, daß Du meine wesentliche Behauptung, zu der die ganze Sache mit den logischen Sätzen nur ein Zusatz ist, nicht erfaßt hast. Die Hauptsache ist die Theorie über das, was durch Sätze - d. h. durch Sprache gesagt (und, was auf dasselbe hinausläuft, gedacht) und was nicht durch Sätze ausgedrückt, sondern nur gezeigt werden kann. Dies ist, glaube ich, das Hauptproblem der Philosophie." (Briefe, Nr. 100, S. 88) Professor in Deutschland : Gottlob Frege: Geb. 8.11.1848, Wismar; gest. 26.7.1925, Bad Kleinen. Philosoph,
Mathematiker und Logiker. Wann Wittgenstein mit Frege in Kontakt gekommen ist, läßt sich nicht mit Sicherheit beantworten, vermutlich aber schon 1911. Am 24.12.1918 schrieb Hermine Wittgenstein an Frege, daß eine Abschrift von Wittgensteins "Arbeit" an ihn abgeschickt worden sei. (Gottlob Frege: Wissenschaftlicher Briefwechsel. Hamburg: Meiner Verlag 1976, XLV/11, S. 266). Am 10.4.1919 erbat Wittgenstein von Frege ein "Urteil über die Arbeit" (ebenda, XLV/15, S. 267). Frege antwortete am 28.6.1919 u.a.: "Ich bin in der letzten Zeit sehr mit langwierigen geschäftlichen Angelegenheiten belastet gewesen, die mir viel Zeit weggenommen haben, weil ich in der Erledigung solcher Sachen aus Mangel an Uebung ungewandt bin. Dadurch bin ich verhindert worden, mich mit Ihrer Abhandlung eingehender zu beschäftigen und kann daher leider Ihnen kein begründetes Urteil darüber abgeben. Ich finde sie schwer verständlich. Sie setzen Ihre Sätze nebeneinander meistens, ohne sie zu begründen oder wenigstens ohne sie ausführlich genug zu begründen. So weiss ich oft nicht, ob ich zustimmen soll, weil mir der Sinn nicht deutlich genug ist. Aus einer eingehenden Begründung würde auch der Sinn klarer hervorgehen. Der Sprachgebrauch des Lebens ist im Allgemeinen zu schwankend, um ohne Weiteres für schwierige logische und erkenntnistheoretische Zwecke brauchbar zu sein. Es sind, wie mir scheint, Erläuterungen nötig, um den Sinn schärfer auszuprägen. Sie gebrauchen gleich am Anfange ziemlich viele Wörter, auf deren Sinn offenbar viel ankommt." (Die Originale der Briefe Freges an Wittgenstein liegen im Brenner-Archiv). Über diesen Brief berichtete Wittgenstein an Russell: "Ich habe mein M.S. auch an Frege geschickt. Er hat mir vor einer Woche geschrieben und ich entnehme daraus, daß er von dem Ganzen kein Wort versteht." (Briefe, Nr. 100, S. 88). Vgl. auch einem weiteren Brief Freges an Wittgenstein vom 16.9.1919, in dem es u.a. heißt: "Was Sie mir über den Zweck Ihres Buches schreiben, ist mir befremdlich. Danach kann er nur erreicht werden, wenn Andere die darin ausgedrückten Gedanken schon gedacht haben. Die Freude beim Lesen Ihres Buches kann also nicht mehr durch den schon bekannten Inhalt, sondern nur durch die Form erregt werden, in der sich etwa die Eigenart des Verfassers ausprägt. Dadurch wird das Buch eher eine künstlerische als eine wissenschaftliche Leistung; das, was darin gesagt wird, tritt zurück hinter das, wie es gesagt wird. Ich ging bei meinen Bemerkungen von der Annahme aus, Sie wollten einen neuen Inhalt mitteilen. Und dann wäre allerdings grösste Deutlichkeit grösste Schönheit. Ob ich zu denen gehöre, die Ihr Buch verstehen werden? Ohne Ihre Beihülfe schwerlich." Ebenfalls am 16.9. bat Wittgenstein Frege, sich für den Druck der Abhandlung in den Beiträgen zur Philosophie des deutschen Idealismus zu verwenden. (Wissenschaftlicher Briefwechsel, XLV/22, S. 268). In dieser Zeitschrift war beispielsweise Freges Aufsatz Der Gedanke erschienen (Jg. 1, Heft 2, 1918, S. 58-77). Frege antwortete am 30.9.1919: "Ihre Bitte, Ihnen zum Drucke Ihrer Abhandlung in den Beiträgen z. Ph. d. D. I. behilflich zu sein, habe ich mir durch den Kopf gehen lassen. Ich kenne von den Herren persönlich nur Prof. Bauch in Jena. Ueber die Aufnahme eines Beitrages entscheidet, wie mir scheint, meist Herr Hoffmann in Erfurt allein. Für diesen würde aber, wie ich glaube, eine Empfehlung von Prof. Bauch von entscheidendem Einflusse sein. Soll ich mich an diesen wenden? Ich könnte ihm schreiben, dass ich sie als durchaus ernst zu nehmenden Denker kennen gelernt habe. Ueber die Abhandlung selbst kann ich kein Urteil abgeben, nicht, weil ich mit dem Inhalte nicht einverstanden bin, sondern, weil mir der Inhalt zu wenig klar ist. Vielleicht würden wir, nachdem wir uns erst einmal über den Wortgebrauch verständigt hätten, finden, dass wir garnicht sehr voneinander abweichen. Ich könnte bei Prof. Bauch anfragen, ob er das Mscrpt zu sehen wünsche. Ich glaube aber kaum, dass dies einen Erfolg haben würde. Wenn ich mich nicht verrechnet habe, würde Ihr Mscrpt etwa 50 Seiten der Beiträge füllen, also vielleicht in einem Hefte der Beiträge grade Platz finden. Es scheint mir aussichtslos, dass der Herausgeber ein ganzes Heft einem einzigen, noch dazu unbekannten Schriftsteller einräume. Wenn an eine Veröffentlichung in einer Zeitschrift gedacht werden soll, dürfte eine Zerteilung der Abhandlung nötig sein. Sie schreiben in Ihrem Vorworte, dass Ihnen die Wahrheit der mitgeteilten Gedanken unantastbar und definitiv scheine. Könnte nun nicht einer dieser Gedanken, in dem die Lösung eines philosoph. Problems enthalten ist, zum Gegenstande einer Abhandlung genommen werden und so das Ganze in soviele Teile zerlegt werden, als philosoph. Probleme behandelt werden? Es ist auch gut, den Leser nicht durch die Länge der Abhandlung kopfscheu zu machen. Wenn die erste Abhandlung, die das Grundlegende enthalten müsste, Anklang fände, wäre es leichter auch die übrigen Abhandlungen in der Zeitschrift unterzubringen. Dabei könnte vielleicht noch ein Uebelstand vermieden werden. Nachdem man Ihr Vorwort gelesen hat, weiss man nicht recht, was man mit Ihren ersten Sätzen anfangen soll. Man erwartet eine Frage, ein Problem gestellt zu sehen und nun liest man etwas, was den Eindruck von Behauptungen macht, die ohne Begründungen gegeben werden, deren sie doch dringend bedürftig erscheinen. Wie kommen Sie zu diesen Behauptungen? Mit welchem Probleme hängen sie zusammen? Ich möchte eine Frage an die Spitze gestellt sehen, ein Rätsel, dessen Lösung kennen zu lernen, erfreuen könnte. Man muss gleich anfangs Mut schöpfen, sich mit dem Folgenden zu befassen. Doch sind das im Grunde Fragen, die Sie nur selbst beantworten können. Es fehlt mir eine eigentliche Einleitung, in der ein Ziel gesteckt wird." Verleger einer Art philosophischen Zeitschrift: Bruno Bauch: Geb. 19.1.1877, Groß-Nossen (Schlesien); gest. 27.2.1942, Jena. Seit 1911 Philosophieprofessor in Jena. In den Scholzlisten ist ein Brief von Bauch an Frege vom 31.10.1919 belegt, in dem es um Wittgensteins Arbeit gegangen ist. (Wissenschaftlicher Briefwechsel, III/4, S. 9).
Ebenso ein Brief von Arthur Hoffmann (1889-1964, Professor an der pädagogischen Akademie in Erfurt), datiert mit 23.1.1920, der sich auf den Druck der Wittgensteinschen Abhandlung bezieht. (Ebenda, XVI/3, S. 81) geschwefelt : Schwefeln (österr. Ausdruck): viel und gedankenlos reden. Sie Sich : sic! Wanicek : Diese Adresse wird erstmals am 25.9.1919 in einem Brief Wittgensteins an Paul Engelmann erwähnt. (Briefe, Nr. 104, S. 93)
52 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 14.10.1919 Brief mit Briefkopf: "DER BRENNER / Herausgeber Ludwig von Ficker / Innsbruck-Mühlau Nr. 102". Kurt Lechner : Lebensdaten nicht ermittelt. Ficker hatte ihn während seiner Ausbildung in Brixen kennengelernt. Lechners Vater, Besitzer einer Holzindustrie in Prag, investierte eine größere Summe in den Brenner-Verlag. Aber schon im März 1920 schied Kurt Lechner wieder aus dem Verlag aus, weil er neben der geschäftlichen Leitung auch Einfluß auf die Richtung des Verlags nehmen wollte, während Ficker die geistige Leitung allein für sich beanspruchte (vgl. Bd. 2, Nr. 511, S. 250f.)
53 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, [nach dem 20. Oktober 1919] Brief, undatiert. Datierung aufgrund eines Briefes von Hermine Sjögren an Wittgenstein vom 14.10.1919, in dem Frau Sjögren ankündigt, das das Zimmer bei ihr am 20.10. für Ludwig Wittgenstein bereitsteht. D a s M. S. : Zumindest vier Typoskripte oder auch Durchschläge müssen damals im Umlauf gewesen sein. Eines, mit handschriftlichen Korrekturen, hatte damals Bertrand Russell, ein zweites Manuskript hatte Wittgenstein Paul Engelmann geschenkt (vgl. Engelmann an Wittgenstein, 18.9.1918, unveröff. im Brenner-Archiv), ein drittes lag bei Frege in Jena. Ficker hat wahrscheinlich jenes Typoskript (oder Durchschlag) erhalten, das Wittgenstein zuvor dem Verlag Braumüller angeboten hatte. Frau Sjögren : Hermine (Mima) Sjögren (geb. Bacher, 1871 - 1965) war die Witwe eines schwedischen Ingenieurs, der als Direktor an einem von Karl Wittgensteins Walzwerken tätig gewesen war. Mima war mit Ludwigs Schwestern befreundet und Ludwig selbst freundete sich mit Arvid, dem Ältesten ihrer drei Söhne an. Wittgenstein wohnte bei Frau Sjögren bis zum März 1920.
54 AN RAINER MARIA RILKE, 2.11.1919 Brief mit Briefkopf: "DER BRENNER / Herausgeber Ludwig von Ficker / Innsbruck-Mühlau Nr. 102". erste Heft : Der Brenner, 6. Folge, Heft 1 mit folgendem Inhalt: Ludwig Ficker: Vorwort zum Wiederbeginn, Der Sonnengesang des hl. Franziskus (In freier Übertragung des Franz Brentano), Carl Dallago: Weltkrieg und Zivilisation, Anton Santer: Stationen (Türkei 1918), Ferdinand Ebner: Fragment über Weininger, Sören Kierkegaard: Eine Möglichkeit, Lorenz Luguber: Rückblick auf Galizien, Erik Peterson: Der Himmel des Garnisonspfarrers, Kanso Utschimura: Wahre und falsche Propheten, Theodor Haecker: Ausblick in die Zeit. Gedicht der Comtesse de Noailles : Les vivants et les morts (übertragen von Rainer Maria Rilke). In: Insel-Almanach auf das Jahr 1919. Leipzig: Insel, S. 150-153. unter ein paar arme Familien : Hier war Ficker nicht richtig informiert. Wittgenstein hat sein ganzes Vermögen unter seinen Geschwistern - mit Ausnahme von Margarete Stonborough - verteilt.
55 VON RAINER MARIA RILKE, 12.11.1919 Brief mit vorgedrucktem Briefkopf: "Bellevue Palace / Berne". Rilke befand sich damals auf einer Vortragsreise durch die Schweiz. an seiner Veröffentlichung mitzuwirken : Es gibt keine Belege dafür, daß Rilke etwas in dieser Richtung unternommen hätte. Bücher Kassners : Rudolf Kassner: Geb. 9.11.1873, Groß-Pawlowitz/Mähren; gest. 1.4.1959, Sider/Kt. Wallis. Kulturphilosoph, Essayist, Aphorist, Erzähler, Übersetzer. 1919 ist im Insel Verlag Rudolf Kassners Buch Zahl und Gesicht erschienen. Hermann Keyserling : Geb. 20.7.1880, Könno/Livland; gest. 26.4.1946, Innsbruck. Philosoph, Schriftsteller. Sein Reisetagebuch eines Philosophen ist noch bei Duncker und Humblot (München, Leipzig) erschienen, seine folgenden Bücher beim Verleger Otto Reichl.
56 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 18.11.1919 Brief mit Briefkopf: "DER BRENNER / Herausgeber Ludwig von Ficker / Innsbruck-Mühlau Nr. 102". Philosophieprofessor : Alfred Kastil.
57 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, 22.11.1919 Brief.
58 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, [28.11.1919] Telegramm, aufgenommen am 28.11.[1919].
59 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 29.11.1914
Brief mit Briefkopf: "DER BRENNER / Herausgeber Ludwig von Ficker / Innsbruck-Mühlau Nr. 102".
60 KARL RÖCK AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 2.12.1919 Brief, allerdings nie abgeschickt. Vgl. dazu Karl Röck an Ludwig von Ficker, [8.12.1919]: "Lieber Herr Ficker, mir hat heute abends Sander - über eine darauf gerichtete Frage - gesagt, dass Dich mein „Brief“ an Wittgenstein gewissermaßen erschüttert hat." Vgl. auch Röcks Eintragung in sein Tagebuch vom 1.12.1919: "Von Ficker Wittgensteins logische Abhandlung zu lesen bekommen" und vom 2.12.: "unmutigen Hohnbrief als Antwort dem Ficker übergeben lassen durch Lechleitner; ich muß rasch in Dr. Neugebauers Vortrag über Platon". Karl Röck : geb. 20.3.1883, Imst; gest. 9.6.1954, Innsbruck. Sprachforscher und Dichter. Studierte 1902-1908 in Innsbruck, teilweise in München Medizin, Zoologie und Psychologie (ohne Abschluß). 1909/10 Supplentenstelle als Präfekt am Kufsteiner Gymnasium. 1910-13 ohne feste Anstellung. Von 1913 bis 1926 Magistratsbeamter in Innsbruck. Röck gehört zu den frühesten Mitarbeitern des Brenner, wo er unter seinem Namen, aber auch unter dem Pseudonym Guido Höld publizierte. Im Mai 1912 lernte er am Brenner-Tisch Georg Trakl kennen und war in der Folgezeit eng mit ihm befreundet. Seine Tagebücher, die er von 1891-1946 fast lückenlos geführt hat, bilden ein Schlüsseldokument für die Brenner- und die Trakl-Forschung. Vgl. Karl Röck: Tagebuch 1891-1946. 3 Bde. Hrsg. u. erläutert von Christine Kofler. Salzburg 1976 (Brenner-Studien, Sonderband 2-4). Münsterberg'schen Münsterbaus : Hugo Münsterberg: Geb. 1.6.1863, Danzig; gest. 16.12.1916, Cambridge (Mass.). Psychologe und Philosoph. Prof. in Freiburg im Breisgau und an der Harvard University in Cambridge (Mass.) Röck spielt auf folgende Werke an: Gründzüge der Psychologie. Bd. 1. Allgemeiner Teil: Die Prinzipien der Psychologie. Leipzig: Barth 1908 (mehr nicht erschienen). In diesem Buch vertritt Münsterberg die Ansicht, daß die Wirklichkeit nur durch unser Erkennen und nicht außer ihm bestehe. Philosophie der Werte. Grundzüge einer Weltanschauung. Leipzig: Barth 1900. Darin gibt Münsterberg ein geschlossenes System, das alle Gebiete der Philosophie umfaßt und sie in eine Theorie der Werte auflöst. Röck hat sich - dies geht aus seinem Tagebuch hervor - mit diesem Buch seit 1910 immer wieder auseinandergesetzt. Begriffszeichenschrift : Vgl. Röcks Eintragung in sein Tagebuch vom 19./20.9.1919: "Bilderzeichenschrift für grammatikalische Begriffe". Und in einer zusammenfassenden Notiz unter dem gleichen Datum: "Begriffszeichenschrift erfunden." Vgl. auch eine Eintragung vom 12.12.1919: "Philologie als Logologik". Näheres über Röcks Begriffsschrift war nicht zu ermitteln, doch betrieb er zeitlebens intensive Sprachstudien (liegen unveröffentlicht in seinem Nachlaß im Brenner-Archiv).
61 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, 4.12.1919 Brief, rechts oben Briefkopf: "WIEN / IV., WOHLLEBENGASSE 1 b", überstempelt mit: "IV., ALLEEGASSE 16.", links: "TEL. 10065."; der gesamte Briefkopf wurde von Wittgenstein durchgestrichen.
62 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, 6.12.1919 Brief. Krampus : Anspielung auf den 6. Dezember, dem Tag des heiligen Nikolaus, der vom Krampus (= Teufel) begleitet wird.
63 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, 28.12.1919 Brief. Holland : Wittgenstein hielt sich vom 13. bis zum 20. Dezember in Den Haag auf um mit Russell das Buch zu besprechen. Er wurde von Arvid Sjögren begleitet. Zu diesem Treffen vgl. Russells Brief an Lady Ottoline vom 20.12.1919 (Briefe, S. 100f.).
64 AN LUDWIG WITTGENSTEIN, 16.1.[1920] Brief. 1 6. I. 1 9 1 9 : Wegen des Jahresbeginns irrte sich Ficker ganz offensichtlich, der Brief ist sicher mit 1920 zu datieren. Zu diesem Brief vgl. Wittgenstein an Paul Engelmann, 26.1.1920: "P.S. Soeben erhalte ich einen Brief von Ficker (aber noch kein Manuskript) worin er schreibt er müsse das Erscheinen des Brenner einstellen wenn er nicht sein ganzes Hab und Gut verlieren will. Kann man ihm helfen??" jeder neue Abonnent : Im 5. Heft des Brenner, Mitte Juni 1920, sah sich Ficker allerdings wegen der "enorme[n] Steigerung der Herstellungskosten" gezwungen, für neu eintretende Abonnenten neue Bezugsbedingungen festzusetzen: die ganze 6. Folge kostete jetzt 60 Kronen (bisher 40), ein Einzelheft 6.50 Kronen (bisher 5). Ende Juni 1921 kostete die gesamte Folge bereits 340 Kronen! einige Bücher in Vorbereitung : Zwei Schriften von Carl Dallago: Laotse. Der Anschluß an das Gesetz oder Der große Anschluß. Versuch einer Wiedergabe des Taoteking. (Innsbruck: Brenner Verlag 1921), Der Christ Kiekegaards. (Innsbruck: Brenner Verlag 1922); Anton Santer: Nachruf (Innsbruck: Brenner Verlag 1921); Ferdinand Ebner: Das Wort und die geistigen Realitäten. (Innsbruck: Brenner Verlag 1921). Das Buch von Ebner von Theodor Haecker im Juli 1919 für den Brenner Verlag empfohlen - war, ebenso wie der Tractatus, zuvor vom
Braumüller Verlag abgelehnt worden. Auch Ficker argumentierte Ebner gegenüber mit seiner schwierigen wirtschaftlichen Situation, versprach aber in ähnlichen Worten, wie er sie in den Briefen an Wittgenstein verwendet, alle seine Kräfte aufzubieten, damit das Buch in seinem Verlag erscheinen könne. Walter Methlagl versuchte in seinem Aufsatz Erläuterungen zur Beziehung zwischen Ludwig Wittgenstein und Ludwig von Ficker (in: Ludwig Wittgenstein: Briefe an Ludwig von Ficker, S. 45-69) zu erklären, warum Ficker sich zur Aufnahme von Ebners Buch entschloß und warum er Wittgensteins Arbeit ablehnte. Vgl. auch Allan Janik: Wittgenstein: Ein österreichisches Rätsel. In: Das Fenster, Heft. 38, S. 3714-3719).
65 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, 19.1.1920 Brief, mit aufgedrucktem schwarzen Adler in einem Kreis. Sie so, gut : sic! Reklam : sic! Wittgenstein hatte am 29.12.1919 an Paul Engelmann geschrieben: "Bin vorgestern aus Holland zurückgekommen. Mein Zusammensein mit Russell war sehr genußreich. Er will eine Einleitung zu meinem Buch schreiben und ich habe mich damit einverstanden erklärt. Ich möchte nun noch einmal versuchen einen Verleger dafür zu gewinnen. Mit einer Einleitung von Russell ist das Buch für einen Verleger gewiß ein sehr geringes Risiko da Russell sehr bekannt ist. Vielleicht schreiben Sie dem Herrn der mich Reklam empfehlen soll in diesem Sinne. Falls ich keinen deutschen Verleger finden kann so wird Russell das Buch in England drucken lassen. Da er in diesem Falle alle möglichen Schritte zu unternehmen hätte so bitte ich Sie mir so bald als irgend möglich Bescheid zu geben ob Ihre Bemühungen irgendwelchen Erfolg versprechen." (Briefe, Nr. 118, S. 105) Engelmann antwortete am 31.12.1919: "Eben kommt Ihr Express-Brief. Einen ausführlichen Brief über Ihr Buch sende ich heute, längstens morgen Dr Heller in Kiel, mit der Bitte um sofortige Antwort, die ich Ihnen dann gleich mitteile." In einem weiteren Brief vom 17.1.1920 schrieb Paul Engelmann: "Eben erhielt ich den beiliegenden Brief von Dr Heller (die Fettflecke darauf sind von mir) Ich hoffe, daß dem Erscheinen des Buches bei Reclam jetzt nichts mehr im Wege steht. In dem Satz des Briefes, der das Honorar betrifft, ist offenbar ein „nicht“ ausgelassen, u. es soll meiner Meinung nach heißen: „.....da es auf ein größeres Honorar oder überhaupt ein solches nicht ankommen dürfte.“ Bitte schreiben Sie vielleicht gleich in Ihrem Begleitbrief an Reclam, daß Sie kein Honorar verlangen; ebenso, daß die Seitenziffern, wenn Ihre Anbringung am Rand den Druck verteuert, in den Text eingerückt werden dürfen." Am 19.1. berichtete Wittgenstein an Russell, daß Reclam wahrscheinlich sein Buch drucken würde und bat um die versprochene Einleitung. (Briefe, Nr. 122, S. 107) Erst am 29.3. sandte Russell die Einleitung, mit der Wittgenstein nicht sehr zufrieden war. Er schrieb an Russell: "Besten Dank für Dein Manuscript. Ich bin mit so manchem darin nicht ganz einverstanden; sowohl dort, wo Du mich kritisierst, als auch dort, wo Du bloß meine Ansicht klarlegen willst. Das macht aber nichts. Die Zukunft wird über uns urteilen. Oder auch nicht - und wenn sie schweigen wird, so wird das auch ein Urteil sein. - Die Einleitung wird jetzt übersetzt und geht dann mit der Abhandlung zum Verleger. Hoffentlich nimmt er sie!" (Briefe, Nr. 127, S. 109f.) Am 6.5.1920 schrieb er an Russell: "Deine Einleitung wird nicht gedruckt und infolgedessen wahrscheinlich auch mein Buch nicht. - Als ich nämlich die deutsche Übersetzung der Einleitung vor mir hatte, da konnte ich mich doch nicht entschließen sie mit meiner Arbeit drucken zu lassen. Die Feinheit Deines englischen Stils war nämlich in der Übersetzung - selbstverständlich - verloren gegangen und was übrig blieb war Oberflächlichkeit und Mißverständnis. Ich schickte nun die Abhandlung und Deine Einleitung an Reclam und schrieb ihm, ich wünschte nicht daß die Einleitung gedruckt würde, sondern sie solle ihm nur zur Orientierung über meine Arbeit dienen. Es ist nun höchst wahrscheinlich, daß Reclam meine Arbeit daraufhin nicht nimmt (obwohl ich noch keine Antwort von ihm habe)." (Briefe, Nr. 129, S. 110f.) Am 30.5.1920 war die Publikation bei Reclam endgültig geplatzt: "Reclam nimmt mein Buch nicht. Mir ist es jetzt Wurst, und das ist gut." (Brief an Paul Engelmann vom 30.5.1920, Briefe, Nr. 131, S. 112) Paul Engelmann war übrigens der einzige Mensch, der damals ein positives Urteil über den Tractatus abgab. Am 3.4.1919 hatte er nach der Lektüre des Manuskripts an Wittgenstein geschrieben: "Ich glaube es jetzt im Ganzen zu verstehn und wenigstens bei mir haben Sie den Zweck, jemandem durch das Buch Vergnügen zu bereiten, vollständig erfüllt; ich bin von der Wahrheit seiner Gedanken überzeugt und erkenne ihre Bedeutung." - Erstmals gedruckt wurde die Logisch-philosophische Abhandlung zusammen mit einer Übersetzung der Einleitung von Russell in der letzten Nummer von Wilhelm Ostwalds Annalen der Naturphilosophie (Bd. 14, 3. und 4. Heft, 184-262) Leipzig 1921.
66 VON LUDWIG WITTGENSTEIN, 26.1.1920 Brief. Welche Art von Beruf : Schon am 23.2.1919 hatte Ficker in einem Brief an Martina Wied davon gesprochen, daß er sich um einen Brotberuf werde umsehen müssen. Erst im Oktober 1921 kam es allerdings wirklich dazu. Der Brenner Verlag wurde als selbständige Abteilung dem Universitäts-Verlag Wagner in Innsbruck angegliedert. Ficker blieb zwar weiterhin Leiter des Brenner Verlags, war aber nun Angestellter des Wagner Verlags und mußte seine Dienste auch dem Gesamtunternehmen zur Verfügung stellen.
großen Widerwärtigkeiten : Vgl. Wittgenstein an Paul Engelmann, 26.1.1920: "Es ist merkwürdig, daß ich wirklich in den letzten Tagen in einem mir schrecklichen Zustand war und auch jetzt ist die Sache noch nicht vorüber. Was mir so viele Qualen verursacht will ich Ihnen noch nicht sagen. Aber schon das Gefühl, daß jemand der den Menschen versteht, an mich denkt, ist gut." (Briefe, Nr. 123, S. 107)
Übersicht über die Verteilung der Spende Georg Trakl Redaktion Der Brenner Carl Dallago Rainer Maria Rilke Oskar Kokoschka Else Lasker-Schüler Karl Hauer Ludwig Erik Tesar Richard Weiß Theodor Haecker Theodor Däubler Franz Kranewitter Karl Borromäus Heinrich Hermann Wagner Hugo Neugebauer Joseph Georg Oberkofler Albert Ehrenstein Adolf Loos
20.000 10.000 20.000 20.000 5.000 (+ 700) 5.000 5.000 1.000 1.000 2.000 2.000 2.000 1.000 1.000 1.000 1.000 1.000 2.000
Ludwig von Ficker: Rilke und der unbekannte Freund1(1) In memoriam Ludwig Wittgenstein Château de Muzot sur Sierre (Valais), Schweiz, am 12. Februar 1923 Werther und lieber Herr von Ficker, diesen Morgen, einige Zeitungen durchsehend, die sich angesammelt hatten, stieß ich in der "Neuen Züricher" auf eine sehr zustimmende Würdigung von "der Brenner" (Siebente Folge, zweiter Band). So geht also Ihr schönes Unternehmen weiter und Sie leiten es nach wie vor, im eigenen und im Sinne der dazu verständigten Freunde! Darf ich, unmittelbar wie er mir aufkommt, den Wunsch vor Sie bringen, wieder mal einen Band des Jahrbuchs zu besitzen? Nicht allein, daß ich mir von den aus diesem Bande angeführten Beiträgen (Kierkegaard, Josef Leitgeb) mich nahe Angehendes verspreche, ich hätte auch, bei meiner Bewunderung für Georg Trakl, das Bedürfnis, jenen "Aufruf" zu kennen, den Sie, in Bezug auf das Grabmal des Dichters, erlassen haben. Machen Sie mir also die Freude, die ich, wie früher, gelegentlich solcher Zuwendung, aufrichtig schätzen werde. Mit allen guten Wünschen für Sie und Ihre Freunde, bin ich in alter Ergebenheit Ihr R M Rilke
Château de Muzot sur Sierre (Valais), Schweiz, am 26. Februar 1923 Sehr werther Herr von Ficker, in kurzem Abstande nach Ihrem Brief, ist gestern auch Ihre Sendung bei mir eingelangt. Sie haben, wie es mir Ihre Zeilen schon andeuten wollten, durch die aufmerksamste Erfüllung meine Bitte übertroffen; ich freue mich nun darauf, bei nächster passender Stunde, das "Jahrbuch" und, nach und nach, die übrigen Beilagen vorzunehmen. Daß Sie sich so sehr anklagen, einen früheren Brief einmal unerwidert gelassen zu haben, hat mich beinah beschämt: wie oft mußte ich mir, in den letzten Jahren, Ähnliches zu schulden kommen lassen; der Hemmungen,
die uns durch das allgemeine Verhängnis bereitet werden, sind immer noch so viele, daß man schon froh sein darf, wenn man ihr Zudringen, wenigstens in den mittleren Bezirken der wesentlichen eigenen Leistung ab und zu überwindet. Nur dieses für heute: meinen Dank, meine Grüße und die gern wiederholte Versicherung meiner alten Gesinnung. Ihr ergebener R M Rilke Diese Letztbekundungen seiner Zugeneigtheit mögen hier als Nachtrag zu den beiden Briefen des Dichters stehen, die mir im Februar 1915 seine staunende Ergriffenheit über Trakls "Helian" und "Sebastian im Traum" zur Kenntnis brachten. Auszugsweise in unserem Trakl-Gedenkbuch 1926 erstmals veröffentlicht, wurden sie später ungekürzt in den Sammelband der Briefe Rainer Maria Rilkes aus den Jahren 1914 bis 1921 aufgenommen, der 1938 im Insel-Verlag erschien. Unauffällig schloß da einer dieser Briefe an mich mit dem Satz: "Die kleine Zeile, in der Sie seiner Erwähnung tun, nehme ich als Zeugnis für das Wohlergehen des unbekannten Freundes draußen recht herzlich in Anspruch." Wer war dieser Freund? Heute, da er tot ist und sein Name in Philosophenkreisen hohes Ansehen genießt, sei auch hier des nie genannt sein Wollenden gedacht, sowie der seltsamen Begebenheit, die mich ihm zugeführt und gleichsam über ihn hinweg in schriftliche Berührung mit Rilke gebracht hat. Mitte Juli 1914, kurz vor Ausbruch des ersten Weltkriegs, erhielt ich aus Hochreit in Niederösterreich die Mitteilung eines mir bis dahin Unbekannten, er erlaube sich mir demnächst einen Betrag von hunderttausend Kronen zu übermitteln mit der Bitte, ihn an würdige bedürftige Dichter und Künstler Österreichs nach meinem Gutdünken zu verteilen. Unterzeichnet war diese großzügig hingeschriebene Verständigung mit Ludwig Wittgenstein jun. - Meiner erstaunten Rückfrage begegnete die Erklärung des Genannten, er habe nach seines Vaters Tod ein großes Vermögen geerbt, und da sei es Sitte, eine Summe für wohltätige Zwecke herzugeben. "Als Anwalt meiner Sache wählte ich Sie, auf die Worte hin, die Kraus in der Fackel über Sie und Ihre Zeitschrift geschrieben hat; und auf die Worte hin, die Sie über Kraus schrieben", hieß es in diesem Bescheid, der mit der Bemerkung schloß: "Ihr freundlicher Brief hat mein Vertrauen in Sie noch vermehrt. Vielleicht darf ich Sie einmal treffen und mit Ihnen reden. Dies wünschte ich sehr." Das wünschte natürlich auch ich, und so war das Nötige rasch vereinbart: Wittgenstein wollte aus der Sommerfrische zu kurzem Aufenthalt nach Wien kommen. Dort sollte ich ihn am Abend des 26. Juli2(2) im Stadtdomizil der Familie treffen und zum Wochenende sein Gast sein. Der Reisetag war heiß gewesen, und es dunkelte bereits, als das Taxi vor dem geöffneten Gartentor eines Herrschaftssitzes im Neuwaldegger Parkgelände hielt. Das Gebäude selbst, nur noch undeutlich auszunehmen, lag tiefer garteneinwärts, aber die Aufgangsterrasse war hell beleuchtet, und da stand auch schon, mich erwartend, die schlichte Gestalt des jungen Mäzens: ein Bild ergreifender Einsamkeit auf den ersten Blick (an Aljoscha etwa oder Fürst Myschkin bei Dostojewski erinnernd). Kaum hatte er mich bemerkt, als er die paar Stufen herabstieg, auf dem breiten Kiesweg mir entgegenkam und nach herzlicher Begrüßung mich ins Haus geleitete. Auch beim Nachtmahl, das ein Diener auftrug, schien er aufgeräumt und trotz etwas gehemmter Sprechweise von einem sehr zu Herzen gehenden Mitteilungsdrang bewegt. Bald war mir klar, daß nicht allein ein Freund der schönen Künste mir gegenübersaß, sondern ein Denker, dessen Bemühung, Fragen der Logik im Forschungsbereiche positivistisch orientierter Wissenschaft auf ihren Sinngehalt zu prüfen, offenbar bereits in England wie vorher schon unter Philosophen des sogenannten Wiener Kreises3(3) Aufmerksamkeit erregt hatte. Als ein Schüler Bertrand Russells in Cambridge und Gottlob Freges in Jena hatte er sich schon früh mit den logischen Grundlagen der Mathematik vertraut gemacht und, offenbar eigener Neigung wie innerster Berufung folgend, darauf weitergebaut. Und nun lebe er, wie er lächelnd bemerkte, von Bauersleuten verpflegt für gewöhnlich in einem Blockhaus4(4) über dem Sognefjord in Norwegen, das sein Eigentum sei. Dort hoffe er, in völliger Zurückgezogenheit die vorläufigen Ergebnisse seiner Gedankengänge entsprechend sichten und ihre Formulierung ins Reine bringen zu können. Denn gedruckt lag von dem damals Fünfundzwanzigjährigen noch nichts vor. Den Anlaß unserer Begegnung schien er in jener späten Abendstunde ganz vergessen zu haben, und erst am nächsten Morgen, einem schönen Sonntag-Vormittag, konnte ich ihm während eines Rundgangs durch den Park meine Vorschläge zur Verteilung seiner Spende nahebringen. Die Zuwendung von je zwanzigtausend Kronen an Rilke5(5) und Trakl, die mir zuvörderst angebracht schien, fand sofort seine Billigung. Zwar schrieb er mir später über Trakls Gedichte: "Ich verstehe sie nicht; aber ihr Ton beglückt mich. Es ist der Ton der wahrhaft genialen Menschen." Die Berücksichtigung Rilkes hingegen war ihm gleich einleuchtend und ein Gegenstand freudiger Zustimmung. Nachdem er mir noch von sich aus, auf seine besorgte Anfrage hin, eine Abzweigung von zehntausend Kronen als Zuschuß für den Brenner nahegelegt, erklärte er ohne weiteres sein Einverständnis mit meinen restlichen Vorschlägen, über die er sich kein eigenes Urteil zusprach. Nachmittags machte ich ihn noch mit
dem Architekten Adolf Loos bekannt. Wir trafen uns im Café Imperial, wo es zwischen ihm und dem schwerhörigen Erbauer des damals noch heftig umstrittenen Hauses am Michaeler Platz zu einer wohl etwas mühselig, doch sachlich ungemein anregend geführten Aussprache über Fragen der modernen Baukunst kam, für die sich Wittgenstein zu interessieren schien. Abends reiste ich wieder heim, und am Morgen bei meiner Ankunft war die Kriegserklärung Österreichs an Serbien erfolgt - Grund genug, die Überweisung der Geldbeträge an die damit zu Beteilenden beschleunigt vorzunehmen. Kaum zwei Wochen später erreichte mich eine Nachricht Wittgensteins, er sei auf Kriegsdauer freiwillig eingerückt und bis auf weiteres dem Ausbildungsbereich des Militärkommandos Krakau zur Dienstleistung zugeteilt. Leider war er, als ich Ende Oktober Trakl im dortigen Garnisonsspital besuchte, in der Stadt nicht anwesend. Er befand sich mit dem Weichselschiff "Goplana", auf dem er Dienst tat, seit Wochen unterwegs, doch sollte diese Erkundungsfahrt schon demnächst ihren Abschluß finden. Die Auskunft erhielt ich von einem Offizier der Dienststelle, der nicht zu erwähnen vergaß, welch schöne Sommernacht er einmal, bald nach Kriegsbeginn, auf Deck des Schiffes in anregendem philosophischen Gespräch mit Wittgenstein verbracht habe, während dieser mit Kartoffelschälen für die Schiffsküche beschäftigt war. Ich hinterließ dem Abwesenden ein paar Zeilen, er möge sich nach seiner Ankunft doch unverzüglich Trakls annehmen, dessen Lage prekär sei. Aber als Wittgenstein, zurückgekehrt, im Spital vorsprach, war Trakl schon tot und begraben. "Ich bin erschüttert, obwohl ich ihn nicht kannte", war des zu spät Gekommenen erste Mitteilung an mich. Auf Ersuchen um Bekanntgabe näherer Einzelheiten erhielt ich folgenden Bescheid: 16. 11. 14 Lieber Herr von Ficker! Ich danke Ihnen für Ihre Karte vom 9ten. Alles was ich über das Ende des armen Trakl erfahren habe, ist dies: Er ist drei Tage vor meiner Ankunft an Herzlähmung gestorben. Es widerstrebte mir, mich auf diese Nachricht hin noch weiter nach Umständen zu erkundigen, wo doch das einzig Wichtige schon gesagt war. Am 30ten Oktober hatte ich von Trakl eine Karte erhalten mit der Bitte ihn zu besuchen. Ich antwortete umgehend: ich hoffte in den nächsten Tagen in Krakau einzutreffen und würde dann sofort zu ihm kommen. Möchte Sie der gute Geist nicht verlassen. Und auch nicht Ihren ergebenen Ludwig Wittgenstein (Daß Trakl, obwohl er Wittgenstein durch mich verständigt wußte, an diesen selbst noch eine Bitte um Besuch gerichtet hat, scheint mir beachtenswert. Es spricht dafür, daß er als Patient einer Zwangspsychiatrierung, die seine Schwermut, aber auch die Ungewißheit über sein Los bei den gegebenen Ausnahmezuständen ins Unermeßliche steigern mußte, einer zweiten Versuchung zum Selbstmord - die erste hatte ihn auf dem Rückzug von Grodek befallen - nicht zu erliegen wünschte. Wohl war, als ich in Krakau von ihm schied, seine Niedergeschlagenheit groß; deutlich aber auch und ergreifend die Ergebenheit in ein Schicksal, das ihn zwang, den eigentümlichen Wahrsinn seines Lebens samt allem Bedenklichen, das er einschloß, dem potenzierten Wahnsinn einer Welt im aufkommenden Weltkriegszustand zur Begutachtung anvertraut zu sehen. Und nichts konnte die Rücksicht, die er in so auswegloser Situation einem letzten Ausgleich seines Selbstabtötungs- wie seines Selbstbewahrungsdranges schuldig zu sein glaubte, rührender bezeugen als dieses großherzig entgegenkommende Vertrauen in die Wirksamkeit vereinter Freundeshilfe in einem Augenblick, da ihm der Tod schon näher stehen mußte als noch irgend eine Möglichkeit zu leben.) Abgesehen also von dieser einen Ausnahme konnte in allen übrigen Fällen dem Wunsch Wittgensteins nach Geheimhaltung seines Namens entsprochen werden. Auch Rilke gegenüber. Dieser erwies sich für die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil geworden, dadurch erkenntlich, daß er mir nebst Versen für den Brenner eine eigenhändige Abschrift ebenfalls noch unveröffentlichter Gedichte zur Weitergabe an den ihm unbekannten Gönner zugehen ließ. Den Begleitbrief Rilkes übermittelte ich Wittgenstein als Geschenk, und in einem Feldpostbrief aus der K. u. K. Artillerie-Werkstätte der Festung Krakau, datiert vom 13.2.15, nahm dieser darauf Bezug: "... Rilkes Schreiben an Sie hat mich gerührt und tief erfreut. Die Zuneigung jedes edlen Menschen ist ein Halt in dem labilen Gleichgewicht meines Lebens. Ganz unwürdig bin ich des herrlichen Geschenkes, das ich als Zeichen und Andenken dieser Zuneigung am Herzen trage. Könnten Sie Rilke meinen tiefsten Dank und meine treue Ergebenheit übermitteln? Trakls Grab hat die Exhibit Nr. 3570 und die Bezeichnung Gruppe XXXIII Reihe 13, Grab No. 45. Möchte Ihnen Ihre militärische Tätigkeit Freude bereiten! Wie schön wäre es, wenn sie uns
zusammenbrächte!" Es sollte nicht sein. Schon "klopfte" ich selbst Gewehrgriffe bei den Kaiserjägern, und nach Erscheinen des Brenner-Jahrbuchs 1915, das ich gerade noch vor Zuteilung zu einem Marschbataillon herausbringen konnte, ging auf Kriegsdauer der Kontakt mit Rilke wie mit Wittgenstein verloren. Dieser war zuletzt in italienische Gefangenschaft geraten. Im August 1919 kam er frei, und noch im Herbst desselben Jahres6(6) tauchte eines schönen Nachmittags an der Gartentür vor meiner Wohnung in Mühlau, vom Hund des Hausherrn heftig verbellt, ein scheinbar Fremder auf. Es war Wittgenstein, kaum mehr zu kennen, barhaupt, in abgetragener Feldmontur (als hätte er noch nicht aus ihr herausgefunden) und sichtlich aufgebracht über die unfreundliche Begrüßung durch den Wächter des Hauses. Erstaunt über die Verwandlung, die mit ihm vorgegangen war, und leicht beunruhigt von dem Überfallscharakter dieses Wiedersehens nach fünf Jahren, bat ich ihn ins Haus. Er blieb zu Abend, zog aber einem Nachtquartier bei mir eine bescheidene Unterkunft in der Nachbarschaft vor. In dem kleinen Anwesen unserer Milchbäuerin ließ er sich eine mehr als dürftige Kammer aufsperren, die er herrlich fand. Von dort verabschiedete er sich frühmorgens mit Dank für die gute Aufnahme und mit Grüßen an mich. Mir aber wollte nachher scheinen, als habe mich da nicht ein Heimkehrer zu anderen besucht und verlassen, sondern eher ein Friedensucher in der Auseinandersetzung mit sich selbst und seiner schwierigen Veranlagung. Denn Wittgensteins ungewöhnlicher Lebensernst, hingabefähig und doch gründlich in sich gekehrt, hatte inzwischen Züge eines Verantwortungsbewußtseins angenommen, das leicht überspannt scheinen konnte und seinem früh schon entschiedenen Absonderungsbedürfnis gegenüber allem, was vor den Augen der Welt zu glänzen oder sich sonst ein Ansehen zu geben wünschte, das Siegel einer fast schmerzhaften Deutlichkeit aufdrückte. So hatte er gleich nach Kriegsende auf sein Millionenerbe zu Gunsten seiner Geschwister verzichtet (ein noch lebender Bruder, berühmter Pianist, hatte, wie ich später hörte, im Krieg den rechten Arm verloren, ein anderer sich erschossen, als der ungarische Truppenteil, den er befehligte, noch vor Abschluß des Waffenstillstands 1918 den ihm zugewiesenen Frontabschnitt am Piave verließ). Fast noch wunderlicher schien, daß der heil Zurückgekehrte, auf den im Krieg Tolstois Volkserzählungen7(7) großen Eindruck gemacht hatten, als ein Mensch von überhöhter Bildung, der freilich auch die Kindesseele gut verstand, 1920 Dorfschullehrer in einer entlegenen Gebirgsgegend des Semmeringgebietes wurde. Vorerst aber hatte er eine Begegnung mit Russell8(8) auf einer Reise gehabt, die ihn nach Holland und, als ihm in Deutschland das Geld ausgegangen war, auch durch Nachtasyle des Hamburger Hafenviertels geführt hatte. Den Rückweg über Innsbruck hatte er gewählt, um mir einen Durchschlag jener Arbeit anzuvertrauen, die ihn so lange in Anspruch genommen und ihren Abschluß gegen Kriegsende in einer ihm nun offenbar entsprechenden Form der philosophischen Aussage gefunden hatte. Es ergab sich aber, daß das nicht allzu umfangreiche Werk, das sich zur Verdeutlichung seiner Gedankengänge auch Formeln der höheren Mathematik bediente und einen Exkurs über die Grundlagen der Arithmetik enthielt, einen Laienverstand wie den meinen vor kaum behebbare Schwierigkeiten stellte. Was es an eigentümlichen Ausblicken und Einsichten einem Forschungsgebiet erschloß, das den konsequenten Logiker von vornherein in eine Zwangsjacke stecken mußte, das hatte der Verfasser zudem einer Art perspektivisch verkürzter Darstellung anvertraut, die - in zahlreichen numerierten Absätzen das jeweils Greifbare ihres behutsam vorfühlenden Thesenaufwands demonstrierend - seinem Versuch wohl die Physiognomie einer ungewöhnlichen intellektuellen Leistung zu sichern schien, dem Uneingeweihten aber auch den Eindruck einer angestrengt verlorenen Liebesmühe hinterlassen konnte. Immerhin: die klaren Satzgefüge, die den Stufenbau dieser kühnen, bis zur Andeutung ihrer notwendigen Selbstaufhebung sich versteigenden Erkenntnispyramide trugen, gaben hinreichend zu verstehen, welch ein Konzentrat gewissenhaft durchdachter Überlegungen hier seine Ausprägung in adäquat durchlichteter lapidarer Sprachgestalt gefunden hatte. Als solches stellte es an das Fassungsvermögen des Lesers allerdings Anforderungen, denen ein zur Würdigung von logisch exakten Spitzenleistungen auf dem Versuchsfeld philosopischer Tiefenbohrung nicht eigentlich Berufener kaum oder nur notdürftig gerecht werden konnte. Doch war zu begreifen, daß ein so eigen hinsinnender Geist, wollte er nicht von vornherein alle Sicherheit in Verfolgung des ihm vorschwebenden, doch nur schrittweise zu erschließenden Erkenntniszieles verlieren, sich streng an die Orientierungsbehelfe einer Forschungsmethode halten mußte, deren diszipliniertem Vorgehen in der Unterscheidung von logisch Sagbarem und Unsagbarem von frühauf seine Aufmerksamkeit wie die Zuneigung seiner eigenen Begabung gehört hatte. Gleichwohl ließ sich nicht verkennen, daß Wittgensteins "Logisch-philosophische Abhandlung" bei aller Konsequenz ihres Aufgehens in eine rein wissenschaftliche Bemühung im Grunde doch auf eine höhere Bewegungsfreiheit des Geistes im Spielraum letztverbindlicher Wahrheitsaufschlüsse abzielte, als die Eigensinnbezirke neopositivistischen Forschungsdranges in ihren Grenzen zulassen konnten. Ja, bei aller Deutlichkeit einer fast zwangsläufig sich vollziehenden Gegenbewegung im Sicht- und Wirkraum seiner intellektuellen Gebundenheit schien Wittgensteins personaler Einsatz als Denker wie als sehender Mensch doch eher auf Wiederwahrnehmung als auf Verleugnung der Heilsbedeutung jener Armut im Geiste bedacht zu sein, zu der sich einst in der Fülle der Zeit - ein offenbar Überforderter in seinem Streben nach Vollkommenheit - der reiche
Jüngling der Bibel zu seinem eigenen Leidwesen nicht hatte aufraffen können. Kurz, ich konnte den beklemmenden Eindruck, den das Werk in seiner rigoros ausreflektierten, förmlich in sich selbst hineinverstummenden Gestalt auf mich machte, nicht loslösen von dem tief fundierten Eindruck des Menschenbeispiels, das mir - ein seltsames Rufund Fragezeichen - in Ludwig Wittgenstein lebendig vor Augen stand. Einst schon, als ich ihn kennen lernte. Nun erst recht. Und später, da ich ihn nie mehr zu Gesicht bekommen sollte, im Bilde einer unverblichenen Erinnerung fast noch mehr. "Nur einen Gruß, damit Sie mich nicht vergessen!" hatte er mir einst auf einer Feldpostkarte aus Galizien geschrieben (als ob dies möglich gewesen wäre!). Um so mehr traf es mich jetzt, daß der "gute Geist", dessen Fortbestand er uns beiden seinerzeit gewünscht hatte, in mir nun nicht imstande war, die Bedeutung von Wittgensteins gewichtigem Elaborat mir so zu Bewußtsein zu bringen, wie dieser es sich, Gott weiß warum, erhofft haben mochte. Mitschuld an diesem meinem peinlichen Versagen trug wohl auch der Umstand, daß ich unter den fortwährenden Krisenerscheinungen nach der ersten Weltkriegskatastrophe alle Mühe hatte, der eigenen Existenzerschütterung Herr zu werden. Es gelang mir nur zeitweilig, nur notdürftig, und so konnte ich mich auch leider nicht als geeigneten Verleger für Wittgensteins subtiles Werk in Vorschlag bringen. Das ging mir nahe. Vielleicht auch ihm. Jedenfalls drängte es mich, einen Ersatz für diesen meinen Ausfall zu finden. Im Vertrauen auf voraussichtlich bewahrte Sympathien wandte ich mich mit meinem Anliegen an Rilke - und unverzüglich schrieb mir der Dichter zurück: Bellevue-Palace Berne, am 12. November 1919 Mein lieber Herr von Ficker, das freundliche Zusammentreffen: lassen Sie sich erzählen. Gestern bin ich hier in eine Buchhandlung eingetreten, in deren Schaufenster ich einige Stunden vorher ein Brenner-Heft bemerkt hatte (es war nicht mehr da, leider) - am selben Abend kam Ihr guter Brief. Mit meiner Antwort eine Verbindung wieder aufzunehmen, die durch die unnatürlichsten Verhältnisse in ihren Anfängen unterbrochen worden war, gehört für mich nun - glauben Sie es mir - zu jenen Wiederherstellungen, die man stark und zuversichtlich empfindet, weil mit jeder von ihnen, über das Tatsächliche hinaus, ein Bewußtsein arglosen und vollzähligen Daseins Recht bekommt. Sie schreiben nichts über sich selbst, aber ich sehe sie thätig im ursprünglichen Bestreben, und so mag ich gerne annehmen, daß Ihr persönliches Schicksal, nach allen Mißbräuchen der letzten Jahre, Sie wieder am vertrauten Ufer der eigenen Aufgaben abgesetzt hat: mögen Sie dort nun recht fest sich ansiedeln dürfen. Diesem zunächst wäre eine besorgteste Frage aufgekommen, die Sie, mir vorfühlend, schon beantwortet haben. Die Handlungsweise des (aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten) unbekannten Helfers und Freundes ist mir um so ergreifender, als sie, über so viel Wirrnis und Unterbrechung hinüber, als die stille, reine Vollendung dessen erscheint, was mit jenen großmüthigen Entschlüssen des Jahres Vierzehn begonnen war. Wieviele Menschen haben wir aus leichteren Bahnen geworfen gesehen, wie viele erschüttert in ihren innersten Absichten -; dieser ist von allem Anfang an in seinen schweren Weg eingesetzt worden -, man kann es nicht ohne Ehrfürchtigkeit einsehen. Lassen Sie es, bitte, still zwischen uns bleiben, daß ich von jenem Manuskript weiß; welche Freude wäre es für mich, ganz im Verborgenen an seiner Veröffentlichung mitzuwirken, obwohl mir ja da nur der bescheidenste und zufälligste Anteil eingeräumt wäre. Sie kennen die Arbeit Ihres Freundes, Sie schätzen sie; schiene Ihnen ihre Einreichung beim Insel-Verlag angemessen zu sein? Philosophische Schriften sind dort nicht recht einheimisch, wenn man nicht etwa die Bücher Kassners anführen will. Bei der Insel würde ich selbstverständlich mit einigem Gewicht mich einsetzen können, bei Verlagen wissenschaftlicher Art bliebe ich ohne Einfluß. Eine gewisse Beziehung hat sich während des vergangenen Sommers ergeben zu einem Verleger Otto Reichl in Darmstadt, dadurch, daß er die Schriften des Grafen Hermann Keyserling übernahm; es fällt mir eben ein, daß die "Logisch-philosophische Abhandlung" vielleicht an dieser Stelle einen passenden Verlagsboden fände. Wenn Sie die Bücher Keyserlings bedenken (zuletzt das bedeutende große "Reisetagebuch eines Philosophen") werden Sie diese Frage mit mir erwägen können. Nennen Sie mir überhaupt, nach Ihrem Ermessen, andere deutsche Verlage, - ich will Ihnen dann schreiben, wie weit ich bei dem oder jenem meine, mich geltend machen zu dürfen. Am Geist des "Brenner" wünsche ich nach wie vor betheiligt zu bleiben, auch ehe ich das neue Heft durchgesehen habe; leider aber muß ich's zunächst offen lassen, wie bald ich diese sympathische Zugehörigkeit beitragend zu beweisen vermöchte. Noch hab ich die eindringliche Erstarrung der Kriegsjahre in mir nicht überwunden, - ein paar Sommermonate im Bündner'schen waren ein Anfang dazu. Von den äußeren Umständen, die mich nächstens in einer Tessiner Gastfreundschaft erwarten, wird es zu einem Theile abhängen, ob ich den
Weg der Besinnung und Einkehr so still verfolgen darf, wie ich mir's erhoffe. Im herzlichsten Einverständnis Ihr R M Rilke P.S. Briefe über den "Lesezirkel Hottingen", Gemeindestraße, Zürich, oder auch über das Hotel Bellevue, Bern. Es erübrigte sich jedoch, diese Fährte weiter zu verfolgen. Schon hatte Bertrand Russell die Veröffentlichung von Wittgensteins Schrift in die Wege geleitet. Er gab ihr eine Einführung mit und ließ sie so 1921 im Abschlußheft von Ostwalds "Annalen der Naturphilosophie" und bald darauf unter dem Titel "Tractatus Logico-Philosophicus" 1922 als deutsch-englische Buchausgabe in London erscheinen. Die ungewöhnliche Beachtung, die sie im Kreis der Wiener Positivisten wie unter Fachgelehrten vornehmlich der englischen und amerikanischen Universitäten fand, konnte den Verfasser indes auch jetzt nicht bewegen, aus seiner Zurückhaltung herauszutreten. Die Ansicht aller immanenten Logistiker, der Klarstellung wahrer philosophischer Einsicht sei nur durch Absehen von aller Transzendenz und durch Abdichtung gegen jede Art von Metaphysik gedient, begegnete vermutlich in Wittgensteins Person und geistiger Veranlagung einer latenten Gegenströmung von Zweifeln und Vorbehalten, die ihren Ursprung für ihn in einer unkontrollierbaren Wirklichkeit jenseits alles Ersinnbaren, Berechenbaren, Diskutierbaren haben mochte und somit bereits der Zone eines absolut zu Beschweigenden angehörte. Stimmt das, dann befand er sich von der Logistik und ihrem zuständigen Fragenkomplex her - also nach entgegengesetzter Richtung vordringend dem Absoluten gegenüber wohl in einer ähnlichen Situation wie heute Martin Heidegger, dieser deutlich anders Geprüfte in seinem beharrlich revidierenden Existenzdenken von all dem tieferhin vor ihm und seiner eigenen Ausgesetztheit bis hin zur Seinsgrundfrage phänomenal in Frage Stehenden her: Antipoden beide, aber angezogen und angenähert noch in ihrer äußersten Divergenz von jenem Machtmagneten heimlich zentrierender Offenbarung im Wort, von dem keine Gegenanstrengung im konstanten Fluchtlinienraum der Welt und deren einsehbaren Ordnungen mehr loskommen wird. Entgeht doch keinem von uns, in welch beängstigendem und doch zugleich erhebendem Schwebezustand des Abkommens von geläufigen Anschauungen und Denkweisen wir uns heute befinden: eine Erfahrung, von der getragen das ehrwürdig Festgeglaubte, ja das unverrückt Anbetungswürdige in den Varianten unseres Heimgesuchtseins einem bereits höchst fragwürdig Daseienden zu weichen, aber in einemhin - und noch im Zwielicht dieses anbrechenden Tages aller Zwiespältigkeit sich entwindend - wie noch nie zu gleichen beginnt. In so anschaulich aufgehobene Ungereimtheiten, in so beherzte Analogiekurzschlüsse geht nun einmal die Logik der Welt samt aller Dialektik und Monologik des Lebens auf, soweit sie dem Geist der Sprache, der ja, wo er einleuchten soll, ein Geist der Wortwerdung durch Selbstbesinnung in uns ist, in Wahrheit verbunden bleiben will. Für die Tragweite dieser Erkenntnis dürften Dichter, in denen das Seherische noch mächtig ist, und in Berührung damit Denker, die im Morgengrauen ihrer innerweltlichen Orientierungsbedürfnisse - von abendländischer Eingeschlafenheit wie heilloser Aufgewecktheit gleich weit entfernt - sich unverdrossen um Erhellungen, um Vorfeldlichtungen ihres prüfend in den Augenblick versenkten Wagemuts bemühen, keine geringe Witterung besitzen. Eine, die, richtig eingesetzt und eingeschätzt, am Ende noch uns allen frommen mag. Besteht doch immer wieder Aussicht, daß dieser oder jener ehrfürchtig seinem Spürsinn Folgende dabei unversehens in den Ausstrahlungsbereich einer Transzendenz gerät, die noch den Traumwandler im Geiste das offene Geheimnis im Rätselblick einer Wirklichkeit ahnen läßt, die ihren verborgenen Seinsgrund wie ihren unerforschlichen Ratschluß ungescheut dem Quellgrund ihrer vielfältig zu Tage tretenden und gleichwohl zu gewaltiger Einfalt sich zusammenfindenden Erscheinungsformen anvertraut hat. Der Sprache des Glaubens zurückgegeben aber heißt das: anvertraut der unversieglichen Schöpfermacht des Wortes, das im Anfang und bei Gott war, in leidender Heilandsgestalt sich einmal auf uns zubewegt und als Geistleib noch des Auferstandenen zwischen Vorhölle und Himmelfahrt sich dem Gedächtnis jäh entbrannter Herzen eingeprägt und feurigen Zungen mitgeteilt hat. Auch läßt ja die Zeit in ihren offenkundigen Wandelaspekten wie im Undurchschaubaren ihrer Wesenheit uns nicht übersehen, daß in dem unabsehbaren Ineinander von Stillstand und Vorübergang, als das sie sich unserem beschränkten Verstand zu erkennen gibt, Verwirktes und Vergangenes in den Augenblick unserer jeweiligen Gegenwartsbesinnung nicht minder bedeutungsvoll aufzusteigen wie das, was wir Zukunft nennen, unheimlich einzudringen scheint. Durchzogen aber ist dies alles von einem Lethestrom der Todesvergegenwärtigung, der zur Genüge erhellt, daß in dem sogenannten Schicksalsablauf der Welt, mag vorläufig auch alles einem säkularen Irrlauf verfallen scheinen, sich nichts verleugnen und auch nichts ausklammern läßt, was in der Sehweite des Worts als Abglanz göttlicher Wahrheit zu Recht besteht und für den, der Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, als Zeugnis erleuchteten Weistums von Tag zu Tag an Glaubwürdigkeit gewinnt. "Wenn das gute oder böse Wollen die Welt ändert", heißt es einmal, entsprechend modifiziert, bei Wittgenstein, "so kann es nur die Grenzen der Welt ändern,
nicht die Tatsachen; nicht das, was durch die Sprache ausgedrückt werden kann." Berücksichtigt man, was hier - abschweifend scheinbar und doch unerläßlich - angedeutet ist, dann läßt sich leichter verstehen, daß und warum wohl Wittgenstein, als er nach sechs Jahren Lehrerdasein auf dem Lande 1926 diesen Beruf aufgab und nach Wien zurückkehrte, mit einer einzigen Ausnahme (im Lehr- und Lernbereich Professor Schlicks) keine Neigung verspürte, sich näherhin zu seinem Traktat zu äußern. Und auch, daß die allzu unbesorgte Freidenkerhaltung seines Freundes Russell seinem an sich kritisch veranlagten Geist und Gemüt mehr und mehr mißfiel. Das hinderte nicht, daß die Engländer, deren Sprache er beherrschte wie seine Muttersprache, seinem unbehaglichen Talent, verborgen zu leben und nichts aus sich zu machen, ein Ende zu bereiten wünschten und ihn, den schließlich Willfährigen, 1929 in ihr Land zurückholten, das er als Zwanzigjähriger einst betreten hatte, um in Manchester Maschinenbau zu studieren. Vom Trinity-College honoris causa zum Fellow ernannt, begann er in Cambridge zu unterrichten, wurde 1938 britischer Untertan und 1939 nach dem Tode des von ihm geschätzten G. E. Moore9(9) auf dessen Lehrstuhl für Philosophie berufen. Wie er sich mit dieser Lehrverpflichtung abfand, seine Schüler siebend und je nach Maßgabe ihrer Fähigkeiten zu selbständigen Nachprüfern seiner Diktate und Unterweisungen heranbildend, das ist uns von den Wenigen, die seinen Ansprüchen genügen und seinem Wesen Verständnis engegenbringen konnten, überliefert. Auch soll er nach wie vor in größter Bedürfnislosigkeit gelebt haben - ein Strohlager und ein Stuhl bildeten angeblich die ganze Einrichtung seiner dürftigen Unterkunft -, und diesem seinem Hang zu exemplarischer Selbstzucht und Genügsamkeit entsprach die selbstverständliche Bereitschaft, mit der er im zweiten Weltkrieg drüben seinen Verpflichtungen zunächst als Krankenträger10(10) in Spitalsdiensten und späterhin als Helfer in medizinischen Laboratorien nachkam. Und doch dürfte eine tief verankerte Gewissensunruhe mit der Grund gewesen sein, daß er 1948 seine nach Kriegsende wieder aufgenommene Lehrtätigkeit zu Gunsten einer problematischen Freizügigkeit aufgab, die er als Reservat einer so ungewöhnlichen Lebensführung allein noch sein nennen wollte, doch bald schon nicht mehr konnte angesichts des nahen Todes, den er dank der erbetenen Offenheit seines Arztes auf ein Jahr genau vorauswußte. All das ist inzwischen auch bei uns über die Kenntnis fachwissenschaftlich interessierter Kreise hinausgedrungen. Es hat seinen Niederschlag in vorerst noch spärlichen, aber aufschlußreichen publizistischen Würdigungen seiner Bedeutung als Denker wie als Mensch gefunden. So von Ludwig Hänsel (dem Mitbetreuer und Vorbereiter der Ferdinand-Ebner-Gesamtausgabe), der mit Wittgenstein als ein verständnisvoll ihm zugeneigter Freund die Kriegsgefangenschaft geteilt hat ("Wissenschaft und Weltbild", Wien, Oktober 1951); von Ewald Wasmuth, dem Pascal-Forscher, der ihn den berühmtesten, zugleich unbekanntesten Philosophen unserer Epoche nennt und in einer wohldurchdachten Analyse seiner Gedankenwelt auch auf das Mystische darin zu sprechen kommt ("Das Schweigen Ludwig Wittgensteins" in "Wort und Wahrheit", Wien, November 1952); von dem spanischen Philosophen José Ferrater Mora und dem englischen Schriftsteller Maurice Cranston ("Der Monat", Berlin-Frankfurt-München, Februar 1952), und von Ingeborg Bachmann, Wien, in einer einleuchtenden Skizzierung alles Denkwürdigen an ihm ("Frankfurter Hefte", Juli 1953). Was aus diesen Reminiszenzen und vorläufigen Überlegungen hervorgeht, mutet heute schon wie die Legende einer paradox vollendeten Selbstkasteiung vor den Ansprüchen einer Wirklichkeit an, die unseren Annäherungsversuchen unzugänglich ("Gott offenbart sich nicht in der Welt") nach Ansicht dieses unerbittlichen Verwerfers alles leichtfertigen Meditierens in dem zufälligen Gestaltwandel der in ihre Begrenztheit aufgehenden Welt und in der analog begrenzten Denk- und Aussagekapazität unseres an den äußersten Rand dieser (zwar variablen, aber unaufhebbaren) Begrenztheit verwiesenen Ichs keine sinnvolle Mitteilungsmöglichkeit besitzt: eine Theorie von einem Fertigkeitsgrad, wie man sieht, daß sie über sich und ihren eigentümlichen Endzeitaspekt innerhalb der Philosophiegeschichte unserer Tage, ob sie will oder nicht (aber will sie denn nicht?), schon wieder hinausweist. Bemerkenswert jedenfalls ist, daß sie in dem seltsamen Negativbild, das sie von den ausschweifenden Positivismen unserer Wissenschaftsfortschritte entwirft, Züge hervortreten läßt, die wiederum und nun erst richtig "neopositiv" zu wirken berufen sein mögen. Denn schon öffnet sich im Rückblick darauf ein Raum der Besinnung vor uns, der, an der Tiefsicht dieses sich selbst und sein zähes Wurzel- und Wachstumsgeflecht sorgfältig aushebenden Logikerverstandes gemessen, vielleicht nur noch einer letzten Aufhellung und Ausweitung ins Unmißverständliche seiner Beweggründe bedarf, um uns mit einiger Sicherheit beurteilen zu lassen, ob beispielsweise ein Satz wie dieser: "Unser Leben ist ebenso endlos, wie unser Gesichtsfeld grenzenlos ist", dem Horizont einer Zustimmung anzugleichen ist, wie sie unsereinem im Blick auf das Wort, das selber Mensch geworden ist, um uns sehend und noch als Verstummende mündig zu machen, ohne weiteres zu Gebote steht. Werden Wittgensteins "Philosophische Untersuchungen" - die nachgelassenen Schriften, deren Erscheinen eben angekündigt wird - uns in dieser Hinsicht klarer sehen lassen? Es wäre zu wünschen, so ungewiß es vorderhand ist. Denn die Ansichten derer, die Wittgenstein in seiner letzten Lebenszeit nahestanden - er starb, 62 Jahre alt, am 29. April 1951 zu Cambridge - und Einblick in diese seine Aufzeichnungen nehmen konnten, scheinen diesbezüglich noch auseinanderzugehen. Immerhin darf wohl beachtet und nicht bloß belächelt werden, was Hänsel als einen charakteristischen Zug neben anderen, glaubwürdig überlieferten, berichtet: daß Wittgenstein (den Mora wohl zu Unrecht ein Genie der Destruktion nennt) ernstlich besorgt war, seine Philosophie könnte - gegen
seinen Willen - zersetzend wirken; und daß er in einer Nacht, während seiner Lehrerzeit in Niederösterreich, das Gefühl hatte, gerufen worden zu sein und sich versagt zu haben.
Editorischer Bericht Als erster Band der Brenner-Studien erschienen 1969 im Otto Müller Verlag Ludwig Wittgenstein: Briefe an Ludwig von Ficker, herausgegeben von Georg Henrik von Wright unter Mitarbeit von Walter Methlagl. Dieses Büchlein, das neben den kommentierten Briefen noch Walter Methlagls Erläuterungen zur Beziehung zwischen Ludwig Wittgenstein und Ludwig von Ficker und Georg Henrik von Wrights gewichtigen Aufsatz über Die Entstehung des Tractatus Logico-Philosophicus enthält, hat seither große Beachtung in der Wittgenstein-Forschung gefunden. 1988 sind die Gegenbriefe Ludwig von Fickers in Wien gefunden und sogleich vollständig in den zweiten Band des Briefwechsels Ludwig von Fickers eingearbeitet worden, der noch 1988 erschienen ist. Band 1 und Band 2 dieses Briefwechsels enthalten - da es sich um eine Auswahlausgabe handelt hingegen nicht alle Briefe Wittgensteins an Ficker. Die neueren Arbeiten über Wittgenstein haben großteils die Briefe Fickers an Wittgenstein entweder nicht registriert, oder die zusätzlichen Erkenntnisse, etwa in Bezug auf die Spendenverteilung, nicht berücksichtigt. Dies liegt einerseit sicher darin begründet, daß man in einer Auswahlausgabe des Briefwechsels Ludwig von Fickers keine neuen Quellen für die Wittgenstein-Forschung vermutet, andererseits im Charakter dieser Ausgabe selbst, wo eben die Ficker-Wittgenstein-Korrespondenz zwischen vielen anderen Briefen zu liegen kommt. Nur Wilhelm Baum hat sich eingehend - leider nicht immer ganz sachlich - mit dem Verhältnis Ficker - Wittgenstein auseinandergesetzt: Wilhelm Baum: Wittgenstein über Ficker. Ludwig Wittgensteins Beziehungen zu Ludwig von Ficker und dem Brenner-Kreis. In: Inn (Innsbruck), Nr. 30, Mai 1993, S. 53-59. Vgl. dazu die Replik: Anton Unterkircher: Rufmord oder Selbstmord? In: Inn, Nr. 31, November 1993, S. 53-60 und Wilhelm Baums erweiterte, selbständige Publikation: Wittgenstein, Rilke und Ludwig von Ficker. Über die Schwierigkeit, einen Verleger für den „Tractatus logico-philosophicus“ zu finden. Wien: Turia & Kant 1993. Es lag daher nahe, alle bis jetzt bekannten Quellen zur Beziehung Fickers mit Wittgenstein eigens zusammenzustellen. Diese Arbeit ist zudem als Teilergebnis des am Brenner-Archiv laufenden und vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung geförderten Projekts des Gesamtbriefwechsels Ludwig Wittgensteins anzusehen. Sowohl die Text- als auch die Kommentargestaltung orientieren sich an die in diesem Projekt entwickelten Editionsrichtlinien. Obwohl also in den Kommentaren immer wieder auf Bd. 1 und 2 des Briefwechsels Ludwig von Fickers verwiesen wird, wird nach den neuen editorischen Richtlinien zitiert (im Ficker-Briefwechsel wurden einige Normierungen vorgenommen, z.B. ss wird zu ß, jetzt gibt es keine Normierung mehr). Der Kommentar wurde insgesamt überarbeitet und durch die neuen Erkenntnisse, die aus dem Wittgenstein-Briefprojekt gewonnen werden konnten, ergänzt. Weit über alle diese pragmatischen Überlegungen hinaus gewinnt diese Zusammenstellung aber mit der „Engführung“ von so bedeutenden Persönlichkeiten wie Rilke, Trakl, Wittgenstein und Ficker ein starkes Eigengewicht. Nicht zuletzt hat das Auftauchen der Abschrift der Duineser Elegien die Zusammenstellung und Gestaltung dieser Zusammenstellung mitbestimmt. Diese Abschrift wurde von Anton Unterkircher und Walter Methlagl in dem Aufsatz Rainer Maria Rilke und Ludwig Wittgenstein: Abschrift „Aus den Elegieen“ war das „herrliche Geschenk“ an den „unbekannten Freund“ erstveröffentlicht (Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv, Nr. 14, 1995, S. 9-35). Dort wurde in Ansätzen auch das „substantiell Verbindende“ dieser „Begegnung“ von Trakl, Rilke und Wittgenstein zu erklären versucht. Diese Zusammenstellung enthält 66 Briefe: 29 Briefe von Wittgenstein an Ficker, 19 Briefe von Ficker an Wittgenstein, 7 Briefe von Rainer Maria Rilke an Ficker, 6 Briefe von Ficker an Rilke, 2 Briefe von Georg Trakl an Wittgenstein, 1 Brief von Rudolf Molè an Ficker, 1 Brief von Karl Röck an Wittgenstein, 1 Brief von Leopoldine Wittgenstein an Ficker.
Textgestaltung Die äußere Form eines Briefes ist wesentlich mit der inhaltlichen Mitteilung verbunden. Die Papierwahl, ein vorgedruckter Briefkopf, bei handschriftlichen Briefen die Wahl des Schreibmaterials, die Schriftzüge und die Sorgfalt oder Nachlässigkeit bei der Abfassung liefern wesentliche Informationen über den Briefschreiber, die Art der Mitteilung und das Verhältnis der beiden Briefpartner mit. Bei der elektronischen Erfassung eines Briefes gehen daher wesentliche Informationen verloren und können durch formale Beschreibungen kaum, nicht einmal mit einem Faksimile vollständig wiedergegeben werden. Die "originalgetreue" Wiedergabe kann sich deshalb im wesentlichen nur auf den Brieftext beziehen, nicht aber auf die Form, die den Herausgebern selber überlassen bleibt, die aber nichtsdestoweniger konsequent gehandhabt werden muß. Jeder Brief wird mit einer Briefüberschrift (versal) begonnen, die den Namen des Adressaten (bei Briefen Wittgensteins) oder Verfassers und das Abfassungsdatum enthält. Aus Gründen der Übersichtlichkeit stehen vorgedruckte Briefköpfe (Absender, Telefon usw.) am Satzspiegel links
oben, das in Briefköpfe integrierte Datum rechts oben. Sie werden im Kommentar als solche gekennzeichnet. Druckgraphiken werden nur im Kommentar angegeben und nach Möglichkeit beschrieben. Handschriftliche Briefköpfe werden an dem Ort und in der Reihenfolge angeführt, wie im Original. Die Adressenangabe folgt, nach einer Leerzeile, ebenfalls am linken Rand des Satzspiegels. Bei vorgedruckten Adressen- und Absenderschablonen, werden diese vorgedruckten Textteile als zum Text gehörig betrachtet, wenn sie in die Formulierung eingebunden werden. Einen Sonderfall stellen die Absender- und Adressenangaben bei Postkarten dar, die ja zumeist handschriftlich vorliegen und somit als zum Brieftext gehörig betrachtet werden. Hier erfolgt die formale Darstellung, wie oben angeführt. Adressen- und Absenderangaben auf Kuverts werden nur im Kommentar vermerkt. Nach einer Leerzeile folgt der eigentliche Brieftext, wo versucht wird, sich so weit wie möglich an das Original zu halten: Orts- und Datumsangaben stehen ungefähr an der vom Original vorgegebenen Stelle, es gibt in der Wiedergabe nur links- oder rechtsbündig (im Zweifelsfall rechtsbündig). Der Poststempel wird immer in folgender Form wiedergegeben: [Poststempel: Ort, Tag.Monat.Jahr]. Die Schrift des Poststempels (z.B. Versalien oder römische Zahlen für die Monatsangabe) wird möglichst originalgetreu wiedergegeben. Unleserliche oder unsichere Teile werden mit „?“ gekennzeichnet. Im Kommentar wird der Poststempel als Zitat unter Anführungszeichen wiedergegeben, hier werden dementsprechend nur fragliche Stellen in eckiger Klammer angeführt. Datumsverschreibungen werden nicht korrigiert, da die Briefüberschrift das berichtigte Datum enthält. Anredeformeln , die im Original vom übrigen Text durch entsprechend größeren Zwischenraum oder Zeilenabstand abgehoben sind, werden, wie jeder Absatz eingerückt, danach folgt eine Leerzeile. Ist die Anrede nicht abgehoben, wird sie in den Brieftext intergriert. Absätze werden durch Einrückung gekennzeichnet, größere Abstände zusätzlich durch eine Leerzeile. Durchstreichungen werden nur dann (im Kommentar) erwähnt, wenn eine deutliche Änderung der Autorintention erkennbar ist. Alle Fehler und Verschreibungen werden ohne das im Text oft störende [sic!] wiedergegeben. Bei schweren oder sinnstörenden Schreibfehlern erfolgt, damit nicht der Eindruck eines Tippfehlers entsteht, ein Verweis im Kommentar. Bei den für Wittgenstein typischen Fehlern, z.B. "wol" statt wohl wird ein solcher Verweis nicht für nötig erachtet. Schwer leserliche Stellen und Ergänzungen durch die Herausgeber werden mit eckiger Klammer gekennzeichnet. Das bei Wittgenstein regelmäßig verwendete Symbol für "und" wird mit "&" wiedergegeben. Beim Erscheinungsbild dieses Kürzels im Original kann man an das mathematische Zeichen für die Addition, das "+" denken. Dem widerspricht die Tatsache, daß in den meisten Fällen eine andere Art von Kopula herauszulesen ist und daß auch die Geschwister Wittgensteins dasselbe Kürzel verwendet haben. Das Zeichen muß unter allen Umständen von seiner Pragmatik her gelesen werden, die nicht - wie es der Gebrauch des "+" zwingend nahelegt - den Duktus der Argumentation optisch zerteilt; vielmehr soll das Zeichen als Verkürzung der Kopula "und" Teile der Argumentation in einem gespannten Bogen zusammenführen. Die Grußformel steht immer am linken -Rand des Satzspiegels, unabhängig von der Vorlage. Die Unterschrift immer am rechten Rand des Satzspiegels, unabhängig von der Vorlage. Postskripte u.ä. folgen immer nach einem Zeilenabstand. Beilagen folgen immer - abgehoben durch einen Zeilenabstand - am Schluß des Brieftextes, vorausgesetzt sie stehen mit dem Brieftext in engem Zusammenhang, oder stammen vom Schreiber (z.B. eine Gedichtabschrift u.ä.). Selbständige Beilagen, z.B. Zeitungsausschnitte, Sonderdrucke, Flügblätter, Bücher u.ä. werden im Kommentar beschrieben. Für alle oben angeführten Punkte gilt: - Wenn keine eindeutige Reihenfolge von Texteilen erkennbar ist, etwa durch Überschreibungen, Notizen an den Rändern usw., dann wird nach dem normierten Schema vorgegangen. - Die verschiedensten graphischen Gestaltungen, Einrückungen, Zentrierungen u.ä. werden bei Adressenangaben, Grußformel u.ä. einheitlich nur durch Absätze angedeutet. - Für alle Besonderheiten, die formal nicht eindeutig oder ungenau dargestellt werden können, finden sich Hinweise im Kommentar.
Kommentar
Der allgemeine Kommentar beginnt mit der Bezeichnung der Textgattung. Gegebenenfalls folgt die Beschreibung der Papierart, von Beilagen und handschriftlichen Zusätze von anderen Personen. In diesen allgemeinen Teil fallen auch Bemerkungen zur Datierung. Fehlende Angaben, z.B. der Poststempel auf einer Postkarte, werden nicht eigens vermerkt. Der Einzelstellenkommentar versucht alle im Brief vorkommenden Personen, Orte, Ereignisse und Anspielungen zu klären.Nicht jeder Zusammenhang und jede Einzelanspielung kann geklärt werden. Dies hängt einerseits vom Wissen und den Recherche-Möglichkeiten ab, andererseits von der Quellenlage, die eine Klärung derzeit nicht zuläßt. In diesen Fällen wird die Formel "nicht ermittelt" verwendet.
Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur Der Brenner. Hg. von Ludwig von Ficker. Innsbruck 1910 - 1954 = B Ludwig von Ficker: Briefwechsel Bd. 1: 1909 - 1914. Salzburg: Otto Müller 1986 (Brenner-Studien 6) = Bd. 1 Ludwig von Ficker: Briefwechsel Bd. 2: 1914 - 1925. Innsbruck: Haymon 1988 (Brenner-Studien 8) = Bd. 2 Georg Trakl: Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 1, 2. 2. Aufl. Salzburg: Otto Müller 1987 = HKA I, II Hermine Wittgenstein: Familienerinnerungen. Wien, Hochreit, Gmunden 1944 - 1947 (Typoskript) = Familienerinnerungen. Ludwig Wittgenstein: Briefwechsel. Briefwechsel mit B. Russell, G. E. Moore, J. M. Keynes, F. P. Ramsey, W. Eccles, P. Engelmann und L. von Ficker. Hrsg. von B. F. McGuinness und G. H. von Wright. 1 Aufl. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980 = Briefe. Ludwig Wittgenstein: Geheime Tagebücher 1914-1916. [Die Namengebung stammt von der allerdings sehr fehlerhaften Edition von Wilhelm Baum. 2. Aufl. Wien: Turia & Kant 1991; zitiert wird nach der normalisierten Fassung von Wittgenstein's Nachlass. The Bergen Electronic Edition, 1998]. = Geheime Tagebücher.
Verzeichnis der Bilder Im Text sind die Bilder über das Symbol verknüpft. Alle Originale befinden sich im Brenner-Archiv, Universität Innsbruck, Josef-Hirn-Str. 5, 6020 Innsbruck Ludwig Wittgenstein an Ludwig von Ficker, 14.7.1914, Seite 1, Seite 2 Ludwig von Ficker an Ludwig Wittgenstein, 27.7.1914, Seite 1, Seite 2 Rainer Maria Rilke: Verse. (Veröffentlicht in: Brenner-Jahrbuch 1915, S. 60-61), Seite 1, Seite 2 Georg Trakl: Helian (Sonderdruck), Seite 1, Seite 2 Georg Trakl: Kaspar Hauser Lied (Sonderdruck), Seite 1, Seite 2 Prospekt der Zeitschrift „Der Brenner“, 1919. Der Brenner, 18. Folge, 1954 (Umschlag)
Namenregister des Brieftextes Barnett-Lasker, Jonathan Bertold Bauch, Bruno Beiträge zur Philosophie des deutschen Idealismus Braumüller Verlag Brenner Verlag Brücke, Ernst Theodor Dallago, Carl Däubler, Theodor Der Brenner Die Fackel Ehrenstein, Albert Ficker, Ludwig von Frege, Gottlob Haecker, Theodor Hauer, Karl Hauptmann, Gerhart Heinrich, Karl Borromäus Insel Verlag Jahoda & Siegel
Kassner, Rudolf Kastil, Alfred Keyserling, Hermann Kierkegaard, Sören Kokoschka, Oskar Kranewitter, Franz Kraus, Karl Langen-Trakl, Margarethe Lasker-Schüler, Else Lasker-Schüler, Paul Lechner, Kurt Loos, Adolf Molè, Rudolf Mombert, Alfred Münsterberg, Hugo Neugebauer, Hugo Noaille, Comtesse de Oberkofler, Joseph Georg Otto Reichl Verlag Reclam Verlag Rilke, Rainer Maria Röck, Karl Russell, Bertrand Sauer, August Schlaf, Johannes Schwarzwald, Eugenia Schwarzwald, Hermann Sjögren, Hermine Stoessl, Otto Szybínsiki, ? Tesar, Ludwig Erik Thurn und Taxis, Marie von Tolstoi, Leo Tractatus Trakl, Georg Wagner, Hermann Wanicek, ? Weininger, Otto Weiß, Richard Wittgenstein, Karl Wittgenstein, Leopoldine
Schokoladenbriefe. Die Briefe von Stanislaus und Adele Jolles an Ludwig Wittgenstein. Herausgegeben von Anton Unterkircher Im Auftrag des Forschungsinstituts Brenner-Archiv der Universität Innsbruck. Innsbruck, Herbst 2001 Die Briefe VON STANISLAUS JOLLES, 17.7.1914 Berlin-Halensee, d. 17/VII 14
Sehr werter Herr Wittgenstein, Eben krame ich in einem lange nicht durchgesehenen Fache und finde Ihr Manuskript. Nun wollten Sie es zwar früher nicht zurück haben, ich sollte es vernichten! Jetzt werden Sie wohl über Ihr Kleines milder denken und so sende ich es Ihnen zu. - Bei uns geht's nicht ganz gut, da meine Frau das Bett hüten muß. Ich denke aber Sie wird sich in einigen Tagen besser fühlen. Mit besten Wünschen für Ihre Ferien und herzlichem Händedruck Ihr alter Moralprediger Professor Dr Stanislaus Jolles
VON STANISLAUS JOLLES, 25.9.1914 Stanislaus Jolles, Berlin Halensee, Kurfürstendamm Nr. 130 Oesterreich-Galizien Krakau Feldpost Nº 186 An den Kriegsfreiwilligen Herrn Ludwig Wittgenstein Militärkommando K. K. Oesterr.-Ungar. Festungsartillerie Regiment Nr. 2 2. Kader Berlin-Halensee, d. 25. IX. 14 Kurfürstendamm 130III Lieber Herr Wittgenstein, Bitte schreiben Sie doch ein Datum auf Ihre Postkarten, da dieses und d. Poststempel auf Ihrer soeben eingetroffenen Karte fehlt, wissen wir garnicht, wann Sie geschrieben u. mit von der "Goplana" nach Krakau zurückgekehrt sind. Ich habe nie so oft und noch dazu mit einer solchen Herzensfreude an Sie gedacht, wie jetzt. So Gott will geht es Ihnen weiter gut! Lassen Sie recht oft und bald von sich wieder hören. Gestern traf die definitive Bestätigung der Freudenbotschaft ein, daß unser Unterseeboot U. 9 drei große Engl. Kreuzer bei Hoek van Holland in den Grund durch Torpedos gebohrt hat und heute lese ich aus Engl. Quelle, daß unsere Emden die Oeltanks in Madras zerstört hat u. im Indischen Ozean Engl. Handelsdampfer im Werte von 18 Millionen Mark versenkt hat. Nur so fort! Herzlichst Ihr alter Stanislaus Jolles
VON ADELE JOLLES, 2.12.1914 Prof. Jolles Kurfürstendamm 130 Herrn Ludwig Wittgenstein Armeekommando Krakau Feldpost 186 S. M. S. "Goplana" Oesterr. Galizien 2. 12. 14 Berlin-Halensee Kurfürstendamm 135 Lieber Herr Wittgenstein besten Dank für Ihre Karte. Wenn Sie nur statt des Telegrammstyls einige Zeilen mehr schrieben! Oder tun Sie dies nur dann, wenn Sie unangenehm werden?! (Datum fehlt leider wieder!) Bitte erkundigen Sie sich, ob ich Ihnen ein gewöhnliches, - nicht Feldpostpaket - schicken kann, denn sonst sind nur 1/2 £pakete zugelassen, ausnahmsweise 500 Gr. Ein solches Pfundpaket sende ich Ihnen mit - Brodware, da Sie ja solch ein Brodesser sind u ich nicht weiss, ob Sie ausser Kommisbrot etwas bekommen können. Sie werden sicher von Ihrer Frau Mutter gut versorgt, aber in Conserven haben wir hier wohl mehr Auswahl. Schreiben Sie mir was Sie gern mögen - aber bald. Und der Weihnachtsbesuch!? Viele Grüsse A.J.
VON ADELE JOLLES, 7.12.1914
Prof. Dr. Jolles Halensee bei Berlin Kurfürstendamm 130III Feldpost Nº 186 An den Kriegsfreiwilligen Ludwig Wittgenstein S. M. S. "Goplana" Armeekommando Krakau Oesterr. Galizien 7. 12. 14. Lieber Herr Wittgenstein, ich habe Ihnen vor etwa einer Woche etwas Mundmunition gesandt u heute einen Stollen u bitte Sie mir mitzuteilen, ob Sie die Sachen erreichen. Wenn Sie auch von Wien aus sicher gut versorgt sind, so werden Sie ebenso sicher viele Compagnons finden. Wenn die Sachen ankämen, so bekäme man Mut mehr zu schicken. Sollten Sie etwas haben wollen, so schreiben Sie. Besten Gruss A.J. Prof. Dr. Jolles Halensee bei Berlin Kurfürstendamm 130III
VON ADELE JOLLES, 9.12.1914 Prof. Dr. Jolles Halensee bei Berlin Kurfürstendamm 130III Feldpost N° 186 An Herrn Ludwig Wittgenstein K. K. Militärkommando Krakau Oesterr. Galizien S. M. S. "Goplana" 9. 12. 14. Danke für Nachfrage. Es geht mir wenig gut. Freue mich, dass Sie sogar zum Arbeiten kommen. Haben Sie 2 Karten u 2 Paketchen erhalten? Gruss A.J. Frl. Kammerer sehe ich nicht, da ich sie noch nicht habe in der neuen Villa besuchen können. Was für Nachrichten haben Sie von Ihrem Bruder? Fragen beantworten Sie weniger als je - d.h. gar nicht
VON STANISLAUS JOLLES, 21.12.1914 Jolles-Berlin-Halensee Kurfürstendamm Nr. 130 Oesterreich-Ungarn! K. u. K. Feldpostamt 186 An Herrn Ludwig Wittgenstein K. u. K. Werkstätte der Festung Krakau Art. Autodetachement. Berlin-Halensee, d. 21/XII 14 Lieber Herr Wittgenstein, Nochmals alles gute zu Weihnachten und viele Wünsche zum Jahreswechsel, vor allem bleiben Sie gesund. Gleichzeitig geht ein kleines Paket Schokolade an Sie ab, hoffentlich kommt es auch an. Mit herzlichem Händedruck Ihr alter Stanislaus Jolles.
VON STANISLAUS JOLLES, 28.12.1914 Jolles, Berlin-Halensee Kurfürstendamm Nr. 130. Feldpostkarte nach Oesterreich-Galizien An den Kriegsfreiwilligen Herrn Ludwig Wittgenstein K. u. K. Art Autodetachement "Oberleut. Gürth" Feldpost 186 Krakau Berlin-Halensee, d. 28. XII. 14. Lieber Herr Wittgenstein Eben trifft Ihre Karte v. 24. d. Ms. ein, Sie sehen, es geht jetzt mit der Post recht schnell. Daß Sie viel zu tun haben, kann ich mir in einem Auto-Detachement vorstellen. Besonders bei den schlechten Polnischen und Galizischen Wegen muß die Abnutzung der Autos eine sehr starke sein. Wie finden Sie nur dabei noch Lust und Kraft zu Ihrer Arbeit? Uebernehmen Sie sich nur nicht, und vergessen Sie nicht, sich nach der Tagesmühe ordentlich zu erholen. Mich freut's zu hören, der Stollen meiner Frau hatte Sie erreicht, und Sie verzehrten ihn mit Andacht. Möglicherweise erreicht Sie auch mein letzthin abgesandtes kleines Schokoladenpaket, und Sie können dann Ihre Andacht auch diesem Gebiete widmen. Haben Sie sich in Krakau schon umgesehen? Insbesondere werden Sie die Veit Stoßeschen Arbeiten und die Czartoryski'sche Gemäldesammlung interessieren! Mit herzl. Händedruck und besten Wünschen Ihr alter Stanislaus Jolles.
VON STANISLAUS JOLLES, 1.1.1915 Jolles, Berlin-Halensee Kurfürstendamm 130III Feldpostkarte nach Oesterreich-Galizien An den Kriegsfreiwilligen Herrn Ludwig Wittgenstein K. u. K. Art. Auto-Detachement "Oblt. Gürth[“] Feldpost 186 Krakau Berlin-Halensee, d. 1. I. 1[5] Lieber Herr Wittgenstein, Es freut mich sehr, daß Sie den "Schokoladenbrief" erhalten haben; merkwürdigerweise gehen die Briefe an Sie ungleich schneller, als die an unsere Krieger! Vor kurzem stand hier der Bericht eines Deutschen Berichterstatters über d. Oesterr. Ung. Autodetachement, alle Hochachtung vor Ihren Leistungen! So Gott will tragen "Ihre Reparaturen" ordentlich dazu bei den Russen endgültig das Fell zu vergerben! Nochmals alles gute zum neuen Jahre, möge bald ein ehrenvoller Friede kommen, mögen Sie weiter gesund und munter bleiben und möge sich "der Geist des Datums" auf Sie herabsenken, auf daß Sie eine solche Angabe nicht nur alle Jahr einmal machen! Herzlichst Ihr alter Stanislaus Jolles.
VON ADELE JOLLES, 2.1.1915 Prof. Dr. Jolles Halensee bei Berlin Kurfürstendamm 130III Feldpost 186 An den Herrn Ludwig Wittgenstein Art. Auto Detachement der Werkstätte der Festung
Krakau Oesterr. Galizien Berlin-Halensee 130 Kurfürstendamm 2. 1. 15. L .H. W. Sie haben den Stollen erhalten u ihn sogar gegessen, u haben ihn nicht den Petrefakten zugewiesen. Da hört die Weltgeschichte auf! - Bekommen Sie denn in der Stadt alles was Sie brauchen? Ich höre, die Postverbindung mit Wien wäre schlechter als mit Berlin - also schreiben Sie doch ob u was man Ihnen schicken kann. - Der Artikel in der Ihnen zugeschickten Zeitung, betrifft sicher die Werkstätte der Sie zugeteilt sind, denn leider ist die Auswahl an Städten wo sie sich befinden könnte arg beschränkt. Nun habe ich doch auch eine Ahnung was Sie zu tun haben! Und Sie wissen, ich habe blindes Vertrauen in Ihre Reparaturfähigkeiten für Näh u alle anderen Maschinen! Herzlichst A.J.
VON ADELE JOLLES, 20.1.1915 Prof. Dr. Jolles Halensee bei Berlin Kurfürstendamm 130III Feldpost N° 186 Herrn Ludwig Wittgenstein Werkstätte des Art. Auto Detachements Festung Krakau Oesterr. Galizien Berlin-Halensee 130 Kurfürstendamm [Poststempel: 20. 1. 15] Lieber Herr Wittgenstein, nach dem wir eine zeitlang öfters, wenn auch immer gleich bleibende lakonische, Nachrichten von Ihnen hatten, hören wir jetzt schon eine ganze Weile wieder gar nichts. Wie geht es Ihnen? Haben Sie unsere Karten erhalten? Auch die mit Antwortformular? Viele Grüsse A.J.
VON STANISLAUS JOLLES, 25.1.1915 Jolles, Berlin-Halensee Kurfürstendamm 130III Feldpostkarte nach Oesterreich-Galizien An den Kriegsfreiwilligen Herrn Ludwig Wittgenstein K. u. K. Art. Autodetachement "Oblt. Gürth["] Feldpostamt 186 Krakau Berlin-Halensee, d. 25. I. 15. Lieber Herr Wittgenstein, Sie sind ein "Obersakramenter"! Wenn ich den Namen Ihres Vorgesetzten kennen würde, so würde ich ihn veranlassen Ihnen auf dienstlichem Wege beizubringen, Sie müssten Ihre Postkarten mit dem Datum versehen. Zum Glück ist wenigstens eine der 3 heute von Ihnen eintreffenden Karten gestempelt, und somit kann ich als Mathematiker berechnen, daß Ihre Nachrichten von Krakau bis hierher 10 Tage, mein "Cakesbrief" aber nach Krakau 3 Wochen unterwegs war. Wir waren, da wohl in diesem Jahre noch kein Lebenszeichen von Ihnen eingetroffen war, Ihrethalben in Sorge. Immer wieder freue ich mich Sie bei einer technischen Abteilung beschäftigt zu sehen, Sie werden da recht von Nutzen sein! Kürzlich stand hier in den Zeitungen ein langer lobender Aufsatz
über die K. u. K. Autoreparaturwerkstätte in Galizien. Meine Frau hat Ihnen denselben eingeschickt, habe[n] Sie ihn erhalten? Hier will's immer noch nicht Winter werden, wenig helle Tage, sonst wolkig und regnerisch, das richtige Influenzawetter; sie ist auch bei uns dreien "in die Erscheinung getreten", wir sind aber secundum ordinem nun wieder aus dem Bett. Bleiben Sie originell, und machen Sie uns so etwas nicht nach! Sobald wieder Caker oder Schokoladenbriefe angenommen werden, lasse ich sowas wieder an Sie abgehen, damit Sie die Autos ordentlich flicken können. "Sodawasser und Himbeerbriefe" gehen noch nicht ab, Schade! Alles Gute Herzlichst Ihr alter Stanislaus Jolles.
VON STANISLAUS JOLLES, 10.2.1915 Jolles, Berlin-Halensee Kurfürstendamm 130 Feldpostkarte nach Krakau (Oesterr.=Galizien) An den Kriegsfreiwilligen Herrn Ludwig Wittgenstein K. u. K. Art. Autodetachement "Oberleutnant Gürth" Feldpostamt 186 Berlin-Halensee, d. 10. II. 15. Lieber Herr Wittgenstein, Nach 12tägiger Fahrt trifft eben Ihre Karte vom 29. Januar ein. Schade, daß einer meiner Schokoladenbriefe nicht angekommen ist, wie Sie mitteilen, hoffentlich erreicht Sie aber einer, den ich gestern an Sie absendete. Als was dienen Sie eigentlich? Sind Sie nach unsern Deutschen Begriffen ein Gefreiter, Unteroffizier, Feldmarschall-Leutnant, u.s.w.? Bisher habe ich das aus Ihren 6 Adressenangaben nicht ersehen können, obgleich diese insofern interessant sind, als jede von der andern verschieden ist! Aber jedesmal freue ich mich doch über Ihre Karten, umsomehr als meine Freude eigentlich mit Neid gemischt ist. Sie junges Menschenkind helfen da draußen tapfer mit, während ein so alter Kerl wie ich zu nichts mehr nutz ist. Alter ist eben ein zweifelhafter Vorzug! Lassen Sie sich's weiter gut gehen! Mit freundlichen Grüßen Ihr alter Stanislaus Jolles.
VON ADELE JOLLES, 12.2.1915 Kurfürstendamm 130 Berlin-Halensee 12. 2. 15 Lieber Herr Wittgenstein ein Brief ist des andern wert - u so schreibe ich Ihnen auch mal einen Brief statt einer "Feldpostkorrespondenzkarte." Hoffentlich hat Ihnen die übergrosse Anstrengung nicht geschadet! Eines ist sicher: als Kriegscorrespondent können Sie der K. u K. Armee nicht zubeordert werden. Eher als Telegraphist. Wenn ich die langen Berichte aus Antwerpen, Madrid etc. ansehe die uns zukommen u daneben Ihre Karten! Nachdem ich nun weiss, dass Sie der militärischen Disciplin unterworfen sind - putziger Gedanke! - werde ich mich nächstens an einen Vorgesetzten von Ihnen wenden, er möchte Ihnen befehlen richtiggehende Briefe mit anständigem Inhalt, - dass man von Ihnen weiss wie u wo u wann, - zu schreiben. Also besten Dank zuförderst für den heutigen, mit dem zugleich Ihre Karte v. 3/2 ankam. Beide mit Datum versehen! Wenn Ihnen das nur gut bekommt. Ich hätte Ihnen natürlich schon längst einen Stollen geschickt, nachdem Ihnen der erste gut geschmeckt hat, wenn ich nur wieder in die Stadt gekommen wäre - wo er besorgt war. Aber ich bin diesen Winter solch armseliger Wurm, der beinahe immer invalide ist u kaum vor die Thüre kommt. Ueberdies giebt es jetzt strenge Backmassregeln. Nächstens bekommt man Brod nur noch nach Vorzeigen und Abgeben von Brodmarken u wenn man Gäste hat, kann man ihnen kein Brod vorsetzen, es wäre denn man knopst es sich vom Munde - wörtlich - ab. Uh weh, was wird dann mit solchem Brodesser wie "der kleine Wittgenstein." 2 Kilo Brot incl. Semmeln, Wecken etc. kommt auf die Person pro Woche. Wenn Sie uns also nächstens besuchen, dann vergessen Sie Ihre Brotkarte nicht; ach nein, ich habe noch Knäkebrod für Sie aufbewahrt im Kriegsvorrat, also riskiren Sie es immerhin. Wer ist Herr Oberleutnant Gürth? Wohnen Sie mit ihm? Es freut mich, dass Sie bessere Nachrichten von Ihrem Bruder haben. Ist er denn noch in Gefangenschaft? Wenn Sie Zeit zum Lesen haben, holen Sie sich Berlioz "Erinnerungen". Ich würde Ihnen mein Exemplar schicken,
ich fürchte aber es könnte nicht ankommen. Es wird Sie sicher interessieren. Der "Cornet" wird jetzt mit Musik verzapft. Das Clarinettenquintett ist fabelhaft womit ich Sie herzlich grüsse A.J. Was sagen Sie zu den Italienern? wenn ich schriebe, was ich darüber denke, würde der Brief womöglich bei der "Überprüfung" schlecht wegkommen. Möge es ihnen vergolten werden, Amen, Amen, Amen. Solch ein Pack. 30 Jahre haben sie alle Vorteile des Dreibundes eingeheimst, sind, gestützt u beschützt durch ihn zu einer Blüte gelangt von der Niemand geahnt hat u jetzt Dass Sie sich freiwillig gestellt haben, freut mich immer aufs neue.
VON ADELE JOLLES, 19.2.1915 Frau Prof. Jolles 130 Kurfürstendamm 130 Feldpost N° 186 An den Herrn Ludwig Wittgenstein Art. Werkstätte der Festung Krakau Oesterr. Galizien 19. 2. 1915 Berlin-Halensee Kurfürstendamm 130 Lieber Herr Wittgenstein, ich habe versucht Ihnen hier draussen einen Stollen zu bestellen - schnell noch vor Torschluss, denn von Morgen ab geht es nicht mehr. Das wäre also der 2te Stollen, nun müsste der Abgesang folgen! Ob er ankommt u Ihnen ebenso gut schmeckt, steht allerdings dahin. Er ist eben fortgeschickt. Chokolade u Cakespakete stammten nicht von mir - das ist das Rayon meines Mannes. So fertige Ladenpakete mag ich nicht. Soeben teilt mir die Conditorei mit, dass sie mir doch noch einen Abgesang-Stollen backen wollen. Ich werde Ihnen also ev. morgen den Abgesang schicken. Dem heutigen Pakete lag auch eine Tube Honig bei Nächstens darf man auch grössere Pakete schicken - die gehen aber ewig lang. Viele Grüsse AJ. Wohnen Sie in der Stadt, od. ausserhalb? Haben Sie m. Brief erhalten?
VON STANISLAUS JOLLES, 20.2.1915 Jolles, Berlin-Halensee Kurfürstendamm Nr 130 Feldpostkarte nach Oesterreich-Galizien An den Landsturm-Ingenieur Herrn Ludwig Wittgenstein. K. u. K. Art. Werkstätte der Festung Krakau Feldpost Nr. 186 Berlin-Halensee, d. 20. II. 15. Lieber Herr Wittgenstein, Also Landsturm-Ingenieur sind Sie, das hätte ich nicht vermutet, da ich mir darunter einen Mann in 40ergn vorgestellt hatte. Jedenfalls sind Sie aber bei Ihrer Geschicklichkeit am rechten Fleck und bei den schlechten Galizischen Wegen wird's genug Autos zum Ausbessern geben! Es freut mich herzlich aus Ihrem Briefe an meine Frau zu entnehmen, daß Sie Gelegenheit haben gute Musik zu hören. Das kann Sie wenigstens trösten, wenn mein Schokoladenbrief verspätet ankommt oder gar ausbleibt. Vor einigen Tagen erhielt ich von der [...] ein Dankbrief für Zigarren, die ich am 21.XI.14 abgesendet und dort sage und schreibe am 12.II.15 angekommen waren. Ich kann mir das nur dadurch erklären, daß der Postbote d. Paket zu Fuß hingebracht hat und bei d. Marsche seine Gesundheit durch größere Pausen kräftigte. Im Heutigen sende ich mit dieser Karte einen Cakesbrief an Sie ab, als Belohnung für die Beantwortung einer Frage, sonst sind Sie ja darin der reine Lohengrin. Mit herzlichen Grüßen Ihr alter Stanislaus Jolles.
VON STANISLAUS JOLLES, 5.3.1915 Feldpostkarte Oesterreich-Galizien
An den Landsturm-Ingenieur Herrn Ludwig Wittgenstein K. u. K. Art. Werkstätte der Festung Krakau Feldpost 186. Berlin-Halensee d. 5. März 15. Lieber Wittgenstein, Also meine Cakessendung war eine Belohnung für Ihr Verschlafen! Da sieht man, was eine solche Sendung für einen pädagogischen Zweck hat. Aber für einen nüchternen Magen, noch dazu nach Werkstättearbeit, waren die paar Cakes doch zu wenig! Was treiben Sie denn jetzt in d. Werkstätte, flicken Sie noch Autos? Herzlichst Ihr alter Stanislaus Jolles.
VON STANISLAUS JOLLES, 9.3.1915 Stanislaus Jolles Berlin-Halensee Kurfürstendamm 130III Feldpostkarte nach Oesterreich-Galizien An den Landsturm-Ingenieur Herrn Ludwig Wittgenstein K. u. K. Art. Werkstätte der Festung: Krakau Feldpost Nr. 186 Berlin-Halensee, d. 9. III. 15. Lieber Herr Wittgenstein, Cakes sind augenblicklich bei meinem Lieferanten ausgegangen, somit sende ich zur Abwechslung einen Schokoladenbrief. Kürzlich las ich, eine Sächs. Firma liefert Kaffeetabletten für unsere Krieger an die Front. Ihnen solche Tabletten zu senden, habe ich aber nicht über's Herz bringen können, da ich mir die Folgen, welche ein Sächs. Kaffee auf Ihren Oesterreichischen Magen ausüben könnte, als katastrofal vorstelle. Sollten Sie aber wieder einmal zu lange schlafen, so muß ich doch zu Ihrer Besserung zu einer solchen Tablettensendung schreiten. Herzlichst Ihr alter Stanislaus Jolles.
VON STANISLAUS JOLLES, 16.3.1915 Jolles, Berlin-Halensee Kurfürstendamm Nr. 130III Feldpostkarte nach Oesterreich-Galizien. An den Landsturmingenieur Herrn Ludwig Wittgenstein K. u. K. Art. Werkstätte der Festung Krakau Feldpost Nr. 186. Berlin-Halensee, d. 16. III. 15 Lieber Herr Wittgenstein, Also Sie wollen wieder an die Front, glauben Sie nicht bei Ihren technischen Fähigkeiten mehr in der Werkstätte nützen zu können? Hoffentlich ist vor der Ausführung dieses Entschlusses der schon angekündigte Schokoladenbrief bei Ihnen eingetroffen, so daß Sie gegen Verhungern geschützt sind! Jedenfalls bitte ich gleich um Mitteilung, wann Sie Krakau verlassen und wie Ihre neue Adresse lauten wird. Mit den besten Wünschen u. Grüßen Ihr alter Stanislaus Jolles.
VON ADELE JOLLES, 20.3.1915 Prof. Jolles - Berlin Halensee Kurfürstendamm Nr. 130 Feldpost Nº 186 An den Herrn Ludwig Wittgenstein Art. Werkstätte der Festung Krakau Oesterr. Galizien Berlin-Halensee 130 Kurfürstendamm 20. 3. 15. Sie hüllen sich in Schweigen; d.h. bis auf die Karte an m. Mann. Den Abgesang konnte ich nicht fortschicken; er war gewogen u zu schwer befunden. Wir mussten ihn also selbst verzehren u dabei stellte ich fest, dass er recht schlecht schmeckte. Ich kann nur hoffen, dass der zweite Stollen besser war (der erste stammte noch aus der seligen Weizenmehlzeit) als der Abgesang. In folge dessen zögere ich Ihnen diesen kulinarischen Genuss zukommen zu lassen. Oder soll ich quand même? - Hoffentlich führen Sie Ihren Entschluss zur Front zu gehen nicht aus; dort sind Sie einer unter sehr Vielen, u keiner der Kräftigsten, hier füllen Sie Ihren Platz sicherlich mehr als aus. Besten Gruss AJ.
VON STANISLAUS JOLLES, 25.3.1915 Jolles, Berlin-Halensee Kurfürstendamm 130III Feldpostkarte nach Oesterreich-Galizien An den Landsturm-Ingenieur Herrn Ludwig Wittgenstein K. u. K. Art. Werkstätte der Festung Krakau Feldpost Nr. 186 Berlin-Halensee, d. 25 /III 15 Lieber Herr Wittgenstein, Packete über 250gr. werden an das Oesterr. Feldheer nicht angenommen, also bleibt's bei den alten kleinen Sendungen. Ein Pfundpaket meiner Frau, welches heute an Sie abgehen sollte, wurde aus diesem Grunde zurückgewiesen. - Nun ist Przemysl nach tapferer Gegenwehr auch gefallen, für meine Frau, die in P. an einer Fabrik beteiligt ist, ist das ein schwerer Schlag, den sie aber mit Fassung hinnimmt. Hoffentlich gelingt es den verbündeten Truppen das arme geplagte Galizien im Laufe des Frühlings zu befreien. Ihnen alles gute wünschend Ihr alter Stanislaus Jolles.
VON STANISLAUS JOLLES, 6.4.1915 Jolles, Berlin-Halensee Kurfürstendamm Nr. 130III Feldpostkarte nach Oesterreich-Galizien An den Landsturmingenieur Herrn Ludwig Wittgenstein K. u. K. Art. Werkstätte der Festung Krakau Feldpost Nr 186 Berlin-Halensee, d. 6. 4. 15. Kurfürstendamm 130III. Lieber Herr Wittgenstein, Wie ich aus Ihrer soeben eingetroffenen Karte an meine Frau vom 28.3. ersehe, werden Sie also weiter in Krakau bleiben. Sind Sie weiter mit der Ausbesserung von Automobilen beschäftigt? Leider habe ich in letzter Zeit
keinen Schokoladenbrief an Sie absenden können, hoffe aber nächstens wieder meine "Fettkur" bei Ihnen fortsetzen zu dürfen. Ich hätte nie vermutet, welch' geringe Mengen genügen, um einen stabförmigen Körper in die Idealgestalt einer Kugel zu verwandeln. Meine Frau hatte bessere Tage, und konnte mehr gehen, ich finde sie auch besser aussehend. - Das Wetter ist hier seit 2 Tagen wärmer, und auch in den Karpathen wird der Schnee bald weichen, somit werden dort bald entscheidende Kämpfe eintreten. Herzlichst Ihr alter Stanislaus Jolles.
VON ADELE JOLLES, 8.4.1915 Prof. Dr. Jolles Halensee bei Berlin Kurfürstendamm 130III Feldpost N° 186 An Herrn Ludwig Wittgenstein Landsturmingénieur Art. Werkstätte der Festung Krakau Oesterr. Galizien 8. 4. 15 Berlin-Halensee 130 Kurfürstendamm Lieber Herr Wittgenstein, vorgestern bekam ich eine Karte v. 28/3 in der Sie mir für die meine danken u gestern eine Karte v. 4/4 in der Sie sich über mein wochenlanges Schweigen beklagen. Also wie geht dies zu? - Ich bin so ärgerlich; man nimmt mir meine Pfundpaketchen an Sie nicht mehr an, weil plötzlich seit einiger Zeit nur noch 1/2 .£. P. nach Oesterr. zulässig sind. - Ich schreibe selten, weil Sie selten u stereotyp die wenigen gleichen Worte ung. schreiben - man hat dann das Gefühl, dass Sie sich für das was man schreiben könnte, kaum interessiren. - Ueberdies giebt es so viel Schweres. - Haben Sie über Ihren Bruder Nachrichten? - Es freut mich, dass Sie nicht an die Front gehen, sondern an dem Platz bleiben, den Sie so gut auszufüllen vermögen. Auch Ihrer Frau Mutter wegen. - Wird Ihnen die Disciplin nicht schwer? od. merken Sie nicht viel von ihr? - Hören Sie noch manchesmal Musik? - Lebensmittel sollen schwer erlangbar sein in Krak. - Ich nehme an, Sie bekommen vom Hause regelmässige Sendungen? Viele Grüsse u Alles Gute AJ. Brauchen Sie etwas?
VON STANISLAUS JOLLES, 16.4.1915 Jolles, Berlin-Halensee Kurfürstendamm Nr. 130III Feldpostkarte nach Oesterreich-Galizien An den Landsturm-Ingenieur Herrn Ludwig Wittgenstein K. u. K. Art. Werkstätte d. Festung Krakau Feldpost Nr. 186. Berlin-Halensee, d. 16. 4. 15. Lieber Herr Wittgenstein, Sie sind doch ein Sakramenter, im Schweiße meines Angesichts habe ich Sie endlich dazu gebracht, das Datum auf Ihren Postkarten zu vermerken, und nun setzen Sie sich schon wieder über den Zeitbegriff hinweg! - Als was sollen Sie denn in der Nähe oder an der Front "in die Erscheinung treten". Gibt's da auch Automobile auszubessern, oder sollen bisher verborgene strategische Fähigkeiten entwickelt werden? - Es scheint so, als ob die Russische Karpathenoffensive im Zusammenbrechen ist, vielleicht gelingt's dann auch noch die besetzten Teile Galiziens zu befreien! - Meiner Frau gehts's in der letzten Zeit besser, sie hat Ihnen kürzlich ausführlich geschrieben. Herzlichst Ihr alter Stanislaus Jolles.
VON ADELE JOLLES, 1.5.1915 Prof. Dr. Jolles Halensee bei Berlin Kurfürstendamm 130III Oesterreichische Feldpost N° 186 Ueber Oderberg Herrn Landsturmingénier Ludwig Wittgenstein Art. Werkstätte der Festung Krakau Oesterr. Galizien Berlin-Halensee 130 Kurfürstendamm 1/5 15 Weshalb hört man nichts von Ihnen? Ihre letzte Karte hatte ich gleich beantwortet u gebeten mir meine Fragen dito zu beantworten. Konserven sind in Oesterreich, wie man sagt, nicht so gut zu haben wie hier - brauchen Sie etwas? Man schrieb mir aus Krakau es soll schwer sein alle Nahrungsmittel zu bekommen. Stimmt das? Nehmen Sie nicht auch einmal Urlaub? Viele Grüsse AJ.
VON STANISLAUS JOLLES, 4.5.1915 Jolles, Berlin-Halensee Kurfürstendamm Nr. 130 Feldpostkarte nach Oesterreich-Galizien An den Landsturm-Ingenieur Herrn Ludwig Wittgenstein K. u. K. Art. Werkstätte der Festung Krakau Feldpost Nr. 186. Berlin-Halensee d. 4/5 15. Lieber Herr Wittgenstein, 14 Tage war Ihre soeben eingetroffene am 22/4 abgesandte Karte unterwegs! Es ist mir sehr leid, daß Sie Unannehmlichkeiten durchmachen müßen, aber man ist halt in das Leben geschickt, damit man sich in das Leben schickt! Um Ihnen die Gegenwart zu versüßen, werde ich gleichzeitig wieder einen Schokoladenbrief an Sie abgehen lassen. Gestern leuteten hier die Glocken und Fahnen wurden herausgehängt, ein großer Sieg in den Karpathen soll durch Mackensen erfochten worden sein. Möge das arme Galizien bald von den Russen befreit sein! Mögen bei Eintreffen dieser Karte alle Unannehmlichkeiten für Sie verschwunden sein Herzlichst Ihr alter Stanislaus Jolles.
VON STANISLAUS JOLLES, 17.5.1915 Jolles, Berlin-Halensee Kurfürstendamm 130 Feldpostkarte nach Galizien An den Landsturm-Ingenieur Herrn Ludwig Wittgenstein K. u. K. Artillerie-Werkstätte der Festung Krakau
Feldpost 186. Berlin-Halensee d. 17. V. 15. Lieber Herr Wittgenstein, Daß es Sie an die Front drängt, kann ich nur zugut verstehen, ebensogut verstehe ich aber, daß man einen technisch versierten Mann - so sagt man wohl bei Ihnen - in der Reparaturwerkstätte festhält. - Mackensens Durchbruch und das Nachdrängen der übrigen Heere halten noch immer die Russen "im Laufenden". Will's Gott kommen Sie auch nicht so bald zur Ruhe! Was sagen Sie zu den "Gemütsmenschen" in Italien, ist da das ganze Volk geistig und moralisch korrumpiert? Das Italienische Heer hat ja seit Custozza mit rührender Konstanz eigentlich stets Prügel bezogen, so daß Ihnen verhauen zu werden mit der Zeit zur Gewohnheit werden müßte. Ich hoffe zu Gott, wir werden sie in dieser Gewohnheit nicht stören. Amen. Herzlichst Ihr alter Stanislaus Jolles.
VON ADELE JOLLES, 25.5.1915 Prof. Dr. Jolles Halensee bei Berlin Kurfürstendamm 130III K. K. Feldpost N° 186 An den Herrn Landwehringénieur Ludwig Wittgenstein Art. Werkstätte der Festung Krakau Oesterr. Galizien Berlin-Halensee 130 Kurfürstendamm 25. 5. 15. Lieber Herr Wittgenstein, vor ung. einer Woche hat ein freundlicher Postbeamte meine Ausdauer belohnt u das seiner Verpackung entblöste um es zu erleichtern 4 Mal refüsirte Paketchen angenommen. Allerdings in Eile u ohne es näher anzusehen u ohne es zu wiegen. Da aber in Oesterr. immer noch nur 1/2 £ Pakete zugelassen sind, wird es Sie wohl nicht erreichen. - Es freut mich sehr, dass Sie von Ihrem Bruder gute Nachrichten haben. Frau Morgenrot-Scheid sagte seinerzeit, er wäre in Russl. operirt worden. War das wahr? Darum fragte ich immer wieder nach ihm. Andererseits sagte sie, er würde bald zurückkehren. Frau Scheid hat ihren Mann aus Krakau krank abgeholt. Es geht ihm aber wieder gut. Bekommen Sie Besuch aus Wien? Viele Grüsse u alles Gute AJ.
VON ADELE JOLLES, 16.6.1915 Prof. Dr. Jolles Halensee bei Berlin Kurfürstendamm 130III Oesterr. Feldpost 186 An den Landsturm Ingénieur Herrn Ludwig Wittgenstein Art. Werkstätte der Festung Krakau Oesterr.-Galizien 16. 6. 15. Lieber Herr Wittgenstein, und weshalb hört man nichts von Ihnen? es ist sehr lange her, dass wir Nachrichten hatten. Mein Jampot ist augenscheinlich nicht zu Ihnen gelangt; möge er alle Qualen der Hölle im Magen des ehrlichen Stehlers verursachen. Amen. Und meine Karte? Viele Grüsse
AJ.
VON ADELE JOLLES, 19.6.1915 Prof. Dr. Jolles Halensee bei Berlin Kurfürstendamm 130III Feldpost Nº 186 An den Herrn Ludwig Wittgenstein Landsturm Ingénieur Art. Werkstätte der Festung Krakau Oesterr. Galizien Berlin-Halensee 19. 6. 15. LHW. unsere letzten Karten haben sich gekreuzt, od. wie ein witzig sein wollender Vetter schreibt, gekreuzigt. Ich hatte die gleiche Frage an Sie gerichtet, weshalb man gar nichts seit unvordenklichen Zeiten von Ihnen gehört hat. Sowohl die Kirschmarmelade, wie die sie begleitende Postkarte haben Sie demnach nicht erreicht. Möge der Dieb an ihr "dersticken". - Welcher Art Unannehmlichkeiten haben Sie denn? Dass Sie sie haben tut mir leid, dass Sie aber so tapfer ausharren ist famos, u freut mich aufrichtig. Bekommen Sie keinen Urlaub? Herzlichst AJ.
VON STANISLAUS JOLLES, 19.6.1915 Jolles, Berlin-Halensee Kurfürstendamm Nr. 130III An den Landsturm-Ingenieur Herrn Ludwig Wittgenstein K. u. K. Artillerie-Werkstätte der Festung Krakau Oesterreich-Galizien Feldpost Nr. 186. Berlin-Halensee, d. 19. VI. 15 Lieber Herr Wittgenstein, Nun wenn Sie an eigenen Arbeiten weiter schaffen können, wird ja das unangenehme was Sie durchzumachen haben nicht all zu schlimm sein. Und Unannehmlichkeiten bietet leider das Leben immer, und je älter man wird, um so mehr empfindet man sie! Damit Ihnen das Leben "versüßt" wird, soll dieser Karte gleich ein Schokoladenbrief folgen, dessen Inhalt, von Ihnen in guter Laune empfangen und verzehrt werden möge! An der Hochschule wird der Betrieb noch immer aufrecht erhalten, aber fast jede Woche müssen Hörer dem Rufe zur Waffe folgen. - Bei uns geht's ganz leidlich, jedenfalls macht meine Frau mit Gottes Hülfe jetzt bessere Zeiten durch. Ihnen alles gute Ihr alter Stanislaus Jolles.
VON ADELE JOLLES, 28.7.1915 Prof. Dr. Jolles Halensee bei Berlin Kurfürstendamm 130III Feldpost N° 186 Art. Werkstätte der Festung Krakau An den Landsturmingénieur Herrn Ludwig Wittgenstein Festung Krakau
Oesterr. Galizien 28. 7. 15. Lieber Herr Wittgenstein wir haben seit sehr langem nichts mehr von Ihnen gehört; unsere letzten Karten haben Sie gar nicht mehr beantwortet; das jam wahrscheinlich nicht erhalten. Bitte, schreiben Sie gleich nach Erhalt dieser Zeilen wie es Ihnen geht. Frl. Kammerer dankt für Ihre Grüsse u erwiedert sie bestens. Herzliche Grüsse AJ.
VON ADELE JOLLES, 12.8.1915 Berlin-Halensee 130 Kurfürstendamm 12. 8. 15 Lieber Herr Wittgenstein, endlich nach sehr vielen Wochen ein Lebenszeichen von Ihnen, das leider meine Befürchtung bestätigt. Von Herzen hoffen wir, dass der Unfall, der Ihnen zugestossen völlig ohne böse Folgen bleiben wird. 3 Wochen Urlaub, nach über einem Jahr Dienst u dazu nach einer Verwundung u Erkrankung ist wirklich etwas wenig. Übrigens: gerade als Ihr Brief eintraf war ich im Begriff mich nach Ihrem Befinden telegraphisch in Krakau zu erkundigen. Ich hätte es schon neulich getan, nur wusste ich nicht, ob für Sie Feldposttelegramm das man nur in d. Franz. Str. aufgeben kann oder gewöhnliches Telgr. galt. - Unsere Mühle ist leider stark in Mitleidenschaft gezogen. Maschinen z.T. zerstört, Treibrieben entfernt -, vielleicht als Goulasch gegessen - In den Magazinen eine Sintflut von Schmutz - es waren Lazarette drin - Dafür hat der [...] bei uns gewohnt! Nach seiner Abreise ist bis auf die herausgerissenen Parkettfussböden alles - die unseren Compagnon gehörige sehr schöne Einrichtung vor allem mitgenommen worden. - Wir reisen in einigen Tagen irgendwohin schwanken noch zwischen Marienbad, Bayern u. Johannisbad in Böhmen. Hoffentlich ist die Erkrankung Ihrer Frau Mutter schon behoben u Sie können noch etwas aufs Land. Wahrscheinlich kommen wir demnächst auch nach Wien, dann werden Sie wohl aber schon fort sein. Herzliche Grüsse u alles Gute AJ. Briefe richten Sie vorläufig hierher u lassen Sie recht bald wieder hören wie es Ihnen geht.
VON STANISLAUS JOLLES, 12.8.1915 Prof. Dr. Jolles Halensee bei Berlin Kurfürstendamm 130III Herrn Ludwig Wittgenstein Landsturm Ingenieur Wien XVII Neuwaldegger Str. 38 Berlin-Halensee, d. 12. VIII. 15. Lieber Herr Wittgenstein, Man soll nie Hypothesen aufstellen, tut man's fällt man hinein. Also als von Ihnen trotz unserer Nachrichten jede Antwort ausblieb, beruhigte ich meine Frau mit dem Orakelspruch. "W. ist eingelocht, Du weißt d. junge Mann kann heftig werden, und da das beim Militär untersagt, haben sie ihn doch zur Beruhigung in's Arrest gesteckt. Er hat mir in letzter Zeit häufig von Unannehmlichkeiten geschrieben, die ihm zugestoßen sind, u. Du wirst sehen, ich rate richtig." Nun haben Sie meinen Ruf als zukünftige Pythia durch Ihren heutigen Brief völlig zu nichte gemacht! Lieber wäre mir auch jetzt noch, ich hätte recht, und Sie säßen wohl und munter im Arrest, statt an einem Nervenshock und an einem geplatzten Trommelfell zu laborieren. Mensch, was machen Sie für Sachen, lassen Sie von nun an die Finger von stabförmigen Dingen im Schmiedefeuer! Ob ich was von Mathematik verstehe, weiß ich nicht, die Zweifel darüber häufen sich je älter man wird, aber was das Gehör betrifft, so wissen Sie ja, habe ich leider viele langjährige Erfahrung, und vor Schwerhörigkeit müssen Sie sich bewahren. Gehen Sie zu einem erfahrenen Ohrenspezialisten, und fragen Sie, ob Ihr kaputtes Trommelfell in Ordnung gebracht werden kann, Sie sind ja noch ein Embrio von Jahren, da kann ev. Heilung eintreten. Daß Sie personifiziertes Nervenbündel dabei noch einen Nervenshock davon tragen mußten, ist rechtes Pech! Und nun finden Sie während Ihres Erholungsurlaubes in Wien Ihre Frau Mutter krank! Sie sind in den letzten Jahren zu meiner Freude nerven kräftiger geworden, somit hoffe ich über Ihr Befinden bald gutes von Ihnen zu erfahren. Ihrer Frau Mutter wünsche ich von Herzen baldige
Wiederherstellung! Herzlichst Ihr alter Stanislaus Jolles.
VON ADELE JOLLES, 28.9.1915 Frau Geheimrat Jolles 130 Kurfürstendamm Oesterreichische Feldpost N° 12 Herrn Landsturm Ingénieur Ludwig Wittgenstein Art. Werkstättenzug N° 1 Berlin-Halensee Kurfürstendamm 130 28. 9. 15 L. H. W. Wo Sie wohl stecken mögen? Wo es auch sei, hoffe ich herzlich, dass es Ihnen gut geht. Hier haben wir leider eine grosse Erbitterung auf meine Landsleute - ich meine nicht die Polen - vorgefunden. Die schlimmsten dabei sind solche, die selbst früher zu ihnen zählten. Ich muss in zwei Tagen wieder fort, zu meiner armen Schwägerin, die leider sehr schwer krank ist. Schreiben Sie bald. Herzlichst AJ. Die [...] haben wir auf d. Durchreise besucht - vielen Dank. Wie geht es Ihrer Frau Mutter?
VON STANISLAUS JOLLES, 29.9.1915 Jolles. Berlin-Halensee, Kurfürstendamm 130III Feldpostkarte nach Oesterreich! An Herrn Landsturmingenieur Wittgenstein K. u. k. Art. Werkstättenzug I. Feldpost Nº 12 Berlin-Halensee, Kurfürstendamm 130III d. 29. Sept. 15 Lieber Herr Wittgenstein, Also mein viel besseres Ich hatte recht, als es mir abriet, [...] Ihre Adresse zu senden. Mir hat sein Brief auch nicht gefallen, aber es ist nun halt in dieser Welt so, daß die Menschen "sich dankbar und gern an einen erinnern", wenn man für sie gerade brauchbar ist. Um so mehr freut man sich mit denen, die einem von Herzen zugetan sind! Ich habe übrigens [.]. in meiner Antwort darauf aufmerksamgemacht, daß er als Reichsdeutscher doch unmöglich in Oesterreich dienen könnte. Wir sind seit 3 Tagen wieder zu Haus und da trifft eine Hiobspost nach der andern ein, und es heißt ruhigen, kalten Kopf bewahren, besonders in dieser gewaltigen Zeit. Sind Sie Ihrem neusten Grundsatz treu geblieben nicht zu schimpfen und räsonnieren? Daß es bei Ihnen "in die Erscheinung treten würde", wäre mir nicht im Traume eingefallen, um so mehr habe ich mich darüber gefreut. Aber ihn einzuhalten, das werden Sie schon merken, ist gar schwer, ich merk's an mir! So Gott will können Sie uns recht bald gutes von sich schreiben, Schokoladenbriefe sind augenblicklich inhibirt mit Ihrer Mastkur muß ich also warten. Herzlichst Ihr alter Stanislaus Jolles.
VON STANISLAUS JOLLES, 5.11.1915 Stanislaus Jolles Berlin-Halensee, Kurfürstendamm 130III Feldpostkarte nach Oesterreich! An den Landsturmingenieur Herrn Ludwig Wittgenstein K. u. K. Art. Werkstättenzug: 1 Feldpost: 12. Berlin-Halensee, d. 5. XI. 15
Lieber Herr Wittgenstein, Endlich ein Lebenszeichen, wir waren schon Ihrethalben ganz unruhig! Leider trifft Ihre Karte meine Frau nicht in Berlin an, sie weilt schon seit beinahe 5 Wochen in Ebenhausen b. München, Sanatorium, wohin sie meine kürzlich entschlafene letzte Schwester gleich nach unserer Rückkehr berufen hat. Nun hilft sie noch einige Tage der ledigen Tochter über die schwerste Zeit weg. - Warum haben Sie solange gar nichts von sich verlauten lassen, das ist garnicht nett von Ihnen! Lassen Sie doch mal hören, wo Sie stecken u. wie es Ihnen geht; damit [Sie] zu einem längeren Erguß mehr Mut bekommen, sende ich gleichzeitig zur Hebung Ihrer Körperkräfte den früher üblichen Schokoladenbrief! Herzlich Ihr alter Stanislaus Jolles.
VON ADELE JOLLES, 6.12.1915 Frau Geheimrat Jolles Berlin-Kurfürstendamm 130 Feldpost N° 12 An Herrn Landsturmingénieur Ludwig Wittgenstein Art. Werkstättenzug N° 1 Feldpost Nº 12 6. 12. 15 Berlin-Halensee 130 Kurfürstendam Lieber Herr Wittgenstein, ich habe keine Ahnung ob Sie meine Nachrichten aus Bayern erhalten haben - Ihre letzte Karte, in der Sie sich über das Fehlen von Nachrichten beklagten ist uns dorthin nachgesandt worden. Nach langer Zeit das erste Lebenszeichen von Ihnen dem bislang kein neues gefolgt ist. Ich habe Ihnen wiederholt geschrieben. Schreiben Sie sofort nach Erhalt dieser Zeilen, damit ich weiss ob Sie erreichbar sind, dann kann ich Ihnen auch mal wieder etwas "schwedisches Brot" schicken - oder haben Sie sonst etwas nötig? Alles Gute u herzliche Grüsse AJ. Das Klavierquintett habe ich neulich gehört - schlechthin fabelhaft! Dass Sie nicht dabei sein konnten! Von Sch[...] gespielt. Ich schicke diese Karte via Wien. vielleicht hat sie mehr Chance. Um Ihre Fragen im Voraus zu beantworten: Uns geht es nicht schlecht u Frl. Kammerer ist in München.
VON ADELE JOLLES, 27.12.1915 Frau Geheimrat Jolles Kurfürstendamm 130 Oesterr. Feldpost N° 12 An Herrn Landsturmingénieur Ludwig Wittgenstein Art. Werkstättenzug N° 1 Berlin-Halensee 27. 12. 15. LHW. endlich haben Sie die über Wien gesandte Karte erhalten; u die mit Frl. Kammerer gemeinsam geschriebene die sie von München wegschicken wollte? - Einen Versuch mit schwedischem Brod werde ich machen, so wie die augenblicklich nicht zugelassenen Feldpakete wieder angenommen werden. - Wo u Wie haben Sie Weihnachten verbracht? u Wann werden Sie Ihre Vierundzwanzigstundenundnichtlängerbesuche wieder aufnehmen können. Ja wann! - Meine Tochter hat mir - in Vertretung - die Tragische Ouverture geschenkt. Das Klavier gibt leider den Bläserklang nicht wieder, der so besonders charakteristisch u schwermütig ist. Uebrigens manchesmal reiner "Manfred" u manchesmal sogar Wagneranklänge - eine Seltenheit bei Brahms. Aber schön! u Wassagensie dazu. - Wer weiss, wie Sie Musikbetrachtungen anmuten! u wo sie Sie treffen. Hoffentlich gesund u guten Mutes. Herzlich AJ.
VON ADELE JOLLES, 8.1.1916 LHW. früher konnte man sich zum mindesten über Sie weidlich ärgern wenn keine Nachrichten kamen -
Jetzt weiss man nie was ankommt u was verloren oder nicht ausgeliefert wird. Ich versuche es mal wieder mit Ihrem geliebten schwedischen Brod - ohne Butter schmeckt es nicht u wer weiss, ob Sie die haben. Gern würde ich das Brot mit Butter - trotz der Butternot! - bestreichen - aber wer weiss wann Sie es kriegen u dann würde sie schlecht werden. Können Sie denn nicht ein mal ein paar vernünftige Worte schreiben, wie wo u was? man weiss so gar nichts über Sie. Hoffentlich geht es Ihnen gut. Haben Sie Frl. Kammerers Karte erhalten? Die einzige Nachricht die Ihnen von mir zugekommen, war die Karte über Wien. Bekommen Sie das Brot u ich Ihre Bestätigung - Ihre Karten scheinen ja anzukommen - so sollen Sie auch wieder etwas Besseres geschickt bekommen. Haben Sie alles was Sie brauchen? Alles Gute herzlichst AJ. 8. I. 16
VON ADELE JOLLES, 2.2.1916 Frau Geheimrat Jolles 130 Kurfürstendamm Berlin Österreichische Feldpost N° 12 An Herrn Landsturmingénieur Ludwig Wittgenstein Art. Werkstättenzug N° 1 2/2 16 L.H.W. es scheint, dass Sie meine letzte, vor ung. 4 Wochen geschriebene, Antwort auf Ihre Karte nicht erreicht hat; desgleichen nicht das versprochene schwedische Brot. Es ist ein Kreuz mit der Correspondenz m. Oesterreich in diesem letzten Halbjahr. Ich wollte Ihnen so gern wieder einen Stollen schicken - da aber das Brot nicht angekommen, hat ja leider das Schicken keinen Zweck. Sollte Sie diese Karte doch erreichen, so antworten Sie wenigstens gleich; etwas Autobiographie könnte nicht schaden dabei, ausser dem Gruss an Frl. K! Frl. Kamm. Karte an Sie ist zurückgekommen. Viele Grüsse AJ.
VON STANISLAUS JOLLES, 8.2.1916 Stanislaus Jolles Halensee bei Berlin Kurfürstendamm 130. An den Landsturmingenieur Herrn L. Wittgenstein K. u. K. Art. Werkstättenzug "Oblt. Gürth" Feldpost N° 12 Berlin-Halensee, d. 8.II.16 Lieber Herr Wittgenstein, Nach wochenlangem Schweigen trifft endlich von Ihnen Nachricht ein, wir waren Ihrethalben schon unruhig geworden. Fräulein Kammerer hatte Ihnen geschrieben, ihr Lebenszeichen wurde ihr aber als unbestellbar wieder zugestellt! Sie hat Berlin endgültig verlassen, und wohnt in München zusammen mit ihrer Schwester Karla. - Das es Ihnen gesundheitlich nicht sehr gut geht, ist mir herzlich leid, hoffentlich ist das Ungemach bald vorüber! Mit herzlichem Händedruck Ihr alter Stanislaus Jolles.
VON STANISLAUS JOLLES, 24.2.1916 Stanislaus Jolles Berlin-Halensee Kurfürstendamm 130III An den Landsturmingenieur
Herrn Ludwig Wittgenstein K. u. K. Artillerie Werkstättenzug "Oblt. Gürth" Feldpost 12 Berlin-Halensee, d. 24. II. 16. Lieber Herr Wittgenstein, Eben trifft Ihre Karte vom 20. l. Ms. ein; Menschenkind, was fehlt Ihnen eigentlich, Sie schreiben immer nur, es geht nicht gut. Jedenfalls wünsche ich Ihnen baldiges Genesen, und wenn Wünsche helfen könnten müßten Sie längst gesund sein! Kann ich Ihnen denn mit irgend etwas von Nutzen sein, Sie machen uns doch nur eine Freude, wenn wir Ihnen etwas senden können. Sei es für den körperlichen oder geistigen Magen! Also, kurz, schreiben Sie bald einige "vernünftige" Worte. Ihr alter Stanislaus Jolles.
VON STANISLAUS JOLLES, 6.3.1916 Stanislaus Jolles Halensee bei Berlin Kurfürstendamm 130. Feldpostkarte nach Oesterreich! An den Landsturmingenieur Herrn Ludwig Wittgenstein K. u. K. Art. Werkstättenzug "Oblt. Gürth" Feldpostamt 12 Bln-Halensee, d. 6. III. 16. Lieber Herr Wittgenstein, Ihre an uns gerichteten Karten v. 1. III sind soeben eingetroffen. Daß Sie Ihr altes Darmleiden wieder plagt, ist mir sehr schmerzlich. Hoffentlich geht Ihre Erwartung in Erfüllung, daß ein Ortswechsel heilend einwirkt. Nun weiß ich garnicht, was ich Ihnen eventuell senden könnte. Dürfen Sie Schokolade oder leichtes Gebäck essen? Jedenfalls erbitte recht bald wieder einige Zeilen, aus denen ich ersehen kann, wie Sie sich befinden. Mit besten Wünschen für Ihre Gesundheit Ihr alter Stanislaus Jolles.
VON ADELE JOLLES, 21.8.1916 Frau Adele Jolles Berlin-Halensee Kurfürstendamm 130 K. u. K. Oesterreichische Feldpost N° 12 An Herrn Kriegsfreiwilligen Ludwig Wittgenstein früher Feldkanonenzug, N° 2 Feldhaubitzen-Regiment Nr. 5 4. Batterie 21. 8. 16 L. H. W. Meine letzte Karte u ein kleiner Karton m. Bretzeln scheinen Sie nicht erreicht zu haben. Es sollte ein ballon d'essai sein um etwas besseres folgen zu lassen. - Wie mag es Ihnen gehen? u wo soll man Sie in Gedanken suchen? - Von allen unsern Bekannten wissen wir es ungefähr - von Ihnen leider so gut wie gar nichts. Jedenfalls - wo Sie auch sein mögen, begleiten Sie unsere herzlichen Wünsche. Wie geht es Ihrer Frau Mutter? Haben Sie seit vergang. Jahre noch nicht wieder Urlaub gehabt?! Während ich dies schreibe, begleitet mich das Klarinettenquintett u will Ihnen auch schöne Grüsse bringen.
VON ADELE JOLLES, 27.8.1916 Frau Adele Jolles Berlin-Halensee
Kurfürstendamm 130 K. u. K. oesterreichische Feldpost Nº 72 An Herrn Kriegsfreiwilligen Ludwig Wittgenstein (früher Feldkanonen Regmt. N° 2) Feldhaubitzen-Regiment Nr. 5 Batt. 4. Berlin-Halensee 27. 8. 16. L. H. W. nach Ihren letzten l. Zeilen, haben Sie wieder von allen meinen Karten nichts erhalten! ebensowenig das Paketchen. Es ist scheusslich, - u ich kann Ihnen deshalb nichts schicken. Erhalten Sie denn was Ihnen von zu Hause geschickt wird? Menschenskind, haben Sie denn seit vergangenem August noch nicht wieder Urlaub gehabt? Ich habe schon so oft darnach gefragt. - Ach Gott, was wollen wir nur alles spielen, wenn Sie erst wieder her kommen - notabene wenn ich bis dahin noch Noten lesen u Finger bewegen kann. Und verstehe ich Sie recht - Sie wollen die "dritte, siebente u neunte" haben - Beethoven??!! haben Sie sich so gemausert? Alles Gute mit Ihnen herzlichst AJ.
VON STANISLAUS JOLLES, 21.2.1917 Stanislaus Jolles Halensee bei Berlin Kurfürstendamm 130. An den Fähnrich Herrn Ludwig Wittgenstein K. u. K. Feldhaubitzenregiment Nr. 5/4 Feldpost Nº 286 Bln-Halensee, d. 21. II. 17 Lieber Herr Wittgenstein, Endlich eben trifft nach mehrmonatlichem Schweigen von Ihnen Nachricht ein. Gott sei Dank, daß man endlich von Ihnen ein Lebenszeichen erhält, aber nun bitte, an Ihre alten Freunde mehr als "Herzlichste Grüße", wir möchten doch gern auch wissen, wie es Ihnen geht. An welcher Front sind Sie, und wie ist es Ihnen in den letzten Monaten ergangen? Bei uns geht es ganz gut. Herzlichst Ihr alter Stanislaus Jolles.
VON ADELE JOLLES, 5.3.1917 Berlin-Halensee 130 Kurfürstendamm 5/3 17. Lieber Herr Wittgenstein, nach monatelangem Schweigen sandten Sie uns kürzlich eine Karte; ich habe mich nicht veranlasst gesehen sie durch eine Epistel, die Sie nicht erreichte - ob Sie sie auch erhielten - zu beantworten. Heute kommt Ihr "Brief" - u auch der gäbe keinen Anlass zum Schreiben; in ihm lag jedoch ein kleines Bildchen. Nun, ich weiss bis heute nicht, ob Sie die Ihnen seinerzeit gesandten kleinen Photographien auch nur erhalten haben - also auch kleine Photographien sind kein dringender Grund für Briefanworten. Aber dieses Bildchen zeigt einen Ausdruck, der mir so zu Herzen ging, dass ich in Gedanken Ihnen über das etwas zerzauste Haar fuhr u "armer Junge" sagen musste. Sind es nur die Strapazen u Entbehrungen die Sie so verhärmt erscheinen lassen, oder ist es inneres Erlebnis - ich weiss es nicht u frage keine unbeantworteten Fragen mehr. Aber einige Zeilen musste ich Ihnen doch senden u "herzlichste Grüsse" dito AJ.
VON STANISLAUS JOLLES, 31.3.1918 Stanislaus Jolles Halensee bei Berlin Kurfürstendamm 130.
An Herrn Leutnant Ludwig Wittgenstein K. und k. Gebirgsartillerie Regiment Nr. 11 Kanonen-Batterie Nº 1 K. u. k. Feldpostamt 424 Bln.-Halensee, d. 31. III. 18. Lieber Herr Wittgenstein, Nach vielen Monaten erhalten wir soeben Ihre Karte v. 23. l. Ms.; ich freue mich von Herzen, daß Sie laut diesem lakonischen Lebenszeichen sich noch hinnieden befinden und überlasse Ihnen das Amt, sich tüchtig abzukanzeln; Man läßt Freunde nicht solange in Sorge, zumal es an diesen nicht mangelt. Meine Frau ist aber bös und wird wohl nicht antworten! Jetzt sieht's bei uns wieder ganz gut aus, aber kurz nach Jahresanfang waren wir Lazarett. Erst lag meine Tochter an einer leichteren und dann meine Frau an einer schweren Lungenentzündung darnieder. Das Fieber, und was eben so schlimm ist, der Arzt oder die Ärzte wollten 6 Wochen nicht weichen. Alle solche Krankheiten werden bei den jetzigen Ernährungsverhältnissen eben bösartiger als früher! Mir geht's, wie's einem sechziger - das bin ich letztes Jahr geworden - gehen kann. Um sich von der gewaltigen Zeit nicht erdrücken zu lassen, schaffe ich mit Volldampf eine Arbeit nach der andern, aber die geistige Entbindung ist nicht mehr die alte. Aber Ihr alter Freund bleibe ich, trotzdem auch ich Ihres Schweigens halber auch endlich böse sein müßte! Herzlichst Ihr Stanislaus Jolles.
VON ADELE JOLLES, 1.6.1918 Berlin-Halensee 130 Kurfürstendam 1/6 18 Also: Sehr werter Herr Wittgenstein obwohl es verkehrt ist jemandem zu schreiben, der Briefe so geringschätzt u auch den oberflächlichsten Briefwechsel offenbar ablehnt tue ich es heute, nach fast einjähriger Pause, wieder: zur Richtigstellung. Ich habe erst nachträglich erfahren, dass m. Mann Ihnen geschrieben ich wäre "böse". Sonst hätte ich ihn gebeten meiner nicht zu erwähnen. Wozu auch. Ueberdies, ich bin nicht böse, nicht einmal verwundert. - Ich begreife uebrigens wohl, dass dieser Krieg manch einem die Rede verschlagen kann; aber, um doch auch einmal eine berliner Redeweise anzuwenden: Alles mit Unterschied. Ihre Voraussetzung aber, es dürfte mir bekannt sein, dass es jetzt gar mancherlei Ursachen gibt, die einen ganz vom Schreiben abhalten können, - also dauernd wie Sie - trifft nicht zu. Im Gegenteil. Leute die draussen stehen u früher nie geschrieben, tuen es jetzt unter oft rührenden Umständen u Sie sind, wie so oft, ein Einzelfall. Es wäre nur zu wünschen, dass manche verantwortungsvollere Stellen gleich verschwiegen wären wie Sie! u manche wichtige Operation in ebenso absolutes Dunkel hüllten, wie Sie Ihre Person. Im uebrigen hoffe ich herzlich, dass es Ihnen gut geht. - Vielleicht wird es Sie interessiren, dass die armen Herkners den einzigen Sohn im Westen verloren haben. Er soll ein matematisches Genie gewesen sein Mit freundlichen Grüssen Adele Jolles Ich lege ein Feuilleton bei, dass in Manchem ganz treffend, stellenweise aber nicht recht verständlich ist. Vielleicht interessirt es Sie. -
VON ADELE JOLLES, 4.8.1918 Abs. Jolles Villa Hertha Bad Landeck Schlesien Oesterreichische Feldpost N° 386 Herrn Leutnant Ludwig Wittgenstein Kanonenb. N° 1 K. u. k. Gebirgsart.reg. 11 Berlin-Halensee 130 Kurfürstendamm 4/8 19
Ich hatte Ihnen im Mai geschrieben u Ihnen ein Feuilleton beigelegt u hätte gern gewusst, ob mein Brief Sie erreicht hat und wie es Ihnen geht. Im September werden wir wahrscheinlich in Wien sein (um den 15ten) Unsere Adresse dort ist immer bei Herrn von Loewenstein in Fichteg. 5 zu erfragen. Tel. In der Hoffnung, dass Sie gesund sind grüsst Sie AJ. Frl. Kammerer hat sich neulich nach Ihnen erkundigt; ich konnte ihr aber Nichts sagen. Ich kann nicht besser schreiben, einer Gelenkentzündung wegen. Bad Landeck Schlesien. Villa Hertha. Ich bin hier ganz allein. 1/9 18
VON STANISLAUS JOLLES, 16.12.1920 Berlin-Halensee, d. 16. XII. 20. Sehr werter Herr Wittgenstein, Als wir voriges Jahr aus Wien zurückkehrten, hatte ich schon die Absicht Ihnen den Rodin zu senden. Die schweren Zeiten haben mich bisher verhindert diese Absicht auszuführen und dann auch das auf den deutschen Buchhandel lastende Ausfuhrverbot. Ein kürzlich bei mir eingetretener Schüler, Herr Schleffer, hat die Liebenswürdigkeit das Buch für Sie mitzunehmen. Ihr ergebener.
VON STANISLAUS UND ADELE JOLLES, 2.2.1921 Berlin-Halensee, d. 2. Febr. 1921 Kurfürstendamm 130III Lieber Herr Wittgenstein, Mich freut's, daß Ihnen der "Rodin" gefällt, ich war seinerzeit durch meine Tochter auf ihn aufmerksam geworden, und vieles, was er ausspricht, ist mir aus dem Herzen gesprochen. Je älter ich werde um so mehr packen mich Ewigkeitsgedanken; man sucht halt nach den Bädeckern zu seiner letzten Reise. Ich war Ihnen übrigens seit längerem gram. Wenn ich aufsah und mein Blick fiel auf die mir einst so liebevoll geschenkten Bilder, da ging mir immer bitter durch's Gemüt; auch der ist untreu geworden. Da habe ich mich denn Weihnachten noch einmal an Sie gewandt und erlebe heute die Freude, daß Sie Ihres sehr alt gewordenen Freundes noch gedenken. An Jahren nicht, aber am Leben! Und wenn ich Ihnen schon heute antworte, wo ich morgen meine sonnige Tochter begrabe, so werden Sie fühlen, wie wohl mir Ihre treuen Zeilen getan haben. Sie hatte Sonntag vor 8 Tagen in einem Stücke Kuchen einen Glassplitter verschluckt und starb trotz Operation und ärztlicher Kunst, nach unsäglich überstandenen Qualen am letzten Sonntag. Immer wieder rufe ich mir zu: Gott gibt's, Gott nimmt's er sei gesegnet, aber es ist bitter schwer nicht zu murren, wo wir nur noch den kranken Sohn haben. Wenn nur mein Wille noch ausreicht in der noch bleibenden Wegstrecke den meinen und meiner Wissenschaft treulich zu dienen. Ihren Entschluß Volksschullehrer zu werden, kann ich verstehen. Treibt Sie die göttliche Stimme in Ihrem Innern dazu, so ist das eben Ihr Beruf. Sie wissen ja selbst, wie ich an meinem Lehrberuf hänge, und zu einem Berufe muß man durch sein inneres Fühlen und Denken berufen sein, sonst hat man seinen Lohn dahin. Also meinen Segen zu Ihrem Entschlusse, mögen Sie dankbare Schüler haben! Es ist herrlich, wenn einer einem dankbar die Hand schüttelt und sagt: das habe ich seinerzeit von Ihnen gelernt, was mich innerlich vorwärts bringt. Ich werde fast neidisch, wenn ich mir vorstelle, wie Sie an einem schönen einsamen Orte sich selbst leben können. Hätte der Krieg nicht so vieles, was man für sicher hielt, vernichtet, wer weiß, ob Sie uns nicht, eher als Sie vermuteten, in Ihrer Nähe finden könnten. Aber so heißt's: alter Gaul aushalten, Du mußt die Karre weiter ziehen, so lang es halt geht! Besuchen möchte Sie aber mal, auf kurze Zeit meinen wehen Geist ausruhen. Also lassen Sie hören, wie es mit Wohnung und Nahrung da bei Ihnen ausschaut. Auch möchte ich Sie von Herzen gerne unterrichten sehen. Haben Sie nervöses Menschenkind dazu die nötige Geduld? Warum schieben Sie das Veröffentlichen Ihres Buches heraus? Strafen Sie mit Lügen, der da immer gedacht hat: am Ende laßt er's doch wieder liegen. Meine Frau will auch noch anschreiben! Herzlichst Ihr alter Freund Stanislaus Jolles. Lieber Herr Wittgenstein ich hatte nicht gedacht, dass ich Ihnen noch schreiben würde u "lieber Herr W." schreiben würde - mein Kind nannte dies "Mamas Hausorden." Und dass ich Ihnen in diesem Augenblicke schreibe, wird Ihnen sagen, wie sehr ich mich über Ihren Brief gefreut habe. Und ich hätte gewünscht, dass mein Kind ihn noch gelesen hätte, denn sie wusste wie tief verletzt u erbittert ich durch Ihr Abwenden von uns geworden war. Die Torte, die dem Kinde diese Qualen aller Höllen gebracht hat, habe ich selbst in beispielloser Fahrlässigkeit gebacken u trage die Schuld, dass meinem Manne die Sonne seines Alters geraubt ist. In ihren letzten Augenblicken sang sie mit ihrem armen, zerschnittenen Halse u lachte uns an u nahm die Ringe von den Fingern, damit ich sie in Verwahrung nehme. Sie
hatte eine grosse, schöne Stimme bekommen u wollte Opernsängerin werden u hing an diesem Gedanken mit innigster Inbrunst. In den letzten Monaten soll sie oft geäussert haben, sie würde nicht mehr lange leben. Ich glaube auch nicht, dass ich noch lange lebe. Ich hatte immer das Gefühl, mein armer Junge wird uns alle überleben. Werde ich Sie wiedersehen? Wenn es solch ein Wiedersehen, wie das letzte in Wien sein sollte, wünschte ich es nicht. - Ich möchte wohl mehr von Ihnen wissen, aber seit langem würdigen Sie mich Ihres Vertrauens nicht mehr. Bitte schreiben Sie mir keinen officiellen Condolencbrief - dann lieber gar keinen. In steter Freundschaft AJ.
VON STANISLAUS JOLLES, 25.2.1921 Berlin-Halensee, d. 25. II. 21 Kurfürstendamm 130 Lieber Herr Wittgenstein, Haben Sie Dank für Ihre lieben Zeilen! Sie haben recht, in schweren Stunden kann man nur Trost in sich selbst finden. So Gott will entrinnt mir bis zu meinem letzten Augenblick keine Klage und kein Murren gegen die göttliche Vorsehung. Immer wieder sage ich mir; es war doch ein großes Glück ein solches Kind so viele Jahre gehabt zu haben. Ich besonders verdanke dem Kinde ausnehmend viel; es war mir ein Trost in den Kämpfen der letzten Jahre. Es tut mir leid, daß ich Ihnen mit meiner Absicht mal einige Wochen in Ihrer Nähe zu verbringen einen solchen Schrecken eingejagt habe. Beruhigen Sie sich nur, so bald kann das gar nicht geschehen, dagegen sprechen nämlich gewichtige Gründe. Mir liegt noch mein Amtskummet auf dem Halse. Der Krieg hat so verwüstend auf mein Hab und Gut gewirkt, daß ich gar nicht daran denken darf, der Ruhe zu pflegen, und, wenn man freie Zeit hat, ist Reisen jetzt ein teures Vergnügen. Immer wieder freue ich mich Ihres Entschlusses Lehrer zu werden; es ist für mich ein neuer Beweis meines oft ausgesprochenen Satzes, daß unsere Zeit gegen den übertriebenen Intellektualismus der letzten Jahrzehnte reagiert. Es regen sich menschliche Urgefühle! Außerdem bin ich noch heute ein leidenschaftlicher Lehrer, dem jeder dankbare Blick eines Schülers ein Gottesgeschenk ist. - Und wie freut man sich an einem Liebeszeichen eines alten Schülers, alle Undankbarkeit der vielen anderen ist dann vergessen. Diese Freuden, die ich so manches Mal erfahren, wünsche ich Ihnen von Herzen. - Ich hätte gern manches darüber gehört, wie Sie Ihren Lehrberuf ausüben. Haben Sie auch einen so unbändigen Schüler wie ich seinerzeit an Ludwig Wittgenstein. Es hat mir seinerzeit doch innerlich weh getan, als Sie mich hier im Stiche ließen, wenn Sie auch den Menschen in mir nicht vergessen haben. Mit herzlichem Händedruck, Ihr alter Stanislaus Jolles.
VON STANISLAUS JOLLES, 23.6.1921 Stanislaus Jolles Halensee bei Berlin Kurfürstendamm 130. Herrn Lehrer Ludwig Wittgenstein Trattenbach bei Kirchberg am Wechsel Nieder-Oesterreich. Donnerstag, d. 23/VI 21, Bln-Halensee. Lieber Herr Wittgenstein, Trotz aller Sorgen und Mühen der Zeit weilen doch meine Gedanken seit Ihren letzten Briefen öfters bei Ihnen, als in den letzten Jahren. Und so bin ich auch heute bei Ihnen, um Sie zu mahnen mal wieder etwas von sich hören zu lassen. Wie geht's im Lehrberufe, ich hoffe immer noch Sie werden trotz Ihrer bisherigen Inkonstanz bei ihm aushalten. Mir macht's noch heute dieselbe oder gar noch größere Freude jemanden vorwärts zu bringen, als vor Jahrzehnten und darin merke ich meine 63 Jahre nicht. Freilich, jetzt muß Lehren noch tiefer als früher aufgefaßt werden; nicht Wissen sondern Leben ist nach dem Zusammenbruch des Intellektes zu lehren. Was in den Büchern steht, hole man daher, aber aus den Petrefakten kommt wenig lebendes, das geht von der Person aus! - Seit meinen letzten Nachrichten ist Frau Sorge eigentlich nicht von uns gewichen, da mußte meine Frau kurz nach den schweren Januartagen drei Wochen infolge einer Blutvergiftung das Bett hüten, da machte mir mein kranker Sohn dauernde Sorge u.s.f., aber meinen alten Kopf habe ich trotzdem noch oben u Gott gebe, daß ich ihn oben behalte und vor allem meine Schaffenskraft nicht versagt. Opus 33 u 34 ist im Druck; letzeres soll dem Andenken meines dahingegangenen Kindes gewidmet sein, sie hat es noch entstehen sehen. So, Kollege, da fällt grade mein Blick auf
die Andenken an Sie vor Jahren und manches andern anhänglichen Schülers; immer wieder freut's mich. Haben Sie auch anhängliche Seelen, wenn nicht, dann sind Sie auch kein rechter Lehrer, das ist der Prüfstein! Noch einen herzlichen Händedruck [...] von Ihrem alten Stanislaus Jolles.
VON ADELE JOLLES, 20.9.1930 Berlin-Halensee 130 Kurfürstendamm 20/9 30 Sehr geehrter Herr Wittgenstein Wie lange, ach wie lange ist es her, dass ich Ihnen geschrieben habe. Zuletzt wohl nach meinem grossen Unglück - Und ich weiss - Sie werden beim Anblick meines Briefes durchaus nicht entzückt sein - nein, wirklich nicht. Sehe ich doch Ihr verlegenes Gesicht in Wien - "Was fang ich nur mit diesen fremden Menschen - oder war es "Statisten"? - an - wie komm ich nur los." Seit einigen Wochen bekämpfe ich nun eine riesige Lust Ihnen zu schreiben - Wie? soll ich mich jemandem in Erinnerung bringen, der unzweideutig u. endgiltig uns alte Freunde fallen gelassen hat! Es ist natürlich sehr verkehrt, dass ich es nun doch tue. Aber mein Gott - Sie haben Ihre Art u. dies ist Ihre Sache. Weshalb soll ich mich nach der Ihren richten und nicht nach meiner eigenen - wenn ich mich auch dabei für einen kleinen Augenblick vordrängen muss aus der mir freundlichst zugewiesen[en] "Nichts mehr davon" Versenkung! und meinem Stolz schon mal einen Puff versetzen muss. Wie lange noch, u. es heisst definitiv Nichts mehr davon u. man ist jenseits von Schreiben oder Nichtschreiben u. den Stolz benagen die Würmer. Genug der Einleitung. - Also. Nach sehr vielen Jahren waren wir wieder bei einer Naturforscherversammlung (Königsberg) Da habe ich verschiedene Wiener Herren von der Zunft kennen gelernt und erfuhr so, dass aus unserm frühern Freunde - "verflossenen" ist ein unfeines Wort, aber eigentlich bezeichnender - dem "kleinen Wittgenstein" doch noch etwas anderes "geworden ist" als der "Dorfschullehrer" und dass man dort sehr viel von Ihnen hält. Ob Ihnen dies nun gleichgiltig oder gar unerwünscht ist, muss ich Ihnen doch sagen, wie ausserordentlich, aber ausserordentlich ich mich darüber gefreut habe! Habe ich doch an Sie geglaubt, als es bei Ihnen - nun, wie soll ich mich ausdrücken - nun, sehr bunt aussah u. es gar nicht so klar war, wohin Sie Ihre "Leitern" führen würden. Eigentlich könnte ich Ihnen einen Wechsel präsentieren, demzufolge Sie mir 1 Mal - in Worten Ein Mal - pro Anno schreiben und berichten wollten, wie es Ihnen ginge auch, oder gerade unter den von mir vorausgesagten, von Ihnen bestrittenen "Nichts mehr davon" Umständen. Aber - ich tue es nicht. Ich habe es mir geleistet Ihren Wechsel längst zu verbrennen u. die Asche in alle Winde zu streuen. Amen. Meinem Mann, der, wie Sie wissen, väterlich an Ihnen hing, waren Sie eine herbe Enttäuschung - mir nicht. Sie werden sogar stets zu meinen wenigen hellen u. lieben Erinnerungen gehören, d.h. nicht Sie, sondern der "kleine Wittgenstein" u. liebe Mensch, von dem Sie kaum noch wissen mögen. Den jetzigen kenne ich nicht. - Treue ist wol Mangel an Beweglichkeit, Festkleben an Gewesenem, Abgestorbenen, Stagnation, Hindernis beim Vorwärtsschreiten, Übersichhinauswachsen - das sehe ich alles ein aber ich leide an der Krankheit - Bin auch nicht vorwärts gekommen, im Hintertreffen stecken geblieben! - Nun, das ist vorbei u. nicht zu ändern. Im Nebenzimmer spielt meine Cousine Margarete J. - bekannte Pianistin, die bei uns wohnt - das Brahmssche B moll Concert. Ach Gott, wie waren damals andere Zeiten. - (Wissen Sie noch, wie wir es 3händig spielten.) Schwer ist das Leben.
AN ADELE JOLLES, nach dem 20.9.19130 Trinity College Cambridge [nach dem 20. 9. 1930] Hochgeehrte gnädige Frau! Ich habe heute Ihren Brief erhalten. Er war mir wohl /naturlich/ eine Überraschung, wenn auch nicht von der unangenehmen Art die Sie meinten. Im Gegenteil empfinde ich es als ein Glück daß Sie mir /das Schicksal/ diese Gelegenheit gegeben hat mich mit Ihnen noch einmal in Verbindung zu setzen. Wenn ich Ihnen nun aber schreiben will so stehe ich vor der Wahl etwas mir selbst nicht ganz Natürliches zu schreiben nur um ihnen überhaupt zu antworten oder das zu schreiben was ich meine was Ihnen aber möglicherweise ganz unverständlich sein wird. Ich glaube es ist besser ich schreibe wie es mir natürlich ist & mache Ihnen so ein Verstandnis möglich (wenn auch schwer) besser als ich schreibe etwas was halbwegs plausibel klingt aber nicht eigentlich verstanden werden kann weil es nicht wahr ist. Zunächst Sie haben Recht es ist mir gleichgültig ob man in Königsberg etwas von mir hält oder nicht. Ich kann - bei dem /trotz des/ besten Willen, selbst nicht viel von mir halten & die gute Meinung von Professoren der Philosophie & Mathematik - Ausnahmen ausgenommen - bestärkt mich eher in meinem ungünstigen Urteil als daß sie mich ermutigte. (Die gute Meinung der wenigen Ausnahmen wird mich zwar - wie ich hoffe - in meinem Urteil
über mich oder meine Arbeit auch nicht irre machen ich nehme sie aber als persönliche Freundlichkeit dankbar an). Als ich nun las Sie seien auf einem Naturforscher Kongress gewesen da überkam mich wieder der heftige Widerwille & davor daß die Fraun der Professoren an Kongressen teilnehmen & mit "Zunftgenossen" /Herren von der Zunft/ reden. Das aber schreibe ich Ihnen nur weil es ein Symptom aller jener Eigenschaften /Dinge/ ist die mir so fremd geworden sind Als ich in Berlin war & auch noch später empfand ich diesen Widerwillen nicht. Später wurde er in mir stark & machte mir eine Verständigung oder überhaupt eine Verbindung mit Ihnen unmöglich. Ja als ich Ihren vorletzten Brief erhielt der mir Ihr großes Unglück mitteilte da verursachte mir Ihre unnaturliche Ausdrucksweise /die Unnatur verzeihen sie mir das Wort journalistische/ solchen Widerwillen & das Gefühl einer solchen Fremdheit daß ich jeden Versuch einer Verständigung als unsinnig beiseite schob. - Ich erkenne aber heute (& erkannte schon damals unklarer /undeutlicher/) daß es ein Unrecht von mir war mich von solchen Gefühlen beherrschen zu lassen wo den Gefühlen der Dankbarkeit & Treue der erste Platz gebührte. Darum ist also Ihr Vorwurf der Untreue leider nicht ganz ungerechtfertigt /unberechtigt/ wenn es sich auch damit nicht ganz so verhält wie sie - naturlicherweise -, glauben. Daß ich Ihrem Herrn Gemahl eine Enttäuschung bereiten mußte habe ich gewußt & bedauert aber darin lag mein Fehler nicht denn ich mußte manchen eine Enttauschung bereiten gerade dadurch daß ich tat was richtig war. Ich will sagen: Mein Fehler lag nicht darin daß ich eine Verständigung von /für/ ausgeschlossen hielt denn sie war (& ist vielleicht noch immer) ausgeschlossen wohl aber lag es darin daß ich die Wichtigkeit von Dankbarkeit & Treue hinter die der Verständigung stellte während in Wirklichkeit diese im Vergleich zu jenen ganz gleichgültig /belanglos/ ist. Ich habe mich also doch unanstandig benommen & bitte Sie & Ihren Herrn Gemahl mir das zu verzeihen wenn Sie es vom Herzen können. Ich will noch sagen daß mich 3 Stellen Ihres Briefes in guter Weise beruhrt haben: Die in der Sie schreiben, ich hätte meine Art & das sei meine Sache, Sie aber mußten sich nach der Ihrigen richten. Das ist wahr & ich denke oft dasselbe. Dann die Stelle in der Sie Ihre Freude über mein Erfolg in Königsberg ausdrücken & diese Stelle hat mich gefreut obwohl sie auf einer falschen Einschätzung des Urteils der "Herren von der Zunft" beruht. Und endlich die Worte "Schwer ist das Leben". Das war ein Ton, den ich verstehe. Nehmen Sie nocheinmal meinen Dank dafür daß Sie mir diese Gelegenheit gegeben haben Ihnen zu schreiben. Ich bin Ihr ergebener Wittgenstein
VON ADELE JOLLES, 8.10.1930 Berlin-Halensee 130 Kurfürstendamm 8/10 30 Lieber Herr Wittgenstein ich danke Ihnen Ihre Offenheit. - Ich kann jetzt wieder ohne jede Bitterkeit an Sie zurückdenken, wenn es mir auch sehr schmerzlich ist. Meinem Mann kann ich Ihre Botschaft nicht ausrichten - Ich hatte ihm von meiner Absicht Ihnen zu schreiben vorläufig nichts gesagt und augenblicklich fällt es mir schwer darüber zu sprechen. Vielleicht später einmal. Ueberdies, - mein Mann ist 73 alt und seine einzige Freude ist die Anhänglichkeit seiner alten Schüler. Jetzt freut er sich über Ihre Anerkennung - d.h. die Ihnen zuteil wird - Nur - eines hätten Sie mir nicht sagen dürfen - dies, was Sie mir über meinen vorletzten Brief schreiben. Aber vielleicht haben Sie Recht - Ich habe ja selbst nur zu oft einen Widerwillen gegen mich. Alles Gute und Schöne. Adele Jolles. Meine Bemerkungen über Treue bezogen sich auf mich - und gerade tags darauf las ich im Hamsum: "Treue ist eine Art Schwerfälligkeit." Beharrungsvermögen. Ihnen wollte ich keinen Vorwurf machen.
VON ADELE JOLLES, 21.8.1939 21/8 39 Lieber Freund, heute früh habe ich Ihren l. Brief erhalten u. schon schreibe ich Ihnen. Denn es heisst nicht immer vant mieux tard que jamaés, es kommt auch zuweilen vor vant mieux tôut que jamaés. Und bekanntlich weiss kein Mensch wie lange er noch auf dieser ach, so schönen u. ach, noch grausameren als schönen Erde wandelt. Klar? - Wir waren durch einen günstigen Zufall 4 Wochen auf dem Lande, auf dem Gute eines Bekannten. Es war eine Wonne diese herrlich duftende Luft zu atmen in einem alten, grossen Schlosspark - wie überhaupt frisch duftende Luft zum schönsten gehört, was einem noch beschert sein kann - Andererseits war die Nebenumstände sehr traurig u. versti[mmter?] Schwanengesang. - Der Mann gestorben, die Kinder weit, weit verstreut, das Haus voller Sorgen - aber letzteres ist man gewohnt. Man kennt nichts anderes mehr. - Ich danke Ihnen für Ihr freundliches Mitgefühl für meinen Reissmatismus. Ich wusste gar nicht, dass ich Ihnen von diesem treuen Genossen
berichtet hatte - vielleicht, weil ich ihn mit Heilbädern nicht zu vertreiben vermochte u. dies bemerkte? - Es gibt aber so viel Schlimmeres, dass es mich beinahe amüsirt. - Sehr leid tut es mir, dass Sie erfolglos in einer unangenehmen Angelegenheit Laufereien hatten u. besonders, weil es Sie hinderte Ihre liebe Absicht, uns zu besuchen, auszuführen. Ich möchte aber auf meine Frage Antwort haben, wie es mit Ihren Lehrplänen geworden ist - ich frage doch nicht aus Neugier u. nicht, wie man how do you do sagt. Ihren Schwestern geht es gut "bis dato" - dies freut mich. Und wo ist Ihr Musikbruder? Und haben Sie noch Ihr Alleegasse-Heim? - Ein früherer Schüler meines Mannes, Historiker, hat drei für mich wertvolle Familienerinnerungen noch bei sich. Es wäre mir lieber, sie kämen zu Ihnen. Er heisst Henry Weinreh und seine Adresse ist S W 1 Belgrave Rd. 82 London. Kommen Sie mal hin? dann wäre es lieb, wenn Sie sich mit ihm in Verbindung setzten. In dem Fall, würde ich ihn instruiren. Und kommen Sie auch einmal nach Paris? Auch mein Neffe hat interessante alte Familienbriefe u. Dokumente, die bei Ihnen vielleicht besser aufgehoben wären u. die er vor Jahren mitgenommen hat, weil sie ihm vom bibliographischen Standpunkt er ist ein grosser Bibliophile! - interessirten. Wiewohl ich all dies kaum literarisch je wieder werde verwerten können! - Ich besitze auch noch - irgendwo; augenblicklich wüsste ich nicht zu sagen in welchem Schranke, aber ich werde ihn hoffentlich finden - einen Brief vom engl. Maler Lawrence. Würde es Sie interessiren? dann schicke ich den Ihnen. Ich grüsse Sie sehr herzlich und wünsche Ihnen sehr viel Schönes u. Gutes u. wenn ich gestorben worden sein werden sollte, dann gedenken Sie mein in Freundschaft, und schimpfen Sie nicht zu sehr. Was Sie manchesmal abstiess war - vielleicht - unwillkürlich gekünstelt, oder auch willkürlich. A J. Müller ist ganz blind. Wir kommen gar nicht mehr zusammen. Ich bemerke soeben, dass ich auf 2 Bogen geschrieben habe. Erschrecken Sie nicht - ich schliesse trotzdem. Den Brief lasse ich einschreiben Wenn ich ihn schon geschrieben habe, will ich auch wissen, dass er ankommt u. in Ihre Hände gelangt, u. es gehen jetzt viele verloren. Ueberdies, weiss ich nicht, wo Sie jetzt weilen mögen. Leben Sie recht wohl Ihre ergebene Adele Jolles. 29/8 Ich konnte mich nicht entschliessen den Brief wirklich fortzuschicken - nun aber tue ich es, denn:
Der Kommentar VON STANISLAUS JOLLES, 17.7.1914 Visitenkarte mit vorgedruckter Unterschrift: "Professor Dr Stanislaus Jolles". Stanislaus Jolles: Geb. 25.7.1857, Berlin; gest. 1939, Berlin (vgl. Adele Jolles an Wittgenstein, 21.8.1939: "Mann gestorben"; im J. C. Poggendorf, Biographisch-literarisches Handwörterbuch der exakten Naturwissenschaften (Bd. VIIa, 1958) ist als Todesdatum hingegen der 14.2.1942 verzeichnet). Studierte 1875-1878 in Dresden, 1878-1880 in Breslau, ab 1880 in Straßburg. 1882 Promotion mit der Dissertation Die Raumkurve IV. Ordnung II. Species synthetisch behandelt (Dresden: Buchdruckerei von Carl Engelmann 1883). 1886 Habilitation an der Technischen Hochschule in Aachen mit der Arbeit Die Theorie der Osculanten und das Sehnensystem der Raumcurve IV. Ordnung, II. Spezies. Ein Beitrag zur Theorie der rationalen Ebenenbüschel (Aachen: J. A. Mayer 1886). 1885-1892 Asistent für darstellende Geometrie und graphische Darstellung an der technischen Hochschule zu Aachen. Seit 1886 Privatdozent in Aachen, ab 1893 Privatdozent an der Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg. Seit 1896 Dozent und ab 1907 ordentlicher Professor an der Technischen Hochschule in Berlin. Er unterrichtete in der Abteilung für allgemeine Wissenschaften die Fächer Darstellende Geometrie und Graphische Statik. 1925 wurde Jolles emeritiert. Wittgenstein studierte laut Matrikelbuch des TU-Hochschularchivs vom 23.10.1906 bis 5.5.1908 Maschinenbau an der Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg. Wittgenstein wohnte in dieser Zeit im Haus der Familie Jolles am Kurfürstendamm. Jolles publizierte zahlreiche Aufsätze in einschlägigen Fachzeitschriften, u.a. in: Archiv der Mathematik und Physik, Mathematische Zeitschrift, Jahresbericht der Dt. Mathematikervereinigung, Journal für die reine und angewandte Mathematik. - Laut Auskunft von Brian McGuinness gab es im Jahre 1939 Bestrebungen - unterstützt von Einstein und Wittgenstein Jolles für wissenschaftliche Arbeiten nach England zu bringen. Ihr Manuskript: Jolles Formulierung läßt den Schluß zu, daß Wittgenstein in Berlin eine kleine Abhandlung verfaßt hat. Bisher war lediglich bekannt, daß Wittgenstein in Berlin mit seinen Tagebuchaufzeichnungen begonnen hat. In einer Bemerkung von 1929 oder 1930 schrieb Wittgenstein: "Es ist merkwürdig daß ich seit so vielen Jahren fast nie mehr das Bedürfnis empfunden habe Tagebuchaufzeichnungen zu machen. In der allerersten Zeit in Berlin als ich damit anfing auf Zettel Gedanken über mich aufzuschreiben, da war es ein Bedürfnis. Es war ein für mich wichtiger Schritt." (Zit. nach Brian McGuinness: Wittgensteins frühe Jahre.Übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 103) meine Frau: Adele Jolles, Lebensdaten nicht ermittelt.
VON STANISLAUS JOLLES, 25.9.1914 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 25.9.14" mit dem Vermerk "ZENSURIERT" gestempelt. Von fremder Hand wurde die Adresse ergänzt: "Weichselschiff „Goplana“". nach Krakau zurückgekehrt: Wittgenstein kam am 21.9. mit der "Goplana" in Krakau an und notierte am 22.9. in sein Tagebuch: "Erhielt eine Menge Karten und Briefe u.a. von Ficker und Jolles." Und am 28.10: "Auch von Ficker und der Jolles liebe Nachricht." (Zit. nach der normalisierten Fassung von Wittgenstein's Nachlass. The Bergen Electronic Edition, 1998). Diese Zuschriften von Stanislaus und Adele Jolles sind verschollen. Unterseeboot U. 9: Das Unterseebot U 9 versenkte am 22.9.1914 die britischen Panzerkreuzer Aboukir, Hogue und Cressey. unsere Emden: Der Kleine Kreuzer SMS Emden war der erfolgreichste deutsche Auslandskreuzer. Am 22.9. schoß die Emden mindestens 2.000 Tonnen Öl im Hafen von Madras in Brand. Am 28.10. beschoß sie die Hafenanlagen von Penang und zerstörte einen russischen Kreuzer und einen französischen Zerstörer. Insgesamt brachte die Emden 19 Schiffe mit insgesamt 82.938 Bruttoregistertonnen auf. Am 9.11.1914 wurde die Emden von einem australischen Kreuzer zerstört.
VON ADELE JOLLES, 2.12.1914 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 2.12.14", mit dem Vermerk "Zensuriert / Hauptpostamt." gestempelt. Mutter: Leopoldine Wittgenstein, geb. Kalmus: Geb. 14.3.1850, Wien; gest. 3.6.1926, Wien.
VON ADELE JOLLES, 7.12.1914 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 8.12.14", mit dem Vermerk "Zensuriert / Hauptpostamt." gestempelt. Auch die Absenderadresse ist gestempelt, einmal in der dafür auf der Karte vorgesehenen Spalte, zusätzlich noch am Schluß des Textes.
VON ADELE JOLLES, 9.12.1914 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 9.12.14", mit dem Vermerk "Zensuriert / Hauptpostamt." gestempelt; auch die Absenderadresse ist gestempelt. Frl. Kammerer: Möglischerweise Tochter von Otto Kammerer, der 1893 erstmals als Prof. für Mathematik an der TH erwähnt wird. 2 Paketchenerhalten?: Vgl. Wittgensteins Eintragung in sein Tagebuch vom 14.12.1914: "Liebe Sendung von der Jolles." (Zit. nach der normalisierten Fassung von Wittgenstein's Nachlass. The Bergen Electronic Edition, 1998). Bruder: Paul Wittgenstein: Geb. 5.11.1887, Wien; gest. 3.3.1961, Manhasset (New York). Pianist. Paul Wittgenstein hatte an der russischen Front seinen rechten Arm verloren. Wittgenstein hatte bereits am 28.10. davon Nachricht erhalten (vgl. Eintragung in sein Tagebuch).
VON STANISLAUS JOLLES, 21.12.1914 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 21.12.14", mit dem Vermerk "Zensuriert / Hauptpostamt." gestempelt. Autodetachement: Seit 9.12.1914 arbeitete Wittgenstein in der Kanzlei der Werkstätte der Festung Krakau.
VON STANISLAUS JOLLES, 28.12.1914 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 28.12.14", mit dem Vermerk "Zensuriert / Hauptpostamt." gestempelt. "Oberleut. Gürth": Oberleutnant Oskar Gürth war Wittgensteins Vorgesetzter im Auto-Detachement. Aus vielen Eintragungen Wittgensteins in seine Tagebücher geht hervor, daß er seinen Vorgesetzten sehr geschätzt hat. Veit Stoßeschen Arbeiten: Veit Stoß (1448?-1533), deutscher Bildhauer und Maler, errichtete 1477-1489 den spätgotischen Hochaltar in der Marienkirche in Krakau. Weitere Werke von Stoß befinden sich u.a. in der Schloßkirche, in der Florianskirche und in der Dominikanerkirche. Czartoryski'sche Gemäldesammlung: Die Sammlung des litauisch-polnischen Adelsgeschlechtes Czartoryski, eine Abteilung des Krakauer Nationalmuseums, enthält u.a. eine Galerie der italienischen (Leonardo da Vinci: Dame mit dem Wiesel), deutschen und niederländischen Malerei (Rembrandt: Landschaft mit dem barmherzigen Samariter).
VON STANISLAUS JOLLES, 1.1.191[5] Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 1.1.15", mit dem Vermerk "Zensuriert / Hauptpostamt." gestempelt. 1. I.14: Irrtümlich schrieb Jolles "14"; mit einem Blaustift wurde die Zahl 5 - möglicherweise von fremder Hand darübergeschrieben. der Bericht: Nicht ermittelt.
VON ADELE JOLLES, 2.1.15 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 2.1.15", mit dem Vermerk "Zensuriert / Hauptpostamt."
gestempelt; auch die Absenderadresse ist gestempelt.
VON ADELE JOLLES, [20.1.1915] Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 20.1.15", mit dem Vermerk "Zensuriert / Hauptpostamt." gestempelt; auch die Absenderadresse ist gestempelt. Am unteren Ende der Karte befindet sich eine Skizze Wittgensteins und dazu seine handschriftliche Notiz: "Blechplatte mit / ART WERKSTÄTTE / DER FESTUNG KRAKAU". Antwortformular: Es gab Feldpost-Doppelkarten mit einem Antwortteil, in den der Absender seine Adresse eintragen mußte und die der Empfänger dann nur mehr abreißen und zurücksenden konnte.
VON STANISLAUS JOLLES, 25.1.1915 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 25.1.15", mit dem Vermerk "Zensuriert" gestempelt. secundum ordinem: ordnungsgemäß.
VON STANISLAUS JOLLES, 10.2.1915 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 10.2.15", mit dem Vermerk "Zensuriert / Hauptpostamt." gestempelt. Als was dienen Sie eigentlich?: In der Werkstätte wurde Wittgenstein anfangs in der Kanzlei beschäftigt. Bereits am 24.12.1914 trug Wittgenstein in sein Tagebuch ein: "Wurde heute zu meiner größten Überraschung zum Militärbeamten - ohne Sterne - befördert." Am 27.12.: "Bin zum Adjutanten des Oberleutnant Gürth ernannt." Am 3.2.1915 notierte er: "Soll jetzt die Aufsicht über unsere Schmiede übernehmen." und am 22.4.1915: "Soll jetzt die Oberaufsicht über die ganze Werkstätte kriegen." (Zit. nach der normalisierten Fassung von Wittgenstein's Nachlass. The Bergen Electronic Edition, 1998). Durch seine unausgesprochene Stellung, er bekleidete ja keinen offiziellen Dienstgrad, kam es immer wieder zu größeren Reibereien mit seinen "Untergebenen". Vgl. dazu Oberleutnant Gürths "Bericht über den Kriegsfreiwilligen Kanonier Ludwig Wittgenstein" an das k.u.k. Kriegsministerium, September 1915 (Wien, Kriegsarchiv): "W. lebte zu Ausbruch des Krieges, nach Absolvierung der Hochschulen in Charlottenburg, Oxford [sic] und Cambridge, woselbst er nach den dort geltenden Bestimmungen auch zur Ausübung der Dozentur berechtigt wäre, als Privatgelehrter (Philosophie und Mathematik) in Norwegen. Gleich zu Ausbruch des Krieges eilte er nach Wien und ließ sich, obwohl in Folge eines zweimaligen doppelten Leistenbruches vollkommen untauglich, zum Fs. Art. Reg. Nr. 1 als Kanonier assentieren. Aus Gründen idealer Natur unterließ er es, irgendwie sein Freiwilligenrecht geltend zu machen oder aus seiner civilen Stellung oder seinen Geldmitteln sich irgendwelche Vorteile zu verschaffen, so daß er bei der Weichselflotille - wie dies mit schwächlichen Mannschaftspersonen öfters geschieht, - fast ausschließlich zum Abortreinigen und ähnlichen Arbeiten verwendet wurde, welche Dienste er durch drei Monate verrichtete, bis er zu der Art. Werkstätte der Fest. Krakau als Kanonier kommandiert wurde. Hier wurde ich durch einen Zufall auf ihn aufmerksam und teilte ihn zunächst als Aufsichtscharge ein. Als ich dann erfuhr, daß er Ing. sei, verwendete ich ihn als solchen im Betrieb. Da er in seiner Bescheidenheit nie etwas von seiner Stellung erwähnt hatte, sah die Mannschaft darin eine ungerechtfertigte Bevorzugung, weshalb eiserne Strenge notwendig war, die fortwährenden Disziplinwiedrigkeiten zu bekämpfen. Da sich W. in das Gebiet der Art. Technik sehr rasch einarbeitete, somit für mich eine wertvolle Stütze war, durchsuchte ich alle einschlägigen Vorschriften und Erlässe um W. im Interesse des Dienstes eine geeignete Stellung zu verschaffen. Die im Oktober 1914 erschienen[en] Erlässe über Landsturming. ließen eine für Wittgenstein günstige Deutung zu. Selbst der Referent im k. k. Ministerium für Landesvert., den ich bei Gelegenheit über den Fall befragte, teilte meine Ansicht, daß W., da er tatsächlich als Ing. verwendet werde, berechtigt sei, die Uniform eines solchen zu tragen. Da er nun Offizierscharakter bekam, war die Frage seiner Stellung der Mannschaft gegenüber geregelt und W. arbeitete in den folgenden Monaten mit bestem Erfolg als Artillerieing. in der der Werkstätte. [...]". Eine Ernennung Wittgensteins zum Landsturmingenieur wurde vom Kriegsministerium ebenso abgelehnt, wie Gürths Bitte um "ausnahmsweise Verleihung einer Charge - eventuell nur Titularcharge - im Range eines Akzessisten" (2.9.1915, Kriegsarchiv, Wien). In einem Schreiben vom 8.11.1915 an Hauptmann E. Haechst im Kriegsministerium, in dem sich Gürth nach dem Stand der Ernennung Wittgensteins erkundigte, schildert er auch den Umfang der anfallenden Reparaturen: "Von der Taschenuhr angefangen bis zur Eisenbahnbrücke haben wir so ziemlich alles "dazwischen liegende" bereits repariert!"
VON ADELE JOLLES, 12.2.1915 Brief, an sieben verschiedenen Stellen mit "Überprüft!" gestempelt. Berlioz: Hektor Berlioz: Lebenserinnerungen. Ins Deutsche übertragen und hrsg. von Hans Scholz. München: C. H. Beck'sche Verlagshandlung 1914. "Cornet": Gemeint ist Rainer Maria Rilkes Werk Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke (1906), von dem damals bereits mehrere Vertonungen vorlagen. Im Februar 1915 führte die mit Rilke befreundete Pianistin Magda von Hattingberg die Vertonung des ungarischen Komponisten Casimir von Pászthorý in Leipzig auf. Clarinettenquintett: Wahrscheinlich op. 115 H moll von Johannes Brahms.
Italienern: Bei Kriegsausbruch gab es für Italien zwei gegensätzliche vertragliche Bindungen: einerseits die Zugehörigkeit zum Dreibund, andererseits ein französisch-italienisches Neutralitätsabkommen aus dem Jahre 1902. Bei Kriegsausbruch erklärte Italien am 3.8.1914 seine Neutralität und erkannte die Bündnispflicht aus dem Dreibund nicht an. Dies hinderte Italien aber in den folgenden Monaten nicht, aufgrund des Art. 7 des Dreibundvertrages Kompensation für die österreichischen Balkanansprüche zu fordern. Am 23.5.1915 erklärte Italien Österreich-Ungarn den Krieg.
VON ADELE JOLLES, 19.2.1915 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 20.2.15", mit dem Vermerk "Zensuriert / Hauptpostamt." gestempelt. Abgesang-Stollen: Anspielung auf die Versform im Minne- und Meistersang: auf Stollen und Gegenstollen folgt der Abgesang.
VON STANISLAUS JOLLES, 20.2.1915 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 20.2.15", mit dem Vermerk "Zensuriert / Hauptpostamt." gestempelt. "Art. Werkstätte der Festung" in der Adresse wurde (von fremder Hand ?) mit Rotstift unterstrichen. [...]: Unleserlicher Name.
VON STANISLAUS JOLLES, 5.3.1915 Ansichtskarte, Poststempel: "[BERLIN-]HALENSEE, 5.3.15", mit "Zensuriert" gestempelt. Recto Zeichnung "Stift Neuburg bei Heidelberg" von Michael Trübner, verso der gedruckte Vermerk: "Verein für das Deutschtum im / Ausland E. B. / Wilhelm Trübner-Karte 1".
VON STANISLAUS JOLLES, 9.3.1915 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 10.3.15", mit dem Vermerk "Zensuriert / Hauptpostamt." gestempelt.
VON STANISLAUS JOLLES, 16.3.1915 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 16.3.15", mit dem Vermerk "Zensurier[t] / Hauptpostamt." gestempelt. wieder an die Front: Aus mehreren Eintragungen in sein Tagebuch ist ersichtlich, daß er öfter größere Probleme wegen seiner ungeklärten dienstlichen Stellung hatte. Am 5.3. notierte er: "Sprach heute mit Gürth über meine unwürdige Stellung. Noch keine Entscheidung. Vielleicht gehe ich als Infanterist an die Front."
VON ADELE JOLLES, 20.3.1915 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 19.3.15", mit dem Vermerk "Zensuriert / Hauptpostamt." gestempelt, weiters mit: "Prof. Dr. Jolles / Halensee bei Berlin / Kurfürstendamm 130III".
VON STANISLAUS JOLLES, 25.3.1915 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 25.3.15", mit dem Vermerk "Zensuriert / Hauptpostamt." gestempelt. Przemysl: Przemysl war am 18.3.1915 von den Russen erobert worden.
VON STANISLAUS JOLLES, 6.4.1915 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 6.4.15", mit dem Vermerk "Zensuriert / Hauptp[ostamt.]" gestempelt.
VON ADELE JOLLES, 8.4.1915 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 8.4.15", mit dem Vermerk "Zensuriert / Hauptpostamt." gestempelt. Gestempelt ist auch die Absenderadresse.
VON STANISLAUS JOLLES, 16.4.1915 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 17.4.15", mit dem Vermerk "K. u. K. Militärzensur / KRAKAU 1." gestempelt.
VON ADELE JOLLES, 1.5.1915 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 1.5.15", mit dem Vermerk "K. u. K. Militärzensu[r]" gestempelt. Gestempelt ist auch die Absenderadresse.
VON STANISLAUS JOLLES, 4.5.1915 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 4.5.15", mit dem Vermerk "K. u. K. Militärzensur / [KRAKAU]" gestempelt. Mackensen: In der Durchbruchsschlacht von Gorlice-Tárnow (1.-3.5.) wurde die Front der Russen unter der Führung von Generaloberst Mackensen durchbrochen. Am 3.6.1915 konnte Przemysl zurückerobert werden. Die deutsch-österreichische Offensive kam erst in der Schlacht von Tarnopol (6.-19. September) in Ostgalizien zum Stehen.
VON STANISLAUS JOLLES, 17.5.1915 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 17.5.15", mit dem Vermerk "K. u. K. Militärzensur / KRAKAU 1." gestempelt. Italien: Im Geheimvertrag von London (26.4.1915) zwischen England, Frankreich, Rußland und Italien, verpflichtete sich Italien zum Kriegseintritt gegen die Mittelmächte, wofür ihm seine Territorialforderungen u.a. in Istrien, Dalmatien und Welschtirol zugesichert wurden. Im Mai gab es in Italien heftige Auseinandersetzungen zwischen Kriegsanhängern und Kriegsgegnern. Am 23.5. erklärte Italien Österreich-Ungarn den Krieg.
VON ADELE JOLLES, 25.5.1915 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 17.5.15", mit dem Vermerk "K. u. K. Militärzensur / KRAKAU 1." gestempelt. Gestempelt ist auch die Absenderadresse. Sowohl recto als auch verso finden sich in Bleistift, wahrscheinlich von Wittgensteins Hand, Skizzen von nicht näher zu identifizierenden Gegenständen (Möbel?). Frau Morgenrot-Scheid: Nicht ermittelt.
VON ADELE JOLLES, 16.6.1915 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 17.6.15", mit dem Vermerk "K. u. K. Militärzensur / KRAKAU 1." gestempelt. Gestempelt ist auch die Absenderadresse. Neben der Adresse finden sich Bleistiftskizzen von Wittgensteins (?) Hand. Jampot: Kirschmarmelade.
VON ADELE JOLLES, 19.6.1915 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 19.6.15", mit dem Vermerk "K. u. K. Militärzensur / KRAKAU 1." gestempelt. Gestempelt ist auch die Absenderadresse.
VON STANISLAUS JOLLES, 19.6.1915 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, [1]9.6.15", mit dem Vermerk "K. u. K. Militärzensur / KRAKAU 1." gestempelt.
VON ADELE JOLLES, 28.7.1915 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 28.7.15", mit dem Vermerk "K. u. K. Militärzensur / KRAKAU 1." gestempelt. Gestempelt ist auch die Absenderadresse. Die Adresse wurde von fremder Hand durchgestrichen und durch folgende Angabe ersetzt: "derzeit / Wien. / XVII. Neuwaldeggerstrasse 38".
VON ADELE JOLLES, 12.8.1915 Brief. Unfall: Laut Wittgensteins Aussage in einem Brief an Ludwig von Ficker, Poststempel 24.7.1915, erlitt er um den 17. Juli durch eine Explosion in der Werkstätte einen Nervenschock und einige leichtere Verletzungen. Treibrieben: Möglicherweise eine Verschreibung; es könnten die Treibriemen gemeint sein. [...] : Unleserlicher Name.
VON STANISLAUS JOLLES, 12.8.1915 Postkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 12.8.15", mit gestempelter Absenderadresse. Pythia: Prophetin des Orakels von Delphi.
VON ADELE JOLLES, 28.9.15 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 29.9.15". grosse Erbitterung: nicht ermittelt. [...] : Unleserlicher Name. Schwägerin: Leopoldine Wittgenstein erwähnt in einem Brief an Ludwig Wittgenstein vom 7.11.1915: "Jolles schickten Dir dieser Tage die Todesanzeige seiner Schwester Baronin Menschote[?]". Leider ist der Name nicht eindeutig lesbar.
VON STANISLAUS JOLLES, 29.9.1915 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 29.9.15". [...] : Unleserlicher Name; die zweite unlesbare Stelle in diesem Brief bezieht sich auf den gleichen Namen, diesmal allerdings abgekürzt.
VON STANISLAUS JOLLES, 5.11.1915 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 5.11.15", verso mit Bleistiftskizzen.
VON ADELE JOLLES, 6.12.1915 Feldpostkarte, Poststempel: "WIEN, 9.XII.15". Sch[...]: Unleserlicher Name.
VON ADELE JOLLES, 27.12.1915 Feldpostkarte, Poststempel: "WIEN, 31.XII.15". In der Absenderadresse Zusatz von fremder Hand mit Bleistift: ",
Berlin" und unter der Anschrift nicht definierbare Bleistiftskizzen. meine Tochter: gest. 30.1.1921, Berlin (vgl. Jolles an Wittgenstein, 2.2.1921), näheres nicht ermittelt. "Manfred": Wohl Anspielung auf Robert Schumanns Ouvertüre Manfred nach Lord Byrons Gedicht Manfred, op. 115 (1848/49). Es gibt aber auch von Tschaikowsky eine Manfred-Sinfonie: vier Suiten (1879-1887). Brahms: Op. 81 D moll (1881).
VON ADELE JOLLES, 8.1.1916 Brief, verso mit Bleistift von Wittgensteins Hand (?) Schreibversuche mit kyrillischen Zeichen.
VON ADELE JOLLES, 2.2.1916 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 2.2.16".
VON STANISLAUS JOLLES, 8.2.1916 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 9.2.16" mit gestempelter Absenderadresse. Schwester Karla: nicht ermittelt.
VON STANISLAUS JOLLES, 24.2.1916 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 24.2.16".
VON STANISLAUS JOLLES, 6.3.1916 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 6.3.16". Ortswechsel: Am 22.2.1916 war Oberleutnant Gürths Bitte um ausnahmsweise Verleihung einer Charge an Ludwig Wittgenstein endgültig abgelehnt worden. "Wenn es aus disziplinären Gründen unmöglich ist, Wittgenstein in seiner dermaligen Charge in seiner Kommandierung zu belassen, so ist beim 1. Armee-EtpKmdo. um dessen Transferierung zu bitten." (Wien, Kriegsarchiv) Wittgenstein wurde am 21.3.1916 der 4. Batterie des 5. Feldhaubitzenregiments zugeteilt. Schon am 29. und 30.4. wurde er erstmals, auf Wittgensteins Ansuchen ab dem 5.5. ständig als Aufklärer eingesetzt.
VON ADELE JOLLES, 21.8.1916 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 21.8.16". Von fremder Hand wurde die Feldpostnummer mit violettem Stift durchgestrichen und unten die neue Adresse dazugeschrieben: "Olmütz / F.H.Rgt 5.-Ers.Bt / Galgenberg 3[?]“. Mit blauem Stift wurde danach die Feldpostnummer mit "189" überschrieben, die schwer leserliche Nr. "3" nach Galgenberg mit "72". Wittgensteins Eintragungen in sein Tagebuch enden am 19.8.1916 mit der Eintragung: "Soll in absehbarer Zeit zum Kader ins Hinterland abgehen." Wittgenstein wurde demnach kurz darauf nach Olmütz zur Offiziersausbildung abkommandiert. Am 1.9. wurde er zum Korporal befördert.
VON ADELE JOLLES, 27.8.1916 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 28.8.16".
VON STANISLAUS JOLLES, 21.2.1917 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 21.2.17" mit gestempelter Absenderadresse. Fähnrich: Am 1.12.1916 war Wittgenstein zum Fähnrich der Reserve ernannt worden und war nach abgeschlossener Offiziersausbildung am 9.1.1917 zu seiner Batterie zurückgekehrt, die zwischen den Karpathen und dem Dnjestr stationiert war.
VON ADELE JOLLES, 5.3.1917 Brief.
VON STANISLAUS JOLLES, 31.3.1918 Feldpostkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 1.4.18" mit gestempelter Absenderadresse. Gebirgsartillerie Regiment Nr.11: Am 1.2.1918 war Wittgenstein zum Leutnant in der Reserve befördert worden und am 10.3. als Aufklärungsoffizier an die Südfront nach Asiago gekommen.
VON ADELE JOLLES, 1.6.1918 Brief. Herkners: Nicht ermittelt. Feuilleton: Nicht ermittelt.
VON ADELE JOLLES, 4.8.[1918] Feldpostkarte, Poststempel nur teilweise lesbar: "LAN[...] (SCHLESIEN), [...].18". Die Feldpostnummer wurde mit Rotstift durchgestrichen und durch "379" ersetzt. Sowohl Absender- als auch Empfängeradresse wurden mit violettem Stift durchgestrichen, und schräg darüber mit blauem Stift vermerkt: "nicht mehr / im [...] / Retour". Darunter mit violettem Stift: "nach Berlin-Halensee" und anstelle der durchgestrichenen Absenderadresse: "Abgereist nach Berlin / z Z Bl. Schöneberg [...] / Eisenacherstr b Prof Müll[...] 13/9". 4 / 8 19 : Eindeutige Verschreibung, es handelt sich um das Jahr 1918, was sowohl durch den Poststempel als auch durch die zweite Datumsangabe am Schluß des Briefes bestätigt wird.
VON STANISLAUS JOLLES, 16.12.1920 Visitenkarte, verso mit Aufdruck: "Professor Dr. Stanislaus Jolles / Geheimer Regierungsrat". Rodin: Auguste Rodin: Die Kunst. Gespräche des Meisters gesammelt von Paul Gsell. Übersetzt von Paul Prina. Leipzig: Kurt Wolff 1912 (4. Aufl. 1916). Schleffer: Nicht ermittelt.
VON STANISLAUS UND ADELE JOLLES, 2.2.1921 Brief. Bädekern: Anspielung auf die von Karl Bädeker herausgegebenen und nach ihm benannten Reiseführer. Sohn: nicht ermittelt. Volksschullehrer: Wittgenstein hatte nach Kriegsende in Wien die Abschlußklasse der Lehrerbildungsanstalt besucht und war seit Herbst 1920 Volksschullehrer in Trattenbach bei Kirchberg am Wechsel in Niederösterreich. Veröffentlichen Ihres Buches: Zu diesem Zeitpunkt waren schon mehrere Versuche gescheitert, den Tractatus zu publizieren: bei Jahoda & Siegel, beim Braumüller Verlag, in den Beiträgen zur Philosophie des deutschen Idealismus, im Brenner Verlag und zuletzt bei Reclam. Nach diesen Mißerfolgen hatte Wittgenstein die Publikation in die Hände von Betrand Russell gelegt, der die Abwicklung Dorothy Wrinch übergab. Am 21.2.1921 erhielt sie von Wilhelm Ostwald die Zusage, die Arbeit in den Annalen der Naturphilosophie zu veröffentlichen (vgl. Brian McGuinness: Wittgensteins frühe Jahre. Übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 456). Dort ist der Tractatus Ende 1921 in Bd. 14, 3. und 4. Heft, S. 184-262 erschienen.
VON STANISLAUS JOLLES, 25.2.1921 Brief.
VON STANISLAUS JOLLES, 23.6.1921 Postkarte, Poststempel: "BERLIN-HALENSEE, 23.6.21" mit gestempelter Absenderadresse. Opus 33 u 34: Möglicherweise die Abhandlungen Allgemeine Kollineationen und ihre Umkehrungen und Partiell inverse und partiell involutor. Kollineationen und Inzidenzien in 2 kollokalen korrelativen Feldern die beide 1921 in der Mathematischen Zeitschrift erschienen sind. [...] : Unleserliches Wort.
VON ADELE JOLLES, 20.9.1930 Brief, abgedruckt in Brian McGuinness: Wittgensteins frühe Jahre. Übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 105f. grossen Unglück: Tod der Tochter im Jahre 1921. Naturforscher Versammlung: Gemeint ist die 91. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte (7.-11.9.1930), verbunden mit dem 6. Deutschen Physiker- und Mathematikertag (4.-6.9.) in Köngisberg, dem die 2. Tagung für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften organisatorisch angegliedert war. Dort fanden folgende Veranstaltungen statt: 5.9.: Rudolf Carnap: Die Grundgedanken des Logizismus (veröff. unter dem Titel Die logizistische Grundlegung der Mathematik, in: Erkenntnis, Bd. 2, 1931, S. 91-105), Arend Heyting: Die intuitionistische Begründung der Mathematik (veröff. unter dem Titel Die intuitionistische Grundlegung der Mathematik, ebenda, S. 106-115), Johann von Neumann: Die axiomatische Begründung der Mathematik (veröff. unter dem Titel Die formalistische Grundlegung der Mathematik, ebenda, S. 116-121), 6.9.: Hans Reichenbach: Der physikalische Wahrheitsbegriff (ebenda, S. 156-171), Werner Heisenberg: Kausalität und Quantenmechanik (veröff. unter dem Titel Kausalgesetz und Quantenmechanik (ebenda, S. 172-182, Otto Neugebauer: Die Geschichte der vorgriechischen Mathematik (veröff. unter dem Titel Zur vorgriechischen Mathematik (ebenda, S. 122-134), K. Gödel: Über die Vollständigkeit des Logik-Kalküls, A. Scholz: Über den Gebrauch des Begriffs Gesamtheit in der Axiomatik, W. Dubislav: Über den sogenannten Gegenstand der Mathematik, 7.9.: Diskussion über die Grundlagen der Mathematik im Anschluß an die Vorträge von Carnap, Heyting, Neumann und Wortmeldungen von H. Härlen, R. Carnap und H. Hahn. Vgl. dazu Bd. 1 der Erkenntnis, 1930/31, S. 80. Vgl. auch Bd. 1, S. 414 über die Tagung: "Die enge Verflechtung mathematischen, physikalischen und philosophischen Denkens erweckte reges Interesse, besonders auch bei den gleichzeitig tagenden Fachwissenschaftlern. Die an die Vorträge angeschlossenen Diskussionen konnten zur Klärung der Probleme Wesentliches beitragen." Vgl. Bd. 2 der Erkenntnis, 1931, der einen Bericht über die 2. Tagung für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften enthält. In der Vorbemerkung (S. 88) heißt es u.a.: "Im folgenden geben wir die dort gehaltenen Vorträge wieder, mit Ausnahme der Vorträge von K. Gödel und A. Scholz, die wegen ihres vorwiegend mathematischen Inhalts an anderer Stelle veröffentlicht wurden, und des (im Programm noch nicht angekündigten) Vortrages von F. Waismann über den Standpunkt Wittgensteins, dessen Niederschrift der Autor leider bisher nicht fertigstellen konnte und den wir in einem späteren Heft zu bringen hoffen." Waismanns Vortrag ist nie veröffentlicht worden. In der Diskussion zur Grundlegung der Mathematik (S. 135-151) gibt es jedoch mehrere, z.T. kritische Stellungnahmen zu Wittgensteins Standpunkt, u.a. von Hahn und Carnap.
Margarete J.: nicht ermittelt.
AN ADELE JOLLES, [nach dem 20.9.1930] Briefentwurf, fast zur Gänze abgedruckt in Brian McGuinness: Wittgensteins frühe Jahre. Übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 106-108. Am Ende des letzten Blattes finden sich folgende Notizen von Wittgensteins Hand: "achemy & chemistery operation steady hand to plant a read Galileo & modern science"
VON ADELE JOLLES, 8.10.30 Brief. Hamsum: sic! Gemeint ist offensichtlich Knut Hamsun; die Stelle konnte nicht ermittelt werden.
VON ADELE JOLLES, 21.8.1939 Brief, erwähnt in Brian McGuinness: Wittgensteins frühe Jahre. Übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 108. Mann gestorben: Todesdatum nicht ermittelt. unangenehmen Angelegenheit: Wittgenstein war im Juni 1939 nach Wien gereist und bemühte sich, für seine Geschwister Abstammungsbescheide zu erhalten, um sie vor den Judenverfolgungen zu schützen. Im Anschluß daran fuhr er am 5. Juli nach Berlin und am 12. Juli über England nach New York, wo er mit den zuständigen Regierungsstellen bzw. den Direktoren der Familienholding Vermögensverhandlungen führte. Schließlich stellte die Reichsstelle für Sippenforschung neue Abstammungsbescheide aus, in denen der Großvater Hermann Christian Wittgenstein (geb. am 12.9.1802 in Korbach) zum "deutschblütigen Vorfahren" erklärt wurde. Schwestern: Hermine, Margarete und Helene Wittgenstein Musikbruder: Paul Wittgenstein. Henry Weinreh: Nicht ermittelt. Neffe: Nicht ermittelt. Lawrence: Vielleicht Thomas Lawrence (1769-1830), bedeutender Porträtist des engl. Hofes und des Hochadels. Müller: Wahrscheinlich Gottfried Karl Richard Müller (geb. 19.1.1862, Berlin), Kollege an der TH in Berlin-Charlotenburg (Differential- und Integralrechnung).
Editorischer Bericht Im Wiener Brieffund, der 1988 dem Brenner-Archiv übergeben wurde, befinden sich 25 Briefe und Postkarten von Adele Jolles, 29 von Stanislaus Jolles an Ludwig Wittgenstein aus der Zeit von 1914-1921. Zusätzlich wurden drei Briefe von Adele Jolles an Wittgenstein und ein Briefentwurf Wittgensteins an Adele Jolles berücksichtigt, die Brian McGuinness in seiner Wittgenstein-Biographie ganz oder teilweise abdruckte oder auch nur paraphrasierte und von denen McGuinness freundlicherweise Kopien zur Verfügung stellte. Die Originale dieser drei Briefe sowie die Briefe Wittgensteins an Stanislaus und Adele Jolles sind verschollen. Einige von den hier publizierten Briefen wurden bereits in dem Buch Ludwig Wittgenstein: Geheime Tagebücher 1914-1916. Hg. von Wilhelm Baum. 2. Aufl. Wien: Turia & Kant 1991 erstveröffentlicht, allerdings ist die Transkription so schlecht, daß darauf nicht eigens hingewiesen wird.
Textgestaltung Die äußere Form eines Briefes ist wesentlich mit der inhaltlichen Mitteilung verbunden. Die Papierwahl, ein vorgedruckter Briefkopf, bei handschriftlichen Briefen die Wahl des Schreibmaterials, die Schriftzüge und die Sorgfalt oder Nachlässigkeit bei der Abfassung liefern wesentliche Informationen über den Briefschreiber, die Art der Mitteilung und das Verhältnis der beiden Briefpartner mit. Bei der elektronischen Erfassung eines Briefes gehen daher wesentliche Informationen verloren und können durch formale Beschreibungen kaum, nicht einmal mit einem Faksimile vollständig wiedergegeben werden. Die "originalgetreue" Wiedergabe kann sich deshalb im wesentlichen nur auf den Brieftext beziehen, nicht aber auf die Form, die den Herausgebern selber überlassen bleibt, die aber nichtsdestoweniger konsequent gehandhabt werden muß. Jeder Brief wird mit einer Briefüberschrift (versal) begonnen, die den Namen des Adressaten (bei Briefen Wittgensteins) oder Verfassers und das Abfassungsdatum enthält. Aus Gründen der Übersichtlichkeit stehen vorgedruckte Briefköpfe (Absender, Telefon usw.) am Satzspiegel links oben, das in Briefköpfe integrierte Datum rechts oben. Sie werden im Kommentar als solche gekennzeichnet. Druckgraphiken werden nur im Kommentar angegeben und nach Möglichkeit beschrieben. Handschriftliche Briefköpfe werden an dem Ort und in der Reihenfolge angeführt, wie im Original.
Die Adressenangabe folgt, nach einer Leerzeile, ebenfalls am linken Rand des Satzspiegels. Bei vorgedruckten Adressen- und Absenderschablonen, werden diese vorgedruckten Textteile als zum Text gehörig betrachtet, wenn sie in die Formulierung eingebunden werden. Einen Sonderfall stellen die Absender- und Adressenangaben bei Postkarten dar, die ja zumeist handschriftlich vorliegen und somit als zum Brieftext gehörig betrachtet werden. Hier erfolgt die formale Darstellung, wie oben angeführt. Adressen- und Absenderangaben auf Kuverts werden nur im Kommentar vermerkt. Nach einer Leerzeile folgt der eigentliche Brieftext, wo versucht wird, sich so weit wie möglich an das Original zu halten: Orts- und Datumsangaben stehen ungefähr an der vom Original vorgegebenen Stelle, es gibt in der Wiedergabe nur links- oder rechtsbündig (im Zweifelsfall rechtsbündig). Der Poststempel wird immer in folgender Form wiedergegeben: [Poststempel: Ort, Tag.Monat.Jahr]. Die Schrift des Poststempels (z.B. Versalien oder römische Zahlen für die Monatsangabe) wird möglichst originalgetreu wiedergegeben. Unleserliche oder unsichere Teile werden mit „?“ gekennzeichnet. Im Kommentar wird der Poststempel als Zitat unter Anführungszeichen wiedergegeben, hier werden dementsprechend nur fragliche Stellen in eckiger Klammer angeführt. Datumsverschreibungen werden nicht korrigiert, da die Briefüberschrift das berichtigte Datum enthält. Anredeformeln , die im Original vom übrigen Text durch entsprechend größeren Zwischenraum oder Zeilenabstand abgehoben sind, werden, wie jeder Absatz eingerückt, danach folgt eine Leerzeile. Ist die Anrede nicht abgehoben, wird sie in den Brieftext intergriert. Absätze werden durch Einrückung gekennzeichnet, größere Abstände zusätzlich durch eine Leerzeile. Überschreibungen werden im Textteil zwischen zwei Schrägstrichen eingefügt. Durchstreichungen werden nur dann (im Kommentar) erwähnt, wenn eine deutliche Änderung der Autorintention erkennbar ist. Alle Fehler und Verschreibungen werden ohne das im Text oft störende [sic!] wiedergegeben. Bei schweren oder sinnstörenden Schreibfehlern erfolgt, damit nicht der Eindruck eines Tippfehlers entsteht, ein Verweis im Kommentar. Bei den für Wittgenstein typischen Fehlern, z.B. "wol" statt wohl wird ein solcher Verweis nicht für nötig erachtet. Schwer leserliche Stellen und Ergänzungen durch die Herausgeber werden mit eckiger Klammer gekennzeichnet. Die Grußformel steht immer am linken -Rand des Satzspiegels, unabhängig von der Vorlage. Die Unterschrift immer am rechten Rand des Satzspiegels, unabhängig von der Vorlage. Postskripte u.ä. folgen immer nach einem Zeilenabstand. Beilagen folgen immer - abgehoben durch einen Zeilenabstand - am Schluß des Brieftextes, vorausgesetzt sie stehen mit dem Brieftext in engem Zusammenhang, oder stammen vom Schreiber (z.B. eine Gedichtabschrift u.ä.). Selbständige Beilagen, z.B. Zeitungsausschnitte, Sonderdrucke, Flügblätter, Bücher u.ä. werden im Kommentar beschrieben. Für alle oben angeführten Punkte gilt: - Wenn keine eindeutige Reihenfolge von Texteilen erkennbar ist, etwa durch Überschreibungen, Notizen an den Rändern usw., dann wird nach dem normierten Schema vorgegangen. - Die verschiedensten graphischen Gestaltungen, Einrückungen, Zentrierungen u.ä. werden bei Adressenangaben, Grußformel u.ä. einheitlich nur durch Absätze angedeutet. - Für alle Besonderheiten, die formal nicht eindeutig oder ungenau dargestellt werden können, finden sich Hinweise im Kommentar.
Kommentar Der allgemeine Kommentar beginnt mit der Bezeichnung der Textgattung. Gegebenenfalls folgt die Beschreibung der Papierart, von Beilagen und handschriftlichen Zusätze von anderen Personen. In diesen allgemeinen Teil fallen auch Bemerkungen zur Datierung. Fehlende Angaben, z.B. der Poststempel auf einer Postkarte, werden nicht eigens vermerkt. Der Einzelstellenkommentar versucht alle im Brief vorkommenden Personen, Orte, Ereignisse und Anspielungen zu klären.Nicht jeder Zusammenhang und jede Einzelanspielung kann geklärt werden. Dies hängt einerseits vom Wissen und den Recherche-Möglichkeiten ab, andererseits von der Quellenlage, die eine Klärung derzeit nicht zuläßt. In diesen Fällen wird die Formel "nicht ermittelt" verwendet.
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BRENNER-STUDIEN Band XIV Begründet von Ignaz Zangerle und Eugen Thurnher In Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut Brenner-Archiv hrsg. von Walter Methlagl und Allan Janik Page Break 3
Vorapparat Titelblatt Page 3
Ludwig Hänsel--Ludwig Wittgenstein Eine Freundschaft Briefe. Aufsätze. Kommentare Herausgegeben von Ilse Somavilla, Anton Unterkircher und Christian Paul Berger unter Leitung von Walter Methlagl und Allan Janik
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Herausgabe und Druck wurden gefördert von der Österreichischen Forschungsgemeinschaft und dem Fonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung Die Deutsche Bibliothek--CIP-Einheitsaufnahme Ludwig Hänsel--Ludwig Wittgenstein: eine Freundschaft; Briefe. Aufsätze. Kommentare / hrsg. von Ilse Somavilla...--Innsbruck: Haymon-Verl., 1994 (Brenner-Studien; Bd. 14) ISBN 3-85218-170-4 NE: Somavilla, Ilse [Hrsg.]; Hänsel, Ludwig; Wittgenstein, Ludwig; GT Umschlagbilder: vorne links: Ludwig Wittgenstein (ca. 1947) vorne rechts: Ludwig Hänsel (ca. 1952) hinten links: Ludwig Hänsel (ca. 1913) hinten rechts: Ludwig Wittgenstein (ca. 1920) © Haymon-Verlag, Innsbruck 1994 Alle Rechte vorbehalten / Printed in Austria Umschlaggestaltung: Helmut Benko Satz: Typomedia, Neunkirchen Lithos: Gramont, Innsbruck Druck- und Bindearbeit: Wiener Verlag, Himberg bei Wien Page Break 5
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ludwig Hänsel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ludwig Hänsel: Gefangenenlager bei Cassino . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Briefwechsel Hänsel--Wittgenstein und ausgewählte Briefe von Leopoldine, . Clara, Hermine und Paul Wittgenstein, Margarete und John Stonborough, Michael Drobil und Ernst Geiger an Hänsel Aufsätze von Ludwig Hänsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . --Alexius von Meinong. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . --Das Relative und das Absolute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . --Newton--Goethe--Pascal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . --Karl Kraus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . --Eine Fackel christlichen Geistes. Jubiläum um den »Brenner«. . . . . . --Ferdinand Ebner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . --Ludwig Wittgenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A) Erläuterungen zu den Briefen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B) Übersichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . --Ilse Somavilla: Der rechte Ton: Gedanken zur Freundschaft . . . . . . . Ludwig Hänsel--Ludwig Wittgenstein --Christian Paul Berger: Ludwig Wittgensteins Kritik an . . . . . . . . . . . . Hänsels Aufsatz Wertgefühl und Wert --Allan Janik: Hänsels pädagogischer Eros: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erinnerung an den Philosophieprofessor --Walter Methlagl: Hänsels Beziehungen zum Brenner . . . . . . . . . . . . . Anhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachweis der nachgedruckten Aufsätze Hänsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie der Schriften Hänsels. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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[Hänsel--Wittgenstein: Eine Freundschaft] Vorwort Page 7
Ludwig Hänsel ist heute einer größeren Öffentlichkeit nahezu unbekannt, auch in der Wittgenstein-Forschung wird er nur in Nebensätzen behandelt, obwohl er über 30 Jahre lang mit Wittgenstein eng befreundet war. Daß bei so verschieden gearteten Persönlichkeiten in der persönlichen Beziehung eine gewisse Unterordnung erfolgte, beweist nur, wie feinfühlig und aufmerksam Hänsel gegenüber dem oft schwierigen und verschlossenen Wesen Wittgensteins war. Was Literatur und Philosophie betrifft, hat Wittgenstein jedenfalls auch von Hänsel gelernt oder zumindest entscheidende Anregungen erhalten. Obwohl Hänsel nur drei Jahre älter als Wittgenstein war, wurde er ihm--zumindest in der Volksschullehrerzeit--so etwas wie ein umsorgender Freund, ging er doch während Wittgensteins Ausbildung an der Lehrerbildungsanstalt an seiner Stelle in die Sprechstunde, besorgte ihm später alle möglichen Lehrbehelfe für die Schule und besuchte ihn regelmäßig an den verschiedenen Schulorten. Vielfach verbrachte Wittgenstein seine Ferien bei der Familie Hänsel, auch noch später, während seiner Cambridger Zeit. Page 7
Das ist Anlaß genug, in diesem Buch nachdrücklich auf die eigenständige Persönlichkeit und Bedeutung Ludwig Hänsels hinzuweisen. Dies geschieht mit dem Nachdruck einiger seiner Aufsätze, mit der Publikation des bis jetzt bekannten Briefwechsels, also auch der Gegenbriefe Hänsels, sowie ausgewählter Briefe der Familie
Wittgenstein und von Freunden an Hänsel, mit Übersichtsdarstellungen, die einerseits den Einzelstellenkommentar ergänzen, andererseits aber auch auf die Lebensleistung und Bedeutung von Ludwig Hänsel eingehen, und schließlich mit einer Bibliographie der gesamten Schriften und Aufsätze von Hänsel. Es zeigt sich, daß Ludwig Hänsel eine der bedeutendsten Integrationsfiguren im österreichischen Geistesleben der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts war. Page 7
An dieser Stelle möchten wir allen Personen und Institutionen danken, die am Zustandekommen dieser Edition beteiligt waren. Page 7
Überhaupt möglich wurde dieses Buch erst durch das freundliche Entgegenkommen von Herrn Univ.-Prof. Hermann Hänsel und dessen Frau Dr. Ingrid, die uns die Briefe Wittgensteins und die umliegenden Korrespondenzen für die Edition zur Verfügung gestellt und unsere vielen schriftlichen und telefonischen Anfragen zu Kommentarproblemen immer freundlich und gewissenhaft beantwortet haben. Page 7
Besonderer Dank gilt Herrn Major John Stonborough und dessen Frau Veronica für ihre große Hilfsbereitschaft; sie haben uns viele wertvolle Informationen über die Familie Wittgenstein übermittelt. Primarius Dr. Andreas Sjögren, Dipl.-Ing. Ludwig von Stockert und Mrs. Joan Ripley danken wir ebenfalls für die Unterstützung unserer Forschungsarbeit. Page 7
Dank schulden wir auch Frau Maria Dal Bianco-Hänsel für ihre freundlichen Auskünfte (sie ist inzwischen verstorben) und deren Tochter Frau Elisabeth Windischer, die uns neben vielen Informationen über ihre Mutter und ihre Großmutter auch wertvolles Bildmaterial zur Verfügung gestellt hat. Page Break 8 Page 8
Herrn Univ.-Doz. Dr. Peter Dal-Bianco danken wir dafür, uns in entgegenkommender Weise Brief-, Manuskript- und Bildmaterial zugänglich gemacht zu haben. Prof. Brian McGuinness hat uns freundlicherweise Abschriften von Briefen Hänsels an Wittgenstein zur Verfügung gestellt, Henk L. Mulder Kopien der Wittgenstein-Schlick-Korrespondenz. Wichtige Informationen verdanken wir der Tochter von Ernst Geiger, Frau Mag. Susanne Geiger-Bahr, weiters Frau Beck vom Wittgenstein Dokumentationszentrum in Kirchberg, verschiedenen Gemeindeämtern, vor allem dem Meldeamt der Stadt Wien und der Wiener Urania. Bei der Transkription und Kollationierung haben Frau Elisabeth Usenik, Mag. Monika Seekircher und Mag. Michaela Pechlaner geholfen. Herrn Günter Kresser danken wir für die sorgfältige Arbeit bei der Herstellung des Bildmaterials. Page 8
Besonders danken wir der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, die ein Jahr lang die Finanzierung der Personalkosten für Mag. Ilse Somavilla übernommen hat. Im Rahmen eines Projekts des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, »Ludwig Wittgenstein: Briefwechsel«, konnten die zwei anderen Herausgeber, Dr. Anton Unterkircher und Dr. Christian Paul Berger, an dieser Ausgabe mitwirken. Page 8
Die Nachlaßverwalter Wittgensteins, Georg Henrik von Wright, Elizabeth Anscombe, Peter Winch und Anthony Kenny haben die Zustimmung zur Publikation der Wittgenstein-Korrespondenz gegeben. Page 8
Dem Wittgenstein-Archiv der Universität Bergen in Norwegen danken wir für die Möglichkeit, Einsicht in die Originalmanuskripte Wittgensteins zu nehmen. Page Break 9
Ludwig Hänsel Page 9
In einem von ihm selbst verfaßten Lebenslauf führt Ludwig Hänsel folgende geistige Interessen an: Philosophie, Religiöse Probleme, Psychologie, Literatur, Pädagogik, Kulturfragen, und nennt als besondere Arbeitsgebiete: Moderne Fragen um Christentum und Kirche, Wertphilosophie, Erkenntnistheorie (Meinong-Wittgenstein), Pascal, Goethe (Naturphilosophie), grundsätzliche Fragen um Erziehung und Bildung (Schulprobleme). Sein Leben ist bestimmt von einer Reihe von wichtigen Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Denkern und Dichtern der Neuzeit (- so der Titel seiner Aufsatzsammlung, Wien 1957). Im Nachwort zu diesem Buch (S. 351) beschreibt Hänsel die näheren Beweggründe für seine vielseitigen Interessen:
»Seit meiner Jugend haben vier Bedürfnisse meine Haltung stark bestimmt: das kritische Bedürfnis nach Klarheit und damit nach Eindeutigkeit und Widerspruchslosigkeit meiner Begriffe und Gedankengänge; das (in gewissem Sinn) universale Bedürfnis nach lückenloser, wenigstens nach den wesentlichen Richtungen lückenloser Übersicht über die bestehenden, besser noch, die möglichen Denkweisen; das Gewissens-Bedürfnis nach Unbefangenheit, nach Offenheit allen diesen Denkmöglichkeiten gegenüber, den positivistischen, realistischen, idealistischen, objektivistischen, aber auch metaphysischen und mystischen (im Wertbereich wie im Erkenntnisbereich); und schließlich auch das Willensbedürfnis nach letzten Entscheidungen, das heißt die Bereitschaft, ›zu Ende zu denken‹, auch auf die Gefahr von Widersprüchen hin.« Page 9
In Anmerkungen zu den Aufsätzen der Sammlung (Nachwort, S. 355-358) geht Hänsel auf die für ihn wichtigsten »Begegnungen und Auseinandersetzungen« im einzelnen ein. Sein bedeutendster Lehrer an der Universität war Alexius Meinong: »Meinong war der Philosophieprofessor an der Grazer Universität, der dem suchenden jungen Studenten die Denkgrundlagen gab, die ihm für Jahrzehnte Halt waren: Hume und Locke, Kant und Schopenhauer gegenüber. Wenn ich mich in manchen Dingen auch anders entschieden habe, entscheiden mußte, als mein Lehrer--ich verehre ihn wie ehemals, als Person wie als Denker.« Page 9
Drei Persönlichkeiten nennt er seine »geistigen Erzieher«: »Karl Muth war, wie ich sehr früh schon bekannt habe, mein erster geistiger Erzieher, Karl Kraus war mein zweiter: auch ein Gegensatz, möchte ich meinen.« »Er [Wittgenstein] war, wenn auch um ein paar Jahre jünger, mein dritter geistiger, ein sehr strenger Erzieher. Er hat mich damals, während der Gefangenschaft, mit dem Manuskript seines seither so berühmt gewordenen ›Tractatus logico-philosophicus‹ bekannt gemacht. Ich konnte ihm freilich schon damals in sehr Page Break 10
wesentlichen Dingen nicht folgen.--Mein kurzer Nachruf bescheidet sich mit persönlichen Erinnerungen, die festzuhalten doch wohl nicht ohne Wert war. Sein persönliches Wesen war ebenso eigenartig und bedeutend wie das, was er geschrieben hat. Ich habe keinen Menschen gekannt, bei dem Leben und Schreiben so eng miteinander zusammenhingen. In diesem Sinn erinnerte er an Kierkegaard und an Nietzsche, mit denen er sich auch, noch in seinen Träumen, auseinandersetzte.« Page 10
Über Ludwig von Ficker und dessen Zeitschrift der Brenner kam Hänsel zu Ferdinand Ebner: »Ich habe Ferdinand Ebner nicht persönlich kennengelernt. Seinen Gedanken war ich offen, seit Teile der Fragmente in Ludwig Fickers Zeitschrift ›Der Brenner‹, VI. Folge, 1919/20, erschienen waren. Und schließlich wurde ich ja, mit Michael Pfliegler, der Herausgeber seiner Werke.« Page 10
Ludwig Hänsel wurde am 8. Dezember 1886 in Hallein (Salzburg) geboren. 1905 maturierte er am Gymnasium in Salzburg und studierte anschließend in Graz Germanistik, Romanistik, Philosophie und besuchte auch Vorlesungen aus Kunstgeschichte, Geschichte und Indogermanistik. Anfang 1910 schloß er sein Studium als Dr. phil. ab. 1910/11 leistete er als Einjährig Freiwilliger seinen Militärdienst in Bozen und Trient. Ende 1910 legte er die Lehramtsprüfungen aus Deutsch und Französisch ab und begann ab Herbst 1911 als Supplent an verschiedenen Wiener Gymnasien. 1913 wurde er zum wirkl. Lehrer an der Staats-Realschule Wien X ernannt. Am 6. September 1913 heiratete er Anna Sandner. 1914-1918 leistete er Kriegsdienst als Fähnrich, Leutnant und Oberleutnant in Russisch Polen, Galizien und Italien. 1918/19 war er in Kriegsgefangenschaft in Monte Cassino. Von 1920-1929 war Hänsel Professor an der Realschule Wien X, von 1929-1936 provisorischer Direktor am Privat Mädchen-Realgymnasium des Schulvereins für Beamtentöchter, Wien VIII, von 1936-1938 Direktor an der Bundeserziehungsanstalt für Mädchen, Wien III. Vom 14. 3. 1938 bis 10.9.1939 wurde Hänsel aus politischen Gründen beurlaubt, dann als Oberstudiendirektor in Verwendung eines Studienrates am Realgymnasium für Jungen, Wien XVII, wieder eingestellt. 1941-1945 wurde er als Oberleutnant, Hauptmann und Major d. R. bei der Luftwaffe in Wiener Neustadt und Wien eingesetzt, ab Herbst 1944 bei einer Fallschirmdivision in Italien, wo er 1945 in amerikanische Kriegsgefangenschaft geriet. Ab Herbst 1946 bis Ende 1951 war er wieder als Direktor an der Realschule in Wien X tätig. 1950 wurde ihm der Titel Hofrat verliehen. Nach seiner Pensionierung Ende 1951 übernahm Hänsel einen Lehrauftrag an der Universität Wien mit dem Titel Besondere Unterrichtslehre,
Philosophie. Page 10
Ludwig Hänsel war Mitglied von zahlreichen Organisationen und Vereinen, u.a. der Wiener Katholischen Akademie, der Wiener Philosophischen Gesellschaft, des Pädagogischen Rats der Mittelschullehrer Österreichs, des Österr. NeuphilologenVerbands, der Vereinigung christlicher Mittelschullehrer, Vizepräsident der Österreichischen UNESCO-Kommission, Leiter des Österreichischen Komitees für Page Break 11
Geschichtsunterricht und des Österreichischen Komitees für Philosophie und Geisteswissenschaft, längere Zeit Obmann und Obmann-Stellvertreter des Wiener Goethevereins, Vorstandsmitglied der Goethegesellschaft in Weimar und Vorsitzender der Ferdinand-Ebner-Gesellschaft. Page 11
Seit 1920 hielt Hänsel zahlreiche Vorträge in Wien, Innsbruck, Salzburg (Salzburger Hochschulwochen), Linz, Gmunden, Mödling, Baden, Bruck/M., Graz, Klagenfurt. 1952 nahm er in Paris an der Generalversammlung der UNESCO und am Pädagogischen Kongreß Erziehung und seelische Gesundheit teil, 1955 in Venedig am Kongreß Erziehung zur internationalen Gesinnung (Sens international), veranstaltet vom Bureau international catholique de l'Enfance, 1956 in Paris an der UNESCO-Expertentagung Asiatische Kulturen in den westlichen Schulen. Page 11
Ludwig Hänsel ist am 8.9.1959 in Wien verstorben. Page Break 12
Ludwig Hänsel: Gefangenenlager bei Cassino Page 12
In der Nacht auf den 18. November 1918 in Cassino ausgeladen aus den Viehwägen, in Marsch gesetzt, bei strömendem Regen in den freien Massenbaracken des großen Lagers untergebracht. Auf guten Feldbetten, zwei reine Leintücher, zwei Decken. Page 12
Nach der fatalen Gefangennahme unserer Division, hinter dem Tagliamento, der ganzen österreichischen Armee in Italien, die 24 Stunden vor dem Waffenstillstand die Feindseligkeiten eingestellt hat; nach den trauervollen und entbehrungsreichen Märschen durch das haß- und siegestrunkene, befreite Land und den hungrigen Tagen und kalten Nächten im Sammellager von Capella; nach der langen Fahrt im Viehwagen; nach der ganzen Erbärmlichkeit, die Ehrlosigkeit und Elend aufgedeckt hatten: wieder geordnete Zustände, wie wir bald merkten; sogar wieder etwas militärische Zucht: ein Major von den alten Prigis übernahm an einem der nächsten Tage das Regimentskommando. Page 12
Und zwei große Menagen gab es, eine deutsche und eine ungarische, in der Mitte die Küche, zu beiden Seiten der großen Baracke die »Speisesäle«, etwas dumpfig und düster bis zum Dachgerüst hinauf, aber vom ersten Tag an gab's zu essen, anfangs mit Schwierigkeiten,--auch die Feigen beim italienischen Kantineur, dem »Domani«, wie er seines ständigen Wortes wegen hieß, waren schwer zu erstehen und zu erkämpfen, anfangs auch für den, der noch ein paar Lire in der Tasche hatte. Aber bald war die erste Not behoben. Die Massenabfütterung (1700 Offiziere waren im Lager, anfangs auch noch einige höhere Stabsoffiziere) wickelte sich regelmäßig ab, dreimal hintereinander füllten und leerten sich die beiden Säle, die Teller klapperten, mit Sicherheit auf die Tische verteilt von den raschen Ordonnanzen. Und es gab reichlich zu essen. Trotz mancher wirklicher und eingebildeter »Panamas«, trotz mancher Einschränkungen, die zeitweilig schon aus Rücksicht auf die Bevölkerung unseren Proviantoffizieren auferlegt wurden. Ein gut Stück reichlicher, als zur gleichen Zeit bei unseren Leuten zu Hause, in Österreich, in Wien. Und welche Genüsse bot das Büffett dem, der das Geld hatte! Was haben wir Feigen im Winter und Orangen im Sommer verzehrt! (Feigen in Fett gebraten!) Und zu rauchen gab es immerhin auch, »Popolari« wenigstens. Und schließlich kam man auch mit den Zündhölzern aus. Einer in der Baracke »loderte« sicher, an dem konnten sich die anderen anzünden. Page 12
Auch mit der Behausung konnte man sich's, wenn man Glück und Verbindungen hatte, richten. Es gab viele Kammern zu viert oder fünft. Mit weißen Wänden. Ohne Decke freilich. Hoch oben blieb immer das Dach sichtbar in diesen dünnen und doch soliden, gut italienischen Ziegelbauten, denen man bis ins Innerste sehen konnte, denen man die Rippen zählen konnte, und sie waren nicht zu viel und nicht zu wenig, erstaunlich schmal und doch fest genug, in klarer Ordnung und Fügung. Die Wände etwas über zwei Meter hoch, ließen oben die Luft und die Gespräche über sich weg durch die ganze Baracke streichen. Unten der Raum aber gestaltete sich, mehr oder
weniger geschmacklos, in jedem Zimmer anders. Dort hingen Akte an den Wänden, dort ein Beuroner Bild, fast überall ein paar Photographien, fast Page Break 13
überall ein paar Mädchenköpfe. Und in den Massenbaracken, die nur vier große Räume boten,--die Betten standen in kurzen Zwischenräumen von den Längswänden her gegen den Mittelgang,--gab es zwischen manchem Streit, mancher Bosheit, manchem Eigensinn, auch ein übermütiges und wechselreiches Leben, von der edelsten Musik bis zum wildesten Gegröhle, von dem geistvollsten Gespräch bis zum derbsten Geblödel. Page 13
Man konnte in diesem Massenlager herrlich allein sein. Und ging es einmal nicht im Zimmer, so im Freien zwischen den Baracken oder vor den Baracken auf dem großen Platz. Und man konnte sich zusammenfinden. Page 13
Es gab Kammermusiken und Turnvereine, Fußballklubs und Gemäldeausstellungen, es gab Feste aller Art mit erstaunlichen Dekorationsleistungen, Männerchöre und Varietéaufführungen, Revuen und humoristische Vorträge. Vorträge z. B. über den Satanismus in der Literatur (matt) und über Andersens Märchen (anmutig). Überhaupt Vorträge und Vorlesungen in Menge. Jeder fand sein Publikum. Das größte und dankbarste die Vorlesung über deutsche Literatur. Man konnte darstellende Geometrie und Logik, Kant und holländische Malerei, Psychoanalyse und Hebräisch, Französisch und Paulusbriefe (griechisch!) und was weiß ich noch alles hören. Und es gab engere Diskussionszirkel, religiöse und politische. Und es gab Versammlungen, sehr aufgeregte, um Magenund Rassenfragen. Es gab natürlich auch genug, meist aber ziemlich friedliche Ehrenangelegenheiten. Und es gab Bücher in Menge. Bei den einzelnen und in der großen, gut geführten Lagerbibliothek. Page 13
Im kalten Winter haben wir zu Zeiten tüchtig gefroren. Zumal nach der Decken-Razzia, durch die uns das italienische Kommando aller Decken bis auf eine beraubte. Vielleicht brauchte man sie für andere, frierende Kameraden, (vielleicht auch nicht). Wer konnte, half sich mit den kleinen Kohlenöfchen, die man sich abends auf den Steinboden zwischen die Füße stellte. Wenn die Nacht kam, wurden sie entzündet, zwischen den Baracken geschwungen, bis sie zu glühen anfingen, leuchtende Kreise im blauen Dunkel.--Im Sommer war es gründlich heiß. Wir wanderten herum oder lagen in der Sonne in Schwimm- oder Unterhosen, und gingen unter die Dusche und lagen wieder in der Sonne. Page 13
Und hatten alles mögliche zu tun, die einen; und wollten und konnten nichts tun, die anderen. Und warteten. Manche schon seit Jahren. Page 13
Aber auch die, die erst mit Kriegsende in die Gefangenschaft gegangen waren, mit Ungeduld. Ein paar Monate, sagte man zuerst, (ein paar Wochen, das hatte man doch bald aufgeben müssen, sonst wäre man doch nicht soweit nach Süden geschoben worden, zwischen Rom und Neapel, in die Abruzzen), bis Weihnachten, dann bis Ostern. Und man beging beide Feste in der Gefangenschaft mit ergebener Wehmut oder verzweifeltem Übermut. Aber auch den Frühling und den Sommer in den Abruzzen haben wir auskosten müssen. Und auskosten dürfen. Die einsame, große Berglandschaft. Page 13
Aus dem Tagebuch, im Juli: »In einem Zeitungsartikel über eine Gottfried-Keller-Feier: »Als ich am Sonntag nachmittags durch wogende Ährenfelder und Buschholz zum Dorf Glattfelden hinunterstieg...« Die Tränen stiegen mir auf, als ich es las. Heimweh nach unserem Sommer: »Wogende Ährenfelder und Buschholz.«--Sonst aber Freude an dem weiten edlen Kreis der stillen, kahlen Berge im Mittagsblau und in der Abendreinheit ... manchmal am Rand des Fußballplatzes Page Break 14
und unter den Ulmen- und Weinlaubschatten mit aufatmendem Blick über die weiße Lagermauer weg auf die hohen, mannigfaltigen, dunkelgrünen Baumgruppen und auf die Berge dahinter im tiefen Blau.«--Oh, ich habe Glück gehabt! Ich halte die Zeit meiner Gefangenschaft für die beste und für die glücklichste meines Lebens. Ich war lebendig und frei wie kaum je zuvor und nachher. Aber viele haben schwer gelitten und ihre Wut hat oft sehr sonderbare Formen angenommen. Page 14
Nach außen frei waren wir ja wahrhaftig nicht. Wir kamen, wer wollte, je hundert Mann, nach Monte Cassino, (in Viererreihen durch den Ort am Fuße des Klosterberges), oben von den Mönchen freundlichst empfangen und bewirtet und geführt, durch den barocken Prunk der Arkaden und Höfe und Oberkirche, durch den Beuronerprunk der Krypta und des Benediktusturmes. Wir kamen einmal, durch Wiesen und Felder, in ein altes
Bergnest. Aber wir wurden ängstlich bewacht, bei Tag und Nacht. Die armen Neapolitaner oder noch südlicheren Italiener mit ihrem erbärmlichen Cambio-Rufen, wenn sie in den kalten Winternächten Posten stehen mußten! Einmal hat auch einer vor Angst ins Lager hineingeschossen. Man hat sie auch geschreckt. Die Italiener fürchteten einen Aufstand. Sie verschlossen uns bald darauf das anstoßende Mannschaftslager. Im Lande selbst war es ja auch unruhig. Wir konnten daher unseren Leuten, unter denen Typhus ausgebrochen war, nur wenig helfen. Wir selbst blieben von Seuchen verschont. Wurden auch energisch zur Reinlichkeit verhalten, (Bart und Scheitel mußten daran glauben). Und unsere Baracken wurden wöchentlich neu mit Kalk ausgespritzt. Daher jeden Samstag bunter Jahrmarkt zwischen den Baracken, wenn alle Buden geräumt werden mußten. Die Räumung hatten wir eigenhändig zu besorgen. Eigenhändig besorgten wir auch unsere Wäsche, unsere Schuhe und Kleider und die kleineren oder größeren Flickund Stopparbeiten. Ordonnanzen sahen wir immer weniger. Aber eine viel beanspruchte Schneiderei hielt sich, für die Anspruchsvollen. Page 14
Die Ärzte kamen früher los. Wir vermißten sie anfangs. Krank wollte man dann nicht mehr gerne werden. Dann gingen die Tschechen. Und einige Kranke oder Begünstigte. Und endlich nach hundert Latrinengerüchten, am 4. August, die offizielle Mitteilung: Die Züge für die Deutsch-Österreicher sind im Anrollen. Und man hörte sie anrollen, die Nacht hindurch und noch vierzehn Nächte hindurch. Die Möbel waren schon abgeliefert, als die Abfahrt wieder verschoben wurde. Page 14
Aus dem Tagebuch: »Abfahrtsnervosität und Verzagtheit ... alles ist voll Reisevorräte und Ärger. Versammlung. V.s kräftig witzige Rede gegen die offiziellen Latrineure... Überdies Ordonnanzennot. Offiziere bedienen auch bei Tisch und schälen Kartoffel... Nur Abortordonnanz gesichert...« Page 14
Von der Rückschau auf die neun Monate Gefangenschaft und dem Ausblick in die österreichische Zukunft im leeren Zimmer, in der »letzten Nacht«, zu berichten, hat hier keinen Sinn, wäre zu persönlich. Page 14
Es war auch nicht die letzte Nacht, erst um den 20. August herum fuhren wir ab, zweiter Klasse, reichlich bepackt, drei schöne Tage durch Italien, durch die gelbe Campagna, durch die grüne Poebene in unser Alpenland. Page 14
Bei einer Abschiedsfeier in der Menagebaracke sagte der Redner, daß wir »Prigi« noch an diese Zeit dankbar zurückdenken und vielleicht sogar finden würden, auch sie sei schön gewesen. Das nahmen ihm damals viele übel. Heute würden wohl nur wenige mehr darüber den Kopf schütteln. Page Break 15 Page 15
»Ich habe einen jungen (30 jährigen) Logiker kennen gelernt, der gedanklich bedeutender ist als alle etwa Gleichaltrigen vielleicht überhaupt als alle Menschen, die ich bis jetzt kennen gelernt habe--ernst, von edler Selbstverständlichkeit, nervös, von einer kindlichen Fähigkeit, sich zu freuen. Er heißt Wittgenstein.« Page 15
Aus einem Brief Ludwig Hänsels an seine Frau Anna (Cassino, 20. 2. 1919) Page Break 16 Page Break 17
Briefwechsel Ludwig Hänsel--Ludwig Wittgenstein und ausgewählte Briefe von Leopoldine, Clara, Hermine und Paul Wittgenstein, Margarete und John Stonborough, Michael Drobil und Ernst Geiger an Ludwig Hänsel Page Break 18 Page Break 19
1 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 19
Dr. L Hänsel Wien V. Kriehuberg. 25/III Herrn Ludwig Wittgenstein IV Alleegasse 16 12. 9. 19 Lieber Wittgenstein! Page 19
Ich bin seit einigen Tagen wieder hier.--Falls bis 16. von Dir kein Widerruf kommt, gehe ich an dem Tage wieder in die L.B.Anstalt.--Drobil möchte uns einmal das Modellieren vorführen. Schreib' mir, bitte, wann Du kämest. Herzlich Hänsel 2 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 19
[Wien, um den 20. 9. 1919] Lieber Hänsel! Page 19
War bei Dir, aber umsonst. Hätte mit Dir Wichtiges zu besprechen kann ich morgen vormittag zu Dir kommen. Wenn ich keine Verständigung erhalte nehme ich an daß es Dir recht ist. Wittgenstein 3 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 19
[Wien, um den 20. 9. 1919] L. H.! Page 19
War bei Dir um Dir zu sagen daß ich schon seit 4 Tagen in die L.B.A. aufgenommen bin. Mein Leben spielt sich nicht ohne Schwierigkeiten ab. Heute fragte mich ein Lehrer ob ich mit dem reichen Wittgenstein verwant sei. Ich sagte »Ja«; ob nah verwant, da log ich und sagte »nein weit«. Das ist ein Punkt der villeicht noch verhängnisvoll werden kann. Es tut mir leid Dich nicht getroffen zu haben. Page 19
Besten Gruß. L Wittgenstein Page Break 20
4 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 20
[Wien, vor dem 24. 9. 1919] Lieber Wittgenstein! Page 20
Schade, daß ich Dich gestern versäumt, und heute wieder nicht getroffen habe.--Heute nachm. bin ich nicht frei. Aber von morgen an. Vorm. nie.--Für Sonntag nachm. lade ich Dich u. Drobil zum »bürgerl. Kaffee« ein: 4h. Stimmung Nebensache. Wir werden ziemlich unbehelligt sein (soweit das bürgerlich möglich ist)-Herzlich Dein Hänsel 5 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 20
Herrn Ludwig Hänsel IV. Kriehubergasse 25 Wien [Wien] 24. 9. 19. Lieber Hänsel! Page 20
Sonntag kann ich leider nicht zu Dir kommen, da ich jeden Sonntag-Nachmittag bei meiner Mutter in Neuwaldegg bin. Samstag Nachmittag werde ich zu Dir kommen. Wenn Du nicht zu hause sein solltest, ist es auch kein Unglück. Einmal werden wir uns schon sehen. Page 20
Dein ergebener Ludwig Wittgenstein 6 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 20
[Wien, vor dem 13. 10. 1919] Lieber Hänsel! Page 20
Ich schreibe Dir, weil ich keine Zeit habe, Dich zu besuchen. Wenn Du den Drobil siehst, so sage ihm, bitte, er möchte die zweite Zeichnung, die er von meinem Antlitz gemacht hat, meiner Schwester schicken (Fräulein Hermine Wittgenstein XVII Neuwaldeggerstr. 38). Er soll den Preis angeben. Wenn nicht, so wird meine Schwester das Bild selbst schätzen. In der Schule geht es mir so ziemlich gut, sonst aber recht minder. Ich habe sehr viel zu tun. Von Frege erhielt ich in meiner Verlagsangelegenheit einen höchst sonderbaren Brief. Wenn ich zu Dir komme wirst Page Break 21
Du ihn sehen. Es wird wahrscheinlich nicht möglich sein, die Arbeit in den Heften erscheinen zu lassen. Kurz, man hat sein Kreuz! Dein Wittgenstein 7 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 21
Hänsel V. Kriehubergasse 25/III Herrn Ludwig Wittgenstein III Untere Viaduktgasse 9 13. [10]. 19. Lieber Wittgenstein! Page 21
Herzlichen Dank für Deinen Brief. Hast Du Zeit für einen Besuch von mir? Wann? Meine Nachmittage sind leider immer noch frei. Und hast Du Zeit für Donnerstag 4h zum Kaffee bei mir mit Drobil? Kommt keine Absage, so rechne ich auf Dich. Drobil habe ich des Bildes wegen verständigt. Mit Zettel, denn er war schon wieder nicht in der Werkstatt. Herzlich Dein Hänsel im V. Bezirk) 8 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 21
[Wien] 24. 10. 19. Lieber Wittgenstein! Page 21
Der Anlaß meines Schreibens ist Janko, der lächelnde Oberleutnant, guter Kerl, an den Du Dich aus Cassino erinnern wirst. Er hat mich gebeten, Dich anzugehen, Du möchtest Dich für ihn bei Deiner Familie verwenden, daß er, der Stellenlose, irgendeine Beschäftigung bekäme. Er denkt an Kanzleitätigkeit in einer Fabrik. Hat aber keine speziell kaufmännische Vorbildung (außer Maschinschreiben). In der Gefangenschaft hatte er noch mit einem Posten beim Magistrat gerechnet, der ihm bei Kriegsbeginn in Aussicht stand, hat sich aber getäuscht. Und sucht nun vergeblich (Realschulmatura).--Ich machte ihm wenig Hoffnung, komme aber seiner Bitte nach. Page Break 22 Page 22
Auch ich suche eifrig nach der unerwünschten »Beschäftigung«--und fange an, Erfolg zu haben. Für November habe ich Aussicht auf 5 Wochenstunden. Und dann habe ich mich--der Urania angeboten zu Vorträgen. Sie hat 6 Stunden Einführung in die Kritik d. r. Vernunft und 3 Stunden über R. Dehmel angenommen, doch die Termine auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben.-Page 22
Drobil habe ich ein paarmal aufgesucht, er arbeitet mit Anteil an einer sitzenden Gruppe: Mutter und Kind, muß aber unterbrechen, da ihm die Holzvorräte ausgegangen sind. Dein Bild will er mir übergeben, daß ich es schicke, da er keinen Pappendeckel dazu fand. Doch hat er mirs noch nicht gegeben. Das letzte Mal freilich habe ich vergessen, ihn zu mahnen. Page 22
Sonst alles beim Alten. Ja leider. Und wie fühlst Du Dich in der neuen Umgebung? Schreib wieder einmal, oder besser: komm wieder einmal, oder laß mich kommen. Page 22
Ich bin Dein Hänsel 9 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 22
[Wien, nach dem 24. 10. 1919] Lieber Hänsel! Page 22
Dank für Deinen Brief. Dem Janko werde ich wol nicht helfen können. Ich kenne niemand, der ihm eine Stelle verschaffen könnte. Wenn ich aber von etwas passendem höre, so werde ich Dir's mitteilen. Bitte sage dem Drobil, daß er ein Hund ist! Ich würde jetzt auf die Zeichnung ganz verzichten, wenn ich sie nicht meiner Schwester versprochen hätte. Bitte presse ihn, daß er Dir die Zeichnung giebt und schick' sie dann gleich. Ich werde Dich, wenn irgend möglich, in der nächsten Woche besuchen. Es geht mir mittelmäßig. Dein Ludwig Wittgenstein Page 22
P.S. Werde Dir dann auch ein Heft des Brenner mitbringen, das Dich interessieren wird. Page Break 23
10 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 23
[Wien] 3. 11. 19. Lieber Wittgenstein! Page 23
Ich bitte Dich, bete täglich das Vaterunser. Bete für Dich selber. Ich bete für Dich, aber mein Gebet versetzt keine Berge. Page 23
Auf der anderen Seite schreibe ich Dirs auf. Dein Hänsel Pater noster, qui es in coelis, Sanctificetur nomen tuum, Adveniat regnum tuum, Fiat voluntas tua sicut in coelo et in terra. Panem nostrum quotidianum da nobis hodie Et dimitte nobis debita nostra, sicut et nos dimittimus debitoribus nostris, Et ne nos inducas in tentationem, Sed libera nos a malo. Amen.
11 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 23
[Wien, Ende 1919/Anfang 1920?] Sehr geehrter Herr Professor Page 23
Im Vertrauen auf die Freundschaft die Sie meinem Bruder Ludwig entgegenbringen erlaube ich mir Ihren Kindern eine Kleinigkeit zu schicken! Page 23
Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung HERMINE WITTGENSTEIN 12 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 23
[Wien] 16. 1. 20. Lieber Hänsel! Page 23
Sei nicht bös, daß ich so lange nicht bei Dir war. Ich habe sehr viel zu tun. Im Inneren geht es mir nicht besonders gut, da die Verhältnisse zu meinen Mitmenschen Page Break 24
mich immer wieder in unangenehmer Weise beschäftigen. So wälze ich den Gedanken, ob ich hier bleiben oder wegziehen soll immer noch ohne Resultat im Kopf herum. Bitte grüße Drobil herzlich. So bald ich kann werde ich Euch besuchen und dann um Rat, ja vielleicht um Hilfe, angehen. Dein Wittgenstein 13 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 24
[Wien] 17. 1. 20. Lieber Wittgenstein! Page 24
Ich habe über Deinen Brief Freude, weil ich wieder weiß, daß Du noch zu mir kommen willst, dessen ich nie sicher bin; am wenigsten war ich es das letzte Mal, wo ich mich mehr als sonst passiver Zuhörer fühlte, nichts zu geben, nicht einmal was anzuregen hatte. Page 24
Wenn Du Zeit hast, wähle den Donnerstag. Da bin ich jetzt wieder frei. Zu tun habe auch ich sehr viel und ich habe nicht mehr die Freude dazu, die mich anfangs stolz machte. Ich bin froh, daß die Kant-Vorträge zu Ende gehen. Mein Atem reicht gerade noch aus, sie zu füllen. In den Faustvorträgen drückt immer mehr das Bewußtsein, meine (nicht allzu bedeutenden) Interessen nicht übertragen zu können, also wirkungslos zu bleiben. Ich habe die Zuhörer und mich überschätzt. Die allmähliche Entleerung der Säle ist das beschämende Zeichen dafür. Page 24
Mein Selbstgefühl, das eine Zeitlang hochgegangen war, ist wieder einmal recht gedrückt. Und was ich dagegen habe, ist nicht Ergebung, sondern nur bittere Schadenfreude. Oder die Ausrede: »keine Zeit« zu haben, gehetzt zu sein. Page 24
Ich bin ins Klagen geraten. Und soll zu »Hilfe« bereit sein. Ich weiß nicht, wie ich Dir helfen könnte, denn Deine Not fängt dort an, wohin ich vor kleiner Nöte gar nicht zu schauen komme. Deine Not ist wohl die Distanz. Daß es eine Distanz gibt, und daß Du die Distanz des Gleichgewichtes nicht findest. Zwischen Dir und Deinen Mitmenschen ist keine Mauer, so fallen sie bald in Dich hinein, bald Du in sie. Ich habe mehr Kruste um mich. Page 24
Wie stehts mit dem Manuskript? Page 24
Mit Drobil war ich ein paarmal zusammen. Einmal haben wir uns an einem Heringssalat (von meiner Frau zubereitet) ergötzt und über die schlechten Zeiten geklagt. Er leidet vor allem unter dem Holzmangel.-Page 24
Wenn Du ihn gelesen hast (oder nicht lesen magst), bringe mir den Laokoon-Aufsatz wieder. Ich habe bemerkt, daß ich sonst kein Exemplar besitze und das Manuskript habe ich in einem Anfall von Großmut der Küche zum Anheizen gewidmet.
Page 24
Auf balde! Dein Hänsel. Page Break 25
14 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 25
Dr. L Hänsel Wien V. Kriehubergasse 25/III Herrn Ludwig Wittgenstein b. Fr. Sjögren Wien XIII. St. Veitgasse 17 [Poststempel: Wien, 11. II. 20] L. W. Page 25
Auch diesen Donnerstag (und überhaupt die folgenden) habe ich nicht mehr ganz frei. (Ich habe eine neue, einträgliche Stunde übernommen.) Ich bin nur mehr von 3/4 2 - 1/2 5h nachm. daheim. Page 25
Wie gehts Dir? Herzlich Dein Hänsel 15 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 25
Herrn Ludw. Wittgenstein (b. F. Sjögren) Wien XIII St. Veitgasse 17 [Wien, 20. 2. 1920?] Page 25
Verzeihe: Donnerstag (diesen D.) habe ich von 4-5h zu tun. Die übrige Zeit bin ich frei. Dein Hänsel Page Break 26
16 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 26
Herrn Prof. Dr. Ludwig Hänsel V. Kriehubergasse 25 Wien [Poststempel: Wien, 2. III. 20] Page 26
Lieber Hänsel! Als ich Dich heute auf dem Gang sah, war ich in solcher Eile (ich hatte nämlich Lehrversuch) daß ich Dir nicht einmal für Deine große Güte dankte! Page 26
Wie ist es mit den Masern, kann ich da nicht zu Dir kommen? Wenn nicht, so sei so gut & schreib mir, was Du über mich erfahren hast. Und auch wer bei Dir krank ist und ob sich etwas machen läßt. Page 26
Dein dankbarer Ludwig Wittgenstein
17 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 26
[Wien] 5. 3. 20. Lieber Wittgenstein! Page 26
Deine Karte habe ich zwar schon Mittwoch bekommen, ich wollte aber erst abwarten, ob Du Donnerstag nicht doch kämest--denn rechtzeitig verständigen konnte ich Dich nicht mehr. Page 26
Der Direktor Dr. Latzke hat in gemessener Würde »ausgeführt«, daß das ganze Professorenkollegium einstimmig sein Lob über Dich ausgesprochen habe: ernst... weiß, was er tut... weißer Rabe unter den Abiturienten... alle Achtung... auch bei den Lehrauftritten. Da sogar mehr Sicherheit, als bei Fragen während des Unterrichtes... wünscht nur, daß er in dem Beruf die Befriedigung finde, die er darin sucht... Sprechtag sei nicht, aber in der Pause könne ich beim Klassenvorstand Einblick in den Katalog nehmen. Bis dorthin lud er mich ein, in seinem Zimmer zu bleiben. Ich las im Dostojewski-Aufsatz des Brenners, während er mit peinlich-ruhiger Silbengenauigkeit Parteien am Telephon abfertigte -jeder Zoll ein Direktor. Page 26
Der Klassenvorstand war auch sehr zufrieden. Noten: meistens lobensw. Befried. in Pädagogik, Naturgesch. Kalligr. und noch einem Gegenst. glaube ich (oder auch nicht) genügend in Violine. Lehrauftritte waren noch nicht eingetragen. Der Psychol. Professor meinte sehr selbstzufrieden, daß er sehr zufrieden sei mit dem Herrn v. Wittgenstein.-Page 26
Die Masern hat das mittlere der drei Kinder--gehabt. Sie ist im Gesundwerden. Der Bub wird sie aber wahrscheinlich übernehmen. Und zuletzt wohl auch die Ältere. Ich bin isoliert, im Zimmer, in das Du aufgenommen wurdest. Halte Schule, gebe Stunden. Nur eine Mutter hat mir ihren Buben auf diese Zeit entzogen. Ich meine, Du könntest (ohne Gefahr für Deine Schulkinder) nächsten Donnerstag Page Break 27
kommen, wenn Du magst.--Auch daß Du bei mir übernachtest und einige Tage bleibst, ist bei Deiner Anspruchslosigkeit, noch immer durchführbar. Du müßtest halt im selben Zimmer wie ich schlafen.--Doch wünsche ich Dir (nicht mir!) Geduld. Page 27
Ob sich das machen läßt? Ich bin schamlos genug, Dich zu fragen, ob Du etwas Milch für die Kinder beschaffen könntest. Sie bekommen jetzt die holländ. Jause nicht. Meine Frau läßt Dich grüßen. Herzlich Dein Hänsel 18 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 27
Dr. L Hänsel Wien V. Kriehubergasse 25/III Herrn Ludwig Wittgenstein bei Frau Sjögren in Wien XIII St. Veitgasse 17 16. 3. 20 L. W. Page 27
Am Donnerstag bin ich nur bis 3h daheim. Ich muß in die Schulgeldbefreiungskonferenz. Verzeihe. Meine Kinder gesunden ordnungsmäßig. Und wie gehts Dir? Page 27
Herzlichen Gruß! Dein Hänsel 19 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 27
[April 1920?] Sehr geehrter Herr Professor
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Vor einigen Tagen schrieb ich meinem Bruder Ludwig dass ich Lebensmittel aus Amerika bekommen hätte und ihn bäte etwas Condensmilch etc. für Sie mitzunehmen. Seither haben Sie uns unendlich zu Dank verpflichtet durch die rührend freundschaftliche Art mit der Sie Ludwig bei sich aufgenommen haben. Diese Dankes-Schuld kann aber gar nicht abgetragen werden am Wenigsten durch Condensmilch, denken Sie also bitte um Gotteswillen nicht an einen Zusammenhang, sondern nur dass Ihnen eine kleine Freude machen wollte Page 27
Ihre aufrichtig ergebene Hermine Wittgenstein Page Break 28
20 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 28
[Wien] d. 26. IV 1920 Sehr geehrter Herr Professor Page 28
Sonntag d. 2. Mai verteilt eine mir bekannte Dame Lebensmittel, die sie aus Amerika zur Verteilung bekommen hat. ich lege meine Karte bei und bitte sich mit dieser Karte am 2. V zwischen 10 u. 11 Uhr im physikalischen Institut IX Währingerstraße (Eingang Strudelhofgasse) einzufinden und nach Frau Hofrat Lecher zu fragen. Bitte ein Sackerl für 5-6 kg Mehl und Papier für circa 2 kg Speck mitzunehmen. Ich würde mich herzlich freuen wenn Sie die Sachen holten und bin mit besten Grüssen sehr geehrter Herr Professor Page 28
Ihre sehr ergebene Hermine Wittgenstein 21 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 28
[Wien, Frühjahr 1920?] Lieber Hänsel! Page 28
Heute spät abends möchte ich zu Dir kommen. In die philos. Ges. kann ich nicht kommen. Mein Abendessen nehme ich ein, ehe ich Dich besuche. Wenn Du nicht zu Hause bist, ist es auch kein großes Unglück. Dein Wittgenstein 22 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 28
L. Wittgenstein bei Obergärtner Boldrino, Stift Klosterneuburg. Herrn Dr. Ludwig Hänsel Salzburg Fürstenallee 1 [Poststempel: Klosterneuburg, Tag unleserlich. VII. 20] L. H.! Page 28
Es geht mir hier recht gut. Arbeit von 7h v. m. bis 6h n. m. Essen ziemlich gut und reichlich. Leute nett. Abends bin ich sehr müde kann darum nicht viel schreiben. Dein Wittgenstein Page Break 29
23 MICHAEL DROBIL AN HÄNSEL Page 29
Wien am 3. 8. 20. Lieber Hänsel! Page 29
Von hier ist nichts Besonderes zu melden. Unsere Angelegenheit geht anstandslos vorsich. Wittgenstein hat mir dieser Tage geschrieben, dass er bis jetzt zufrieden und sehr fleissig ist. Der Glückliche! Page 29
Bei mir ist das Gegenteil der Fall. Ich habe alle Lust zum arbeiten verloren. Das kommt davon wenn mann darüber nachdenkt zu was das Ganze sein soll. Bin ich vielleicht gar ein Bolschewik geworden, oder hat mich die allgemeine Streiklust erfasst? Wenn es noch lange so weiter geht kannst Du noch beim Giessen zusehen Mit Wittgensteins Porträt ist's vorläufig natürlich nichts. Er meint wenn er dazukommt anfangs September werden wir es machen, doch zweifle ich daran, dass er dann Zeit hat. Die Bildhauerei ist halt eine recht überflüssige Beschäftigung. Dumm wenn mann nichts anderes gelernt hat. Es grüßt Dich herzl Dein Drobil Page 29
Grüsse mir ebenso Deine Frau und die Kinder! 24 MICHAEL DROBIL AN HÄNSEL Page 29
Wien am 7. 8. 20. Lieber Hänsel! Page 29
Bei der heutigen Ausgabe wurde mir eine Karte übergeben und Folgendes mitgeteilt. »Diese Karte ist auszufüllen und bis längstens 14 August an die »Zegani« einzuschicken, von dort wird sie an das Gesundheitsamt geleitet, von wo wieder nach einiger Zeit die Aufforderung die Kinder untersuchen zu lassen, an Dich ergehen wird.« Ich werde nun die Karte ausfüllen und einschicken, so dass Du Dich noch entschliessen kannst ob Du die Kinder dazu herschicken willst. Wann diese Aufforderung an Dich ergehen wird ist noch unbestimmt. Schreibe Deiner Hausbesorgerin dass sie dieselbe sofort an Dich abschickt, oder vielleicht gar mir übergibt. Ich könnte dann evt., telegrafieren im Falle es dringend wäre. Page 29
Bitte schreibe mir jedenfalls gleich Deinen Entschluss damit ich darnach handeln kann. Page 29
es grüsst Dich und die Deinen herzl Dein Drobil Page Break 30 Page 30
Am 21. findet noch eine Ausgabe statt dann wird geschlossen. Wiedereröffnung nach der Untersuchung 25 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL [Klosterneuburg] Ich glaube der 10. 8. [1920] Lieber Hänsel! Page 30
Dank' Dir für Deine liebe Karte.--Dieser Brief hat zwei Beilagen: 1. den Zettel aus der Hofbibliotek 2. einen Zeitungsausschnitt. Ad 1.: Ich bin nicht dazugekommen, viel im Wund zu lesen und noch weniger konnte ich über Psychologie spekulieren. Es kommt mir ganz sicher vor, daß ich so lange ich lebe geistig gänzlich unfruchtbar sein werde,--es sei denn, daß ich mein Leben radikal zum Guten wenden sollte,--was ich nicht glaube. Ad 2: Der Zeitungsausschnitt enthält das Unglaublichste, was ich je gesehen habe. Ließ ihn und sag mir, ob es dafür ein Wort gibt. Hebe Dir ihn dann auf, oder schicke ihn mir zurück. Page 30
Hier geht es mir körperlich nicht schlecht. Ich arbeite viel und angestrengt; aber das Essen ist reichlich und
die Oberköchin, die mich aus einem mir unbekannten Grund in's Herz geschlossen hat, (sie ist eine nette Person) giebt mir öfters Mehlspeise von der Herrenmenage, ja sogar hie und da Fleisch.--Auf meine Gesuche habe ich bisher noch keine Antwort. Ist das ein Grund zur Beunruhigung? Wann erhält man denn für gewöhnlich die Verständigung, wohin man kommt? Page 30
Es freut mich, daß Du guten Umgang hast. Wenn Dein Freund so nett ist, wie er auf dem Bild ausschaut, so ist alles in Ordnung. Page 30
Empfiel mich gehorsamst Deiner lieben Frau Gemahlin und grüße Deine Kinder herzlichst und zum Schluß kannst Du Dich auch noch grüßen von Page 30
Deinem, ziemlich treuen, Ludwig Wittgenstein 26 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 30
[Salzburg] 30. Aug. 20. Lieber Wittgenstein! Page 30
Vielleicht freut es Dich, wieder einmal altes Latein zu lesen. Den Dialog, den ich Dir (mit wenig Lücken) schicke, fand ich in einem sehr ehrwürdigen alten Folianten in der Stiftsbibliothek, mit dickem Holzdeckel und schönem Druck. Bohrwürmer durchs Holz bis tief in den Band hinein. Den Anfang und den Schluß des Dialogs fand ich prächtig. Und auch in der Mitte ist Grund hinter den Gründen. Ich meine, er gefällt Dir auch. Nicolaus von Kues ist Bischof von Brixen gewesen. Page Break 31
Mathematiker (auch zwei geometrische Abhandlungen sind in dem Volumen), genießt bei den Modernen Ruf als frühzeitiger Ahner der neuen Astronomie. /Hat die doppelte Umdrehung der Erde gelehrt/. Ende des 14. Jh. glaube ich. Epistolae ad Bohemos gegen die Hussitenlehre sind auch in dem Band. Also vielleicht schon gutes 15. Jh. /1401-1464/--Behalt ihn mir auf. Page 31
Unendlicher Regen seit zwei Wochen. Die Kinder freuen sich auf die Überschwemmung wie die Leute auf die Bolschewiken. Sie möchten Schifferlfahren. (In dem Teil Salzburgs, wo wir wohnen, in Nonntal, sind nämlich kleine Hochwasser nichts so Seltenes.)--Ich aber möchte noch auf zwei Berge: auf den kleinen Barmstein und auf den Hochkönig. Den ersteren kennst Du wohl von der Fischervilla aus. Bist Du schon berufen? Page 31
Herzliche Grüße von uns allen! Dein Ludwig Hänsel Page 31
Wir bleiben bis 13. September. Page 31
Nicolaus de Cusa Cardinalis St. Petri ad Vincula Page 31
Dialogus de deo abscondito duorum interlocutorum: quorum unus Gentilis alter Christianus. Page 31
Gentilis Video te devotissime prostratum / et fundere amoris lachrymas / non quidem falsas / sed cordialis: quaero quis es? Christianus: Christianus sum G. Quid adoras? Chr. Deum G Quis est deus quem adoras? Chr. Ignoro G. Quomodo tam serio adoras quod ignoras? Chr. Quia ignoro: adoro. G. Mirum. video hominem affici ad id: quod ignorat. Chr. Mirabilius est hominem affici: ad id quod scire putat. G. Cur hoc? Chr Quia minus scit hoc quod se scire putat: quam id quod se scit scire (?) ignorare. G. Declara quaeso Chr. Quicumque putat se aliquid scire quum nihil sciri possit: amens mihi videtur G. Videris mihi / penitus ratione carere: qui dicis nihil sciri posse. Chr. Ego per scientiam: intelligo appraehensionem veritatis. qui dicit se scire veritatem se dicit apprehendisse G. Et idem ego credo Chr. Quomodo igitur potest veritas apprehendi: nisi per se ipsam? Neque tunc apprehenditur: quum esset apprehendens prius / et post apprehensum G. ........ Chr ... nam extra veritatem non est veritas, extra circularitatem non est circulus, extra humanitatem non est homo ...... Chr. ... affirmabis quod ipsam veritatem hominis [quidditatem] aut lapidis / exprimere non poteris. Sed quod scis hominem non esse lapidem: hoc non evenit ex scientia qua scis hominem / et lapidem / et differentiam / sed evenit ex accidenti, ex diversitate operationum et
figurarum; quae dum discernis: diversa nomina imponis. Motus enim in ratione discretiva: nomina imponit. G. Est ne una an plures veritates? Chr Non est nisi una: nam non est nisi una unitas, et coincidit veritas quum unitate: quum verum sit unam esse unitatem. Sicut igitur in numero non reperitur nisi unitas una: ita in multis nisi veritas una ......... Et quamquis putat se vere scire: tamen verius sciri ipsum quod se scire putat / de facili experitur .... Sed quum omne id quod scitur non ea scientia qua sciri potest sciatur: non scitur in veritate sed aliter / et alio modo. Aliter autem et alio modo a modo quo est ipsa veritas: non scitur veritas ...... Nonne amens judicaretur ille caecus: qui se putaret scire differentias Page Break 32
colorum quando colorem ignoraret? G. Quis hominum igitur est sciens: si nihil sciri potest? Chr. Hic censendus est sciens: qui scit se ignorantem. et hic veneratur veritatem: qui scit sine illa se nihil apprehendere posse / sive esse / sive vivere / sive intelligere. G. Hoc forte est quod te in adorationem attraxit / desiderium scilicet essendi in veritate. Chr. Hoc ipsum quod dicis. Colo enim deum: non quem tua gentilitas falso se scire putat / et nominat / sed ipsum deum qui est ipsa veritas ineffabilis ........ Chr... quoniam incommunicabilis est veritas (quae deus est) alteri ..... Chr. Scio / omne id quod scio / non esse deum / et omne id quod concipio: non esse simile ei / sed quia ipse ex[s]uperat G. Igitur: nihil est deus Chr. Nihil non est: quia hoc ipsum nihil / nomen habet nihili. G. Si non est nihil: est ergo aliquid Chr. Nec aliquid est: nam aliquid non est omne, deus autem non est potius aliquid quam omne. G. Mira affirmas deum quem adoras / nec esse nihil / nec esse aliquid, quae nulla ratio capit. Chr. Deus est supra nihil / et aliquid. quia ipsi obedit nihil: ut fiat aliquid. et hoc: est omnipotentia eius, qua quidem potentia: omne id quod est / aut non est / excedit, ut ita ei obediat id quod non est: sicut id quod est. Facit enim / non esse: ire in esse, et esse: ire in non esse. Nihil igitur est eorum quae sunt sub eo: et quae praevenit omnipotentia eius, et ob hoc non potest potius dici hoc quam illud: quum ab ipso sint omnia. G. Potest ne nominari? Chr. Parvum est: quod nominatur. cuius magnitudo concipi nequit: ineffabilis remanet. G. Est ergo ineffabilis Chr. Non est ineffabilis: sed supra omnia effabilis / quum sit omnium nominabilium causa. Qui igitur aliis nomen dat: quomodo ipse sine nomine? G. Est igitur effabilis et non effabilis Chr. Neque hoc. Nam non est radix contradictionis deus: sed est ipsa simplicitas ante omnem radicem. Hinc neque hoc dici debet: quia sit effabilis et ineffabilis. G. Quid igitur dicis de eo? Chr. Quia neque nominatur neque non nominatur / neque nominatur et non nominatur: sed omnia quae dici possunt disjunctive et copulative per consensum velcontradictionem / illi non conveniunt propter excellentiam inifinitatis eius / ut sit unum principium ante omnem cogitationem de eo formabilem ...... Chr. Non est nihil neque non est. sed est fons et origo omnium principiorem essendi et non essendi G. Est deus fons principiorum essendi et non essendi? Chr. Non. G. Iam statim hoc dixisti Chr. Verum dixi: quando dixi, et nunc verum dico quando nego. quoniam si sunt quaecumque principia essendi et non essendi: deus illa praevenit. sed non esse: non habet principium non essendi / sed essendi, indiget enim non esse / principio: ut sit. ita igitur est principium non essendi: quia non esse / sine ipso non est. G. Est ne deus veritas? Chr. Non: sed omnem praevenit veritatem G. Est aliud a veritate? Chr. Non: quoniam alterietas ei convenire nequit. sed est ante omne id quod veritas per nos concipitur et nominatur: in infinitum exellenter. G. Nonne nominatis deum: deum? Chr. Nominamus. G. Vel verum dicitis, vel falsum? Chr. Neque alterum neque ambo. Non enim dicimus verum quia hoc sit nomen eius, nec dicimus falsum: quia hoc non est falsum quia sit nomen eius. Neque dicimus verum et falsum: quum eius simplicitas / omnia tam nominabilia quam non nominabilia antecedat G. Cur nominatis ipsum / deum: cuius nomen ignoratis Chr. Ob similitudinem perfectionis G. Declara quaeso Chr. Deus dicitur a Theoro / id est video. Nam ipse deus est in nostra regione: ut visus in regione coloris. Color enim non aliter attingitur quam visu, et ad hoc ut omnem colorem libere attingere possit: centrum visus sine colore est. In regione igitur coloris / non reperitur visus: quia sine colore est. Unde secundum regionem coloris: potius visus est Page Break 33
nihil quam aliquid. nam regio coloris / extra suam regionem non attingit esse: sed affirmat omne quod est / in sua regione esse. ibi non reperit visum. Visus igitur sine colore existens: innominabilis est in regione colorum / quum nullum nomen colorum illi respondeat. Visus autem: omni colori nomen dedit per discretionem. unde a visu: dependet omnis nominatio in regione coloris sed eius nomen a quo omne nomen: in regione coloris potius nihil esse quam aliquid depraehenditur. eo igitur modo: deus se habet ad omnia / sicut visus ad visibilia. Gentilis Placet mihi id quod dixisti, et plane intelligo: in regione omnium creaturarum non reperiri deum / nec nomen eius, et quia deus potius effugiat omnem conceptum, quam affirmetur aliquid. quum in regione creaturarum: non habens conditionem creaturae / non reperiatur, et in regione compositorum: non reperiatur nisi compositum: et omnia nomina quae nominantur: sunt compositorum. compositum autem ex se non est: sed ab eo quod antecedit omne compositum. Et licet regio compositorum / et omnia composita / per ipsum sint id quod sunt: tamen quum non sit compositum: in regione compositorum est incognitum. Sit igitur deus qui est ab oculis omnium sapientium mundi / absconditus: in saecula benedictus. Amen.
27 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 33
20. 9. 20. Lieber Hänsel! Page 33
Lange habe ich Dir nicht geschrieben: Erst wollte ich warten bis ich eine Stelle hätte und dann hatte ich alle Hände voll zu tun. Meine Lehrtätigkeit hat begonnen und der Anfang hätte schlechter sein können. Die Kinder gefallen mir recht gut. Freilich sind sie sehr beschränkt und geben einem eine Riesenarbeit. Meine Collegen sind nicht übel. Einen besonders netten Menschen habe ich leider noch nicht kennen gelernt; mit der Bevölkerung hier werde ich nur mäßig gut auskommen. Wenn Du einmal heraus kommen könntest, wäre das sehr schön. Du müßtest es mich aber reichlich vorher wissen lassen, damit ich Dir eventuell abschreiben könnte, wenn ich verhindert wäre. Page 33
Drobil war so rührend und hat mich hier herausgebracht. Du hast ihn gewiß schon gesehen und auch mich schon! Grüße Deine liebe Frau & die Kinder herzlichst Page 33
Dein treuer Ludwig Wittgenstein Lehrer Trattenbach bei Kirchberg am Wechsel N. Ö. Page Break 34
28 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 34
[Wien] 27. 9. 20. L. W. Page 34
Hoffentlich sind sie nicht allzu schlecht, die Klingen.--Deine Briefe sind besorgt. Page 34
Ich bin um 3/4 Stunden zu früh--und noch vor dem bescheidenen Regen nach Gloggnitz gekommen. Es war sehr schön. Und daß ich Dich verhältnismäßig gefaßt angetroffen habe, war eine große Freude für mich. Ich wünsche Dir Kraft und Besinnung. Es bleibt Dir--bei Deinen Qualitäten--ja doch nichts übrig, als ein Heiliger zu werden (wenn Du einmal die Sentimentalität: das Selbstmitleid, losgeworden bist). Aber ich darf das alles gar nicht sagen. Dein Hänsel. Page 34
Von meiner Frau, den Kindern und Drobil viele Grüße! 29 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 34
WIEN XVII. NEUWALDEGGERSTRASSE 38. d. 29. IX 1920 Sehr geehrter Herr Professor Page 34
Sie haben mir einmal, im Frühjahr glaube ich, sehr lieb geschrieben und ich wollte Ihnen damals auch antworten, verschob es aber immer und zum Schluss schien es mir ganz unmöglich. Nun muss ich wegen eines Katarrhs einige Tage das Bett hüten, da hat man Zeit und da möchte ich Ihnen doch für Ihre Zeilen danken und Sie fragen wie es Ihnen geht? Sie sind immer so lieb zu meinem Bruder, kann man Ihnen nicht eine kleine Freude mit etwas Lebensmitteln machen? Wie alt sind denn Ihre Kinder und wie viele sind es? Hoffentlich hatten Sie einen guten Sommer in jeder Beziehung. Page 34
Es wünscht Ihnen jedenfalls das Allerbeste Page 34
Ihre sehr ergebene Hermine Wittgenstein Page Break 35
30 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 35
[Wien] d. 6. X 1920 Sehr geehrter Herr Professor Page 35
Ich danke Ihnen sehr für Ihren freundlichen Brief und möchte Sie nur bitten, sagen Sie mir doch in welchen Fächern Sie Unterricht erteilen und an welcher Anstalt Sie lehren. Es kann doch sein, dass ich in meiner Verwandtschaft etwas höre, dass ein Lehrer gesucht wird gerade jetzt nach Schulanfang wäre es möglich und ich wüsste dann gleich, ob es Ihr Fach ist oder nicht. Leider muss ich für einige Zeit verreisen, ich bitte Sie aber, antworten Sie mir rasch und adressieren Sie den Brief, der ja nur die Daten zu enthalten braucht, an Frl. Marie Salzer IV Brahmsplatz 4. Page 35
Ihren Rat bezüglich meines Bruders hätte ich gewiss befolgt, leider aber kann ich nicht zu ihm hinausfahren. Ich habe mir durch grossen Leichtsinn einen bösen Katarrh eingewirtschaftet, der nicht weichen will, obgleich ich jetzt 10 Tage im Bett gelegen bin. Daher schickt mich der Arzt zur Luftveränderung ins Gebirge und ich werde wohl ein paar Wochen damit zu tun haben. Ja sogar das Schreiben wird mir verboten, wie Sie sehen und ich muß diesen Brief von anderer Hand fertig schreiben lassen. Übrigens habe ich ja auch nichts hinzu zu fügen als beste Grüße von Ihrer sehr ergebenen Hermine Wittgenstein 31 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 35
[Trattenbach] 9. 10. 20. L. H.! Page 35
Herzlichen Dank für die Rasierklingen. Hast Du Dich schon des Hebel wegen erkundigt. Wenn ja, so schreib mir, bitte, eine Zeile. Die Hebelausgabe die Du mir geschenkt hast leistet mir glänzende Dienste. Ich bin ganz entzückt von ihm†*. Bei mir war wieder eine kleine Katastrophe, vielleicht errätst Du, welche. Aber sie hat mir merkwürdigerweise gut getan und ich bin jetzt zwar nicht hoffnungsvoller aber etwas ergebener als früher.--Heute sollte meine Schwester kommen aber sie ist krank, wird mich also wol am nächsten Sonntag besuchen; am übernächsten kommt dann Frau Sjögren und am überübernächsten hoffe ich auf die Freude Dich wiederzusehen. Laß Dir's gut gehen und grüße Deine liebe Frau und die Kinder von mir. Page 35
Dein treuer Ludwig Wittgenstein Page Break 36 Page 36
Bitte erkundige Dich auch wieviel die kleinen Schoberkarten von Nieder-Österreich kosten und schreib es mir. Dein frierender L. W. 32 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 36
[Wien, vor dem 18. 10. 1920] Lieber Wittgenstein! Page 36
Es ist abscheulich von mir. Damals, als ich von Dir kam (voll von Dir, dem Mond und dem Wald), habe ich mich damit beruhigt, Dir so rasch als möglich die Rasierklingen zu schicken. An Deinen anderen Auftrag dachte ich
nicht mehr. Ich hatte ihn mit der Karte, auf der er stand, verlegt. Nicht einmal ein Gefühl der Versäumnis hat mich beunruhigt. Sehr gemein. Und Du hast gewartet, anstatt zu schimpfen. Page 36
Die 50 Grimm-Märchen, ebenso wie das Schatzkästlein, kosten jetzt je 18 K (eine Reclam Nummer = 9 K) Page 36
Die Schoberkarten (meine Frau hat sie erfragt), kosten 3 K 30. (Gestern noch 3 K) Page 36
Wenn Du bestellen willst, schicke mir, bitte, die Aufträge. Ich werde nicht mehr schlampig sein. Wie sind die Klingen? Der Händler hat sie mir sehr anempfohlen. Page 36
Der überübernächste Sonntag, der für mich frei wäre in Deinem Kalender, ist der 31. Oktober. Da wirst Du doch selber kommen, hoffen wir: Drobil, meine Frau, Dein Lehmbild und auch ich. Sonst wäre mir der Tag recht: Es ist wieder um Vollmond. Page 36
Unterdessen ist mein Brief nach Klosterneuburg zurückgekommen. Ich schicke ihn Dir, da er schon einmal Dir gehört, und Du--glaube ich--gern Briefe liest. Du hast augenscheinlich dem Gärtner Deine neue Adresse zu schreiben vergessen.-Page 36
Ich bin mit den Lyrik-Vorträgen an der Urania schwer belastet. Es geht mir zu schnell: jede Woche zwei Menschen /Dichter/. Und dazu habe ich das Bewußtsein, daß die Uraniabesucher eigentlich was anderes möchten--weniger Material und mehr Schwung, keine Analyse sondern ein Bild, und ein leicht faßliches obendrein. Das kann ich nicht. Sie wären auch mit einem schlechten zufrieden, wenns glänzt. Das mag ich nicht. Und könnte es wahrscheinlich auch nicht. So bohre ich mich auf meine Art weiter durch--ohnehin durch die Eile schlampig genug--und nun mit umsoweniger Behagen; weils zu den Neueren geht: zu Dehmel gerade jetzt, dessen »Verwandlungen der Venus« ich eben wieder über mich habe ergehen lassen.--Ich beneide Dich und möchte gern statt Deiner oder mit Dir frieren. (Du mußt Dir einen Sweater und wollene Unterhosen verschaffen!! Das ist kein Stadtklima.) Du hast wenigstens Zeit, zu Dir zu kommen. Und Du kommst zu Dir. Das Wort Katastrophe kann auch guten Sinn haben: es heißt ja bloß Wendung (man muß in das Κατα(11) den Sinn nach abwärts nicht unbedingt legen). Na und sonst wünsche ich Dir Page Break 37
halt bald wieder eine Anastrophe. Verzeih, daß ich mit dem Wort spiele. Ich meine es doch ernst.--Mareile und Hermann sind krank, sie: an einer Drüsenschwellung hinterm Ohr, er: an einem Mittelohrkatarrh--sind aber schon wieder besser. Page 37
Dein Fräulein Schwester hat sich sehr lieb nach meinen Umständen erkundigt und uns einen Magenfesttag verschafft mit einem Stück Hirschbraten von der Hochreit. Oder heißt sie Hochreut? Ich möchte gerne danken: schreib' mir, bitte, ihre jetzige Adresse. Mit »Hochreit am Schneeberg« traue ich mir den Brief doch nicht »aufzugeben«. Page 37
Also das schreib' mir und, wie es mit Allerheiligen steht. Page 37
Wir grüßen Dich herzlich und wünschen Dir Wärme, meine Frau, die Kinder und Dein Hänsel. 33 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 37
[Trattenbach] 18. 10. 20. Lieber Hänsel! Page 37
Vielen Dank für Deinen Brief, die Auskünfte & die Abschrift. (Du hast recht, ich lese gerne Briefe) Bitte schicke mir so bald & rasch als möglich ein Exemplar vom Schatzkästlein, denn ich muß mir doch erst die Auswahl ansehen, ehe ich das Buch für die Schüler bestelle. Meine gesamten Schulden werde ich Dir zahlen, wenn ich zu Allerheiligen nach Wien komme. Ich freue mich darauf, Dich wiederzusehen. Page 37
Die Adresse meiner Schwester ist: Hochreit Post Hohenberg. N Ö. Jetzt sehe ich erst, daß ich verkehrt schreibe, aber das ändert an der Wahrheit des Inhalts nichts.
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Grüße Deine liebe Frau & die Kinder & Drobil & Dich selber herzlichst von Deinem Ludwig Wittgenstein 34 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 37
[Trattenbach] 21. 10. 20. L. H.! Page 37
Bitte bestelle für mich 30 Stück Schoberkarten von Nieder-Österreich. Das Geld schicke ich Dir per Postanweisung. Auf Wiedersehen zu Allerheiligen! Dein Ludwig Wittgenstein Page Break 38
35 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 38
[Wien] 6. 11. 20. Lieber W. Page 38
Wenn die Reclam-Bestellung nicht geht: Page 38
vielleicht kannst Du die Konegen-Ausgabe brauchen, auf die ich heute gestoßen bin. Die Auswahl ist allerdings sehr bescheiden und die Bilder dafür unbescheiden--ich wollte sie Dir aber doch zeigen. 7 K 50, die Zulagen mit inbegriffen. Bei einer direkten Bestellung, vom Verlag wahrscheinlich noch etwas billiger zu haben. Page 38
Ich war noch nicht wieder beim Drobil. Wie gehts mit dem Magen? In einer Woche komme ich mit dem Frege. Page 38
Herzlich Dein Hänsel 36 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 38
[Wien, um den 17. 11. 1920] Sehr geehrter Herr Professor Page 38
Nehmen Sie meinen und unser Aller herzlichsten Dank für alle Liebe und Freundlichkeit die Sie meinem Bruder Ludwig zuwenden. Wir fühlen uns Alle als Ihre Schuldner. Ich kann ja leider meinen Bruder nicht besuchen, denn erstens war und bin ich noch immer sehr erkältet und zweitens hat er mich selbst gebeten nicht zu kommen, wegen dieses unglückseligen Bekanntwerdens seiner Familie u. Vergangenheit. Der gute Mensch hat doch wahrhaftig nichts zu verbergen und könnte mit Stolz auf sein Leben zurückblicken! Das Verstecken und Aufgehen im Volk ist aber für ihn eine gänzliche Unmöglichkeit, denn erstens wird er sofort als etwas Besonderes auffallen, noch ehe Jemand weiss wer er ist und zweitens ist unser Name in so weiten Kreisen bekannt, dass sich überall irgend Jemand finden wird, der in irgend einem Zusammenhang ihn nennen gehört hat. Ich hoffe nur, dass das berechtigte Aufsehen sich bald legen wird und Ludwig doch nach und nach ein harmloseres Verhältnis zu den Ortsbewohnern finden wird. Könnte man nur auf ihn einwirken dass er die Sache mehr mit Humor betrachtete! Page 38
Nochmals herzlichen Dank sehr geehrter Herr Professor von Page 38
Ihrer sehr ergebenen Hermine Wittgenstein Page Break 39
37 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL
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[Trattenbach] 30. 11. 20. Lieber Hänsel! Page 39
Ich Schuft komme Dir schon wieder mit allen möglichen großen und kleinen Bitten. Ich habe mich jetzt doch dazu entschlossen, Bücher aus der Kinderbücherei von Konegen zu bestellen und bitte Dich vielmals die Bestellung für mich zu machen. Dabei müßtest Du aber sagen, daß sie für eine Schule ist, da man dann, wenn man 100 St. bestellt, die Nummern zu 5 K bekommt. Ich bestelle 100 Stück und zwar: Page 39
16 St. »30 deutsche Sagen von Grimm 16 St. »Gullivers Reise nach Lilliput« 16 St. »Reisen Münchhausens zu Lande« 16 St. »Auswahl aus dem Schatzkästlein« 16 St. »Der Kalif Storch« & »Der kleine Muck« 16 St. »Fabeln von Lessing, Gellert, & & Hebel« 4 St. »2 Legenden von Tolstoij« ______________________________________________________________________________ 100 St Page 39
Das Geld, 500 K, schicke ich Dir per Postanweisung. Was sagst Du zu meinem Geschäftsstil, zu meinem Geschäftsgeist und zu meiner Unternehmungslust! Sie stehen ganz im Gegensatz zu den Zuständen in meinem Inneren. Kommst Du am Sonntag? Ich hoffe bestimmt! Ich habe manches zu erzählen. Am 27ten war ich nicht in Wien. Also liegt der Frege noch bei Zimmermanns, wenn Du ihn dort hin gebracht hast. Page 39
Auf Wiedersehen Page 39
Herzliche Grüße Dein Ludwig Wittgenstein Page 39
Grüße auch Drobil & Deine Frau & Kinder. Bitte bringe 2 Kerzen mit wenn Du kommst. Page Break 40
38 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 40
Wien d. 13. XII 1920 Sehr geehrter Herr Professor Page 40
Ich bin Ihnen wirklich herzlich dankbar für Ihren lieben Brief. Erstens beruhigt er mich doch über die Qualen, die Ludwig durch die Trattenbacher und ihre Neugierde auszustehen hatte; seine Briefe enthielten damals sehr aufgeregte Ausdrücke und bei seiner lakonischen Schreibweise wirkt das doppelt beunruhigend. Zweitens freut mich natürlich Alles sehr, was Sie über meinen Bruder sagen, obwohl es ja nichts Anderes ist, als was ich auch denke. Freilich ist es bei aller Wahrheit dessen was Sie sagen, doch nicht leicht einen Heiligen zum Bruder zu haben und nach dem englischen Spruchwort: »I had rather be a live dog than a dead philosopher« möchte ich sagen »Ich hätte (oft) lieber einen glücklichen Menschen zum Bruder, als einen unglücklichen Heiligen! Denn bei einem Heiligen weiss man nie wie es weiter geht! Und ich und die Familie, wir sind doch nur Menschen und können die Sache nur menschlich auffassen, und es ist eben eine menschliche Freude den Andern heiter und glücklich zu wissen. Diesen Wunsch müssen wir uns leider abgewöhnen, soweit Ludwig in Betracht kommt! Page 40
Nun noch etwas sehr geehrter Herr Professor; ich erhielt gestern von Frau Hofrat Lecher etwas Schiffszwieback für Kinder oder Kranke. Man kann ihn in irgend etwas einkochen, da er allein zu öde schmeckt z. B. in eine Suppe. Ich erlaube mir Ihnen davon zu schicken, hoffe dass Sie ihn brauchen können. Page 40
Mit besten Grüssen bin ich Page 40
Ihre sehr ergebene Hermine Wittgenstein 39 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 40
[Wien] 24. 1. 21 L. W. Page 40
Auf dem Heimweg ist mir eingefallen, was Du brauchst. Hoffentlich ist sie dir nicht zu klein. (Ich schätze, daß Dein Kopf etwas kleiner ist als mein Schädel.)†*) Und hoffentlich ist nicht Herr Sjögren auf den gleichen Gedanken gekommen. (Das Hoffentlich bezieht sich auf die Überflüssigkeit von zwei Kappen. Aber dieser Überfluß sollte Dir auch Freude machen. Also: ist zu hoffen, daß er daraufgekommen ist.) Dein Hänsel Page Break 41
40 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 41
[Trattenbach, nach dem 24. 1. 1921] L. H.! Page 41
Du bist auch ein verfluchtes Aaß! Was machst Du denn für Witze und schickst mir eine Luxuskappe?!! Sie paßt natürlich tadellos. (ist aber ganz überflüssig).--Arvid ist nicht auf diese Idee gekommen, sondern auf die ebenso überflüssige, mir Salbe & Verbandzeug zu schicken, welche zugleich mit der Kappe angekommen sind, so daß ich von Geschenken umringt bin. Allerdings muß man sagen, daß dieser Überfluß daher rührt, daß ich die nettesten Freunde habe, die es überhaupt gibt. Eine höchst sonderbare Tatsache.-Page 41
Also sei herzlichst bedankt!-Dein L Wittgenstein Page 41
P.S. Den Brief an Mining habe ich nicht abgeschickt sondern einen viel gutmütigern. L. W. 41 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 41
[Ende Jänner 1921?] Sehr geehrter Herr Professor! Page 41
Ich hoffe Sie finden es nicht unverschämt von mir, oder hinterrücks gegen meinen Bruder, wenn ich Sie bitte mir mitzuteilen wie Sie ihn fanden. Ich selbst darf ihn nicht besuchen und er hätte auch nichts von mir, denn über das was ich ihm geben kann, ist er längst hinaus, aber natürlich möchte ich immer wissen wie es ihm geht und wie er sich fühlt Ich glaube Sie sind jetzt von allen Menschen am Meisten im Contact mit ihm! Page 41
Ich danke Ihnen im Voraus herzlich für jede Mitteilung sehr geehrter Herr Professor u. bin Ihre sehr ergebene Hermine Wittgenstein Page Break 42
42 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 42
[Wien] 1. 2. 21. Lieber Wittgenstein! Page 42
Dein Brief hat mich sehr gefreut.--Das heißt, billig zum Lob der Nettigkeit kommen, wie ich, auf eine solche Weise. Netter war es, daß Du den Brief an Deine Schwester geändert hast. Sehr nett wäre es, wenn Du den
brüderlichen Humor aufbrächtest, sie einzuladen und ihr Freude zu machen, wenn sie kommt. Ich kann mir denken, wie sehr Dir die Konzession, soweit sie unfruchtbare Duldsamkeit ist, wider den Strich geht, aber sie ist nicht nur das, und ich halte die bewußte Tragwilligkeit, den Humor des Kameels, doch für was Gutes. Und sie könnte auch Güte sein, zu der von der »Gutmütigkeit« schon zu kommen wäre. Die Güte ginge aber noch über allen Humor hinaus, weil sie Achtung hat.--Das weißt Du alles viel besser, verzeih--es ist ein Satz aus dem andern herausgekommen. Page 42
Was anderes: Ist die Gestalt zweier gleich großer Würfel A und B die gleiche oder dieselbe? Kann so geantwortet werden?: Der Komplex von Relationen, der die Gestalt an sich ausmacht ist derselbe, nur die Glieder der Relationen (die Punkte im Raume u.s.w.) sind örtlich verschieden. Oder muß man sagen: die Gestalt kommt zweimal vor, bei A und B?--Durch eine Arbeit von Meinong (Hume-Studien) komme ich darauf. Er neigt (scheint mir--ich habe noch nicht zu Ende gelesen) zur Gleichheit und ich auch, wenn mir nicht bei Größe die Identität richtig(er) erschiene (dank Dir und Frege). Größe und Gestalt, das ist aber hier doch gleichgiltig. Oder kann man auch sagen: die Größe kommt zweimal vor? Der Fehler muß, wenn einer da ist, in diesem »Vorkommen« liegen. Hilf mir! Page 42
Herzliche Grüße von uns! Dein Hänsel 43 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 42
[Trattenbach] 6. 2. 21 L. H.! Page 42
Ich bin dummerweise wieder krank gewesen (Grippe), und fühle mich äußerst schwach & entkräftet. Verzeih darum, wenn ich nicht im Stande bin auf Deine Fragen schriftlich zu antworten. Wenn Du kommst, wollen wir alles klären. Es kommt mir--vielleicht mit Unrecht so vor, als wären in dieser Sache bei Dir noch ein paar erratische Blöcke wegzuräumen.--Auch der mildere Brief an Minig hat noch eine sehr starke--und keine gute--Wirkung gehabt. Ich kann aber nichts machen. Vielleicht ist der Endeffekt doch gut! Page 42
Freue mich auf unser Wiedersehen. Dein Wittgenstein Page Break 43
44 LEOPOLDINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 43
[Februar 1921?] FRAU LEOPOLDINE WITTGENSTEIN Page 43
bittet Sie sehr geehrter Professor die Güte zu haben ihrem Sohne das Packet zu übergeben und dankt von ganzem Herzen für die Gefälligkeit, die Sie ihr dadurch erweisen. 45 LEOPOLDINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 43
Wien d. 21. II. [1921] Sehr geehrter Herr Professor, Page 43
ich danke Ihnen herzlichst für Ihre liebenswürdigen Zeilen und bitte dringendst den Inhalt des Packets, wenn er nicht am Ende schon gelitten hat so rasch als möglich zu verspeisen. Page 43
Hoffendlich hat sich das Befinden Ihrer geehrten Patientin gebessert. Wollen Sie so gütig sein mich ihr mit diesem Wunsche zu empfehlen. Ich würde mich natürlich unendlich freuen, wenn Sie diesen Sonntag beruhigten Herzens meinen Ludwig beglücken könnten. Erhalte ich keine Gegenpost so nehme ich mir abermals die Freiheit Ihnen, auf Ihre Güte sündigend ein Packet mitzugeben. Page 43
Bestens empfiehlt sich Ihnen Page 43
Ihre sehr ergebene und dankbare Leopoldine Wittgenstein 46 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 43
Dr. L Hänsel Wien V. Kriehubergasse 25/III Herrn Ludwig Wittgenstein Trattenbach b. Kirchberg a. Wechsel N. Ö. 22. 2. 21. Page Break 44
L. W. Page 44
Meine Frau kann (erfreulicher Weise) als wiederhergestellt betrachtet werden. Hoffentlich kommt bis zum Samstag nicht wieder ein tückisches Objekt in die Quere. Page 44
Noch wegen etwas muß ich Dich um Verzeihung bitten: daß ich nicht telegraphiert habe. Ich dachte, das ginge am langsamsten. Dein Telegramm erst hat mich vom Gegenteil überzeugt (10h ab Trattenb.- 1h bei mir). Wahrscheinlich habe ich gerade mit der Expreßpost die schlechteste Wahl getroffen. C.c.s.e.i. Herzlich Dein Hänsel 47 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 44
[Wien] 28. 2. 21. L. W. Page 44
Da sind die Gedichte. Mein Rückweg war sehr schön. Oben bei Raach. Sehr schöner, reiner Abend. Die Rückfahrt weniger, weil ich stehen mußte. Page 44
Wie gehts mit Deiner Fistel? Frag den Doktor noch einmal, daß Du Dich nicht selbst vergiftest!! Die Zahnstocher brauchst Du hoffentlich nicht alle.--Polier aus Parlier auch bei Weigand, Deutsch. Wörterb. Page 44
Drobil habe ich noch nicht getroffen. Er hat, scheints, heute blau gemacht. Page 44
Herzlich Dein Hänsel Page 44
Belsazer. Die Mitternacht zog näher schon; In stummer Ruh' lag Babylon. Nur oben in des Königs Schloß, Da flackerts, da lärmt des Königs Troß. Dort oben in dem Königssaal, Belsazer hält sein Königsmahl. Die Knechte saßen in schimmernden Reihn, Und leerten die Becher mit funkelndem Wein.
Es klirrten die Becher, es jauchzten die Knecht'; So klang es dem störrigen Könige recht. Page Break 45
Des Königs Wangen leuchten Glut; Im Wein erwuchs ihm kecker Mut. Und blindlings reißt der Mut ihn fort; Und er lästert die Gottheit mit sündigem Wort. Und er brüstet sich frech, und lästert wild! Die Knechtenschar im Beifall brüllt. Der König rief mit stolzem Blick; Der Diener eilt und kehrt zurück. Er trug viel gülden Gerät auf dem Haupt; Das war aus dem Tempel Jehovahs geraubt. Und der König ergriff mit frevler Hand Einen heiligen Becher, gefüllt bis am Rand. Und er leert ihn hastig bis auf den Grund. Und rufet laut mit schäumendem Mund: »Jehovah! Dir künd ich auf ewig Hohn,-Ich bin der König von Babylon!« Doch kaum das grause Wort verklang, Dem König wards heimlich im Busen bang, Das gellende Lachen verstummte zumal: Es wurde leichenstill im Saal. Und sieh! und sieh! an weißer Wand Da kams hervor, wie Menschenhand; Und schrieb, und schrieb an weißer Wand Buchstaben von Feuer, und schrieb und schwand. Der König stieren Blicks dasaß, Mit schlotternden Knien und totenblaß. Die Knechtenschar saß kalt durchgraut, Und saß gar still, gab keinen Laut. Die Magier kamen, doch keiner verstand Zu deuten die Flammenschrift an der Wand. Belsazer ward aber in selbiger Nacht Von seinen Knechten umgebracht. Page Break 46 Page 46
Die wandelnde Glocke. Es war ein Kind, das wollte nie Zur Kirche sich bequemen,
Und Sonntags fand es stets ein Wie, Den Weg ins Feld zu nehmen. Die Mutter sprach: Die Glocke tönt, Und so ist dir's befohlen, Und hast Du Dich nicht hingewöhnt, Sie kommt und wird Dich holen. Das Kind, es denkt; die Glocke hängt Da droben auf dem Stuhle. Schon hat's den Weg in's Feld gelenkt, als lief' es aus der Schule. Die Glocke, Glocke tönt nicht mehr, Die Mutter hat gefackelt. Doch welch ein Schrecken hinterher! Die Glocke kommt gewackelt. Sie wackelt schnell, man glaubt es kaum; Das arme Kind im Schrecken, Es lauft, es kommt als wie im Traum; Die Glocke wird es decken. Doch nimmt es richtig seinen Husch, Und mit gewandter Schnelle Eilt es durch Anger, Feld und Busch Zur Kirche, zur Kapelle. Und jeden Sonn- und Feiertag Gedenkt es an den Schaden, Läßt durch den ersten Glockenschlag, Nicht in Person sich laden. 48 LEOPOLDINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 46
Wien d. 2. III [1921] Sehr geehrter Herr Professor! Page 46
ich bin dankbar und glücklich zu wissen, daß mein lieber Ludwig nun wieder die Page Break 47
Freude haben wird einige Stunden mit Ihnen verbringen zu können. Möchten Sie ihn gesund finden! Eine unschätzbare Wohltat erweisen Sie mir verehrter Herr Professor indem Sie so gütig sind ein Packet von mir mitzunehmen. Verzeihen Sie mir, wenn ich mir die Freiheit nehme ein kleines Stückchen in Ihrer Küche niederlegen zu lassen. Sie erweisen mir durch diesen Freundschaftsbeweis eine Ehre für die Ihnen innigst dankt Page 47
Ihre sehr ergebene Leopoldine Wittgenstein Page 47
Beste Empfehlung der Frau Professor! 49 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 47
[Wien] d. 9. III 1921 Sehr geehrter Herr Professor Page 47
Ich danke Ihnen herzlichst für Ihren freundlichen, ausführlichen Brief. Sie können sich denken wie mich
Alles interessiert. Dass Ludwig so eine böse Zeit hinter sich hat betrübt mich sehr! Noch viel leider aber tut mir, ich muss es gestehen, dass er augenscheinlich Äusserungen oder Handlungen von mir als »Besserungsversuche« und Störungen aufgefasst hat; es zeigt freilich nur die absolute Contactlosigkeit, die mir schon zu Weihnachten auffiel und an die ich mich nun schon gewöhnt haben sollte. Noch vor einem Jahr hätte Ludwig das bestimmt nicht gesagt, damals verstand er noch mich und meine Sprache und hatte sogar etwas für mich übrig! Er wusste, dass Alles was ich sagte liebevoll gemeint war und nahm mich so humoristisch wie ich ja genommen sein wollte. Wie weit scheint mir das schon zurückzuliegen! Page 47
Für den Rat bezüglich der Lebensmittel sind wir sehr dankbar und meine Mutter wird jetzt öfters welche schicken; hoffentlich kommt nicht bald ein kategorisches Verbot, was ich nicht für ausgeschlossen halte. Man muss es mit viel Takt anfangen. Page 47
Nochmals herzlichen Dank sehr geehrter Herr Professor und beste Empfehlungen von Ihrer Page 47
sehr ergebenen Hermine Wittgenstein Page 47
Hoffentlich sind Sie ganz ausser Sorge in Ihrer Familie! Page 47
Gerade ruft mich Arvid Sjögren telefonisch auf um mir zu sagen dass Ludwig mich aufforderte ihn am Samstag zu besuchen, ich bin unendlich froh darüber Page Break 48
50 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 48
Dr. L Hänsel Wien V. Kriehubergasse 25/III Herrn Ludwig Wittgenstein Trattenbach b. Kirchberg a. Wechsel N. Ö. Page 48
10. 3. 21. L. W. Page 48
1.) Drobil hat nicht blau gemacht, sondern hat sich an seinem Ofen mächtig den Arm verbrannt, es nicht beachtet, weiter gearbeitet und Fieber bekommen. Die Wunde heilt langsam und eiternd. Page 48
2.) Der Karfreitag vorm. und wahrscheinlich auch der Nachmittag sind mir verstellt worden (Verhandlung im Mietamt und Urania-Organisation). Ist Dir der Karsamstag möglich? Vormittag? Nachmittag? Schreib auch, wann Du zu Drobil--gehst. Page 48
3.) Optime fecisti, bene facias (sororem i[n]vitatam esse novi, wörüber sich der alte Cato, der Mordsphilister, freut). Page 48
4.) Ich grüße Dich herzlich. Dein Hänsel 51 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 48
[April 1921?] Sehr geehrter Herr Professor Page 48
Ich wäre Ihnen sehr dankbar wenn Sie mir mit einer Zeile mitteilen wollten wie Sie meinen Bruder gefunden haben; nur in ganz groben Umrissen, selbstverständlich. Gleichzeitig benütze ich die Gelegenheit um Ihnen für alle
Ihre freundlichen Briefe zu danken, wozu ich mich sonst nie aufraffen kann. Was Sie über das Conzert meines Bruders schrieben war auch ganz meiner Empfindung gemäss. Page 48
Hoffentlich ist Ludwig gesund und nicht zu sehr von den Trattenbachern geärgert. Schade um den kostbaren Samen den er dort gewiss ganz umsonst ausstreut! Page 48
Bestens grüssend bin ich sehr geehrter Herr Professor Page 48
Ihre sehr ergebene Hermine Wittgenstein Page 48
Hoffentlich ist bei Ihnen alles wohl! Page Break 49
52 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 49
Wien d. 29. IV 1921 Sehr geehrter Herr Professor! Page 49
Ich muss mich heute wegen einer Sache sehr bei Ihnen entschuldigen: als ich das letzte Mal auf die Hochreit fuhr, nahm ich aus Ludwig's Bücherkasten einige Bücher mit, darunter 4 Hefte des »Brenner«. Ich dachte sie gehörten ihm und er würde sie mir gewiss leihen. Unglückseliger Weise hatte ich eine capute Thermosflasche in der Handtasche und die Hefte erlitten Cacaoflecke. Auf der Hochreit erhielt ich nun einen Brief von Ludwig mit der Weisung, die »Brennerhefte«, die in seinem Kasten sich befänden, an Sie, Herr Professor, zu senden und ich liess gleich in der Buchhandlung Braumüller den Auftrag geben, mir die Hefte zu besorgen, damit Sie tadellose Exemplare bekämen. Es hiess in 8 Tagen würde ich die Hefte bekommen; seither sind Wochen vergangen und auf mein heutiges Urgieren wurde geantwortet, es würde wohl 8 Tage dauern bis die Hefte kämen, d.h. also vermutlich noch einige Wochen! Mir ist die Sache natürlich äußerst peinlich und ich habe mir geschworen in Hinkunft solche Zwangsanleihen gewiss zu unterlassen, was ist aber jetzt zu tun? Soll ich Ihnen die befleckten Hefte schicken oder wollen Sie auf die Neuen warten? Bekommen werde ich sie ja gewiss, aber wann?! (ist es nicht traurig dass wenn in Österreich eine Zeitschrift herausgegeben wird, man sie nicht bekommen kann? Ich liess mich gleichzeitig auch abonnieren, habe aber auch nichts weiter gehört oder gesehen.) Bitte schreiben Sie mir was ich tun soll, ich fürchte jetzt sehr, die Hefte haben Ihnen gehört und ich habe sie mir statt von Ludwig, von Ihnen ausgeliehen! Jedenfalls ist die Sache sehr peinlich Page 49
Ihrer sehr ergebenen Hermine Wittgenstein 53 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 49
Dr. L Hänsel Wien V. Kriehubergasse 25/III Herrn Ludwig Wittgenstein Trattenbach b. Kirchberg a. Wechsel N. Ö. [vor dem 2. 5. 1921] Page 49
L. W. Schade. Ich wieder habe Dich am Sonntag zweimal gesucht und nicht getroffen. Um 1/2 9 war ich in der Rasumovskygasse, von 1/2 10-1050 auf dem Südbahnhof. Ich hätte Dir Zucker, Zitronen, Bücher (ParzivalD) und Bilder bringen wollen. Page Break 50
Vielleicht bist Du froh, der Belastung entgangen zu sein. Du kannst sie zu Pfingsten übernehmen.--Die Melodien zum grün. Kranz und zu schw. Walfisch sind tatsächlich »Volksweisen«, der schw. Wal geht nach: »War einst ein
jung, jung Zimmergesell«, (zu welchem Vers) wozu allerdings die Melodie sehr gut zu passen scheint.--Külpe, in dem Buch »Die Realisierung« unterscheidet drei »Hauptarten von Objekten: die wirklichen, die idealen und die realen Obj. Die erste Klasse umfaßt die Bewußtseinstatsachen (dazu gehörten die »Sinnesdaten«), deren Daseinsart das Gegebensein oder Gegenwärtigsein ist. Die 2. Kl., die durch Abstr. Kombination oder Modifikation entstandenen u. der Erfahrung gegenüber verselbständigten ... a priori gesetzten Gegenstände, deren Grundlage mehr oder weniger durchsichtig in den Wirklichkeiten des Bewußtseins zu finden ist ... Mathem ... Ethik, Ästhetik.. (Das hat Meinong besser verstanden). Die 3. Kl ... die Objekte (von denen sein Buch handelt). »Auch sie werden auf Grund des «Gegebenen» angenommen, mit dem sie jedoch in dauernder Abhängigkeitsbeziehung bleiben und können darum als a post. gesetzt bezeichnet werden.. Page 50
»Mit den «wirklichen» Objekten.. mit den Bewußtseinstatsachen beschäftigt sich die deskriptive Psychologie auch Phänomenologie genannt. Hier wird zwischen Phänomenalem und Realem nicht geschieden, während die erklärende Psych. gerade darauf ausgeht, diesen Unterschied zu berücksichtigen und ein psychophysisch oder physisch (könnte dazusetzen «oder psychisch») Reales herauszuarbeiten und somit zu den Realwissensch. gehört« Page 50
Wann kommst Du zu Pfingsten? Dein H. 54 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 50
[Trattenbach] 2. 5. 21. L. H.! Page 50
Vielen Dank für Deine liebe Karte! Es war wirklich schön von Dir, daß Du mich aufgesucht hast und noch dazu mit Gaben!! Du hast's nötig mir Zucker & Zitronen zu kaufen und was weiß ich!!! Aber Du konntest mich nicht treffen, denn ich habe--da ich doch nur so kurz in Wien war--in der Alleegasse geschlaften und bin auf die Bitte meines Bruders erst mit dem Zug um 2h20 zurückgefahren.--Jetzt bin ich da!--Dummerweise laboriere ich immerfort an einem Unwohlsein, Influenza oder so etwas; bin aber auf. Zu Pfingsten werden wir uns bei Dir sehen. Page 50
Auf Wiedersehen! Dein Wittgenstein Page Break 51
55 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 51
Dr. L Hänsel Wien V. Kriehuberg 25/III Herrn Ludwig Wittgenstein Trattenbach b. Kirchberg a. Wechsel N. Ö [Poststempel: Wien, 9. V.? 21] Page 51
L. W. Ich danke Dir für Dein Bild und Deine beiden Briefe! Page 51
Ich bin zu Hause: Samstag 1/2 12h - 5h nm. Page 51
Sonntag: vormittag, wenn es regnet auch nachm. Page 51
Montag: nachmittag (nur ist Gefahr /Möglichkeit/), daß ein anderer Besuch dazwischen käme). Page 51
Ich grüße Dich herzlich und meine Frau auch. Dein Hänsel
56 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 51
WIEN XVII. NEUWALDEGGERSTRASSE 38. [Ende Mai/Anfang Juni 1921?] Sehr geehrter Herr Professor Page 51
Leider war ich in der vergangenen Woche verreist und Ihre freundliche Karte kam zu spät in meine Hände, als dass wir noch etwas für Ludwig hätten mitgeben können. Meine Mutter war ganz unglücklich über dieses Zusammentreffen, sie hat nun an Ludwig direct etwas geschickt--er wird es hoffentlich gut aufnehmen--und sie bittet auch Sie dieses Päckchen als Ersatz freundlich annehmen zu wollen Als Ludwig das vorletzte Mal in Wien war (zu Pfingsten konnte ich ihn leider nicht sehen) fand ich ihn sehr erfreulich heiter und nahe gerückt und Alle die ihn seither sahen, haben es bestätigt; hoffentlich hatten Sie auch diesmal diesen Eindruck. Wissen Sie vielleicht wann er herzukommen gedenkt? Page 51
Bestens grüsst Sie sehr geehrter Herr Professor Page 51
Ihre ergebene Hermine Wittgenstein Page Break 52
57 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 52
[Trattenbach] 7. 6. 21. L. H.! Page 52
Bitte sei so gut und bringe mir die »Memoiren aus einem Totenhaus« & die Volkserzählungen von Tolstoi mit, wenn Du sie hast. Leider wirst Du diesesmal nicht wieder bei den netten Leuten wohnen können; komm aber zu allererst zu mir; ich werde schon etwas wissen! Ich freue mich auf Dein Kommen. Dein L Wittgenstein 58 LEOPOLDINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 52
Neuwaldegg d. 14./VI [1921] Hochgeehrter Herr Professor Page 52
Bitte verzeihen Sie, daß ich, auf Ihre mir so wertvolle Freundschaft mit meinem Sohn bauend, mir die Freiheit nehme, Beifolgendes zu senden. Sie erweisen mir eine Ehre und ich bin Ihnen unendlich dankbar, wenn Sie es freundlich annehmen. Mit besten Empfehlungen für Sie sehr geehrter Herr Professor und Ihre Frau Gemahlin bin ich Page 52
Ihre sehr ergebene Leopoldine Wittgenstein 59 LEOPOLDINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 52
Neuwaldegg 25. Juni 1921 Sehr geehrter Herr Professor! Page 52
Bitte entschuldigen Sie gütigst den so sehr verspäteten Dank für Ihre freundlichen Zeilen. Page 52
Dankbarst und mit Freuden werde ich von Ihrer gütigen Erlaubniß Gebrauch machend am 1. Juli ein größeres für meinen Sohn bestimmtes Packet an Sie geehrter Herr schicken. Was das größere Quantum anbelangt so schicke ich das auf Ihre Verantwortung weil Ludwig es mir übelnehmen wird.
Page 52
Ich danke Ihnen sehr geehrter Herr von ganzer Seele für Ihre Güte und bin mit den herzlichsten Grüßen für Sie und Ihre Frau Gemahlin Page 52
Ihre aufrichtig ergebene Leopoldine Wittgenstein Page Break 53
60 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 53
Wittgenstein Trattenbach bei Kirchberg a. Wechsel. N. Ö. Herrn Prof. Dr. Ludwig Hänsel Wien V Kriehubergasse 25 [vor dem 3. 7. 1921] Page 53
L. H.! Bitte komme erst am 9. Juli, weil ich am 3. in Wien sein werde. Allerdings werden wir uns nicht sehen können, denn ich komme mit ein paar Kindern um ihnen etwas in den Museen etc. etc. zu zeigen und es wird sehr wenig Zeit sein. Am 9. aber dann sicher! Viele Grüße Dein Wittgenstein 61 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 53
Wittgenstein Trattenbach N. Ö. Herrn Prof Dr. Ludwig Hänsel Wien V. Kriehubergasse 25 5. 7. 21. Page 53
L. H.! Bitte komme Samstag 9.. Ich werde Dich dann auch wegen einer mir wichtigen Angelegenheit interpellieren: Ich möchte nämlich einen meiner Schüler an die Mittelschule bringen. In der Staatserziehungsanstalt nimmt man ihn nicht, weil er die Altersgrenze überschritten hat. Nun möchte ich wissen, ob man für ihn an einer anderen Mittelschule einen freien oder billigen Platz finden kann. Es wäre nach meiner Meinung sehr schade um den Buben, wenn er sich nicht weiterbilden könnte. Nun, vielleicht kannst Du mir ein vernünftiges Wort darüber sagen. Page 53
Auf Wiedersehen! Dein Wittgenstein Page Break 54
62 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 54
[Salzburg] 14. Juli 21. Lieber Wittgenstein! Page 54
Ich kann Dir--wie zu erwarten war--weder ja noch nein sagen. P. Bruno findet zwar, daß die Aufnahme des Gruberls schon zu machen wäre, daß also gerade das Pekuniäre und die Platzfrage, wie ich mit Erstaunen sehen konnte, ihn von vorneherein nicht bedenklich machte, aber er mißtraut dem Geist und der Leitung des Institutes. Es
sei nicht in den rechten Händen, der Pater hat nicht die rechte Zucht, die bravsten Buben schwenken ab, wenn sie ins Obergymnasium kommen. Und die, die fromm bleiben, und auch Klosterfreude haben, gehen von St. Peter fort in andere Benediktinerstifte (Er selbst meint ja auch, es wäre vielleicht für ihn besser gewesen, wenn er anderswohin gegangen wäre). Nun hat er darin recht, daß nach links abschwenkende Klosterzöglinge eine fatalere Gattung bilden als frisch im Liberalismus Aufgewachsene. Er hat auch schon einem Vater (der zahlen wollte) abgeraten. Der hat seinen Buben dann nach Feldkirch zu den Jesuiten gesteckt, auf deren Erziehung P. Bruno was hält. Page 54
Immerhin kann sich übers Jahr die Leitung ändern. Page 54
Wenn Du kommst und Zeit hast, möchte ich Euch gerne bekannt machen. Page 54
Zwei andere Möglichkeiten sind mir unterdessen noch eingefallen: 1.) Es gibt in Wien den kathol. Calasanzverein (Calasanz ist, glaube ich, ein span. Heiliger und Kinderfreund). Der nimmt sich armer Studenten an. Wenn ich wieder in Wien bin, werde ich nachfragen. Page 54
2.) Sollte es nicht möglich sein, den Buben, der nach Deinem Vorbereitungsjahr um 2 oder 3 Jahre jünger geworden ist, nachträglich in eine Staatserziehungsanstalt einzuschieben? Ich kenne von der Anstalt in Traiskirchen einen Mathematikprofessor, den ich darüber befragen könnte, und ich kann auch mit dem Direktor Rommel von der Breitenseeer-Anstalt (wohin Ihr das Gesuch gerichtet habt) im Herbst deswegen reden. Page 54
Und dann bleibt noch--in freilich unsicherer Ferne der Schlögl. Page 54
Ich freue mich, Dich bald zu sehen. Schreib rechtzeitig! Grüße von meiner Frau. Herzlich Dein Hänsel Page Break 55
63 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 55
Herrn Dr. Ludwig Hänsel Salzburg Fürstenallee 1 [Poststempel: Ort unleserlich, 21. VII. 21] Page 55
L. H.! Ich komme Samstag 23. mit dem Zug um 9h10 früh von Hallein nach Salzburg. Möchtest Du mich am Bahnhof erwarten? Dein L Wittgenstein 64 MICHAEL DROBIL AN HÄNSEL Page 55
[Wien] 5. 8. 1921 Lieber Hänsl! Page 55
Hier gibts nichts Neues, somit ist alles in Ordnung. nur dass ich so lange auf Antwort warten lies ist nicht in der Ordnung, doch ist dies's ja auch nichts Neues. Ich hoffe Du wirst dies's wie schon öfters auch jetzt verzeih'n. Schuld ist natürlich die übergrosse Hitze, die den Verstand lähmt. und den Körper mit Faulheit erfüllet. Seit gestern ist's etwas besser, /nämlich mit dem Wetter/, es hat geregnet und ist kühler geworden. Briefe sind im Kasterl keine vorhanden, auch sonst kann ich dir leider nichts übersenden, hoffentlich hast Du es von anderer Seite erhalten? (Geld!) Ich hoffe auch in Deinem Interesse dass es dort so billig ist dass Du von dem mitgenohmenen noch ersparst, damit Du bei Deiner Rückkehr genügend hast, den die Preise haben sich in der enormen Hitze schrecklich ausgedehnt. Page 55
Dich und Deine Familie herzl grüssend
Dein Drobil 65 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 55
23. 8. 21. Skjölden i Sogn Norwegen bei H. Draegni L. H.! Page 55
Verzeih, daß ich Dir erst heute schreibe. Schon oft wollte ich es tun. Aber auch heute kann ich Dir gar nichts rechtes mitteilen, denn alles was halbwegs interessant Page Break 56
wäre, läßt sich tatsächlich nicht schreiben und alles Tatsächliche ist nicht interessant.--Ich arbeite von Früh bis Abends in einer Art Tischlerwerkstätte und mache zusammen mit Arvid Kisten. Dabei verdiene ich mir einen Haufen Geld. In mir aber sieht es ziemlich unsicher aus, oder vielmehr ganz unsicher. Ich glaube, daß es sehr gut war, daß ich diese Reise gemacht habe. Sie wird manches ausreifen. (Hoffentlich nicht lauter Geschwüre.) Um den 7. herum komme ich nach Wien zurück. Es wird mir gewiß nicht möglich sein, Dir vorher etwas halbwegs Klares mitzuteilen. Hoffentlich geht es Dir recht gut. Grüße Deine liebe Frau Gemahlin und die Kinder herzlichst und auch Dich selbst von Deinem Ludwig Wittgenstein 66 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 56
[Trattenbach, Ende September 1921] Page 56
L. H.! Am nächsten Sonntag d. 2./10. kannst Du mich nicht besuchen weil Arvid dann bei mir ist. Dafür freue ich mich herzlichst auf den übernächsten. Inzwischen werde ich Dir noch einmal schreiben aber heute kann ich nicht mehr! Dein Wittgenstein 67 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 56
[Wien] 14. Okt. [1921] Lieber Wittgenstein! Page 56
Da sind die Bücher und der Lehrplan. Einen Wallenstein zu kaufen, habe ich vergessen. Damit Du nicht länger warten mußt, schicke ich Dir eine meiner Schulausgaben. Die Geographie (in unserer Schülerlade überflüssig) kannst Du mit gutem Gewissen benutzen. Sie ist für die I. Kl. Bis Allerheiligen werde ich für den nächsten Band sorgen. Eine deutsche Grammatik lege ich Dir auch bei.--Die Einübung im Christentum ist nicht sofort zu haben. Ich war in vier Buchhandlungen. Soll ich sie bestellen? Page 56
Herzliche Grüße! Auch dem Herrn Pfarrer meinen Gruß! Dein Hänsel. Page Break 57
68 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 57
[Trattenbach, Anfang November 1921?] Page 57
L. H.! Bitte schicke mir so bald und so schnell als nur möglich irgend ein französisches Übungs & ein kleines Wörterbuch. Geld werde ich Dir später schicken. Bitte lege es einstweilen für mich aus. Ich bin gut angekommen & wieder im alten Geleise was immer etwas gutes ist. Sei nochmals herzlichst für Deine Gastfreundschaft bedankt & ebenso Deine liebe Frau.--Im Tagore habe ich wieder gelesen und diesmal mit viel mehr Vergnügen! Ich glaube jetzt doch daß er etwas großartiges ist.
Page 57
Dein müder Wittgenstein 69 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 57
Dr. L Hänsel Wien V. Kriehubergasse 25/13 Herrn Ludwig Wittgenstein Trattenbach b. Kirchberg a. Wechsel N. Ö. Sonntag, 4. Dez. 21. L. W. Page 57
Ich kann auch am nächsten Sonntag nicht loskommen, werde also am Mittwoch zu Dir wandern. Sei nicht böse, daß es sich so dumm trifft. Hoffentlich bist Du am Donnerstag frei. Page 57
Herzlich Dein Ludwig Hänsel Page Break 58
70 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 58
Herrn Ludwig Wittgenstein Trattenbach b. Kirchberg a. W. N. Ö. [Wien] 9. 12. 21. L. W. Page 58
Es ist nicht bestimmt worden: 1. Ob ich Dir die Einladungen der Phil. Ges. zuschicken lassen soll, 2. Ob ich die Chokolade für Dich aufbewahren oder auch schicken soll. (Fast meine ich, Du hättest doch »aufbewahren« gesagt) Page 58
Herzlich Dein Hänsel 71 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 58
[Wien, zw. dem 9. u. 23. 12. 1921] L. W. Page 58
Antwort ist keine zu erwarten. Ich schicke also die Bücher (sonst kommt noch früher Weihnachten.) und behalte Dir die Chokolade (4 Tafeln 2285 K) auf. Die Volkslieder der Sammlung Göschen bring, bitte, zu Weihnachten wieder mit. »Zu Straßburg auf der Schanz« ist im großen Buch nicht enthalten (zu jung) Und im Göschenheft ist wieder nicht die herkömmliche Form. Page 58
Von Deinem Geld sind noch 6297 K übrig. Page 58
Herzlichen Gruß! Dein
Hänsel 72 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 58
[Wien, 23. 12. 1921] L. W. Page 58
Damit Du nicht einen Gang umsonst tust: Page 58
Morgen, 24., bin ich vormittag 9-1h nicht zu Hause. Dafür nachmittag Page 58
Am 25. wollen wir--die ganze Gesellschaft--nachm. ins Marionettentheater gehen. Page Break 59
Vormittag bin ich daheim. Da wäre es gewissermaßen Deine Aufgabe, den Christbaum zu bewundern. Page 59
Über Montag bin ich in Graz, alte Bekannte aus der Univ. Zeit aufzusuchen. Page 59
Dienstag vorm.: 10-12h Birger. Page 59
Nachm frei bis 1/2 8h. Page 59
Bis dorthin haben wir uns hoffentlich schon gesehen. Die Chokolade--vergiß nicht--liegt bei mir. Page 59
Hoffentlich sehe ich Dich schon morgen nachm. und brauche Dir nicht auf dem Zettel Fröhliche Weihnachten wünschen. Dein Ludwig Hänsel 73 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 59
[Trattenbach, Anfang Jänner 1922] L. H.! Page 59
Es hat mir sehr leid getan, daß ich Dich nicht mehr besuchen konnte. Schreib mir gleich, wann Du mich besuchen wirst. Und jetzt, wie gewöhnlich, ein Dutzend Bitten: Page 59
1) Bitte kaufe 50 Stück Häkchen zum Aufhängen kleiner Bilder. In die Mauer zu schlagen; ungefähr 2 cm lang. Sie kosten 5 K per Stück. Diese schicke mir bitte gleich her, außer Du kommst noch früher selber. Page 59
2.) Durch Russell erfahre ich daß mein Zeug schon erschienen sein dürfte. Kannst Du dich in einer Buchhandlung um die letzte Nummer der »Annalen der Naturphilosophie« erkundigen in der müßte es enthalten sein. Page 59
Ich wünsche Dir verspätet ein gutes neues Jahr. Sei vielmals gegrüßt von Deinem L. W. Page 59
P.S. Die beiliegenden Zeilen gieb dem Drobil 74 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 59
[Wien, vor dem 21. 1. 1922] Lieber Wittgenstein! Page 59
Hoffentlich kommen die Nägel nicht zu spät. Ich gebe sie Drobil mit. Durch die Page Break 60
Post wären sie nicht viel früher gekommen. Nach den »Annalen der Naturphilosophie« habe ich eine Reihe von Buchhandlungen und dann auch Hof.- und Univ. Bibliothek vergeblich abgefragt. In den Buchhandlungen liegen solche Hefte nicht auf. Der Kustos der Hofbibliothek hätte geglaubt, die Annalen wären schon eingegangen, aber er wolle sie bestellen, in 14 Tagen solle ich nachfragen. Im »kleinen Lesesaal« der Univ. Bibliothek fand ich nur den für die Zeitschrift reservierten Platz vor. Die Zeitschrift, meinte der Diener, habe wahrscheinlich der Referent noch bei sich und der sei krank. Also habe ich schließlich in einer Buchhandlung das Heft bestellt, das Deine Arbeit enthält. Du müßtest übrigens 6 oder 12 Sonderdrucke bekommen--als Verfasser. Schreib Russell, er möge das bei der Zeitschrift veranlassen, wenn sie schon selber nicht den Drang in sich fühlt, sich bei ihm nach Deiner Adresse zu erkundigen. Page 60
Ich komme am 21ten. Page 60
Herzlichen Gruß! Dein Hänsel Page 60
Meine Kinder spielen jetzt hie und da: dem Herrn Wittgenstein Blumen bringen, ohne daß ich von einer Anregung dazu wußte. 75 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 60
[Trattenbach, vor dem 21. 1. 1922 ?] L. H.! Page 60
Wieder eine Bitte: Schau ob Du von dem Geld was Du noch von mir hast mir einen (eventuell antiquarischen) Mittel Schulatlas kaufen kannst. Wenn ein Mittelschullehrbuch der Geographie auch noch herausgeht solls mich freuen. Wenn nicht so macht es auch nichts. Gib alles Geld aus! (nämlich das meinige) Page 60
Ich bin jetzt schrecklich beschäftigt, so daß meine Nerven manchmal fast versagen. Wenn Du kommst werde ich Dir Manches sagen, was ich lieber doch nicht schreibe. Herzliche Grüße Wittgenstein 76 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 60
Wien, 1. 2. [22.] Lieber Wittgenstein! Page 60
1.) Die Stiefel hat »schon am Freitag der lange Herr geholt, der immer (!) gekommen ist und sie reklamiert hat«. Du hast also dem Manne unrecht getan. Und Page Break 61
ich mußte meine angestaute Energie langsam verpuffen lassen. Was soll ich mit dem Geld machen? Page 61
2.) Weniger schnell geht es mit den Schulnachrichten. Sie müssen erst gedruckt werden. Ich habe im Voraus bezahlen müssen. Die Rechnung liegt bei. Die Schulnachrichten werden in 14 Tagen vom Verlag selbst »zuverlässig« nach Trattenbach geschickt. Page 61
3.) Die Liturgik u. den Homer werde ich Dir Freitag schicken mit der Auskunft des Religionsprofessors, die ich erst einholen muß. Page 61
Was werden die armen Trattenbacher Kinder machen, wenn die Schule keine Zeugnisse hat?--Die Schule meiner zwei Mädel sperrt auf 14 Tage.-Page 61
Herzliche Grüße! Dein Hänsel
77 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 61
[Wien, 3. 2. 1922] Page 61
L. W. Gleichzeitig geht die Liturgik u. der Homer an Dich ab. Page 61
Die Liturgik habe ich Dir zu früh gekauft. Unser Religionsprofessor sagt: Für die 3. Klasse werden nur die wichtigeren Antworten aus dem großen Katechismus und aus der Liturgik nur eine Übersicht über das Kirchenjahr (seine Festkreise und die wichtigsten Feste darin) und höchstens noch einige Kenntnis über die Teile der Messe verlangt.--Werdet Ihr Semesterferien haben? Ich komme, wenn es Dir recht ist, am 4. März wieder. Page 61
Herzlich Dein Hänsel 78 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 61
[Trattenbach] 16. 2. 22. L. H.! Page 61
In Eile eine Bitte: Sei so gut und kaufe von dem Geld welches Du von mir hast 240 Deutsch-Mark (Ich glaube sie werden jetzt ev. 8000 K kosten) Diese 240 M. schicke, bitte an Philipp Reclam Leipzig Inselstraße in meinem Namen & unter Angabe meiner Adresse: Trattenbach etc. Ich kriege nämlich von ihm Bücher für meine Schule. Page 61
Heute hatte ich ein Gespräch mit Gruber der zu mir kam um Bücher zurückzubringen. Es ergab sich, daß er keine Lust mehr zum Lernen habe, aber daß auch meine auffahrende Art Schuld am Zusammenbruch ist. Er hat natürlich keinen Page Break 62
Begriff davon, wohin er jetzt geht d.h. er weiß nicht wie schlecht sein Schritt ist. Aber wie sollte er das auch wissen. Traurig! traurig! Page 62
Auf Wiedersehen Dein L. Wittgenstein 79 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 62
[Trattenbach, zwischen 25. u. 28. 3. 1922] Page 62
L. H.! Dieses Papier ist die Hälfte von der Hälfte eines Briefes den ich heuter erhalten habe. Was es doch für gute Menschen gibt! Verzeih mir, bitte, daß ich Dich während meiner Ferien (25. März) nicht besucht habe. Ich hatte es bestimmt vor durch eine unglückselige Verkettung der Umstände und durch die Kürze der Zeit war es aber nicht möglich was mir sehr leid getan hat. Kommst Du an diesem Sonntag? Das wäre brav! Wenn ja so bitte bringe mir das Manuskript von meiner Geschichte mit. Mining wird es Dir schicken. Wenn nicht so macht es auch nichts. Ich brauche es um danach die englische Übersetzung zu korrigieren die ich heute zur Korrektur aus England erhalten habe. Sie ist voller Fehler. Bitte schreibe mir womöglich noch einmal wann Du kommst. Hoffentlich bald (d.h. an diesem Samstag) Dein L. Wittgenstein 80 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 62
[Wien] 5. 4. 22. Lieber Wittgenstein! Page 62
Lexikon und Butter-Margarine sind gestern und vorgestern schon abgegangen.
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Die Butter hat meine Frau besorgt und verpackt. Es ist »Unikum«, aber offen, weil meine Frau überzeugt ist, daß die offene mehr Gewähr bietet, gut zu sein, als die oft lange lagernden Pakete. Page 62
Auf dem Hauptzollamt hat mir ein Angestellter, nachdem er (aus Gefälligkeit) die ihm gerade zur Hand liegenden Bücherpakete durchgemustert hatte, den Bescheid gegeben: zu warten bis ich (Du) eine Anweisung von der Post bekäme(st). Früher könne nicht gesucht werden, da man erst die Postnummer des Paketes wissen müßte. Page 62
Aber auch eine Beschwerde, zuerst eine Anfrage, an das Postamt wäre möglich, und wahrscheinlich schon das Gescheitere, da die Sendung schon zu lange ausbleibt. Page 62
Herzlich grüßt Dich Dein Hänsel Page Break 63
81 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 63
[Trattenbach, vor dem 10. 5. 1922] Page 63
L. H.! Wie gewöhnlich eine Bitte!: Ich weiß nicht, ob ich Dir neulich gesagt habe, daß ich für meine Kinder eine Klassenlektüre brauche und mir dazu u.a. ein Geschichtsbuch für Bürgerschulen wünsche. Wie ich nun neulich in Wien war, habe ich so viel Zeit verbandelt, daß ich nichts mehr kriegen konnte. Mir wurde überall gesagt, daß man nur bei Tempski, der sich jetzt mit Hölder und noch einem verbunden hat, etwas bekommen kann. Der Verlag ist Johann Straußgasse 6. Für mich war es aber schon zu spät, da sie dort sehr früh schließen. Was ich brauche ist nun folgendes: Eine Weltgeschichte für Bürgerschulen in einem Bändchen. So etwas gibt es! Z.B. von einem gewissen Pennersdorfer und noch anderen. Sollte alles derartige vergriffen sein, so täte es eventuell auch ein sogenanntes Geschichtslesebuch, wenn es nicht teurer als 300-400 K ist. Erst dann, wenn auch das nicht zu haben ist kommt der 2. oder 3. Band eines dreibändigen Geschichtsbuches für Bürgerschulen in Betracht. Den obigen Preis darf es nicht überschreiten. Sollte etwas antiquarisch zu haben sein umso besser. Ich brauche 18 Stück. Bitte lasse mich wissen, was man kriegen kann, was es kostet und wie es ausschaut (Abbildungen?). Page 63
Ich freue mich sehr auf Dein Kommen. Page 63
Gesprächsstoff wird genug sein. Dein L. Wittgenstein Page 63
P.S. Wenn Du etwas halbwegs geeignetes findest und es ist Gefahr vorhanden, daß es weggeschnappt wird, so kaufe bitte sofort 18 Exemplare. Das Geld werde ich Dir gleich schicken. Der Stil ist übrigens mehr oder weniger wurst. Übrigens denke ich jetzt: Wenn es auch 400-500 K kostet macht es auch nicht viel. Jetzt aber schließe ich, sonst geht es in die Millionen. L. W. 82 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 63
[Trattenbach, vor dem 10. 5. 1922] Page 63
L. H.! Soeben erfahre ich von meiner Schwester Mining, der ich denselben Auftrag gab, den mein gestriger Brief an Dich enthielt (ich glaubte aber aus gewissen Gründen, daß sie die Sache nicht richtig verstanden habe) also, soeben erfahre ich von meiner Schwester Mining, daß alle einbändigen Bürgerschul-Weltgeschichten vergriffen seien und für mich nur die dreibändige Geschichte von Krautmann in Betracht komme. Wenn das wahr ist, so, bitte, sei so lieb und kaufe je 18 Exemplare des I. und II. Teiles und schicke sie mir. Geld 20.000 K wirst Du in 2 Tagen erhalten. Ich freue mich auf Dein Kommen Dein L. Wittgenstein
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83 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 64
[Wien] 10. 5. 22. L. W. Page 64
Diese Bücher (auf der Kehrseite) habe ich bei Tempski gefunden. Einbändige Geschichte f. Bürgerschulen ist keine in ihrem Verlagen. Vielleicht hat Linke, der den Geschichtsunterricht jetzt reformiert, schon ein gesch. Lesebuch (im Haase-Schulbücher-Verlag?) herausgegeben. Über diese neuen Bücher gibt die Lehrerzeitschrift »Schulreform« Auskunft, die die Schulleitung Trattenbach sicher abonniert hat: Vielleicht finde ich auch noch etwas bis Samstag. Jetzt nur das in Eile in der Elektrischen. Sie fährt so langsam, daß man ganz gut schreiben kann. Page 64
Ich freue mich auch unser Wiedersehen. Dein Hänsel Page 64
1.) Rusch-Herdegen-Tiechl Gesch. Lesebuch 4. Aufl. Pichler 1918 528 K 42 Abbildgn A Bürgerkunde (histor.) B. Österr. u. allg. Gesch. (Germanen, Christentum, Islam österr. Staatenentw.) Page 64
2. Gindely-John Lehrb. d. Gesch. f. Bürgersch. Tempsky Page 64
Teil II. (63 Abbildgn) ab Rud. v. Habsb.-Karl VI. Bürgerkundl. Anhang
528 K
Page 64
Teil III. bis zur Okkup. v. Bosnien. Großmächte. (59 Bilder)
462 K
84 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL [Trattenbach, nach dem 10. 5. 1922?] Page 64
L. H. Danke Dir für die Bilderbücher. Aber Du hättest ja nicht für mich kaufen sollen, sondern für Dich, Du A.-G. (das heißt nicht Aktiengesellschaft) Übrigens, wenn die Bücher für Dich von irgendwelchem Wert sind, dann ist es gut. Mir ist natürlich alles solches sehr willkommen. Drobil wird Dir die anderen Bilder wieder bringen. Für die Lesebücher herzlichen Dank. Sie sind also doch billiger als ich dachte. Wenn die Kinder sie nur abkaufen so werde ich sie für mich noch einmal besorgen. Dein Wittgenstein Page Break 65
85 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 65
[Wien] d. 15. Mai 1922 Sehr geehrter Herr Professor Page 65
Es war sehr lieb von Ihnen mir das Bild Ihrer Kinder zu schicken und sehr wenig nett von mir Ihnen bis heute nicht dafür zu danken! Ich hatte eine grosse Freude mit dem Bild und habe mir die herzigen Gesichter oft angesehen. Ist die Ähnlichkeit zwischen den Mädchen so gross als sie auf der Fotografie scheint? sie schauen wie Zwillinge aus! Page 65
Wie gut dass die Beiden gut untergebracht sind aber wie traurig auch dass es so weit sein muss. Es ist Ihnen gewiss oft bange. Page 65
Bestens grüsst Sie sehr geehrter Herr Professor Ihre ergebene Hermine Wittgenstein 86 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 65
[Wien] d. 19. Mai [1922] Sehr geehrter Herr Professor Page 65
Ich wurde vor einiger Zeit von Frau Hofrat Lecher antelefoniert, ich möge ihr rasch einige Kinder unter 14 Jahren von Professoren oder Künstlern nennen, es käme eine amerikanische Kinder Kleiderverteilung. Ich nahm mir nicht einmal Zeit zu Ihnen um nähere Daten zu schicken, sondern gab Ihre Kinder an wie ich sie mir vorstelle. Page 65
Nun kommt am Freitag d. 26 wirklich diese Verteilung und Sie sind wie ich höre auch schon verständigt worden, aber Ihre Mäderln sind ja nicht in Wien. Hoffentlich kann ich es erreichen, dass ich das, was für die Mäderln bestimmt ist, zur Aufbewahrung bekomme wenn nicht, so kriegen Sie von mir etwas bis sie zurückkommen. Jedenfalls bitte ich Sie mit dem Buben und allen Zetteln u. Belegen die Ihnen zugeschickt oder von Ihnen verlangt wurden, zur Verteilung zu kommen. Ich werde selbst dort sein und kann mein Möglichstes tun. Vielleicht ist es auch gut wenn Sie mich vorher sprechen z.B. Samstag (morgen) 1/2 7 Abends oder Montag um dieselbe Zeit. Vielleicht könnte auch Ihre Frau Gemahlin kommen wenn Sie nicht Zeit haben, nur möchte ich die amerikanischen Zettel sehen und ausmachen wo wir uns treffen. Page 65
Beste Grüsse sehr geehrter Herr Professor Hermine Wittgenstein Page Break 66
87 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 66
[Wien, nach dem 26. 5. 1922] Sehr geehrter Herr Professor Page 66
Es tut mir sehr leid und ist mir sehr unangenehm dass diese Bescherung so schlecht organisiert war, ich bin ganz unschuldig daran und ebenso Frau Hofrat Lecher, da wir nur Kinder vorschlagen und bei der Beteilung mithelfen durften. Nun hoffe ich dass die Sache heute besser klappt, ich selbst aber kann unmöglich mithelfen und bitte Sie daher nicht mich im Belvedere zu suchen, sondern Frau Hofrat Lecher selbst. Sie ist eine grosse sehr schlanke Dame in Schwesterntracht, ich denke sie wird sich auch irgendwie kenntlich gemacht haben. Sollte durch irgend einen Zufall etwas nicht klappen und nicht alle Kinder etwas bekommen so bitte mir es nur gleich zu schreiben, ich kann bestimmt etwas machen. Page 66
Bestens grüssend Ihre ergebene Hermine Wittgenstein 88 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 66
Hänsel, Wien V. Kriehuberg. 25/13 Herrn Ludwig Wittgenstein Trattenbach b. Kirchberg a. W. N. Ö. [Poststempel: Wien, 7. VI. 22]
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L. W. Mit »unwirsch« hast Du wieder recht gehabt. Es wird von unwirdesch mhd. (= unwert) abgeleitet. Page 66
Das Wort »wirsch« (aufgebracht, wild von wirr (?)) hat sich damit aber vermengt. unwirdesch hat aber auch schon die Bedeutung »zonig« neben »verächtlich«. Page 66
Und das wirs mhd Komparativ, zu übele gesetzt, (Gegensatz baz) gibt es auch. Hat aber, scheint es, mit »unwirsch« nichts zu tun. Zu ihm gehört, glaube ich worse (engl.) eher als »wirsch«. Vielleicht aber ist auch »wirsch« von wirs eher als von einem wirrisch abzuleiten, wenn auch eine solche Form bei Goethe und 1621 belegt ist. Worauf wirs selbst zurückgeht, weiß ich nicht und finde ich in meinen Büchern nicht. Page 66
Hoffentlich hast Du an dem Reigenvortrag nichts versäumt. Dein Hänsel Page Break 67 Page 67
Abends habe ich entdeckt, daß von der Lehrerinnenzeit meiner Frau der Schwaighofer unter meinen Büchern steht. Meine Frau bittet Dich, ihn zu benutzen, solang Du ihn brauchst 89 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 67
[Wien?] Montag d 15. VI 1922 Sehr geehrter Herr Professor Page 67
Es tut mir fast leid dass die Bescherung so gut geklappt hat, denn ich bin dadurch um das Vergnügen gekommen den Kindern selbst etwas geben zu können. Nun habe ich mir aber etwas anderes ausgedacht, ich möchte heuer eine Summe für Sommeraufenthalte f. Kinder verwenden und einen Teil davon dem kleinen Herrmann widmen, (es ist aber damit nicht gesagt dass sie nicht zu etwas anderem verwendet werden darf) und diese Summe werde ich per Postsparkasse an Sie schicken. Sie selbst brauchen wohl auch eine Erholung, ich hoffe dass die Ferien Ihnen diese bringen werden! Page 67
Beste Grüsse sehr geehrter Herr Professor von Hermine Wittgenstein 90 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 67
[Wien, vor dem 24. 7. 1922?] L. H.! Page 67
Am 24. d. M. komme ich nach Aigen zu meinem Onkel Paul. Ich wünsche dringend Dich dann zu sehen. Es geht mir nicht gut. Ich arbeite nichts & bin gänzlich ratlos. Page 67
Auf Wiedersehen! Dein L. W. Page Break 68
91 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 68
[Hassbach] 21. 9. 22. L. H.! Page 68
Jetzt hat also das Leben hier angefangen. Es gefällt mir nicht.--Wie einsam ist doch ein Mensch, wenn er
unter Menschen ist! In der Einsamkeit fühlt man sich wohl und behaglich, und unter diesen Menschen ist man so verlassen und allein, daß es mir höchst unangenehm zu mute ist.--Ob ich es auf die Dauer aushalte, weiß Gott! Lange schon habe ich mich nicht mehr so sonderbar niedergedrückt gefühlt wie jetzt. Page 68
Schreib, wann Du mich besuchen willst. Die Verhältnisse sind hier nicht so günstig wie in Trattenbach, da ich keine Matraze habe und auch niemanden kenne, der mir etwas leihen würde. Du mußt also wenigstens vorläufig im Gasthaus wohnen und ça coute les yeux de la tête. Page 68
Auf Wiedersehen! Dein Wittgenstein Page 68
Grüße Drobil und erkläre ihm, bitte, warum ich ihn nicht gebeten habe mich hier abzuliefern. Grüße Deine liebe Frau und die Kinder. 92 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 68
Herrn Professor Dr. Ludwig Hänsel Wien V. Kriehubergasse 25 [Puchberg, nach dem 10. 10. 1922] Page 68
L. H.! Habe schon am Dienstag Wohnung in Puchberg gekriegt. Sie ist sehr teuer und ebenso kalt, aber doch besser als beim Krummböck. Die Klasse, die ich hier habe, ist furchtbar zurückgeblieben. Die Ursachen kannst Du Dir denken. Wie es weitergehen wird, weiß Gott! Grüße Deine liebe Frau! Ich zehre noch immer an Ihrem Riesenlaib. Page 68
Herzliche Grüße. Dein L Wittgenstein bei Herrn Cafetier Zwinz Page Break 69
93 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 69
[Wien] d. 13. X 1922 Sehr geehrter Herr Professor Page 69
Ich danke Ihnen herzlich für Ihren freundlichen Brief und bitte gleichzeitig um Entschuldigung für all die Male da ich es unterlassen habe, ich schreibe so entsetzlich schwer. Für den wahren Freundschaftsdienst den Sie meinem Bruder erweisen, indem Sie alle seine Übersiedlungen mitmachen, kann ich leider nicht danken, denn das ist über Worte weit erhaben! Page 69
Mein Bruder war Sonntag ganz kurz bei uns, ich fand ihn viel weniger ruhig (»normal« möchte ich sagen,) als im Sommer. Worauf es zurückzuführen ist, oder was eigentlich in ihm vorgeht, entzieht sich mir selbstverständlich vollständig, ich hoffe nur er geht keiner psychisch bösen Zeit entgegen! Page 69
Nun wünsche ich Ihnen noch recht viel Freude an Ihren herzigen Kindern sehr geehrter Herr Professor und bleibe mit besten Grüssen Page 69
Ihre sehr ergebene Hermine Wittgenstein 94 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 69
Herrn Prof.
Dr. Ludwig Hänsel Wien V. Kriehubergasse 25 [Poststempel: Puchberg, 25. 10. 22] Page 69
L. H.! Verzeih mir, daß ich Dich so lange auf Antwort habe warten lassen. Ich hatte in der letzten Zeit viel zu tun. Page 69
Zu Allerheiligen komme ich nach Wien und will Dich wo irgend möglich besuchen. Am 6. ist dann schon meine Prüfung und dann werden wir uns bestimmt sehen. Aber, wie gesagt, ich hoffe Dich schon zu Allerheiligen sehen zu können. Page 69
Auf Wiedersehen Dein Wittgenstein Page Break 70
95 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 70
[Puchberg] 29. 11. 22. Lieber Hänsel! Page 70
Dank Dir für Deine schmeichelhafte Äußerung. So etwas höre ich immer mit Vergnügen und lasse es mir gern öfter sagen, obwohl ich so gut weiß, daß jedes solche Lob auch im Munde des ehrlichsten und gescheitesten Menschen gänzlich unmaßgeblich und daher wertlos wäre. (In 500 Jahren werden wir vielleicht sehen, was an dem Buch war.) Page 70
Am 3./12. erwarte ich Dich. Ich habe Dir manches zu erzählen, denn ich habe manches traurige erlebt! Page 70
Auf Wiedersehen. Dein Wittgenstein 96 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 70
Herrn Prof. Dr. Ludwig Hänsel Wien V. Kriehubergasse 25 [Poststempel: Puchberg, 28. I. 23] Page 70
L. H. Ja, komm bestimmt am 1./2.! Dein L. Wittgenstein 97 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 70
Wittgenstein Puchberg a/S. N. Ö. Herrn Prof. Dr. Ludwig Hänsel Wien V. Kriehubergasse 25 [vordem 17. 2. 1923] Page 70
L. H. Vielen Dank für die Bücher & Tafeln. Verzeih, daß ich Dir nicht früher geschrieben habe. Denk' Dir, das bewußte Bild ist nach der übereinstimmenden
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Aussage der beiden maßgebenden Personen immer an dem Platz über Deinem Bett gehangen und ich hätte wirklich geschworen, daß ich es nie gesehen habe. So ist der Mensch! Am Samstag 17./2. komme ich wahrscheinlich nach Wien; vielleicht kann ich Dich auf ein paar Minuten sehen. Dein Wittgenstein 98 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 71
Herrn Prof. Dr. Ludwig Hänsel Kriehubergasse 25 Wien V. [Poststempel: Puchberg, 19. II. 23] Page 71
L. H.! Wann kommst Du? Bitte schreibe eine Zeile! Ich habe vergessen was wir ausgemacht haben. Dein Wittgenstein 99 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 71
[Wien, vor dem 8. 3. 1923 ?] Sehr geehrter Herr Professor Page 71
Ich sage jetzt gleich in Einem Dank für mehrere von Ihren freundlichen Zeilen, denn Sie waren immer so lieb uns Nachricht über Ludwig zu geben und ich habe nie gedankt. Hoffentlich finden Sie ihn wohl und auch seelisch in Ruhe. Sehr leid tut es mir dass er den einzigen Menschen aus Puchberg verlieren soll mit dem er einen Contact hat, es ist sehr bitter und ich glaube es wird auf ihn nicht ohne Einwirkung bleiben, denn gerade mit Koder hat er, wenn ich nicht irre, diesen harmlosen Unsinn reden können der ihm manchmal Bedürfnis ist, abgesehen davon dass er dann auch gar keine Musik mehr treiben wird!--Weil ich schon beim Schreiben bin möchte ich noch folgendes sagen: ich habe mir jetzt ein bischen etwas zusammengerichtet, das ich unter Personen, die ich besonders schätze, verteilen möchte und ich bitte Sie also wenn in nächster Zeit etwas an Sie gelangt, es freundlich von mir anzunehmen als ein kleines Zeichen meiner Dankbarkeit. Page 71
Mit herzlichen Grüssen bin ich sehr geehrter Herr Professor Page 71
Ihre sehr ergebene Hermine Wittgenstein Page Break 72
100 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 72
[Wien, um den 8. 3. 1923 ?] Sehr geehrter Herr Professor Page 72
Besten Dank für Ihre freundlichen Zeilen. Ich bin froh dass Koder noch einige Zeit in Puchberg bleibt und will auch nicht weiter denken. Hoffentlich können Sie beifolgende Sachen brauchen. Die Conserven habe ich gekostet und fand sie gut, man kann sie natürlich auch jahrelang aufheben. Ich tausche sie aber auch sehr gerne gegen etwas anderes um†* und bin nur froh wenn Jeder bekommt was er gut brauchen kann. Bitte es nur wirklich aufrichtig zu sagen! Mit besten Grüssen bin ich sehr geehrter Herr Professor Ihre ergebene Hermine Wittgenstein 101 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 72
Wittgenstein Puchberg a. Schneeberg N Ö.
Herrn Prof. Dr. Ludwig Hänsel Wien V. Kriehubergasse 25 [Poststempel: Puchberg, 17. IV. 23] Page 72
L. H.! Ich glaube, es war Deine Absicht den kommenden Sonntag d 7. mich zu besuchen. Bitte verschiebe Deinen Besuch, weil ich wahrscheinlich an diesem Sonntag nach Wien komme, um ein Stück anzuhören, das mein Bruder im Konzert spielt. Ich glaube ich werde Dich am Sonntag zu Mittag besuchen, wenn es Dir nichts macht. Vielleicht kannst Du dann am 13ten hierher kommen. Dein Wittgenstein Page Break 73
102 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 73
Wittgenstein [Puchberg] a. Schneeberg N[. Ö.] Herrn Prof. Dr. Ludwig Hänsel Wien V. Kriehubergasse 25 [Poststempel: Puchberg, 26. IV. 23] Page 73
L. H. Was fällt Dir ein zu glauben, ich hätte »bestimmt[«], daß Du am 13. Mai kommen sollst?!!! Ich habe Dich gebeten, Du möchtest den kommenden Samstag d. 29. April kommen. Wenn das nicht mehr möglich ist so komm wenigstens am 6. Mai. Verstanden?! Oder schreibe ich schon so schlecht daß Du es nicht mehr lesen kannst? Es wäre kein Wunder. Hier hat sich manches Interessante zugetragen. Page 73
Es war mir unmöglich Dich in Wien zu besuchen. Im Konzert war ich, habe Dich aber nicht gesehen! Auf baldiges Wiedersehen. Dein L Wittgenstein Page 73
Besten Gruß von Koder 103 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 73
[Puchberg] 27. 5. 23. L. H.! Page 73
Vielen Dank für die Sendung. Sie ist unglaublich rasch gegangen. Jetzt bitte ich Dich aber noch etwas: Schick mir noch ein Englisches Wörterbuch (ein kleines) für meine Schülerin. Geld habe ich Dir keines geschickt, weil ich glaube, die Bücher sind von Dir: Gestern erhielt ich einen sehr netten und gut geschriebenen Brief von einem meiner Trattenbacher Schüler, Fuchs; von demselben, der das gute Theaterstück geschrieben hat, das ich Dir zu lesen gab. Ich habe mich sehr gefreut. Bitte schreib mir noch eine Zeile, wann Du kommst. Page 73
Viele Grüße Dein Wittgenstein Page Break 74
104 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 74
Wien d. 7. VI 1923
Sehr geehrter Herr Professor Page 74
Ich habe auch heuer wieder eine Summe für Sommerurlauber zurechtgelegt und bitte Sie herzlich Ihren Teil davon freundlich anzunehmen, hoffentlich können Sie Ihren Urlaub ordentlich geniessen, er tut Ihnen gewiss schon sehr not! Ludwig würde ihn auch schon dringend brauchen, ich fand ihn recht angegriffen als er das letzte Mal hier war. Er hat das Zeug sich aufzureiben. Welches Glück dass er Sie hat, und dass auch Ihre liebe Frau so gut gegen ihn ist, das könnte schliesslich auch ganz anders sein! Jetzt will ich Ihnen noch für Ihre verschiedenen Benachrichtigungen danken die sie oft so freundlich waren mir zu schreiben und für die ich nie danke! Page 74
Mit besten Grüssen sehr geehrter Herr Professor Page 74
Ihre sehr ergebene Hermine Wittgenstein 105 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 74
[Puchberg, vor dem 30. 6. 1923] L. H.! Page 74
Ich komme Samstag ca. 9 1/2h abends zu Dir. Engelmann der jetzt in Wien ist und schon Sonntag früh wieder fortfahren muß möchte mich vielleicht noch sehen und wird in diesem Falle noch um 9h herum zu Dir kommen & mich erwarten. Ich hoffe Du bist nicht ungehalten darüber. Dein Wittgenstein Page 74
Beiliegend das fragliche Gedicht das in einem Deiner Bücher gelegen ist. 106 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 74
[Wien] 9. 7. 23. L. H.! Page 74
Beiliegend schicke ich Dir Wahlzettel die Du und Deine liebe Frau ordnungsgemäß auszufüllen haben. Kraus haben wir nicht getroffen und auch Loos nicht. Page Break 75
Engelmann ist am Sonntag wieder abgereist. Mit Vergnügen denke ich an seinen Aufenthalt bei uns und an unser Gastmahl. Ich war in den letzten Tagen nicht fleißig. Für Dich sind mir einige Bücher übergeben worden, die Du hast binden lassen. Post ist keine gekommen. Vor ein paar Tagen haben Drobil und Nähr mir zusammen die Photographien gebracht. Sie sind gut geworden. Page 75
Es tut mir leid, daß ich Dich vor meiner Abfahrt von Wien nicht mehr sehen kann, ich hoffe aber Du wirst mich bald nach Deiner Rückkunft besuchen. Page 75
Grüße Deine lb. Frau und die Kinder. Dein Wittgenstein 107 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 75
[Wien] 13. 7. 23. Page 75
L. H.! Leider muß ich Dir absagen. Ich bin am Sonntag in Puchberg: Koder hält nämlich seine Liedertafel ab und hat mich gebeten bei der letzten Probe und bei der Aufführung zu sein und ich will ihm das nicht abschlagen; obwohl ich selbst viel lieber in Wien bliebe. Könntest Du nicht am Montag kommen? Wenn ja, so, bitte, schick mir eine Expresskarte. Page 75
Verzeih meinen Wankelmut. Dein Wittgenstein 108 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 75
Herrn Prof Dr. Ludwig Hänsel Staatliche Kranken und Badeanstalt Baden bei Wien Vöslauergasse [Poststempel: Oberalm, 24. VII. 23] Page 75
L. H.! Soeben wollte ich Deiner lieben Frau schreiben um mich bei Ihr anzusagen; ja ich habe auch wirklich geschrieben, aber wie ich die Adresse schreiben wollte fand ich, daß ich Deinen Zettel irgendwie verschustert habe. Ich weiß, daß es Gieshamgut heißt und bei Gnigl ist. Nun ich bin neugierig!--Hier ist es bis jetzt ganz gemütlich. Ich komme zum Arbeiten und habe alle Ruhe. Das Leben ist nirgends leicht. Page 75
Auf Wiedersehen! Dein Wittgenstein Page Break 76
109 LUDWIG WITTGENSTEIN AN ANNA HÄNSEL Page 76
Frau Prof. Anna Hänsel Gieshamgut in Hallwang Post Kasern bei Salzburg [Poststempel: Wien, 4. VIII. 23] Page 76
Herzliche Grüße von Ihrem häuslichen Herd, an dem ich gerade ein Diner von 2 Gängen für Hänsel & mich zubereitet habe. Es geht mir viel zu gut bei Ihnen. Ihr dankbarer L. Wittgenstein Page 76
Herzliche Grüße! Herr W. führt eine ausgezeichnete Küche! D. Ludwig. Page 76
Grüße an die Kinder von uns beiden. 110 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 76
[Wien] 23. 8. 23. L. H.! Page 76
Dank Dir für Deinen Brief und die Wahlzettel. Es war ganz richtig, sie mir zu schicken. Wenn Du am Samstag Früh kommst, so werden wir uns vielleicht noch sehen, was mir auch das liebste wäre; sonst wird alles geschehen wie Du willst. Daß Dir Engelmann nicht einen so guten Eindruck gemacht hat wie mir, rührt wohl davon her, daß Du seinen Wert nicht ganz verstehst. Und das, weil seine Welt zu sehr außer Deiner liegt. Nicht so sehr Deine Welt außer seiner, denn Du warst ihm sehr sympatisch. Was das Rivalisieren betrifft bist Du--glaube ich--ganz im Irrtum. Ich habe gewiss nicht eine Sekunde lang mit Dir vor ihm rivalisiert. Ja, unserer Natur nach kann ich mit Dir nie rivalisieren und--ich bin überzeugt--auch er nie mit Dir; eher noch ich mit ihm vor jemand anderem. Das letztere ist sogar schon vorgekommen, wenn auch nur für sehr kurze Zeit. Übrigens bin ich natürlich mit dem Wesen des Rivalisierens wohl vertraut, da ich schon oft und in unanständiger Weise rivalisiert habe. Aber, wie gesagt, nie mit Dir; so wenig, wie ein Pferd mit einem Seehund wettschwimmen oder der Seehund mit dem Pferd wettrennen kann. Page 76
Vorgestern war ich in Puchberg und habe nach langem und mühevollem Suchen ein Kabinett für ein paar
Wochen gefunden. Später werde ich dann in der Schule wohnen, Aller Wahrscheinlichkeit nach muß ein Lehrer von Puchberg weg. Wenn es Koder wäre, so müßte mir das sehr leid tun. Deine Wohnung wird ehe Du kommst in Stand gesetzt werden, damit Du nicht sagst, daß ich alles verschweinert Page Break 77
habe. Vor einigen Tagen waren Leute vom Elektrizitätswerk hier und haben Dir einen Zähler gebracht, da die Frist der Pauschalierung für Dich abgelaufen ist. Grüße Deine liebe Frau herzlichst und die Kinder. Auf Wiedersehen Dein Wittgenstein 111 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 77
[Wien, Oktober 1923] Montag Sehr geehrter Herr Professor Page 77
Ich danke Ihnen herzlichst für ihre freundlichen Zeilen es ist mir eine grosse Wohltat dass Sie mir über Ludwig berichten und diesmal ist auch das was sehr erfreulich, nämlich dass Ludwig in einer menschlich netten Umgebung wohnt. Das bedeutet viel für ihn! Dass Ramsay ihn furchtbar anstrengen würde wusste ich wohl und bin nur froh dass sein Besuch doch offenbar auch anregend und wertvoll war. Was haben denn die Puchberger dazu gesagt?, steigt Ludwig dadurch in ihrer Achtung oder wird er ihnen dadurch nur verdächtiger als Fremdkörper, den sie nicht assimilieren können? Page 77
Ich habe mich sehr gefreut zu hören dass Sie einen guten Sommer hatten und dass Ihre Frau sich gut erholt hat, wie Ihnen selbst Baden getan hat darüber schreiben Sie nichts, hoffentlich hat es Ihnen genützt! Page 77
Jetzt muss ich ein Commentar zu den beiden Karten liefern die ich beilege: Sie wissen vielleicht dass wir alle einen blinden Componisten sehr verehren, den Professor Labor. Wir sind aber gänzlich unschuldig daran, dass sich ein Labor-Bund gegründet hat, der heute Abend im grossen Musikvereinssaal!! ein Compositionsconzert gibt, nur mein Bruder Paul wirkt aus Freundschaft mit, nachdem ihm sein heftiger Protest gegen die Veranstaltung nichts genützt hat. Und ebenso wirke ich gewissermassen mit, indem ich liebe Leute bitte, »geht hinein oder sendet wenigstens jemand hinein damit der Saal nicht ganz leer bleibt.« Ich persönlich bewundere viele Labor-Compositionen sehr, ich weiss aber genau dass sie in grosser Menge ertötend wirken und dass sie überhaupt sehr gut gekannt sein müssen. Wenn Sie also diese beiden Sitze irgendwie benützen könnten wäre mir ein grosser Gefallen geschehen!. Page 77
Mit vielen freundlichen Grüssen bin ich sehr geehrter Herr Professor Page 77
Ihre sehr ergebene Hermine Wittgenstein Page Break 78
112 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 78
[Puchberg] 20. 10. 23. L. H.! Page 78
Dank' Dir für die Stoppel und Deine 1. Zeilen etc.. Bitte sei so lieb und schreib mir eine Zeile was die Stoppel gekostet haben. Ich möchte sie nämlich der Schule verkaufen und brauche darum eine Art Rechnung. Zu Allerheiligen komme ich nach Wien und bleibe bis Sonntag wenn es Euch recht ist. Über unsere Gespräche bei Tisch etc habe ich nachgedacht und muß Dir ehrlich sagen daß ich glaube daß sie ganz in Ordnung sind--d.h., wenn sie nicht etwa an und für sich nichts wert sind. Die Tugend derer die bei einem guten Gespräch--wenn es eines ist--nicht mitreden können, besteht darin, daß sie nicht mitreden.--Und möchten nur auch wir das Maul dort halten wo nichts gescheites herauskommt. Gewäsch ist nichts gutes; und ein Gespräch ist besser als Gewäsch. Das halte ich für die Wahrheit. Page 78
Auf Wiedersehen! Dein Wittgenstein 113 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 78
[Puchberg, vor dem 12. 11. 1923 ?] Page 78
L. H.! Mein Bruder wird Dir 2 Konzertkarten schicken. Sie gehören für uns beide am Samstag Abend um 7h. Halte Dich frei! Es werden sehr schöne Sachen aufgeführt! Ich komme vor dem Konzert zu Dir. Dein W. 114 PAUL WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 78
WIEN, IV. ALLEEGASSE 16. 12. NOV. 1923. Sehr verehrter Herr Professor! Page 78
Haben Sie vielen herzlichen Dank für Ihr freundliches Geschenk! Es freut mich sehr, als einen Liebhaber alter Bücher, aber ganz besonders wegen Ihrer freundlichen Absicht & deren äußeren Veranlassung. Lassen Sie mich hoffen, daß es nicht das letzte Mal war, daß wir einander im Leben getroffen haben! Page 78
In herzlicher Page 78
Ergebenheit Ihr Paul Wittgenstein. Page Break 79
115 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 79
[Puchberg, vor dem 1. 12. 1923] L. H.! Page 79
Kann Dir nicht viel schreiben da ich mit Bronchitis im Bett liege. Wenn Du am Samstag kommen willst wird es mich sehr freuen. Ich habe (wie gewöhnlich) einige Bitten: Bitte schau in die Alleegasse und frag ob von mir noch ein oder zwei Nachthemden dort sind, ich brauche welche. Auch ein Frottierhandtuch wird dort sein; bitte nimm es mit. Könntest Du mir von Drobil etwas Bildhauerton mitbringen? 1-2 kg? Sonst weiß ich nichts. Page 79
Hoffentlich bin ich, wenn Du kommst schon außer Bett. Koder pflegt mich rührend. Page 79
Auf Wiedersehen Dein Wittgenstein 116 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 79
Expr[ess] Herrn Prof. Dr. Ludwig Hänsel Wien V. Kriehubergasse 25 [Puchberg, vor dem 7. 12. 1923] Page 79
L. H! Es war allerdings sehr dumm, Daß Du der Mining ganz unnötigerweise von meiner Krankheit erzählt hast; aber jetzt kann man nichts mehr machen. Ich bin schon am Dienstag in die Schule gegangen. Allerdings mit
großer Anstrengung. Am Nachmittag lege ich mich immer hin, weil ich noch sehr schwach bin und husten muß. Hoffentlich wird es bald besser. Komme diesen Samstag nicht heraus, sonst wird meine Wirtin eifersüchtig; weil sie mich gerne allein kurieren möchte! Page 79
Auf Wiedersehen zu Weihnachten. Dein Wittgenstein Page Break 80
117 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 80
[Wien, nach dem 7. 12. 1923] Donnerstag Sehr geehrter Herr Professor Page 80
Ich habe Ihnen noch gar nicht für die Nachricht über Ludwig gedankt! Sie war nicht besonders erfreulich und sehr leid war mir's dass er sich Ihr Kommen nicht verlangte; da hätte ich wieder genauen Bericht bekommen und vielleicht wollte er gerade das verhindern. Sie haben seither wohl keinen Brief bekommen? Ich studiere wie ich zu einer Nachricht gelangen könnte und will jetzt direct an Ludwig schreiben wenn die Post geht. Hoffentlich hat ihm das frühe Dienstmachen nicht geschadet, zu Verhindern war es gewiss nicht. Page 80
Mit freundlichem Gruss bin ich sehr geehrter Herr Professor Page 80
Ihre sehr ergebene Hermine Wittgenstein 118 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 80
[Wien, vor Weihnachten 1923 ?] Sehr geehrter Herr Professor Page 80
Ich hatte mir im vergangenen Jahr eine grössere Menge Kartoffel vom Land kommen lassen und sie dann unter meine Bekannten und Freunde verteilt, heuer habe ich das nicht getan, denn die Zeiten da man nur auf Schleichwegen etwas bekam sind ja vorüber; trotzdem möchte ich nicht auf das Vergnügen Kartoffel zu schenken verzichten. Nehmen Sie es mir übel wenn ich Sie bitte für den beigelegten Betrag Kartoffel zu kaufen? Ich glaube es nicht d.h. ich hoffe es nicht. Es ist nämlich so viel praktischer, ich müsste alles in die Alleegasse kommen lassen und von dort wieder verschicken, während doch Jeder in der Nähe seiner Wohnung nach Wunsch Kartoffeln bekommen kann. Und noch etwas: ich wollte Ihren Kindern gerne etwas zu Weihnachten schenken und habe Stoffe zu Hause, aber ich weiss die Grösse nicht und auch nicht welches Kleidungsstück erwünscht wäre. Da möchte ich Ihnen den Stoff für die drei schicken--und tue es auch--und Sie bitten: lassen Sie für mich†* das Gewünschte daraus machen. Mir wird dadurch eine Arbeit abgenommen die ich viel unvollkommener machen könnte weil mir die nötigen Unterlagen fehlen. Page 80
Somit hoffe ich mit Hilfe Ihrer freundschaftlichen Gesinnung alles in Richtigkeit gebracht zu haben und bin mit den besten Grüssen sehr geehrter Herr Professor Page 80
Ihre aufrichtig ergebene Hermine Wittgenstein Page Break 81
119 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 81
Herrn Ludwig Wittgenstein Puchberg a. Schn. N. Ö. Volksschule 14. 1. 24.
Lieber Wittgenstein! Page 81
Die Bahn wird jetzt hoffentlich schon frei sein. Du könntest mir also--und ich bitte Dich darum--schreiben, wie es Dir auf der Schlittenfahrt gegangen ist und wie es Dir geht. Wenn ich auch daraus, daß ich nichts von Dir erfahre, schließen kann, daß Du lebst und Schule hältst.--Ich werde, wie wir ausgemacht haben, am Samstag, den 26. dM. kommen, wenn es Dir recht ist. Page 81
Herzliche Grüße, auch von meiner Frau. Dein Hänsel 120 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 81
[Puchberg, nach dem 14. 1. 1924] Page 81
L. H.! Dank' Dir für die Karte. Die Schlittenfahrt ist sehr gut in 2 1/2 St. gegangen. Alles hat geklappt. Auch zu Fuß wäre es nicht ganz unmöglich gewesen. Jetzt bin ich ganz gesund! vor ein paar Tagen bin ich beim Eislaufen im Teich eingebrochen aber ohne besondere Folgen. Bitte besorge mir bei Freitag & Bärens oder sonst wo Schulhandkarten der Republik Österreich (48 Stück). verzeih die ewige Belästigung. Dein Wittgenstein 121 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 81
[Wien, nach dem 14. 1. 1924 ?] Sehr geehrter Herr Professor Page 81
Allerherzlichsten Dank für Ihre freundlichen Nachrichten die ich gestern beim Zurückkommen von Hochreit vorfand Gottlob dass Ludwig so weit hergestellt ist, ich freue mich unbeschreiblich auf ihn. Beifolgend praktische Grüsse von der Hochreit nächstens gibt es auch wieder Würste wenn Sie für solche Verwendung Page Break 82
haben! Gewiss wissen Sie es schon ich schreibe es aber doch noch einmal dass das Conzert meines Bruders Samstag um 4 Uhr Nachmittag stattfindet. Page 82
Mit besten Grüssen Ihre ergebene Hermine Wittgenstein 122 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 82
[Puchberg, um den 10. 2. 1924] L. H.! Page 82
Hier der Schlüssel verzeih ihm, daß er sich verspätet hat. Danke bestens für Zahnbürste etc. Schlüssel & Geld 100.000 K schicke ich Dir in dieser schönen Schachtel, die Du der Noblesse Koders verdankst. Nun wieder eine Bitte: Mein Schüler Fuchs aus Trattenbach hat mir geschrieben, er möchte ein Geschichts- & ein Naturgeschichtsbuch (Zoologie) lesen. Bitte kaufe gelegentlich eine kleine Zoologie von Scholze-Schmeil und irgend ein anständig illustrier[t]es Geschichtsbuch für Obergymnasien Altertum & schicke sie mir. Wenn Du im Fasching kommst, gehen wir auf den hiesigen Feuerwehrball. Page 82
Grüße Deine liebe Frau Gemahlin & die Kinder. Dein Wittgenstein 123 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 82
[Puchberg, Mitte/Ende Februar 1924]
L. H.! Page 82
Vielen Dank für den Mörike. Fuchs hat die Bücher bekommen & sich sehr gefreut, wie aus einem sehr netten Brief von ihm hervorgeht. Page 82
Bitte gib beiliegendes Billet dem Drobil; ich habe seine Hausnummer vergessen. Page 82
Bitte besorge mir gelegentlich, wenn Du beim Schulbuchverlag vorbeikommst, das Lesebuch von Wiesenberger für Volksschulen (5klassig) alle Teile. Geld liegt bei. Ferners bitte ich Dich nun doch, mir einen Band der Geschichte von Mayer (oder wie er heißt) zu schicken, den welcher von Assyrern Babyloniern, Juden, & Aegyptern handelt. Ich will mich bilden, wie es einem Lehrer geziemt. Ich bin jetzt immer sehr nervös & reizbar. Der Teufel soll diesen Zustand holen. Page 82
Leb' wohl und verzeih mir die vielen Bitten! Dein L. Wittgenstein Page Break 83
124 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 83
[Wien, Ende März 1924] Sehr geehrter Herr Professor Page 83
Ich frage mich nur an was mit den Mänteln ist, ob Sie sie machen liessen und was sie kosteten?--Von meinem Bruder habe ich brieflich schon eine Ewigkeit nichts gehört, doch erzählte mir Mr. Ramsay, der ihn Sonntag besuchte, dass er sehr müde und abgespannt sei. Und dabei ist das Schuljahr noch lang! Ich bin neugierig wie er zu Ostern sein wird, kann es kaum erwarten!--Hoffentlich ist bei Ihnen alles gesund! Beste Grüsse von Hermine Wittgenstein 125 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 83
[Wien, nach dem 26. 4. 1924] Lieber Herr Professor Hänsel Page 83
Seit Tagen drückt mich eine Frage die sehr ungeschickt zu stellen ist, aber ich weiss Sie sind so nett und mit Ihnen kann man so gut reden dass ich sie doch stelle. Ich habe nämlich bis zu seinem Tod dem Professor Labor unter anderem wöchentlich 2 kg Braten geschickt und dafür suche ich einen Nachfolger; nun verlange ich von Ihnen nicht nur dass Sie der Nachfolger werden, sondern sogar dass Sie mir helfen nachdenken wie man das am einfachsten ausführt. Soll Ihre Frau sich das Fleisch wie sie es am liebsten hat bei ihrem bekannten Fleischhauer nehmen und mir wöchentlich oder monatlich die Rechnung zukommen lassen? das wäre mir eigentlich das liebste, aber wenn Sie eine andere Idee haben so ist mir's auch recht. Hoffentlich geht es Ihrer Frau wieder gut, dass das eine Mäderl gut versorgt ist erleichtert sie doch auch etwas, denke ich. Ich lasse sie herzlich grüssen und erwarte Ihre freundliche Antwort. Page 83
Ihre aufrichtig ergebene Hermine Wittgenstein 126 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 83
[Wien, nach dem 26. 4. 1924] Sehr geehrter Herr Professor Page 83
Besten Dank für Ihren lieben Brief natürlich ist es mir recht wie Sie's machen und ich hoffe Sie haben auch gleich schon angefangen mit dem Fleisch, es läuft Page Break 84
vom 15 an. Es freut mich auch sehr dass Sie an mich gedacht bezüglich der Mutter Ihres Schülers für die ich sehr gerne etwas tun will. Vielleicht wäre es das Beste wenn Sie mir die Adresse gäben, ich würde die Frau aufsuchen und könnte mit ihr besprechen womit ihr am besten geholfen wäre. Ich muss auch noch etwas mir Wichtiges sagen: wie Sie vielleicht wissen hat Ludwig seinerzeit sein Vermögen unter seine Geschwister verteilt, daran denke ich immer seinen Freunden gegenüber und finde diese haben ein Recht auf einen Teil dieses Geldes, und eigentlich bin ich's nicht die schenkt sondern Ludwig. Page 84
Es grüsst Sie freundlichst sehr geehrter Herr Professor Page 84
Ihre ergebene Hermine Wittgenstein 127 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 84
Dr. L Hänsel Wien V Kriehuberg. 25/13 Herrn Ludwig Wittgenstein Puchberg a. Schn. Volksschule (N. Ö.) 20. 5. 24. L. W. Page 84
Ich kann am kommenden Sonntag wieder nicht zu Dir hinausfahren: Der Malermeister hat sich gerade Donnerstag bis Samstag ausgesucht. Ich bin also Samstag und Sonntag zum Einräumen unentbehrlich. Am Himmelfahrtstag geht es wegen meiner Privatstunden nicht. Also muß ichs bleiben lassen. Es ist mir leid um den Tag. Herzlichen Gruß! Auch an Koder. Dein H. Page 84
Ich hätte Dich fragen wollen: Wie ein Klassenausflug auf den Schneeberg (Ende Juni) am besten zu machen wäre. Wo übernachten? Oben im Hotel, oder in einem anderen Haus? Kannst Du über die Preise (für Schüler!) etwas erfahren? Letzten Samstag war ich in der Wachau mit der Klasse. Herzlich der Nämliche. Page Break 85
128 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 85
Hänsel Wien V. Kriehubergasse 25/13 Herrn Ludwig Wittgenstein Volksschule Puchberg a. Schn. N. Ö. [Poststempel: Wien, 20. VI. 24] L. W. Page 85
Freitag, den 27. dM. käme meine Klasse bei annehmbarem Wetter mit dem Mittagzug nach Puchberg (ca 3h).--Ich bitte Dich uns die Nächtigung im Baumgartnerhaus zu sichern: für 20-25 Leute. Ich habe den Schülern 3000 K als Nächtigungskosten angegeben. Sollten sie höher sein, so schreib mir bitte. Schreib mir lieber auf jeden Fall, damit ich gewiß bin, daß ich aufgenommen werde.--Vielleicht fährst Du übrigens zu der Zeit gerade nach Wien.-Page 85
Herzliche Grüße! D.H.
129 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 85
[Wien, Anfang August 1924] L. H.! Page 85
Ich habe lange nichts von mir hören lassen und tue es auch heute nur nach langem Herumziehen. Der Grund ist hauptsächlich meine sonderbare unbestimmte Stimmung, die mir die Mitteilung erschwert, weil ich sie--wenigsten[s] schriftlich--doch nicht erklären kann. Äußerlich geht es mir hier ganz gut. An der Psychologie arbeite ich nicht und werde ich wohl auch nie mehr arbeiten, denn das geht mir doch nicht vom Herzen. (Diese Arbeit ist mit meinem Wesen nicht mehr verkuppelt). An der »Biographie« schreibe ich; sie ist scheußlich aber es ist die einzige Arbeit, die ich überhaupt machen kann und es ist gut, daß sie geschrieben wird oder wäre zum mindesten gut, wenn es im rechten Geist geschähe. Eine äußere Unannehmlichkeit ist jetzt für mich die Unsicherheit, ob ich hier bleiben oder zu meinem Onkel fahren werde. Als ich ihn vor ca 4 Wochen in Wien besuchte lud er mich definitiv ein zu ihm zu kommen, sagte aber, er werde mir das genauere Datum, welches er aus verschiedenen Gründen noch nicht wußte, mir brieflich mitteilen. Bis jetzt habe ich aber keine Nachricht und weiß also nicht ob vielleicht sein oder seiner Freundin Befinden ihn zurückhalten mich einzuladen oder sonst etwas. Ich denke nun an folgendes: Könntest Du mir in Eurer Nähe ein billiges (nicht Page Break 86
verwanztes) Zimmer auftreiben, so möchte ich gerne etwa anfangs der nächsten Woche dorthin kommen und 8-10 Tage bleiben. Um den 20.ten muß ich vielleicht schon wieder in Wien sein um einen Schüler zur Aufnahmeprüfung an die Mittelschule vorzubereiten. Ich weiß übrigens, daß das Wohnungfinden wahrscheinlich nicht möglich sein wird und in dem Fall ist es auch kein großes Unglück. Solltest Du etwas für mich wissen, so verständige mich bitte gleich davon, sonst bleibt keine Zeit mehr Dein Wissen praktisch zu verwerten. Deine Post habe ich regelmäßig nachgeschickt, bis auf die beiden beiliegenden Karten, die etwas verspätet in Deine Hände kommen. Der geometrische Satz aus dem Spinoza ist mir unverständlich, wenn nicht--wie ich glaube--unter den sich im Kreise schneidenden Geraden die Durchmesser gemeint sind. Freilich wäre dann die Zeichnung falsch, aber das ist nicht unmöglich. Grüße Deine Frau und die Kinder herzlich und Dich selbst von Deinem Ludwig Wittgenstein 130 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 86
[Otterthal] 6. 9. 24. L. H.! Page 86
Ich bin in Otterthal! Wie es hier gehen wird, weiß Gott allein. Ich lebe in Angst und Bangen! Auf meiner Brust liegt es schwer und ich schleppe mich herum, wie ein gefolterter. Ich hoffe, Du besuchst mich bald nach Deiner Rückkunft. Ich habe Deine Wohnung in ziemlicher Ordnung hinterlassen und die Schlüssel Drobil gegeben, der sie Dir schicken wird. Grüße Deine Frau und die Kinder. Dein Wittgenstein 131 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 86
[Wien, Anfang September 1924] Sehr geehrter Herr Professor Page 86
Ich mache mir Vorwürfe dass ich Ihnen nicht gleich schrieb, Sie sollten wieder das Fleisch auf meine Rechnung nehmen ohne zu sparen; bitte tun Sie es gleich! Hoffentlich haben Sie sich alle im Sommer recht erholt wenn auch das Wetter nicht gerade günstig war. Werden Sie einmal zu meinem Bruder nach Otterthal gehen? das ist jetzt wieder eine grosse Tour, beinahe so weit wie Trattenbach, aber ich wäre natürlich sehr glücklich wenn Jemand mir sagen könnte, wie Ludwig sich dort fühlt, ich meine wie die Schulverhältnisse sind. Ohne Reibung kann es ja, glaube Page Break 87
ich, nicht abgehen, sein Lehrprogramm ist zu sehr verschieden von dem der andern Lehrer, aber wenigstens zu
Zerreibungen soll es nicht kommen. Wenn Sie fahren sollten, so bitte ich herzlich es mir möglichst früh zu sagen damit ich Lebensmittel mitgeben kann, ich bin den ganzen Tag vom Hause abwesend, finde die Post immer erst am Abend. Page 87
Mit freundlichen Grüssen an Ihre liebe Frau und Sie, sehr geehrter Herr Professor Page 87
Ihre sehr ergebene Hermine Wittgenstein 132 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 87
SCHULLEITUNG OTTERTHAL Post: Kirchberg a. W. Bezirk: Neunkirchen, N. Ö. [Mitte September 1924] L. H.! Page 87
Danke für die Karte. Ich weiß, daß ich einiges bei Euch gelassen habe möchte aber auch einiges weiter bei Euch lassen. Ein Päckchen in braunem Papier liegt in Deinem Zimmer worin 2 Deckenkappen sind. diese gehören meiner Nichte Frau Marie von Stockert Opernring N° ich weiß nicht wieviel. Es ist ein Haus auf der Seite der Oper zwischen Operngasse und Goethedenkmal. Im Parterre ist ein großes Geschäft »Olso«. Da zwischen Operngasse und Goethedenkmal nur 4 oder 5 Häuser sind, so ist es nicht zu verfehlen. Solltest Du einmal da vorüberkommen, so bitte gieb das Zeug ab. Wenn Du willst beim Hausmeister. Hübsch wäre es aber, wenn Du meine Nichte besuchen wolltest--sie ist sehr nett. Du könntest ihr dann auch etwas ausrichten. Ich habe ihr nämlich vor ein paar Tagen einen sehr konfusen Brief geschrieben, worin ich ihr die Adresse einer Person mitteilte, die Breitenseerstraße N° 47 Tür 9 wohnt. Ich schrieb aber nur die Straße und vergaß die Nummer einzusetzen. Wenn Du meine Nichte siehst, könntest Du ihr die Nummer sagen. Mein Schreibebuch behalte bei Dir, wenn es geht. Ich kann jetzt nicht daran denken, weiter zu schreiben. Meine Kräfte reichen kaum hin um meine Schularbeit notdürftig zu verrichten. Ja ich bin so müde & matt und mein Gehirn ist so krank, daß ich nicht weiß, wie es weiter gehen soll. Noch eine Bitte: Besorge mir beim Schulbücherverlag 10 Stück »Träumereien an Französischen Kaminen« von Volkmann-Leander. Sie sind dort in einer billigen Ausgabe zu haben. Wenn Du zu mir kommst, werden wir abrechnen. Von Büchern die ich bei Dir gelassen habe brauchte ich die »Landwirtschaftslehre« I & II. Sie liegt auf Deinem niedrigen Kasten bei den anderen Büchern. Ferners, wenn Du beim Schulbücherverlag bist, so bitte erkundige Dich nach dem Preis des Rechtschreibewörterbuches (große Ausgabe). Ich möchte es hier einführen. Grüße mir Deine Frau & die Kinder Ich freue mich auf Dein Kommen Dein Wittgenstein Page Break 88
133 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 88
[Otterthal, Anfang Oktober 1924] L. H.! Page 88
Dank' Dir vielmals für die Leander Märchen und die Tafeln. Ausständig ist noch der Preis der großen Wörterbücher des Schulbücherverlags. Bitte laß mich ihn bald wissen. Ich bin neulich ganz gut hier angekommen und der Schwächezustand in den Beinen ist jetzt vorbei. Ich war beim Arzt der sagt, es seien alles nervöse Zustände. Er gab mir eine Medizin die mir vielleicht eher hilft als schadet. Ehrlich gesagt fühle ich mich recht miserabel. Es ist ein verfluchter Zustand und erschwert die Schularbeit riesig. Für Deinen lieben Besuch und die Hilfe bin ich Dir viel Dank schuldig. Es war eine außerordentliche Wohltat. Mir stehen noch schwere Kämpfe bevor. Möchte ich nicht unterliegen! Dein Wittgenstein 134 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 88
[Wien, Anfang Oktober 1924]
Sehr geehrter Herr Professor Page 88
Herzlichen Dank für Ihren freundlichen Brief! Das war wirklich ein strapaziöser Besuch und ich bewundere Sie! Ich hätte mich nur geärgert und mich beschimpft weil ich meinen Freund verfehlt habe und wäre unverrichteter Dinge am nächsten Tag nach Hause gegangen um den Besuch später zu wiederholen. Sie müssen ja auch ganz tot nach Hause gekommen sein, denn ein Tag mit Ludwig ist auch nicht un-anstrengend wenigstens für mich! Sehr betrübt es mich dass Ludwig körperlich nicht wohl ist, sein Leben in den Ferien war ja nicht das Richtige und vielleicht isst er jetzt nicht genug oder nicht gut? Ich bin aber am wenigstens geeignet da irgendwie einzugreifen, schon ein paarmal habe ich es unrichtig angefangen und bin dadurch ganz unsicher geworden, ein Zustand in dem man erst recht danebenhaut! Wissen Sie was man tun könnte? Was die Deckenkappen anbelangt so hat sie meine Nichte nicht, doch lässt sie Sie bitten nur ja nichts an Ludwig davon zu schreiben! die Sache hat gar keine Eile und wird sich entweder in nächster Zeit aufklären, da meine Nichte nachforschen will wo die Kappen etwa sonst sein können, oder Ludwig kann gefragt werden wenn er zu Allerheiligen nach Wien kommt, mündlich ist das so viel leichter! Jedenfalls soll auch Ihre Frau nicht länger danach suchen, wo sollten sie sich denn in Ihrer Wohnung verschloffen haben? Page 88
Sie lieber Herr Professor und Ihre liebe Frau herzlich grüssend Page 88
Ihre sehr ergebene Hermine Wittgenstein Page Break 89
135 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 89
[Otterthal, vordem 15. 10. 1924] L. H! Page 89
Dank' Dir für Deine 1. Karte. Ich hatte nicht gedacht daß die Wörterbücher so furchtbar teuer seien. Ich glaube wenn ich lang genug lebe werde ich ein kleines Wörterbuch für Volksschulen herausgeben. Es scheint mir ein dringendes Bedürfnis zu sein. Leider muß ich Dich bitten Deinen Besuch zu verschieben. Koder hatte sich nämlich schon früher für diesen Sonntag (d. 19./10) angesagt und ich schrieb ihm, er möchte lieber schon am 12./10. kommen, aber er konnte nicht, und so hat er den Vortritt. Hier geht es nicht gut und vielleicht geht es jetzt mit meiner Lehrerei zu Ende. Es ist zu schwer für mich. Nicht eine sondern ein Dutzend Kräfte wirken gegen mich, und was bin ich! Dein Wittgenstein 136 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 89
Hänsel, Wien V. Kriehubergasse 25/13 Herrn Lehrer Ludwig Wittgenstein Otterthal N. Ö. b. Kirchberg a. W. [Wien] 15. 10. 24. L. W. Page 89
Nun bin ich in einer ähnlichen Lage wie Du. Ich habe für übernächsten Sonntag (26. Okt.) den jungen Russen zu uns geladen, er war schon einmal umsonst da, an dem Wandertag meiner Schule, ist dann wieder gekommen, auf meine Bitte, und soll nun den 26. mit uns essen und spazieren gehen. Ich möchte ihm nicht wieder absagen. Zudem ist dann gleich Allerheiligen. Da wirst Du ja nach Wien und zu uns kommen. Also komme ich vorher nicht mehr hinaus.--Das Geld habe ich dem Russen gegeben, er spricht aber wieder von einer Deckenkappe, die bei uns sein soll, und wir finden nichts. Ich bekomme noch den Deckenkappenverfolgungswahnsinn.--Er ist sehr nett. (Der Russe, nicht der Wahnsinn)-Page 89
Sei stark! Tu in dem Kräftefeld, in dem du stehst, das Mögliche u. mit Verzichtsbereitschaft.
Dein H. Page Break 90
137 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 90
[Otterthal, Ende Oktober 1924] Page 90
L. H.! Ich bin ein Schwein daß ich Dir noch nicht auf Deine liebe Karte geantwortet habe. Nein, wie Du fort warst war ich überzeugt, daß der Unterschied unseres Blutes und unserer ganzen Anlage keine Ursache einer Entfremdung zwischen uns sein kann. Ich habe ein großes Vertrauen zu Dir. Wir haben eben verschiedene Aufgaben erhalten und die Aufgaben sind an sich weder schlecht noch gut; es kommt nur auf die Lösung an. Das sage ich nicht nur sondern ich fühle es immer. Meine Aufgabe scheint mir sehr interessant, aber sie ist mir viel zu schwer d.h ich bin für sie viel zu schlecht und ich werde ein klägliches Ende nehmen.--Vielleicht komme ich schon Freitag abends zu Dir. Ich weiß es noch nicht. Page 90
Auf Wiedersehen Dein Wittgenstein Page 90
Besten Gruß von Koder. 138 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 90
[Otterthal, vor dem 30. 11. 1924] Lieber Hänsel! Page 90
Mehrere Angelegenheiten: 1.) Der Verlag Tempsky hat mir geschrieben, er wolle mein Wörterbuch annehmen. Ich habe darauf gleich begonnen eines zu verfassen. (Ich bin gerade beim G) Nun ist es mir aber darum zu tun, daß mir niemand zuvorkommt, denn sonst habe ich die ganze Arbeit umsonst gemacht. Soll ich nun darüber mit dem Verlag einen Vertrag abschließen? Ich habe dem Tempsky geschrieben, daß ich schon mit der Abfassung begonnen habe. Das wird vielleicht genügen. Page 90
2.) Ob ich am 8. nach Wien komme weiß ich noch nicht. Ich habe nämlich einen sehr unangenehmen Bronchialkatarrh und traue mich nicht recht damit Witze zu machen, weil ich fürchte, er möchte werden wie im vorigen Jahr. Ich werde Dir wohl noch schreiben, aber falls ich nicht schreibe, komme ich nicht. Wenn nun in diesem Falle Du zu mir kommst, so bitte sei 3.) so gut und bring mir die Klarinette mit und das Paket Glasröhren, welches ich bei Euch gelassen habe. Könntest Du mir 4.) ohne große Mühe den ersten--aber wirklich den allerersten--Band der Geschichte des Altertums von Meyer ausleihen, so wäre ich sehr dankbar. Page 90
Jetzt auf Wiedersehen. Hier oder in Wien Dein Wittgenstein Page Break 91
139 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 91
Dr. L Hänsel Wien V. Kriehuberg. 25/13 Herrn Ludwig Wittgenstein Volksschule Ottertal b. Kirchberg a. W. N. Ö. 30. 11. 24 Page 91
L. W. Herzlichen Dank für Deinen Brief. Da der Verlag Dir mit seiner Zuschrift, er wolle annehmen, doch
auch den Auftrag gegeben hat, so ist, meine ich, ein Vertrag nicht mehr nötig. Ich würde ihn für mich nicht verlangen. Meyer I werde ich Dir besorgen (enthält Prinzipielles über Methode der Geschichtschreibung, glaube ich). Glasröhre und Klarinette, die ich noch nicht abgeholt habe, bringe ich mit.--Ich will hoffen, daß Du bis zum nächsten Sonntag die Krankheit schon überstanden hast. Schone Dich aber! Es ist jetzt nicht die rechte Luft für Dich zum Wandern.--Paul Seidl war heute wieder bei mir. Er war krank, auch Mutter und Schwester, an einer Grippe wahrscheinlich. Er ist immer gleich lerneifrig, aber in den drei Wochen nicht viel weiter gekommen. Er möchte für die Mathematik immer wieder mechanische Handgriffe, wie zur Bedienung einer Maschine. Page 91
Ich freue mich, Dich wieder zu sehen. Wir grüßen Dich alle herzlich! Dein Hänsel Page 91
Ich komme Samstag abends. 140 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 91
SCHULLEITUNG OTTERTHAL Post: Kirchberg am Wechsel, Bezirk: Neunkirchen, N. Ö. [zw. dem 30. 11. u. 6. 12. 1924 ?] Lieber Hänsel! Page 91
Ich freue mich auf Dein Kommen. Page 91
Bitte: Besorge mir einige Bücher, die ich für Schüler brauche, die in die Bürgerschule kommen sollen. Es sind die Bücher, welche im beiliegenden Verzeichnis mit Bleistift angezeichnet sind und soviel Stück von jedem, als dabei steht. Wenn es irgend möglich ist, so besorge sie antiquarisch, denn die Hauptsache ist, daß sie billig sind, nicht die Schönheit. Natürlich dürfen keine Seiten fehlen. Ich erfahre, daß Du sie wahrscheinlich am besten in der Wollzeile N° 6 bei Meistrik bekommen wirst. Du mußt Dich aber als Lehrer vorstellen und außerdem noch sagen, daß die Page Break 92
Bücher für arme Schüler gehören, weil man dann vielleicht noch einen Preisnachlaß gibt. Page 92
Ich schicke Dir hier 500000 K. Es wird natürlich reichlich sein. Page 92
Bitte bring die Bücher mit, da ich sie dringend brauche & verzeih die Belästigung. Page 92
Auf Wiedersehen! Dein Wittgenstein Page 92
P.S. Bitte bring auch das Verzeichnis wieder mit! 141 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 92
Hänsel Wien V. Kriehuberg. 25/13 Herrn Lehrer Ludwig Wittgenstein Otterthal b. Kirchberg a. Wechsel N. Ö. 10. 1. 25. L. W. Page 92
Tinte und Zange gehen gleichzeitig ab. Das Heft der Ostwaldschen Annalen mit Deinem Werk werde ich (nicht ganz gern) am Donnerstag, wenn er zum Abend der philos. Gesellschaft kommt, dem Prof. Schlick
übergeben, sonst werde ich dort wenigstens seine Adresse erfahren. Das erste Paket hast Du--hoffe ich--schon bekommen.--Ich werde am 31. Jänner zu Dir fahren. (Erstes Mond-Viertel). Herzlich Dein Hänsel 142 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 92
[Otterthal, Ende Jänner 1925 ?] L. H.! Page 92
Schon vor einigen Wochen schrieb ich Dir einen Dank- & Bittbrief, er ist mir aber abhanden gekommen und ich konnte ihn nicht mehr finden. Ich habe darin Deine liebe Frau & Dich samt Kindern & Kindeskindern wegen Eurer Sendung verflucht. Ferners hab ich folgende Bitten: Page Break 93 Page 93
1.) Du wirst Dich erinnern, daß ich in der Werkzeughandlung Weiß in der Margaretenstraße zu Weihnachten eine Rechnung über die gekauften Werkzeuge verlangt habe. Habe ich sie damals im Geschäft vergessen, oder dann bei Dir in der Wohnung gelassen, jedenfalls habe ich sie nicht und kann das Geld vom Ortschulrat nicht zurückkriegen. Falls Du sie nicht zufällig bei Dir gefunden hast, so bitte geh gelegentlich in das Geschäft & verlange eine Rechnung über zwei Zangen, zwei Bohrer & eine Säge, wie sie der beiliegende Zettel zeigt. Page 93
2.) Bitte erkundige Dich ob man ein Conversations Lexikon von Brockhaus oder Maier (große Ausgabe) in sehr kleinen Monatsraten (10-20 S im Monat) kaufen kann & wie teuer ein solches ist, es kann auch antiquarisch sein. Wenn einer eines herschenken will, noch besser! Page 93
3.) Grüße ich Dich bestens & freue mich Page 93
auf ein Wiedersehen Dein Wittgenstein Page 93
Bei Deiner letzten Sendung ist das Heft einer Zeitschrift beigelegen dem ich beiliegenden Ausschnitt entnehme. 143 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 93
[Otterthal] 6. 2. 25. L. H.! Page 93
Am 14. kann ich Dich nicht empfangen, weil ich Koder versprochen habe, zu ihm zu kommen und den Samstag darauf, d. 21., werde ich, wenn nichts unerwartetes geschieht, nach Wien kommen: Meine Schwester Helene gibt nämlich an diesem Tag ein Konzert mit ihrem Vokalquartett, das ich mir unbedingt anhören will. Halte Dich--wenn es Dich irgendwie interessiert--an dem Abend frei. Wir kriegen alle Karten. Die Leute singen sehr schön. Wenigstens zu Hause hat es sehr schön geklungen. Wie es im Konzert sein wird, weiß ich natürlich nicht, aber ich erhoffe mir Gutes. Das Programm wird herrlich sein. Vom Paul Seidl habe ich vor einiger Zeit einen Dankbrief gekriegt, der mir mißfallen hat; und ich glaube, er war von seiner Mutter inspiriert, wenn nicht gar diktiert. Am Ende des Briefes schreibt er mir, seine Mutter rege sich so auf, weil Engelmann sie ganz vergessen habe: »nicht einmal auf ihren Gratulationsbrief zu den Feiertagen habe er ihr geantwortet«(!!!) Sie aber hat ihn lange auf ihren Dank warten lassen (das weiß ich nicht von ihm) wie er ihr seinerzeit Geld geschickt hat! Bitte richte Paul Seidl von mir aus, was ich Dir hier schreibe: Welche Verpflichtung hat Engelmann gegen die Frau Seidl? Regt sie sich darüber auf, daß Engelmann ihr nicht dankt, oder darüber, daß sie ihn jetzt nicht anbetteln kann? Engelmann ist nicht reich! Sie soll etwas arbeiten und soll nicht unverschämt sein. Wie gesagt, ich möchte wetten, daß Sie dem Paul S. den Brief an mich diktiert hat. Wenn ja, so soll er sich in Zukunft keine Briefe mehr Page Break 94
diktieren lassen. Jeder Mensch hat an seiner eigenen Dummheit genug! Das sieht am besten ein
Dein Ludwig Wittgenstein 144 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 94
Rekommandiert Wittgenstein Otterthal bei Kirchberg a./ W. N. Ö. Herrn Prof. Dr. Ludwig Hänsel Wien V. Kriehubergasse 25 [zwischen dem 6. u. 11. 2. 1925] Page 94
L. H. Obwohl ich Dir schon einen Brief geschrieben habe, schreibe ich Dir doch noch einmal, daß ich Dich Samstag d. 14. nicht empfangen kann, weil ich an diesem Tag nach Puchberg fahre. Dafür komme ich aber am 21. nach Wien und freue mich auf unser Wiedersehen. Ich schreibe das alles nocheinmal, weil ich den Brief nicht rekommandiert habe und fürchte, Du könntest den Weg zu mir umsonst machen. Dein Wittgenstein 145 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 94
11. [2.] 25. L. W. Page 94
Danke für Brief und Karte. Gleichzeitig habe ich von Deinem Fräulein Schwester zwei Konzertkarten für den 21. bekommen. Ich freue mich sehr darauf. Zumal da gesungen wird. Page 94
Den armen Pawel haben wir (auch meine Frau hat mitgeholfen) nun doch glücklich in die Lehre gebracht. Trotz dem Widerstreben seiner Mutter. Von uns ging er immer mit den besten Vorsätzen und Hoffnungen weg; wenn er aber dann wiederkam, war doch alles beim Alten. Seine Mutter hatte es ihm wieder ausgeredet, einen Meister zu suchen. Page 94
Die Tränen standen ihm in den Augen. Page 94
Das letzte Mal aber--ich hatte ihm schon geraten, sich ohne Wissen der Mutter um einen Meister umzuschauen--ist er glücklich daher gekommen: durch einen Page Break 95
günstigen Zufall hat er eine nach seiner Beschreibung ganz nette Stelle gefunden und die Mutter war doch schon mürbe genug, um sich mit leeren Protesten zu begnügen. Er ißt und schläft jetzt beim Meister, hat reichlich zu essen, darf nicht trinken und rauchen (rauchen--weiß ich nicht sicher), muß früh am Abend zu Hause sein, und fühlt sich wohl. Wenigstens braucht er nicht mehr zu Hause Betten aufbetten und die Zimmer rein machen. Page 95
Seine Mutter hatte ich--auf seinen Wunsch--für einen Abend eingeladen, um ihr zuzureden, sie solle ihn doch in die Lehre gehen lassen. Sie ist nicht gekommen, hat aber nachgegeben. Page 95
Seinen Brief an Dich hat er mir gezeigt. Der Einfluß der Mutter darauf ist nicht zu verkennen. Mit schonenderen Worten habe ich ihm schon gesagt, was Du mir aufträgst. So scharf möchte ich es ihm nicht sagen. Vielleicht kommt noch die Gelegenheit, ihm in seiner Gefühlsverwirrung zu helfen und ihm zu sagen, daß man Treue und Liebe zur Mutter mit Unbeirrbarkeit im Richtigen vereinen müsse. Page 95
Denke nach, was ich ihm zu lesen geben soll. Wenn ich eine ernste populäre Geschichte wüßte! Darf man ihm schon die Evangelien geben? Page 95
Vielleicht siehst Du ihn, wenn Du kommst. Er wird Sonntag vor Mittag kommen. Ich freue mich, Dich wiederzusehen. Von meiner Frau herzliche Grüße! Page 95
Und auch von Deinem L. H. 146 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 95
Hänsel, Wien V. Kriehuberg. 25/13 Herrn Ludwig Wittgenstein Otterthal b. Kirchb. a. Wechsel N. Ö. 16. 3. 25. L. W. Page 95
Ich habe heute von Deinem Frl. Schwester 4 Karten zum Konzert bekommen für Dich, Koder, Drobil und mich. Ich vermute demnach, daß Du (mit Koder?) noch vor dem Konzert zu mir kommst. Drobil werde ich die Karte morgen bringen. Vielleicht geht es ihm nicht aus, von uns aus ins Konzert zu gehen. Page 95
Habe ich Deinen Schlachtenplan nicht erraten, so bitte ich um neue Befehle. Sonst handle ich selbständig und das könnte fatal werden. Page 95
Herzliche Grüße! Dein Hänsel Page Break 96
147 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 96
[Otterthal, Mai 1925] L. H.! Page 96
Vielen Dank für beide Pakete. Ich glaube, ich werde am vorletzten d. M nach Wien kommen, da dann 2 freie Tage sind. Den Caesar lese ich ziemlich fleißig. Es geht ziemlich leicht und ist eine gute Erholung nach der scheußlichen Arbeit hier. Die Buschbriefe lese ich mit viel Vergnügen. Ein sehr gutes Geschenk! Ich befinde mich ziemlich übel. Ich glaube kaum, daß ich noch ein Jahr Lehrer sein werde. Aber wer weiß! Page 96
Auf Wiedersehen Dein Wittgenstein Page 96
P.S. Solltest Du zufällig am Verlag Tempsky in der Joh. Straußgasse vorbeikommen, so, bitte, frage in meinem Namen an, was mit dem Probedruck der Wörterbuchseite ist, die ich ihnen vor ca. 100 Jahren geschickt habe. Ich habe den Abzug noch immer nicht bekommen und kann nicht weiterschreiben, ehe ich ihn habe. Dein W. 148 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 96
[Otterthal, vor dem 20. 6. 1925] L. H.! Page 96
Höre!: Gestern war Koder bei mir und forderte mich auf, ihn noch vor Schulschluß zu besuchen. Ich sagte, ich würde am 20. zu ihm kommen. Als er weg war, fiel mir ein, oder kam es mir vor, als hättest Du gesagt, Du würdest zu mir am 20.ten kommen. Ist das nun so, oder nicht; kommst Du am 20ten, oder am 27ten? Bitte laß es mich recht bald wissen, daß ich Koder eventuell absagen kann. Den Hebel habe ich schon bekommen & der Globus wird wohl bald nachkommen. Vielen Dank!! Jetzt bereue ich, nicht die teuere Ausgabe bei Reichmann gekauft zu haben,
denn diese Bongsche giftet mich durch die viechischen Bemerkungen des Herausgebers. Diese Schweine verderben einem das Beste was es gibt. Page 96
In der Ausgabe sind übrigens ausgezeichnete Aufsätze von Hebel, die ich Dir zeigen werde, wenn wir uns sehen; sie werden Dir gefallen. Page 96
Nun wieder einige Bitten. Ende dieses Monats will ich mit einigen Kindern nach Wien fahren. (wie Du ja weißt) Bitte schreibe mir die Besuchszeiten der beiden Hofmuseen & des Tiergartens & Palmenhauses in Schönbrunn. Das Technische Museum werde ich nicht besuchen. Vielen Dank für den Fahrplan der Schiffe. Ich werde eine Tour mit der Bahn & eine mit dem Schiff machen. Ich freue mich auf die Ferien! Dein Wittgenstein Page Break 97
149 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 97
L. H.! Bitte komm, wie wir es ausgemacht haben, am Wiedersehen.
20ten. Ich
[Otterthal, vor dem 20. 6. 1925] habe Koder abgeschrieben. Ich freue mich auf unser Dein Wittgenstein
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P.S. Der Globus ist angekommen. Besten Dank! 150 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 97
Herrn Ludwig Wittgenstein dzt. bei Dr. L Hänsel Wien V. Kriehubergasse 25/13 [Purtschellerhaus, Juli/August 1925 ?] Page 97
Damit Du eine Vorstellung von der Deutschen Heimat kriegst. (Aber freuen tuts mich doch heroben.) Page 97
Herzlichen Gruß! Dein L. H. Page 97
Ergebner Gruß [Kurt?] Ullmann (Ullmann) 151 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 97
[Wien, vor dem 16. 8. 1925] L. H.! Page 97
Ich fahre diesen Sonntag, d. 16 d M., nach England und komme um 17h 10 nach Salzburg. Könnte ich Dich da nicht treffen? Ich habe gewiss eine halbe Stunde Aufenthalt (oder länger) Page 97
Herzlichste Grüße Dein Wittgenstein. Page Break 98
152 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 98
SCHULLEITUNG OTTERTHAL Post: Kirchberg am Wechsel, Bezirk: Neunkirchen, N. Ö. Z. 1./ 1925/p. 19. 9. 1925 Betreff: Besuch in Otterthal L. H.! Page 98
Wann kommst Du? Was ich zu sagen habe, will ich sagen und nicht schreiben, weil beim Schreiben nichts herauskommt. Hoffentlich hast Du in Wien alles in der Ordnung angetroffen und bist selbst in Ordnung. Page 98
Schreib' bald. Dein Wittgenstein 153 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 98
SCHULLEITUNG OTTERTHAL Post: Kirchberg am Wechsel, Bezirk: Neunkirchen, N.Ö Z. 2/1925/p Betreff: Anliegen 23. 9. 1925 L. H.! Page 98
Dies wird ein sehr langer Brief werden, der--wie bei mir gewöhnlich--mit einer Bitte enden wird. Zuerst aber eine lange Einleitung, da Du über den Sachverhalt genau informiert sein mußt: Zu Anfang meiner Italienischen Gefangenschaft--ich glaube in Verona--traf ich mit einem Oberleutnant zusammen der sich mir als Lehrer Sturm aus Dornbach (Hernals) vorstellte und daher meinen Namen kannte. Es war damals allgemeine Geldumwechslerei, Einige hatten kein Geld Einige viel (zum Teil von der Formation) und bei der Gelegenheit lieh mir Sturm 100 Lire. Wir kamen nach wenigen Tagen auseinander und ich vergaß die Angelegenheit. Heuer im Sommer nun erinnerte ich mich ihrer plötzlich durch einen Zufall (ich fuhr an der Hemalser Schule vorbei--wie schon so oft--) War aber nicht einmal ganz sicher, ob ich die 100 Lire mir ausgeliehen oder dem anderen geliehen hatte. Ich suchte im Adressbuch einen Lehrer Sturm und fand ihn. Ich ging gleich hin--er wohnt hinter der Pfarrkirche Dornbach--traf ihn nicht zu Hause an, aber seinen Bruder. Diesem erzählte ich die Geschichte. Er sagte, der Oberlehrer Sturm sei verreist und komme nach den Ferien wieder. Er habe erzählt, daß er in der Gefangenschaft Page Break 99
einen Lt. Wittgenstein kennen gelernt hatte von den 100 Liren aber wußte der Bruder nichts Bestimmtes. Ich bat ihn, er möchte seinem Bruder schreiben, ich sei da gewesen und der Lehrer möchte mir schreiben ob es mit den 100 Liren seine Richtigkeit habe, damit ich meine Schuld begleichen könne. (Meine Adresse gab ich an; Kriehuberg. etc.) Ich hörte nun von der Angelegenheit nichts mehr, bis ich, gestern, einen Brief von Mining erhielt. Sie schreibt, Sturm sei bei ihr gewesen und habe gesagt, er habe die Sache längst als abgetan betrachtet. Wenn ich sie aber wieder aufgreifen wolle, so möge ich das Geld einem Armen geben. Meine Schwester hat sich darauf-hin--wie aus ihrem Brief hervorgeht--sehr ungeschickt benommen. Sie hat gesagt, sie werde es mir schreiben, statt die ganze Sache mit einer Hand voll Geld und ein paar vernünftigen Worten zu erledigen. Sie hat ihm Gelegenheit gegeben, die beleidigte Leberwurst zu spielen statt daß er froh ist, daß er einen Schuldner hat, der nach 7 Jahren noch seine Schuld abtragen will. Durch das Ungeschick meiner Schwester ist die Sache nun für mich sehr schwer geworden. Ich kann mich doch nicht lange entschuldigen, sondern möchte ihn bitten das Geld--wie ein vernünftiger Mensch--anzunehmen. »Es tut mir leid, daß ich meine Schuld so lange vergessen habe ich hoffe aber er wird das Geld auch jetzt noch brauchen können«. Da diese wenigen trockenen Worte aber schriftlich nicht genügen würden (da der Boden seiner Seele nicht bereitet ist, den Samen dieser Worte zu empfangen) so bitte ich Dich den Mann aufzusuchen und ihm das Geld--welches Du gleichzeitig erhältst--mit einer einfachen, vernünftigen und freundlichen Erklärung zu insinnieren. Wie ich erfahre sind 100 Lire jetzt ca 29.1 Schilling wert und wenn man rechnet daß sie seit 1918 gefallen sind so sollen es jedenfalls nicht mehr sein als 60 Schilling, die Dir hiermit zugehen. Verzeih mir diese unverschämte Bitte. Wozu sind die Freunde, wenn man ihre Freundlichkeit nicht ausbeutet. (Aber das ist schon Raubbau) Page 99
Ich freue mich auf Dein Kommen. Page 99
Herzliche Grüße Dein L. W. Page 99
P.S. Erst jetzt fällt mir ein daß Du wohl wegen Geldmangels nicht schon diesen Sonntag (d 27.) kommst. Ich schicke daher gleich 100 Schilling (den Rest für Deine Reise) und bitte Dich, wenn es geht, schon am 26ten zu kommen Dein L. W. Page Break 100
154 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 100
[Otterthal, vor dem 23. 12. 1925] L. H.! Page 100
Durch die Freundlichkeit des H. Oberlehrers Weiß kann ich für Dich einen Christbaum bekommen. Er wird Dir geschickt werden. Besorge Du also keinen. Danke für den Bericht über Prof. Schlick. Es war nichts anderes zu erwarten. Dafür aber habe ich einen neuen Verehrer gefunden. Vor ein paar Tagen schrieb mir ein gewisser Franz Blei Komplimente über mein Buch. Ist das nicht ein obszöner Schriftsteller? Der allerlei Unanständiges für Damen schreibt?--Vor Weihnachten komme ich wohl nicht nach Wien. Page 100
Auf Wiedersehen am 23. Dein L. W. 155 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 100
[Otterthal, vor dem 19. 3. 1926] L. H.! Page 100
Ich komme, wenn nichts Unerwartetes geschieht, Freitag (d. 19.) nach Wien (wir haben Kommunion) & bleibe bis Sonntag. Teils komme ich, weil mich eine sehr traurige Angelegenheit mit dem Geiger nach Wien ruft, teils auch um mich ein wenig auszulüften, da es mir hier nicht gut geht. Page 100
Auf Wiedersehen. Dein Wittgenstein 156 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 100
[Otterthal, vor dem 19. 3. 1926 ?] L. H.! Page 100
Ich komme wahrscheinlich schon am Donnerstag (d.i übermorgen) abends zu Euch, da bei uns am Freitag Communion ist. Beiliegend ein Zeitungsausschnitt. Bitte lies ihn. Page 100
Auf Wiedersehen Dein Wittgenstein Page 100
Ich freue mich Euch wiederzusehen Page Break 101
157 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 101
[Wien, vor dem 19. 3. 1926] Sehr geehrter Herr Professor Page 101
Ich möchte Sie gerne um einen Rat fragen. Sie wissen vermutlich, dass ein Schützling Ludwigs meine Heimstätte besucht, der bei Frau Hofrat Lecher wohnt und in's Realgymnasium (Landerziehungsheim Grinzing) in die zweite Klasse geht. Dieser Knabe hat nun allerlei angestellt und sich sehr merkwürdig benommen. Ich habe es ausführlich an Ludwig geschrieben und er wird wohl zu Ostern mit mir darüber sprechen und irgend eine Entscheidung treffen. Es wäre mir aber sehr viel wert wenn ich mit Jemand, der Erfahrung mit Kindern hat und der ähnlich wie Ludwig denkt, schon jetzt über den Fall reden könnte, um mir selbst darüber klar zu werden. Da wir Beide am Tag wenig Zeit haben, möchte ich Sie fragen, ob Sie nicht zu uns zum Abendessen kommen wollten, z.B. heute Abend, oder, wenn Ihnen das lieber ist, am Montag? Wir essen um 8 Uhr und können nachher in aller Ruhe den Fall besprechen. Ich bin überzeugt dass mir das sehr viel helfen würde. Wenn der Bote Sie nicht zu Hause trifft können Sie mir vielleicht eine telefonische Nachricht geben, oder eigentlich ist gar keine Nachricht nötig sondern wenn Sie kommen werden wir uns sehr freuen. Page 101
Mit freundlichen Grüssen Page 101
Ihre sehr ergebene Hermine Wittgenstein 158 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 101
[Wien, vor dem 19. 3. 1926] Sehr geehrter Herr Professor Page 101
Zu meinem grössten Schrecken bin ich draufgekommen dass ich Ihnen das Monatsgeld für März nicht geschickt habe! so bin ich, an zehn Sachen denke ich und die elfte, wichtigste entfällt mir, aber da ist nichts zu machen, ich werde schon so in's Grab gehen! Verzeihen Sie mir! Ich danke Ihnen noch vielmals für Ihre Freundlichkeit mit der Sie meinen Jammer über Ludwig's Schützling angehört haben, was da noch werden wird weiss ich nicht. Die Hofrätin Lecher ist so aufgebracht über ihn und mag ihn so gar nicht, dass es bestimmt der schlechteste Ort für ihn ist, selbst wenn er in seiner Gemütskälte es gar nicht merkt (da sie sich ja selbstverständlich nicht gehen lässt und er feine Nuancen in der Behandlung nicht empfindet). Page 101
Mit freundlichen Grüssen bin ich sehr geehrter Herr Professor Page 101
Ihre sehr ergebene Hermine Wittgenstein Page Break 102
159 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 102
[Wien, 8.-12. IV 1926] Sehr geehrter Herr Professor Page 102
Ich danke Ihnen herzlich für Ihren Brief und Ihre Bemühungen betreffs der Erziehungsanstalt. Inzwischen ist meine Schwester Stonborough zurückgekehrt und diese hat eine Idee wo der Bub, wenn es Ludwig recht wäre, privat untergebracht werden könnte; ich muss auch sagen mir selbst würde es ungemein mehr zusagen ihn bei netten bekannten Leuten zu wissen, (wo er hinpasst, nicht bei Frau Hofr. Lecher, so sehr ich sie verehre) als in der Bundeserziehungsanstalt. Ja, wüssten Sie eine Anstalt zu der Sie selbst Vertrauen haben dann würde ich natürlich anders denken, aber Sie haben ja selbst gesagt dass Sie keine wissen Page 102
Soweit hatte ich den Brief schon geschrieben da sagte mir gestern meine Schwester dass Ludwig in Ottertal schwere Kämpfe hatte und von dort fortgeht--oder überhaupt den Beruf aufgibt? das habe ich in der Eile nicht
verstanden. Sehr gerne würde ich mit Ihnen darüber sprechen, ich weiss nicht ob sie einmal am Abend Zeit haben eventuell morgen oder übermorgen zum Abendessen kommen wollen? Ich möchte doch so gerne wissen was Ludwig vorhat und wie er die Sache nimmt? Der Arme hat ein schweres Leben zur Aufgabe bekommen. Page 102
Es grüsst Sie freundlichst sehr geehrter Herr Professor Hermine Wittgenstein 160 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 102
TEL. U 49-102 WIEN, [April 1926] IV. Argentinierstraße 16 Sehr geehrter Herr Professor Page 102
Erstens ist dies etwas Butter von der Hochreit! Zweitens brauche ich den Schmalztopf um ihn für Sie zu füllen! Page 102
Drittens bin ich nicht sicher ob ich heute das Kastel schicken kann, denn es spiesst sich allerlei! Page 102
Viertens und das ist das Wichtigste, habe ich heute mit meinem Bruder über Geiger und seine eventuelle Unterbringung bei andern Leuten gesprochen und er ist wie ich der Meinung, dass man da sehr vorsichtig sein muss und das moralische Kaliber der Leute sehr genau kennen muss. Wenn Sie einmal Jemand wüssten der den Buben aufnähme, dann wäre es eine gute Sache. Vielleicht kennen Sie Jemand oder es fällt Ihnen nach und nach ein Rat ein! Ich wäre sehr froh darüber denn ich sehe ja ein dass es mehr und mehr für Geiger zur Qual wird. Page 102
Mit den freundlichsten Grüssen Page 102
Ihre eilige Hermine Wittgenstein Page Break 103
161 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 103
[Gmunden] 26. 8. 26. L. W. Page 103
Danke für Deinen Brief. Ich habe ihn hierher, nach Gmunden, nachgeschickt bekommen.--Herr Engelmann wird Dir meine Grüße ausgerichtet haben. Schade, daß er nur so kurz da war. Er sagt, daß es mit der Arbeit am Haus gut gehe, was mich sehr freut. Aber wenn es möglich ist (wegen der Arbeit oder wegen Arvid), komm doch einmal noch her, vor oder nach dem 10. September.--Langsam mahlen die Gerichte. Ich habe schon gedacht, sie hätten die Sache einschlafen lassen.--Übrigens nein: nach dem 10. Sept. bin ich nicht mehr hier. Ich meine, am 13. muß ich schon wieder in Wien sein. Muß aber vorher noch meine Leute von Salzburg holen. Alles Gute! Herzlich Dein L. H. 162 PAUL WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 103
WIEN, IV. ARGENTINIERSTRASSE 16. 26. Dezember 1926. Sehr verehrter Herr Professor! Page 103
Haben Sie vielen herzlichen Dank für Ihr freundliches Weihnachtsgeschenk. In der Hetze der letzten Tage bin ich, wie ich offen gestehe, noch nicht dazu gekommen, in dem Buche zu lesen; kann daher zunächst nur für Ihre gütige Absicht danken, die mich umso mehr beschämt, als wir ohnehin dauernd in Ihrer Schuld stehen: durch das Heim, welches mein Bruder bei Ihnen gefunden hat. Page 103
In aufrichtiger Hochschätzung Page 103
Ihr ergebener Paul Wittgenstein. Page Break 104
163 JOHN STONBOROUGH AN HÄNSEL Page 104
ZALEM 2. III. 27 Lieber Dr. Hänsel Page 104
A´ch schon náh ist die Stúnde wo heimw´ärts ich kehren sóll Page 104
U'nd weil la´ng schon ich schríeb nicht, was de´nken sie ´v. mir wóll Page 104
Dóch es géht mir nun gút da der 16. i´st nicht wéit. Page 104
Ja lieber Herr Dr. das sind Hexameter wenn sie es auch nicht glauben skandieren sie nur. Page 104
Sie sehen ich habe einen Rappel von Hexameter und ich rede die ganze Zeit mit ein Paar andern nur mehr so klingt fein. Also am 16. Und ich hóf' bei den Göttern daß báld ich sie séhen wér (Schon wieder) Es ist bei den Göttern so beschlossen ich weiß es. Und ich weiß daß sie v. Salzburg einen Abstecher machen werden. Ich entwickele mich hier zum Sportsman. Binnen 2 Wochen 2 Strafboxkämpfe wegen meiner spitzen Zunge. Eine Runde habe ich im Tennistournier schon gemacht und für die II. hoffe ich. Ich habe meine 2 Zehe gesprungen oder gebrochen e.t.z. Sonst sind es nur noch 15 Tage das ist gspuckt Ich bin heute sau müde bin gestern um 10h ins Bett u heute um 5h auf. Was macht Jochelchen. Werden sie sich einen Wulli. jr. nehmen. Alles dies interessiert mich höchstlich aber es wäre mir lieber daß sie mir daß in Gmunden vorm Haus erzählen (soweit es möglich ist) anstatt auf grauem Papier. Page 104
Doch nun aufwiedersehen Page 104
Ihr Freund Ji 164 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 104
TEL. 59102 WIEN, 26 März [1927] IV. Argentinierstraße 16 Lieber Herr Professor Page 104
Natürlich führe ich mit Freude Ihre beiden Mädchen zur Firmung. Sie müssen mir dann nur den Tag bestimmen aber bis dahin haben wir ja noch lange Zeit. Page 104
Es hofft Sie bald einmal zu sehen Page 104
Ihre sehr ergebene Hermine Wittgenstein Page Break 105
165 JOHN STONBOROUGH AN HÄNSEL Page 105
[Salem] 11. V 27. Lieber Lieber
Dr Hänsl Page 105
wie wohl mir ihr Brief tat kann ich gar nicht sagen. Ihre lieben Zeilen waren rührend. Es ist mir wirklich höchst unangenehm hier zu sein und ich wünsche die Zeit wäre vorüber. Sie ist eine harte grausame Prüfungszeit. Lernen tut man hier gar nichts es ist schauderhaft. Page 105
Bitte schreiben sie mir bald wieder und erfahren sie wie es mir geht u. was ich tue von der Mama Page 105
Vorallem aber vergessen sie mich nicht u ich hoffe daß wir uns bald sehen Page 105
Ihr undankbarer Schüler Ji 166 JOHN STONBOROUGH AN HÄNSEL Page 105
[Salem] 30. V 27. Lieber Dr Hänsel Page 105
Nun will ich ihnen einmal ausführlich über das Leben hier schreiben. I. Hahn = Ehemaliger Politiker rechte Hand des Kanzlers Max v. Baden Guter Menschenkenner! (für die Leute hier) Er hat die Gabe Menschen auf den I Blick zu agnostizieren. Er kennt mich in meinen äußeren Umrissen aber mein wirkliches Inneres glaube ich nicht. Lehrt recht gut stellt hohe Anforderungen ist ein bischen zu viel auf sportliche Energie verseßen daher die Liebe zum Preußen. Ist Jude Sehr reich hat positiv 18 paar Schuhe einige [Häuser] etwas spleenig wie ich es gerne habe. Telephoniert jeden Tag London--Berlin fliegt mit Passion redet Telegrammstil und ist mir als Mensch im Verkehr nicht sehr sympathisch. Alle Achtung aber vor seinem Wissen und Können Hier wird nur auf Ehrlichkeit gesehen man könnte wenn man wollte unerhört sich um alles drücken. Lernen tut man nur in Ober-Prima etwas. Man lernt hier für's tägliche Leben allerlei interessantes aber für unsere Mittelalterliche Wiener Matura nicht genug. Man maturiert in Konstanz (Sagt alles) Koedukation halte ich für sehr gut I fällt weg u. kennt man hier nicht das ordinäre »Schweindeln« der IV u V Kl. in Wien. Nicht einmal unsre Haussprache mit ihren verschiedenen A, O, Sch Lauten kennt man hier. Page 105
Und trozdem bin ich höchst ungern hier wenn ich auch kein direktes Heimweh habe. Noch 1 1/2 Monate dann Erlösung und ein Pascha-Leben was ich würdigen Page Break 106
werde und ich werde entwöhnt sein Wann werden wir sie in Gmunden sehen! Page 106
wir haben eine Köchin vor der man auf den Knien rutschen muß. Page 106
Kameraden habe ich langsam Page 106
denn man kann ganz richtig wie sie sagen sich auf sie verlaßen. Kalt aber hart Nur Bravo für ihre Arbeit Page 106
Hrätzky Page 106
Es grüßt sie herzlich ihr Ji Page 106
Sagen sie Jochen bitte daß ich ihm erst schreiben werde wenn ich was zu sagen habe. Page 106
Wir spielten heute Schlagball u Indianer u Trapper für die ganze Schule Page 106
Tante Minig war rührend
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Ihre Briefe waren das Richtige denn wenn das Heimweh in Selbstmitleid übergeht dann gibt es nur das eine »Eine Watschen rechts u. Links« Page 106
Bitte zeigen sie den Brief Mama denn ich schrieb viel was sie interessieren wird (Hahn) Ji 167 HERMINE WITTGENSTEIN AN ANNA HÄNSEL Page 106
TEL. 59102 WIEN, [Mai/Juni 1927] IV. Argentinierstraße 16 Liebe Frau Professor Page 106
Ich habe plötzlich die Angst bekommen ob ich nur gestern in der Eile Samstag d. 11. als Firmtag angegeben habe, ich meine nämlich diesen Tag den 11., an einem andern Tag könnte ich nicht. Bitte schreiben Sie mir nur ganz aufrichtig, was Sie (denken) sich für die Kinder als die grösste Freude denken, ich ginge auch ganz gern mit ihnen in's Theater, nur kann man heute noch nicht wissen welche Stücke an diesem Tag gegeben werden. Page 106
Mit freundlichen Grüssen liebe Frau Professor Hermine Wittgenstein Page Break 107
168 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 107
TEL. 59102 WIEN, [vor dem 11. 6. 1927] IV. Argentinierstr. 16 Sehr geehrter Herr Professor Page 107
Selbstverständlich freue ich mich nur über Ihre Anregungen (sonst hätte ich ja nicht gefragt) und es bleibt also bei folgendem Arrangement. Ich hole die Mäderln um 1/2 1 Uhr ab, dann bringen Sie mir den Hermann und zwar schlage ich als Rendez-vous-Ort das Spielwarengeschäft Mühlhauser Kärtnerstrasse 28 vor. Es hat einen gedeckten Gang wo man ruhig warten kann, denn ich weiss ja nicht genau wann wir aus der Kirche kommen werden, ich denke mir halb drei Uhr, und am Ende regnet es gar! Dann fahre ich mit den Kindern in den Prater, bringe Hermann rechtzeitig nach Hause und hole Sie und Ihre Frau in die Oper ab. Es wird der Maskenball von Verdi gegeben und wenn ich auch nicht gerade dieses Stück ausgesucht hätte, so ist es doch das Einzige das an diesem Abend halbwegs passend ist und die Oper allein schon wird die Mädchen entzücken. Wann die Oper anfängt, kann ich aus der Zeitung noch nicht ersehen, ich vermute 7 Uhr sollte das nicht der Fall sein so würde ich es rechtzeitig mitteilen Page 107
Mit freundlichen Grüssen Hermine Wittgenstein 169 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 107
TEL. 59102 WIEN, [Frühjahr 1927 ?] IV. Argentinierstraße 16 Sehr geehrter Herr Professor Page 107
Ludwig und ich bitten Sie herzlich heute Abend (8 Uhr) zu uns zum Abendessen zu kommen. Ludwig sagt er hat viel mit Ihnen zu reden und da wir doch auch was von ihm haben wollen schlagen wir vor er soll bei uns mit Ihnen reden. Hoffentlich passt es Ihnen auch. Page 107
Mit freundlichen Grüssen Hermine Wittgenstein Page Break 108
170 CLARA WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 108
Laxenburg bei Wien. 17. 6. 27. Hochgeehrter Herr Doctor, Page 108
wäre es Ihnen möglich Sonntag (19/6. 27) mit Ihrer lieben Frau u. den lieben Kindern zu mir nach Laxenburg zu kommen? Page 108
Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie Alle bei mir speisen wollten u. mit d. Zug 12 Uhr ab Südbahn kommen würden. Bitte, dem Boten freundlichst eine Zeile mitzugeben, oder wenn er Sie nicht antrifft wäre ich sehr dankbar pr. Telephone, Laxenburg 3, heute Antwort zu erhalten. Page 108
Und entschuldigen Sie hochgeehrter Herr Doctor noch eine Bitte: wenn Ludwig W. nicht bei Ihnen ist, meine beif. Einladung für Sonntg. an ihn, ihm zukommen zu lassen. Page 108
Ihre sehr ergebene Clara Wittgenstein 171 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 108
[Hochreit, Anfang September 1927 ?] Sehr geehrter Herr Professor Page 108
Ich danke Ihnen herzlichst für die Karten die mich sehr interessiert haben. Ich bleibe noch bis Mitte September auf der Hochreit und wenn ich zurückkomme werde ich Sie bitten zu uns nach Neuwaldegg zu kommen da ich ausserordentlich gerne das Nähere über Ihre Reise und Ihren Aufenthalt im Kloster hören möchte. Hoffentlich geht es Ihnen und Ihrer Familie gut. Ludwig war heuer viel auf der Hochreit, er ist sehr heiter u aufgeräumt sieht nur leider sehr schlecht aus. Es scheint aber mit seiner Arbeit gut zu gehen das ist eine Hauptsache! Es grüsst sehr freundlich Hermine Wittgenstein Page Break 109
172 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 109
Dr. L Hänsel, Gisham, Post Gnigl Salzburg Herrn Ludwig Wittgenstein p. A. Dr. L Hänsel Wien V. Kriehubergasse 25/13 Gisham, 8. 9. 27 L. W. Page 109
Wir haben folgendes vor: Page 109
Sonntag (11. September) fahren wir nach Graz--hoffentlich ist alles gesund bis dorthin, wir sind jetzt nämlich gelegen außer meiner Frau und Hermann--und kommen in Wien am Mittwoch den 14. mit dem P. Z. um cc 1/2 3h nachmittag am Süd Bahnhof an. Vorher werden schon von hier aus ein paar Pakete und das schwarze Militärkofferl
nach Wien kommen, damit wir für Graz nicht überflüssig belastet sind. Sei so gut, nimm sie in Empfang! Page 109
Wenn Du Koder oder Drobil siehst, grüße sie von mir.--Ich bin sehr neugierig, wie das Haus in der Parkstraße jetzt aussieht.- Herzliche Grüße, auch von meiner Frau und den Kindern Dein L. H. 173 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 109
[Wien, Herbst 1927] Sehr geehrter Herr Professor Page 109
Ich schicke Ihnen hier den Ernst Geiger mit der herzlichen Bitte, dass Sie entweder selbst die Nachhilfe in Mathematik und Physik IV Classe Gymnasium bei ihm übernehmen, wenn Ihnen das möglich ist, oder dass Sie mir jemand nennen, der das übernehmen würde. Der Leiter des Jugendgefangenenhauses, der sich des Buben sehr annimmt, war erst der Meinung man solle ihn am Anfang des Schuljahrs nicht gleich eine Nachhilfe geben und ich wusste auch nicht wie schlecht er in diesen Gegenständen stehe, habe es erst bei der grossen Schulnachfrage erfahren. Nun sind wieder etliche Tage dadurch versäumt worden, weil der frühere Nachhelfer nicht sofort erklärte heuer das Amt nicht übernehmen zu können und die Sache wird immer dringender. Wenn Sie selbst es täten wäre für den Buben der enorme Vortheil dabei, dass er in eine so gute Hand käme und für mich der dass ich von Ihnen Page Break 110
erfahren würde wie Sie über ihn denken wenn Sie öfters mit ihm zu tun haben. Aber Sie würden mir ja hoffentlich auch einen guten Menschen als Hänsel-Ersatz empfehlen können? Page 110
Mit herzlichem Dank im Voraus u. der Bitte mich Ihre Entscheidung wissen zu lassen Page 110
Ihre sehr ergebene Hermine Wittgenstein Page 110
Samstag ist schon wieder math. Schularbeit! 174 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 110
[Wien, vor Weihnachten 1927 ?] Sehr geehrter Herr Professor Page 110
Es wird Ihnen noch ziemlich früh vor Weihnachten vorkommen, aber mir scheint die Sache schon bedenklich nahe zu rücken und ich suche mir krampfhaft alle Wünsche zusammen. Bitte lassen Sie mich auch ehestens wissen was Ihre Kinder gerne hätten! Page 110
Für Ihren eben erhaltenen Brief danke ich Ihnen herzlich, ich bin so froh dass Sie dem Geiger doch irgendwie beikommen können; für mich ist er eine Wand ohne Türe und nie vorher ist mir so klar geworden, dass ein Schützlingsverhältnis nicht gedeihlich wird, wenn es nicht natürlich erwächst, sondern--wie in diesem Fall,--durch einen Dritten Einem aufoctroyiert wurde. Aber die Sache ist nun einmal von meinem Bruder Ludwig in diese Richtung gebracht und ich muss sehen, dass sie anständig zu Ende kommt, so gut ich's eben kann! Ich gäbe viel darum, könnte ich in den Geiger hineinsehen, was er sich über mich denkt vielleicht gäbe es mir einen Anhaltspunkt worin ich gefehlt habe und wie ich mich zu benehmen hätte. Page 110
Mit freundlichen Grüssen sehr geehrter Herr Professor Hermine Wittgenstein 175 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 110
[Wien, 1927/28 ?] L. H.! Page 110
Meine Schwester Gretl bittet Dich heute um 1 Uhr bei ihr zu essen, wenn du kannst. Sollte es unmöglich sein, so möchtest Du wenigstens zur Musikprobe um 2h (oder später) kommen. Wenn Post für mich bei Dir ist, so schicke sie, bitte, mit dem Überbringer her. Dein L. Wittgenstein Page Break 111
176 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 111
[Wien, 1927/28 ?] L. H.! Page 111
Morgen, Samstag, um 4h 30 nachmittag spielt das Fräulein Baumayer bei mir auf dem Bau. Ich will daß sie dem Haus etwas vorspielt. Zuhören wird der Bau, der Baumeister & ich, und ich möchte daß auch Du dabei bist. Wenn es Dir irgend möglich ist so bitte komm. Vorausgesetzt nur, daß es Dir Freude macht. Wenn Du Dich eine halbe Stunde verspätest ist es kein großes Unglück. Mach Dir frei & wenn Du pünktlich bist, umso besser! Dein L. W. 177 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 111
[Wien, 1927/28 ?] Lieber H. Page 111
Daß ich mit Dir fühle, soweit ich mir Deine Gefühle denken kann, weißt Du. Alles übrige wenn wir uns sehen. Kannst Du Sonntag vormittag zu mir kommen? Dein Wittgenstein 178 MARGARETE STONBOROUGH AN HÄNSEL Page 111
[Wien, 1927/28 ?] Lieber Dr. Hänsel. Page 111
Es tut mir von ganzem Herzen leid, dass Sie traurige Zeiten haben & ich denke oft an Sie & wünschte ich könnte mehr tun als das. Page 111
Es grüßt Sie herzlich Ihre Page 111
sehr ergebene Gretl Stonborough Page Break 112
179 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 112
[Wien, Herbst 1928] Sehr geehrter Herr Professor Page 112
Ich habe gestern mit meinem Bruder Ludwig über Geiger Ernstl gesprochen und er ist sehr dafür, dass Geiger gleich seinen Nachhilfeunterricht bei Ihnen bekommt. Ich dachte erst, man müsse dem Buben Gelegenheit geben sich ein wenig selbst durchzuwursteln, aber Ludwig ist überzeugt, dass es für seinen Charakter von Wichtigkeit ist, wenn Sie mit ihm zu tun haben und da wird er wohl recht haben. Ich werde Ihnen den Buben schicken und bitte Sie mit ihm auszumachen, ob sie ihm Stunden geben wollen, wann und wie. Die Zahl denke ich mir wie im vorigen Jahr, wenn Sie nichts anderes vorschlagen. Page 112
Ich hoffe Sie haben sich mitsammt Ihrer Familie gut erholt in diesem schönen Sommer! wenn ich erst einmal
ein bisschen eingewerkelt bin, werde ich Sie bitten einen Abend bei uns zu verbringen, was ich mir schon sehr wünsche. Page 112
Mit freundlichsten Grüssen an Sie sehr geehrter Herr Professor u. die Ihren Hermine Wittgenstein. 180 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 112
WIEN, IV. ARGENTINIERSTRASSE 16. [Herbst 1928 ?] Sehr geehrter Herr Professor Page 112
Ich habe das Gefühl dass unsere ganze Verrechnung ein bisschen in Unordnung geraten ist, und ich möchte sie in folgender Weise in Ordnung bringen: 200 S möchte ich als Geschenk für die Kinder lassen, solange sie noch lernen, also als eine Art Erziehungsbeitrag, die Stunden des Geiger aber möchte ich anders behandeln und Sie bitten für diese direct ein Honorar zu verlangen! Geiger soll mir am Ende des Monats immer angeben wieviel Stunden es waren und das kann dann sehr gut durch die Kanzlei erledigt werden. Ich denke das wird Ihnen gewiss recht sein? Wie macht sich denn Geiger jetzt? Er schien mir neulich ziemlich gesprächiger, doch kommt dann etwas merkwürdiges zum Vorschein, er spricht so von oben herab von den Professoren, hat überhaupt so eine Spur von Suffisance in seinem Wesen! finden Sie das nicht auch†*? Ich wäre Ihnen sehr dankbar wenn Sie mich wissen liessen was er Ihnen jetzt für einen Eindruck macht und auch in welcher Richtung Sie auf ihn einwirken. Mir fällt immer alles erst nachher auf, wenn die Menschen längst fortgegangen sind höre ich sie erst sprechen! Übrigens war mir sehr leid dass ich nichts von Ihrem Radio-Vortrag wusste, erst gestern erzählte mir meine Cousine Pauli mit grossem Interesse davon! Sprechen Sie vielleicht noch einmal? Page Break 113 Page 113
Es grüsst Sie freundlichst sehr geehrter Herr Professor Page 113
Ihre sehr ergebene Hermine Wittgenstein 181 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 113
[Cambridge, nach dem 18. 1. 1929] L. H.! Page 113
Du wirst wohl von meiner Schwester Gretl erfahren haben daß ich in Cambridge bleibe. Ich habe vorläufig viel Schererei weil ich noch keine passende & billige Wohnung gefunden habe. Die Menschen sind sehr nett mit mir & das tut mir wohl. Mein Gehirn ist recht blöd, hoffentlich bessert es sich bald. Schreib' wie es Euch allen geht! Bitte teile auch dem Drobil das Wissenswerte über meine werte Person mit & grüße Ihn bestens. Er ist mich jetzt bis etwa zum 20ten März los. Dann komme ich bis ca 14ten April nach Wien. Page 113
Meine Adresse ist vorläufig bis auf weiteres L. W. c/o J. M. Keynes Esq. King's College Cambridge England Page 113
Wenn ich mehr weiß werde ich mehr schreiben. Grüße die Kinder & Deine Frau. Dein Wittgenstein Page 113
vom Pfarrer Neururer habe ich heute einen Brief auf Umwegen bekommen. Er läßt Dich grüßen. 182 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 113
[Wien, Februar 1929] Sehr geehrter Herr Professor Page 113
Ich danke Ihnen sehr für Ihren freundlichen Brief, den ich zur Abwechslung wieder einmal im Bett liegend beantworte; eine Grippe mit Bronchialkatarrh haben mich wieder erwischt, sie tun mir zwar gar nicht weh, hindern mich aber höchst ungeschickt an allen meinen Tätigkeiten. Mit Geiger's Zeugnis war ich zufrieden, ich verlange ja nur dass er durchkommt, eine Studierbegabung hat er ja auf keinem Gebiet. Page Break 114
Aber er war so aufreizend maulfaul als ich bei ihm und seinem Vater war, er sprach so leise†* ja einmal hatte er auf meine Frage nur ein verneinendes Kopfschütteln zur Antwort, dass ich ihm doch einen Krach schlug und ihm sagte, er solle sich doch nicht so als Patsch hinstellen, wer könnte denn je dran denken ihn anzustellen wenn er nicht einmal eine normale Antwort gebe! Als ich dann nach Hause kam, tat er mir wieder leid und seine ganze Art schien mir so unnormal, dass ich mir dachte, man müsste wohl eher einen Arzt seinetwegen befragen, Er hat doch gar nicht den Habitus eines 16jährigen! Was macht er denn für einen Eindruck in den Nachhilfestunden? Sie haben ja auch mehr mit Knaben seines Alters zu tun, unterscheidet er sich von diesen? Ich wäre Ihnen sehr dankbar lieber Herr Professor, wenn Sie mir darüber schreiben würden. Page 114
Dass Ihre Kinder brav lernen, besonders dieser kleine ordentliche Hermann, sieht man ihnen an: ja man muss nur wünschen, dass sie nicht so brav sind als sie ausschauen, es wäre beängstigend! Sie werden sagen, gottlob es ist nicht so beängstigend! Page 114
Nun noch etwas wichtiges, ich weiss nicht ob Sie einen Fettopf haben, es kann da ein Missverständnis entstanden sein im Herbst. Sollte der Ihrige verschickt worden sein, was mir leid täte, so bitte es gleich zu schreiben, bei uns steht schon ein Neuer für Sie. Page 114
Mit freundlichen Grüssen, sehr geehrter Herr Professor Hermine Wittgenstein 183 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 114
[Cambridge, vor dem 20. 3. 1929] Montag Lieber Hänsel! Page 114
Verzeih, daß ich Dir erst jetzt auf Deinen Brief antworte & auch jetzt nichts Gescheites.--Ich kann nur sagen, daß ich Dir sehr, sehr dankbar bin für das, was Du für Geiger tust. Grüß ihn von mir, bitte. Es ist schön, daß die Bücher dem Mareile gepaßt haben. Freilich waren sie wohl etwas zu elementar für sie. Aber für den Anfang sind sie glaube ich wunderbar. Und die Idee dieser vereinfachten Sprache ist eine ausgezeichnete. Ich lasse der 1. Mareile für Ihre Zeilen danken & Alle herzlichst grüßen. Ich komme um den 20ten nach Wien. Ich freue mich Dich wiederzusehen & Euch alle. Dein L. Wittgenstein Page 114
Bitte grüße Drobil. Page Break 115
184 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 115
[Cambridge, nach dem 14. 4. 1929 ?] Lieber Hänsel! Page 115
Dank Dir für das Buch! Auch für die guten Stunden mit Dir! Page 115
Laß einmal etwas von Dir hören. Meine Adresse ist für die nächste Zeit: (1 1/2 Monate) Trinity College. Dein
Ludwig Wittgenstein 185 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 115
[Cambridge, Frühjahr/Sommer 1929 ?] Lieber Hänsel! Page 115
Pierre Larousse Dictionaire universel du XIXme siècle sagt im Artikel ›Pendaison‹: (u.a.): Page 115
»La mort par pendaison peut avoir lieu quelle que soit la position du corps. Elle survient par asphyxie, par congestion ou par compression et lésion da la moelle épinière, après la luxation des premières vertèbres cervicales« Page 115
Herzlichste Grüße Dein genauer Ludwig Wittgenstein 186 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 115
[Cambridge, vordem 15. 7. 1929] L. H.! Page 115
Ich werde am 16. oder 17. Juli England verlassen & über Paris & die Schweiz nach Wien fahren. Alles was halbwegs auf meiner Route liegt ist mir als Treffpunkt recht & ich bin so dumm & unpraktisch daß es am besten sein wird Du bestimmst. Wenn wir uns ein-zwei Tage sehen wollen so müßte es an einem nicht zu teuren Ort sein da ich etwas sparen muß. Bitte schreibe mir einen Vorschlag. Dein Wittgenstein Page Break 116
187 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 116
Frostlake Cottage Malting Lane Cambridge [vor dem 15. 7. 1929] L. H.! Page 116
Am besten wäre es Du würdest mich in Calais treffen und zwar komme ich mit dem Schiff von Dover das um 14h 30 Uhr eintrifft & bitte Dich mich bei der Landungsstelle zu erwarten. Nun aber der Tag: Ich möchte schon am 15ten nach Calais kommen. Ist es Dir möglich dann schon hinzukommen? Wenn ja, so telegraphiere mir gleich, daß, ja; und wenn nicht, so telegraphiere das frühest mögliche Datum. Ich werde mich dann danach richten. D.h., z.B., wenn Du telegra[p]hierst »komme am 16ten« so werde ich am 16ten kommen. Grüße Deine Familie bestens! Page 116
Auf Wiedersehen Dein Wittgenstein 188 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 116
Hochreit Post Hohenberg N. Ö. Samstag [vor dem 29. 8. 1929 ?] Lieber Hänsel! Page 116
Danke für Eure liebe Karte. Ich fahre in den letzten Tagen August nach England zurück & könnte es so einrichten daß ich am 29ten August zu Euch nach Pabenschwand käme & bis zum 30ten oder 31ten bliebe. Laß mich,
bitte, gleich durch eine Zeile wissen, ob Euch das recht wäre, da ich Verschiedenes danach einzurichten habe. Page 116
Seid herzlichst gegrüßt. Dein L. W. Page Break 117
189 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 117
[Cambridge, nach dem 23. 11. 1929] L. H.! Page 117
Dank' Dir für Deinen Brief. Ich stimme nicht mit Dir überein, das weißt Du. Und ich will kurz sagen, warum nicht. Ich halte beide Parteien für unanständig. Die rote scheint mir nur insofern weniger schlimm, als ihre Unanständigkeit eine zeitgemäße, die der anderen sogar noch eine retrograde ist. D.h. ich würde beiläufig sagen die grünen & schwarzen sind noch nicht einmal so weit. Weiter: Alle diese Parteien sind religionslos aber die größte Gefahr für die Religiosität scheint mir bei der grünen Partei zu liegen, in ungefähr demselben Sinne, in dem das Laue von dem Warmen entfernter ist als das Kalte, obwohl das paradox klingt; aber Du weißt auch woher es stammt. Die offene Feindschaft gegen die Religion scheint mir hoffnungsvoller, als die andere schweinische Gesinnung, die mit der Religion & mit Gott auf Du & Du ist & sie zu sich herabzieht. Ich bin nicht dumm genug zu glauben, daß in der roten Partei ein »edler atheismus« herrscht, sondern auch da ist alles verkappt & falsch, aber um ein Geringes schlechter verkappt & daher der Seele weniger gefährlich, als eine Gesinnung, die es zustande bringt mit den höchsten Idealen scheinbar auf gutem Fuße zu stehen. Es wäre eine lange Sache zu erklären, warum das Parteiwesen in anderen Ländern, z.B. in England, immerhin noch nicht jedes anständigen Menschen unwürdig ist; aber in unserer speziellen Lage glaube ich, daß alle Parteien hoffnungslos sind & die einzige äußerst schwache Hoffnung auf den Wenigen ruht, die nicht glauben, daß durch die Unterstützung einer unanständigen Sache doch etwas Gutes entstehen kann. D.h., ich glaube, daß es in diesem Falle nicht richtig ist, zwischen zwei Übeln zu wählen sondern beide gleichermaßen zurückzuweisen, da aller Jammer hier gerade dadurch entsteht, daß Keiner Charakter genug besitzt um radikal die Forderung der Anständigkeit zu betonen & nicht letzten Endes doch zu packeln. Wo die Lage so zugespitzt ist, wie bei uns, da ist eben auch ein größerer Ernst der Entscheidung nötig als anderswo. Es ist genau so wie im Leben des Einzelnen, der auch in minder ernsten Lagen sich in seinen Entscheidungen mehr oder weniger nach dem Herkommen richten kann, tritt aber der außergewöhnliche Fall ein, eine unbürgerliche Entscheidung treffen muß.--Hat ein Staat--wie der unsere--seinen kulturellen (weltlichen, bürgerlichen) Sinn verloren, dann ruht seine einzige Hoffnung--glaube ich--in denen, die den Ernst dieser Lage erkennen & nun eine höhere Macht zur Entscheidung anrufen, wo die weltliche /bürgerliche/ Macht (sozusagen der Magistrat) ihr göttliches Recht verloren hat. So sehe ich die Sache. Je größer der Schatz ist desto besser muß man ihn hüten & je höher das Ideal ist desto wählerischer muß man, glaube ich, in den Mitteln sein, es hoch zu halten. Wenn Du glaubst, Dein Ideal in alten Fetzen einwickeln zu müssen, daß ihm nichts geschieht, dann gib acht, daß es sich nicht am Ende verflüchtigt & Du nur einen Sack alter Fetzen in der Hand behälst. Aber für Dich fürchte ich das nicht du wirst es nicht sich verflüchtigen lassen, aber denen du das Packet überreichst, an die mußt Du denken daß sie nicht die Embalage für Page Break 118
das Ideal halten. Es ließe sich darüber noch viel sagen, aber ich kann jetzt nicht mehr. Page 118
Auf Wiedersehen! Grüße Deine Frau & die Kinder von mir. Dein Wittgenstein 190 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 118
[Wien, vor Weihnachten 1929 ?] Sehr geehrter Herr Director Page 118
Meine Schwester Stonborough hat mir gerade über Geiger telefoniert, sie zieht ihn nämlich zu ihren Schützlingsfällen zu u. lobt ihn ausserordentlich wie er mit offenbarem Talent u. Liebe dabei zu Werk geht. Ich dachte ich wollte Ihnen das schreiben, denn Geiger ist bestimmt nicht mit jedem Schlüssel zu öffnen, ja manche
Schlüssel werden ihn ganz zusperren (der meinige z.B.) andere sperren vielleicht den guten Teil seines Wesens zu, auch wenn diese Schlüssel sonst gut functionieren. Ich meinte damit dass Sie vielleicht einmal versuchen ihn von einer andern Seite anzupacken, da Sie selbst sagen dass Sie in eine ironische Art verfallen und so seine skeptische und ironische Anlage reizen, die gewiss nicht das Beste an ihm ist. Er hat offenbar gute Seiten die er aber ganz verschliesst u. die wohl auch nie systematisch geweckt worden sind. Es würde mich riesig interessieren ob Sie auch meiner Meinung sind dass es bei Geiger noch mehr als bei Andern drauf ankommt wie man sie anpackt. Page 118
Mit freundlichen Grüssen sehr geehrter Herr Director Hermine Wittgenstein Page 118
Ich schicke das Weihnachtsgeld mit! 191 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 118
[Wien] Samstag d. 14. [12. 1929] Sehr geehrter Herr Director Page 118
Ich danke Ihnen herzlich für Ihren heute erhaltenen Brief, ich bin überzeugt die Sache ist richtig geordnet und gewiss haben Sie keine Ursache sich zu entschuldigen. Ich bin leider sehr oft confus, zur Weihnachtszeit aber geht es drunter und drüber bei mir mit allerhand Geldsendungen, ich notiere etwas, das Fräulein im Büro notiert auch, aber die Notizen stimmen nicht überein und die Confusion ist fertig! Lustig ist es für mich zu hören, dass Ihnen auch der gewisse »Geldsinn« fehlt, diese Geistesgegenwart beim Zahlen oder bekommen, denn oft haben mir Leute gesagt: Page Break 119
»ja wenn du dein Geld selbst verdienen müsstest, so würdest du mehr Gefühl dafür haben!« während ich doch wusste dass das eine Anlage ist mit der man geboren sein muss und dass das sauerste Geldverdienen sie nicht ersetzen kann. Page 119
Ich bin schon neugierig auf Hermann und ob ich ihm irgend etwas erspriessliches werde sagen können. Page 119
Mit freundlichen Grüssen sehr geehrter Herr Director Page 119
Ihre sehr ergebene Hermine Wittgenstein 192 CLARA WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 119
Wien III, Salesianergasse 2. 16. Aprl. 30. Hochgeehrter Herr Doctor, Page 119
Ihre freundlichen Zeilen v. 7. Aprl. u. die wunderlieben, schön gemalten Anemonen haben mich sehr, sehr erfreut. Ich möchte Ihnen u. den lieben Kindern so gerne mündlich danken. Wären Sie Alle, auch Ihre liebe Frau, Charsamstag 12h 30, oder Ostermontag 1 Uhr, zum Mittagessen frei?--Ich hoffe auf Sie. Für heute nur herzlichsten Dank u. gute Wünsche-Page 119
von Ihrer sehr ergebenen Clara Wittgenstein. 193 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 119
[Wien, vor dem Sommer 1930 ?] Montag Lieber Herr Director Hänsel Page 119
Ich hätte Sie sehr gerne noch einmal in Ruhe gesehen und gesprochen bevor Sie fortfahren, könnten Sie
nicht am Mittwoch oder Donnerstag zu uns zum Abendessen kommen? Sie haben gewiss sehr viel zu tun, aber essen müssen Sie doch irgendwo und am Abend können Sie vielleicht leichter etwas Zeit entbehren? Sollte es aber irgendwie nicht möglich sein, so hätte ich Sie gerne eine Viertelstunde wegen des Geiger in Anspruch genommen und könnte auch am Vormittag in Ihre Schule kommen, wenn Sie mir Zeit und Adresse sagen. Page 119
Mit freundlichen Grüssen sehr geehrter Herr Director Hänsel Page 119
Ihre sehr ergebene Hermine Wittgenstein Page Break 120 Page 120
Wir essen um 8 Uhr, ich würde Sie aber sehr bitten schon früher zu kommen da man sonst gar nichts besprechen kann! 194 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 120
Hochreit. Donnerstag [Sommer 1930 ?] L. H.! Page 120
Ich möchte in den letzten Tagen des Monats am 29ten oder 30ten oder 31ten zu Dir nach Pabenschwandt kommen & möchte wissen, ob das Euch paßt. Bitte antworte mir gleich. Und zwar an die Adresse Argentinierstr 16, da ich morgen von hier wegfahre. Vielleicht ist es am besten Du telegraphierst mir »Ja« oder »Nein«. Das soll sich darauf beziehen, daß ich an irgend einem dieser letzten Tage komme. Ich laß Dich dann meine Ankunft genau wissen. Page 120
Über die Skitzen Mareiles war ich sehr erfreut. Page 120
Sei herzlichst gegrüßt Dein L. W. 195 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 120
[Wien, vor dem 9. 11. 1930 ?] Sehr geehrter Herr Director Page 120
Ich habe neulich den Geiger zu mir kommen lassen, weil ich etwas ganz bestimmtes mit ihm besprechen wollte. Als wir fertig waren sagte ich ihm, er solle auch noch mit Ihnen darüber reden und mir dann Ihre Meinung mitteilen. Weil ich aber nicht ganz sicher bin, dass er Ihnen genau sagen kann was ich meine, so möchte ich Ihnen in groben Zügen schreiben wozu ich ihn bringen wollte. Page 120
Ich finde nämlich dass ein junger Mann in der heutigen Zeit sich eine Meinung über seine politischen Pflichten machen muss (Wobei er natürlich auch zur Ansicht gelangen kann, dass er sein Bestes für sein Vaterland, oder für die Menschheit tut, wenn er sich nicht politisch einstellt. Das dürfte er aber nur nach ernster Überlegung sagen. Aus Gedankenlosigkeit, Bequemlichkeit oder gar Feigheit dürfte es nicht geschehen Mir kommt immer vor, der Österreicher hat ein Vaterland, aber es ist ihm bombengleichgültig was damit geschieht! Er schimpft auf die Regierung, auf alle Zustände, aber es ist ihm nicht klar was er vielleicht damit anstellt. Und ich finde es soll ihm klar sein was er denkt u. tut; jede Meinung wird mir recht sein, Page Break 121
wenn sie ehrlich und durchdacht ist und dazu wollte ich dem Geiger den Anstoss geben. Er soll sich fragen ob er ein Vaterland hat. Ich bin sehr neugierig zu hören wie Sie sich zu so einer Frage stellen, sehr geehrter Herr Director und auch neugierig was mir Geiger sagen wird. Merkwürdige Zeiten und ich kann mir die Weiterentwickelung so gar nicht vorstellen!
Page 121
Mit Mareile bin ich noch immer nicht zusammengekommen! Kann sie nächsten Dienstag? Page 121
Beste Grüsse sehr geehrter Herr Director Hermine Wittgenstein 196 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 121
[Wien, Anfang Dezember 1930 ?] Sonntag Sehr geehrter Herr Director Page 121
Vor allem muss ich Ihnen sagen wie sehr leid es mir tut, dass ich durch meine unbegreifliche Zerstreutheit Ihre Einladung für den gestrigen Abend nicht abgeschickt habe. Ich bin ganz unglücklich darüber und wäre es noch vielmehr, wenn ich nicht hoffte, dass die von meiner Schwester so schön erdachten u. inszenierten Sachen noch einmal zur Aufführung kommen werden, wenn Tommy, Ji u. Ludwig zu Weihnachten in Wien sein werden. Ludwig kommt schon bald, aber die beiden Andern werden erst zu Weihnachten erwartet. Page 121
Natürlich lasse ich Hermann sehr gerne die ganze Stunde nehmen, er ist ja wirklich fleissig und hat selbst eine Freude daran. Gott gebe dass die Besserung bei Frau Radnitzky anhält, die Arme hat so viel ausgestanden u was wird aus ihren Angehörigen wenn sie einmal nicht verdienen kann. Sie erhält ihren 72jährigen Bruder samt Frau! Sie selbst wird ja von ihren vielen Freunden immer mit Freude erhalten werden! Page 121
In Eile grüsst herzlich sehr geehrter Herr Director Hermine Wittgenstein 197 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 121
[Wien, Anfang 1931 ?] Lieber Herr Director Hänsel Page 121
Sie müssen mich schon für ganz confus halten, mit Recht nämlich,--denn ich mache wirklich eine Confusion nach der Andern. So habe ich, wenn ich mich recht erinnere, auch diesmal nicht die richtige Summe geschickt, nicht wahr? Page Break 122 Page 122
Es wären gewesen 200 S Erziehungsbeitrag 45 S Stunden f. Geiger 120 S Weihnachtsgeschenke 365 Page 122
das habe ich aber bestimmt nicht geschickt, sondern ich glaube es waren 455 S. Ich muss mich wirklich schämen Sie darum fragen zu müssen, aber was soll ein Mensch machen der offenbar keinen Kopf, sondern vielleicht einen Kürbis zwischen den Schultern trägt? Sie glauben nicht wieviel ich mich über mich ärgern muss! Page 122
Ich freute mich sehr darüber dass Sie mit Ludwig in Trattenbach waren und denke mir es war sicherlich ein schöner Tag für Sie! Mir wird es immer sehr schwer wenn er wieder fortgeht! Page 122
Bestens grüsst Sie sehr geehrter Herr Director Page 122
Ihre aufrichtig ergebene Hermine Wittgenstein 198 MARGARETE STONBOROUGH AN HÄNSEL Page 122
[Wien] 27/I 31 Lieber Dr. Hänsel Page 122
Ich schreibe Ihnen um Ihnen zu sagen, dass ich Ihnen vom nächsten Monat ab nur mehr 100 Sch. schicken werde. Ich will das Geld einem anderen Menschen zukommen lassen, der es sehr notwendig braucht. Es wird mir sehr schwer Ihnen das zu schreiben. Doppelt schwer, weil ich nicht genau weiß, ob ich nicht beides tun sollte. Vielleicht könnte ich es so machen, dass ich Ihnen das Versprechen abnehme es mir jedesmal zu sagen, wenn Sie notwendig Geld brauchen. Aber würden Sie so etwas auch tun? Bitte kommen Sie nächste Woche zu mir zum Abendessen (Jeder Abend passt mir) & besprechen Sie es mit mir & seien Sie nicht böse auf Page 122
Ihre herzlich ergebene Gretl Stonborough 199 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 122
[Wien, um den 22. 3. 1931] Sehr geehrter Herr Director Page 122
Ich soll Ihnen von meinem Bruder Ludwig Grüsse ausrichten und Ihnen über ihn berichten. Er ist seit einer Woche in Wien und wollte in Neuwaldegg wohnen u arbeiten, hatte aber am Mittwoch einen heftigen Gallensteinanfall auf der Fahrt zu Page Break 123
Koder und in dessen Wohnung. Er muss furchtbare Schmerzen gehabt haben. Koder telefonierte an meine Schwester Stonborough und diese holte Ludwig ab u. nahm ihn zu sich in die Kundmanngasse, was natürlich das allerbeste für ihn ist. Es geht ihm auch schon viel besser, der Anfall hat sich bis auf eine leise Mahnung nicht wiederholt nur fühlt er sich sehr matt, besonders zuweilen, ich denke es spielen da auch nervöse Sachen sehr mit. Er würde sich freuen wenn Sie ihn telefonisch aufriefen damit Sie eine Zusammenkunft vereinbaren können. Page 123
Hoffentlich ist bei Ihnen alles wohl! Mit freundlichen Grüssen Page 123
Ihre aufrichtig ergebene Hermine Wittgenstein 200 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 123
STONBOROUGH VIENNA [Ende März 1931] L. H.! Page 123
Ja es ist beschissen daß wir beide krank sind. Ich bin, wenn nicht Unerwartetes eintritt, Dienstag schon wieder in Neuwaldegg. Am liebsten möchte ich schon morgen dorthin übersiedeln. Nur der Transport ist etwas unangenehm. Hoffentlich fühlst Du Dich bald halbwegs gut. Ich bin sehr matt & schwach. Dein W. 201 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 123
[Wien, vor dem 20. 4. 1931] Sehr geehrter Herr Director Page 123
Es ist gar nicht recht von mir dass ich Ihren Brief noch gar nicht beantwortet habe! Inzwischen sind Sie hoffentlich schon längst gesund und haben wohl auch Ludwig schon gesehen. Es ist leider eine langwierige Sache bei ihm und für mich ist es so schwer zu wissen wie es ihm eigentlich geht, er gibt ja so ungenügende widerwillige Auskunft. Wenn es ihm doch bald ganz gut ginge so dass man ihn halbwegs beruhigt nach England ziehen lassen könnte!
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Werden Sie zu Ostern ein wenig aufs Land gehen? Ich muss sagen, das Wetter ist nicht sehr verlockend, aber es kann trotz Kälte sehr schön sein und es erfrischt gewiss sehr! Ich möchte es wegen der Osternesterln wissen! Page 123
Mit freundl. Grüssen sehr geehrter Herr Director Hermine Wittgenstein Page Break 124
202 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 124
[Wien, Herbst 1931 ?] Sehr geehrter Herr Director Page 124
Ich danke Ihnen sehr für Ihren Brief, Ihre Characteristik des Geiger deckt sich ziemlich genau mit meinen Beobachtungen, auch ich hatte einen viel besseren Eindruck gleich nach den Ferien. Er soll mir nächstens über die Möglichkeit Curse in französischer Handelscorrespondenz (u. englischer) an der Handelsakademie zu nehmen, Bericht erstatten, (entschuldigen Sie den entsetzlichen Satz, ich hatte mir den Anfang nicht gut überlegt) und bei der Gelegenheit will ich ein bisschen mehr aus ihm herausholen er ist mir ja entsetzlich fremd!--Sie schreiben nicht über die Stundenanzahl, ich nehme an dass es 8 waren und schicke 80 S. Geiger kann mir dann eventuell die Berichtigung sagen. Mit freundlichen Grüssen Ihre sehr ergebene H. Wittgenstein 203 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 124
[Wien, vor dem 26. 6. 1932] Sehr geehrter Herr Director Page 124
Diesmal will ich nicht wieder zu spät kommen und frage mich gleich heute an, ob Ihre Kinder am Sonntag d. 26 um 10 Uhr zu mir nach Neuwaldegg kommen können? Page 124
Über Geiger bin ich sehr froh und danke Ihnen noch herzl. für Ihren Anteil an dem guten Ausgang der Prüfung und an seiner Menschwerdung überhaupt! Page 124
Mit freundl. Grüssen in Eile Hermine Wittgenstein 204 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 124
[Wien, Sommer/Herbst 1932] L. H.! Page 124
Ich war heute auf der Hochschule für Welthandel da wir daran dachten den Geiger dort 3 Semester machen zu lassen statt eines einjährigen Abiturientenkurses an der Handelsakademie. Ich dachte nämlich daß der Hochschulkurs dasselbe leisten würde aber ernster wäre & ein besseres Lehrer- & Studentenmaterial hätte. Meine Page Break 125
Auskünfte sind aber nicht befriedigend ausgefallen & ich will mit Dir darüber sprechen. Die Möglichkeit zum Faulenzen ist natürlich an der Hochschule größer. Weiß der Teufel was man machen soll! Page 125
Bitte laß Dir die Sache ein klein wenig durch den Kopf gehen. Vielleicht entsinnst Du Dich eines Menschen bei dem man bessere Erkundigungen einziehen kann Dein L. W. 205 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 125
Tel. U-40-402 WIEN, d. 24. Sept. [1932] IV., Argentinierstraße 16 Sehr geehrter Herr Director Page 125
Die Stockert-Kinder haben den sehnlichsten Wunsch Ihre Kinder morgen Vormittag bei mir in Neuwaldegg zu sehen; ich weiss zwar nicht ob Ihren Kindern das nicht sehr langweilig ist, jedenfalls sind sie freundlichst eingeladen mit der Bitte nicht zu spät zu kommen, damit wir oben im Garten spielen können. Page 125
Hoffentlich hatten Sie alle in diesem Schönwetter-Sommer eine gute Erholung! Freundlichste Grüsse sehr geehrter Herr Director von Hermine Wittgenstein Page 125
Ich weiss nicht ob Sie schon wissen, dass die liebe Frau Prof. Radnitzky am Donnerstag in Mödling gestorben ist, ich werde Ihnen auf jeden Fall ein Parte senden lassen. Für uns scheidet mit dieser Frau viel Beglückendes aus unserem Leben! Page 125
In grosser Sorge sind wir um Wedigo Zastrow, der nach einem Motorrad-unfall mit schweren inneren Verletzungen in Holland in einem Krankenhaus liegt. Ludwig ist zu ihm gefahren (da meine Schwester erst auf der Rückreise von Amerika befindlich ist) und die Nachrichten sind leider sehr ungünstig! 206 MARGARETE STONBOROUGH AN HÄNSEL Page 125
[Wien ?] 15/VI 33 Lieber Professor Hänsel Page 125
Wie schön, dass Sie mir geschrieben haben & mir so den nötigen Anstoß gegeben haben, Ihnen schreiben zu können, was ich mir schon oft gewünscht habe.--Nein ich habe mich nicht geärgert. Garnicht. Ich weiß doch, wie verschieden wir geartet sind. Ich sehe mit anderen Augen, mit anderen Maßen messend, andere Dinge Page Break 126
in den Menschen. Stelle daher ganz andere Diagnosen. Na & erst die Therapien! Was den Greifeneder betrifft, so hat mein Pessimismus da einen besonderen Grund. Für viele, für die meisten Krankheiten meiner »Fälle« glaube ich entweder ein Heilmittel oder ein Gegengift produzieren zu können. Kommt aber einmal ein Fall, wo meine Apotheke versagt, dann bin ich pessimistisch. Es ist mir dann so, als müsste ich jemanden mit einer schweren Zahn-Karies, weil ich ihn nicht plombieren lassen kann, hoffnungsvoll der Zeit überlassen. Das Wort »hoffnungsvoll« schiene mir da, wie die reinste Ironie.--Trotzdem möchte ich den Greifeneder noch nicht wegschicken.--Nein ich habe mich nicht über Sie geärgert. Ich glaube ich kann das garnicht. Ich freue mich nämlich jedesmal von Herzen, wenn ich Sie sehe. Und dann macht es mich gleichzeitig auch wieder traurig, dass es zwischen Ihnen & mir, wie es scheint, keinen wirklichen natürlichen Verkehr geben kann. Wird er verhindert durch Ihre strenge Förmlichkeit gegenüber meiner angeborenen Formlosigkeit? Wird er mit Recht verhindert, weil das, was uns verbände nur alle heiligen Zeiten einmal zur Sprache kommen kann? Ich weiß es nicht, aber es tut mir leid, sehr leid.--Ihre Kinder haben mir gut gefallen; sie sind Ihnen,--was ich immer voraus gesagt habe--malgrés Ihrer Erziehung gelungen. Alles Gute & Schöne Page 126
von Ihrer Margaret Stonborough 207 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 126
[Wien, Juni 1933] Sehr geehrter Herr Director Page 126
Ich habe für morgen einige Karten zu einem sehr schönen Conzert genommen, welches ein Freund meines Neffen Salzer dirigiert und es würde mich freuen wenn sich bei Ihnen Jemand dafür interessierte! Page 126
Was macht Hermann? und das Metronom? Wenn er mir sagen könnte wann er einmal nach 6 Uhr in die
Alleegasse kommen könnte, so würde ich ihn gerne einmal wieder hören; vielleicht nächste Woche? Gerne hätte ich auch einmal Ihre Kinder, die schon gar keine Kinder mehr sind in Neuwaldegg gehabt, aber erstens geht es mir diesmal mit den Sonntagen gar nicht zusammen--am Sonntag d. 2 Juli werden Sie wohl schon von Wien fort sein? und zweitens kann ich ja nicht mehr die ganze Kindermischung vornehmen und die kleinen Stockerts zu Ihren grossen Töchtern laden. Ich muss mir etwas anderes überlegen und werde mich nächste Woche einmal melden. Page 126
Geiger wird wohl jetzt bald mit seinem Schuljahr fertig sein und hoffentlich gut fertig sein. Denn selbst wenn er gut ist weiss ich noch nicht was ich mit ihm weiter mache. Page 126
Er war wieder einmal bei mir und ich konnte gar nichts mit ihm anfangen, es liegt wohl an uns beiden. Ich bin aber immer ganz erschöpft und auch bekümmert Page Break 127
nachher, es fehlt ja jeder menschliche Contact und doch ist er mein Schützling und mit einem Schützling sollte man menschlich verbunden sein. Page 127
Für heute nur noch freundl. Grüsse sehr geehrter Herr Director von Hermine Wittgenstein 208 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 127
[Wien] d. 23. Novemb. 1933 Sehr geehrter Herr Director Page 127
Die in letzter Zeit sehr ungünstig geänderten Geldverhältnisse zwingen mich dazu einen mir höchst bitteren Entschluss zu fassen. Ich sehe nämlich, dass ich die Geldbeträge, die ich mit so grosser Freude an viele Personen gab, nicht in der gleichen Höhe werde weiter geben können und ich muss eine Kürzung vornehmen. Ich denke mir die Sache so: ich gebe jedem ihrer Kinder monatlich 40 S. als Erziehungsbeitrag vom 1. Dezember an. Page 127
Sie können sich denken sehr geehrter Herr Director wie schwer mir dieser Schritt fällt, aber nachdem ich lange gezögert habe, sehe ich dass er unvermeidlich ist. Am schwersten wird er mir weil in unserem äusseren Lebensstandart wegen der grossen Häuser etc die wir nun einmal geerbt haben, kaum eine Änderung zu sehen sein wird. Ob sich die Zeiten wieder besser werden? ich hoffe es für alle meine vielen Schützlinge! Page 127
Mit freundlichen Grüssen sehr geehrter Herr Director Page 127
Ihre aufrichtig ergebene Hermine Wittgenstein 209 MARGARETE STONBOROUGH AN HÄNSEL Page 127
WIEN III KUNDMANNGASSE 19-21 2/I 34 Lieber Professor Hänsel Page 127
Ich danke Ihnen für Ihre lieben Zeilen & für Ihre Wünsche. Bitte verzeihen Sie es mir, wenn ich Ihnen nur mehr für Jänner & Februar die monatlichen hundert Schillinge schicken kann & erhalten Sie mir Ihre Freundschaft, auf die ich zähle, auch wenn ich Sie beinahe nie mehr sehe & die mir sehr wert ist. Page 127
Alles Schöne & Gute von Ihrer Margaret Stonborough Page Break 128
210 CLARA WITTGENSTEIN AN HÄNSEL
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S. H. Herrn Dr. L. Hänsel V. Kriehubergasse 25 Wien. Laxenburg, 31. März 34. Lieber, hochgeehrter Herr Doctor, Page 128
herzlichst danke ich Ihnen für Ihren lieben Ostergruß u. ich bitte Sie, und Ihre Lieben, auch meine herzlichsten Wünsche freundlich entgegen nehmen zu wollen. Vor mir stehen die entzückend gemalten Leberblümchen Ihrer lieben Tochter.-Page 128
Herzliche Grüße von Haus zu Haus. Ihre [...] erg. C W. 211 PAUL WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 128
WIEN, IV. ARGENTINIERSTRASSE 16. 30. 6. 34. Sehr verehrter Herr Direktor Page 128
Ich bin wirklich nicht »böse«--sondern ich freue mich Ihnen eine Gefälligkeit erweisen zu können, & schicke gleich am Montag 200 S mit dem beigelegenen Erlagschein ab. Page 128
Ihnen & den werthen Ihrigen den angenehmsten Sommer wünschend Page 128
Ihr stets aufrichtig ergebener Paul Wittgenstein 212 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 128
[Anfang Sommer 1934 ?] Sehr geehrter Herr Director Page 128
Mit den freundlichsten Grüssen sende ich Ihnen hier 3 Monate Erziehungsbeitrag und für jedes Kind 80 S Ferienbeitrag somit 600 S. Ich liege noch zu Bett und darf erst Mittwoch wieder unter Menschen gehen, hoffe Sie dann bestimmt noch einmal vor Ihrer Abreise zu sehen.--Geiger schrieb mir einen andern Plan, mit dem ich mich nicht einverstanden erklärte: Volontär in einer Autoreparaturwerkstätte u. einige Abendstunden französisch u englisch. Welche Reparaturwerkstätte hat denn so Page Break 129
viel zu tun dass ein »Volontär« zu einer ordentlichen Arbeit kommt? ich stelle mir da nur ein Herumstehen vor, aus dem man dem Volontär nicht einmal einen Strick drehen kann, da das Arbeiten ja nicht in seinem Belieben lag. Das scheint mir eine halbe Sache! Er soll eine Zeitlang ganze körperliche Arbeit leisten, eventuell dann noch einige Wochen Erholungsurlaub haben, meinen Sie nicht auch? Vielleicht frägt er Sie noch einmal um Ihre Meinung. Page 129
Mit freundlichsten Grüssen sehr geehrter Herr Director H. Wittgenstein 213 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL [Wien, 1934 ?] Sehr geehrter Herr Director Page 129
Mein Bruder Ludwig gab mir den Auftrag Ihnen in seinem Namen Raimunds Werke zu schicken. Besitzen Sie denn diesen Schatz nicht? Ich habe die Ausgabe flüchtig durchgesehen sie scheint mir besser als die von Castle, die ich besitze, doch würde die Buchhandlung sie auf Wunsch gewiss umtauschen, wenn Sie eine andere Ausgabe
vorziehen. Page 129
Wie weit ist denn Mareile mit Ihrer Salzburgerin gekommen? ich würde sie gerne vor der endgültigen Fertigstellung sehen. Mit besten Grüssen sehr geehrter Herr Director Hermine Wittgenstein 214 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 129
[Cambridge, nach dem 29. 5. 1935] Donnerstag Lieber Hänsel, Page 129
Herzlichen Dank für Deinen Brief. Meine Sommer- wie meine Zukunftspläne sind noch ganz im Unklaren. Ich bin noch weit davon entfernt zu wissen, ob man mich für ständig überhaupt nach Russland lassen wird. Ich muß mir von verschiedenen Seiten Rat holen, sowohl darüber, wie es anzustellen ist, daß man als Nichtturist nach Russland gelassen wird, als auch darüber, um was für eine Art Stelle oder Arbeit ich mich bemühen soll. Ich bin auch noch im Unklaren darüber, ob ich mich auf diese Arbeit hier durch irgend ein Studium vorbereiten soll oder nicht. Es ist außerordentlich schwer darüber einen gescheiten & maßgebenden Rat zu hören & ebenso schwer für mich eine (in meinem Sinn) richtige Entscheidung zu treffen. Es ist beinahe sicher, daß ich in diesem Sommer nicht nach Russland fahren werde, Page Break 130
sondern erst im September.--Aber ich sehe, daß es mir ganz unmöglich ist Dir--in einem Brief alle verschiedenen Möglichkeiten & Gründe & Gegengründe auseinanderzusetzen. Wenn ich mehr weiß, wirst Du's von mir hören. Ob ich im Sommer nach Österreich kommen werde weiß ich noch nicht und werde es wohl noch einen Monat lang nicht wissen. Page 130
Sei herzlichst gegrüßt, grüße Drobil, die Kinder & Deine lb. Frau. Ich bin sicher, Ihr alle habt um meine Tante Clara getrauert. Dein Ludwig Wittgenstein 215 PAUL WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 130
WIEN, IV. ARGENTINIERSTRASSE 16. 15. 6. 35. Hochverehrter Herr Direktor, Page 130
Empfangen Sie vielen Dank für Ihre frdl. Zeilen, und für die Mühe, die Sie Sich gegeben haben die fragliche Stelle aufzuklären. Page 130
Das Musset-sche Gedicht, nebenbei gesagt, ist sehr schön. Es heißt »Une Soirée perdue«, und die Einleitung lautet: J'étais seul l'autre soir, au Théatre-Francais Ou presque seul; l'auteur n'avait pas grand succès, Ce n'était que Molière, et nous savons de reste Que ce grand maladroit, qui fit un jour Alceste, Ignora le bel art de chatouiller l'esprit Et de servir à point un dénoûment bien cuit. Grâce à Dieu, nos auteurs ont changé de methode, Et nous aimons bien mieux quelque drame à la mode, Où l'intrigue, enlacée et roulée en feston, Tourne comme un rébus autour d'un mirliton. Page 130
Kein Zweifel: ein Bänderspruch, um eine Flöte gewickelt. Page 130
Ich hätte Ihnen gern das ganze Gedicht abgeschrieben, doch ist es mir zu lange: noch etwa 80 Verse! Page 130
Mit den besten Empfehlungen an Sie & Ihre verehrte Frau Gemahlin & freundliche Grüße an Hermann & seine Schwestern, verbleibe ich, einen schönen Sommer wünschend, Page 130
Ihr ergebener Paul Wittgenstein. Page Break 131
216 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 131
[Wien] d. 20. Sept. 1935 Sehr geehrter Herr Direktor Page 131
Ich weiss nicht ob mein Bruder Ludwig Ihnen gesagt hat, dass er von meiner Tante Clara W. verschiedene sehr hübsche Möbelstücke aus Kirschholz geerbt hat und dass er bestimmt hat die Sachen sollen sein Eigentum in meiner Verwahrung bleiben und seinen Freunden zur Verfügung stehen, wenn einer vorübergehend so ein Möbelstück braucht. Nun stehen die Sachen bei mir in der Argentinierstrasse wie mit vielen Anderen, sie von Laxenburg hereingeschafft wurden; ich muß sie aber jetzt definitiv einstellen und möchte vorher noch ausgeben was eventuell auszugeben ist. Wenn Sie etwas von den Möbeln haben wollen--es sind 2 1/2 Kästen 1 Schreibtisch 1 kleiner ovaler Tisch 1 Schreibtisch 1 Glaskasten 1 Sessel 1 Bett--so bitte sehen Sie sich die Sachen baldigst in der Argentinierstrasse an. Der Portier Schreier wird sie Ihnen zeigen sie sind mit »Ludwig« bezeichnet. Ich schreibe gleichzeitig an Koder und Drobil deswegen und »wer zuerst kommt mahlt zuerst«! Page 131
Haben Sie nähere Nachrichten von meinem Bruder? Dass er nur ein paar Wochen in Russland bleibt und den Winter noch in seiner früheren Tätigkeit verbringt, ist mir sehr erfreulich! Hoffentlich haben Sie alle einen guten erholungsreichen Sommer gehabt! Page 131
Es hofft Sie bald zu sehen sehr geehrter Herr Director und näheres von Ihnen zu hören, mit besten Grüssen Hermine Wittgenstein 217 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 131
[Wien] d. 7. V 1936 Sehr geehrter Herr Director Page 131
Schon wieder muß ich mich ratsuchend an Sie wenden: erst heute ist mir eingefallen, dass ich die Schliessung meines Heimes, die am 30 April mit der Übergabe der Schlüssel perfect geworden ist, gar nirgends angezeigt habe! Das kommt daher, dass ich den Kindern noch dreimal wöchentlich ein Mittagessen gebe und die Schulaufgaben mit ihnen mache, um das Schuljahr gut zu Ende zu bringen; ich habe so nicht das Gefühl eines völligen Abreissens, aber da die Sache in einem Gasthaus vor sich geht, kann ich sie doch nicht als Fortführung des Betriebes gelten lassen! Ich ärgere mich über mich weil mir das nicht früher eingefallen ist, ich hätte Sie dann gleich in meinem letzten Brief fragen können wo und in welcher Form man so etwas abmeldet. Ich denke ja doch dass es unbedingt geschehen muss, oder kann ich ganz naiv die Sache so weiter laufen lassen? Page 131
Hat das Abmelden u. wieder anmelden Schwierigkeiten für mich im Gefolge? Page Break 132 Page 132
Ich werde morgen von unserer Kanzlei aus telefonisch bei Ihnen, sehr geehrter Herr Director anfragen lassen, weil ich selbst für ein paar Tage verreisen muss und wäre dankbar für einen Rat! Mit bestem Dank im Voraus und freundlichen Grüssen sehr geehrter Herr Director Hermine Wittgenstein 218 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 132
[Wien, Frühjahr 1936]
Sehr geehrter Herr Direktor Page 132
Ich wollte Sie in den letzten Tagen gerne einmal telefonisch sprechen, doch es kam nie zu Stande; nun bin ich im Begriff für einige Tage auf die Hochreit zu fahren und schreibe geschwind ein paar Zeilen. Das Gesetz bezüglich der Jugenderziehung ausserhalb der Schule war jetzt deutlicher formuliert im Verordnungsblatt des Stadtschulrates und ich glaube jetzt dass es sich um Vereine handelt. Trotzdem hätte ich mich vielleicht noch etwas aufgeregt, wenn nicht kurz vorher etwas anderes eingetreten wäre: Frau Scholz hat, ohne mir das geringste davon zu sagen, sich mit Director Penz verbündet, der meine Anstalt schon von Grinzing her kennt und dieser hat irgendwie bewirkt dass ich ein offizielles Schreiben vom Bürgermeister bekam, worin er mir Dank und Anerkennung der Stadt Wien ausspricht. Das habe ich nun unter Glas und Rahmen und bin nun ganz beruhigt bezüglich der Auflösung. Sie selbst waren ja gleich der Meinung dass meine Anstalt nicht unter die Verordnung fällt aber sicher ist sicher! Page 132
Mit besten Grüssen sehr geehrter Herr Director Hermine Wittgenstein Page 132
Ich habe schon längere Zeit nichts von Ludwig gehört, wissen Sie vielleicht etwas? 219 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 132
[Wien, Juni 1936] Sehr geehrter Herr Director Page 132
Herzlichen Dank für die Übersendung des Buches. Wie lange darf ich es denn behalten? Gelesen habe ich Ihren Vortrag gleich einmal und ich glaube ernstlich ich werde etwas davon haben, aber das ist eine lange, langsame Sache sich über so einen Stoff klar zu werden. Hoffentlich können Sie mir Zeit lassen! Von meinem Bruder erhielt ich gestern einen Brief (Sie vielleicht auch?) er schreibt dass er Page Break 133
leider im Sommer nicht nach Österreich kommt sondern in etwa 6 Wochen nach Norwegen oder Island gehen will um ein Jahr, wenn es möglich ist, dort in aller Ruhe zu arbeiten. Vorläufig bleibt er noch circa 4 Wochen in Cambridge und verreist dann vielleicht auf 14 Tage mit einem Freund. Sein Brief klang sehr gut, er war eine sehr eingehende Antwort auf einen von mir geschriebenen, und die Idee mit Norwegen kommt mir auch erfreulich vor, denn sie zeigt doch, dass er sich productiv empfindet, glaube ich! Page 133
Mit besten Grüssen und nochmaligem Dank sehr geehrter Herr Director. Hermine Wittgenstein Page 133
Schreiben werde ich Ihnen gewiss nicht über den Vortrag aber sehr gerne mit Ihnen darüber sprechen nach den Ferien (die hoffentlich recht erfreulich für Sie alle verlaufen werden!) 220 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 133
[Cambridge, nach dem 22. 6. 1936] Donnerstag z. Z. Lieber Hänsel! Page 133
Herzlichen Dank für Deinen lieben Brief. Ich bin sehr froh, daß Drobil sich der Mareile annimmt. Es wird ihr (u. ihm) guttun. Ich werde im Sommer nicht nach Österreich kommen. Ich bleibe noch etwa einen Monat hier & fahre dann nach Norwegen (oder vielleicht nach Island), um dort zu arbeiten. Ich möchte etwa ein Jahr in Ruhe dort bleiben, will aber, wenn es geht, zu Weihnachten nach Wien fahren. Wie es dort (in Norwegen) mit meiner Arbeit gehen wird, weiß Gott.--Davon, daß Schlick auf der Universität erschossen worden ist, wirst Du gehört haben. Wie schrecklich! Page 133
Meine Adresse ist bis auf weiteres »Trinity College«. Laß in nicht zu langer Zeit wieder von Dir hören. Grüß Deine Kinder & Deine Frau herzlichst von mir & ebenso den Drobil, die alte D.-S.. Page 133
Dein alter Ludwig Wittgenstein Page Break 134
221 MARGARETE STONBOROUGH AN HÄNSEL Page 134
[Wien, August/September 1936 ?] Lieber Professor Hänsel Page 134
Sie haben mir lieb geschrieben & ich habe Ihren Brief vor 10 Tagen bei meiner Rückkehr vorgefunden. Viel & oft habe ich an Sie gedacht & Sie zu sprechen gewünscht. Könnten Sie an einem der nächsten Tage zu mir zum Abendessen kommen? Rufen Sie bei mir an & bestimmen Sie einen Tag. Nur Samstag könnte ich nicht.--Wissen Sie, dass ich den Ludwig in Paris getroffen habe? Er lässt Sie allerherzlichst grüßen.-Page 134
Alles Liebe & Gute Ihre Margaret Stonborough 222 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 134
[Skjolden, Herbst 1936] Samstag Lieber Hänsel! Page 134
Vielen Dank für Deinen Brief. Du Armer,--ich kann mir die Schwierigkeit Deiner Aufgabe ungefähr vorstellen. Behalt nur den Kopf oben. Auch ich hatte jetzt eine etwas schwere Zeit denn ich war einige Wochen lang krank. Es fing mit einem Gallenanfall an & endete mit einer Art von Magen- & Darmkatarrh der äußerst unangenehm war. Gott sei Dank hatte ich einen guten Arzt & der riet mir ein Mittel daß mir nun endlich geholfen hat. Zwar bin ich noch sehr schwach, aber ich kann seit zwei Tagen wieder etwas essen ohne Schmerzen zu kriegen & werde, wenn ich vorsichtig bin in ein paar Tagen wieder auf der Höhe sein. Daß Du traurig bist die alte Wohnung verlassen zu müssen glaub ich Dir gern! Auch mir tut es ja sehr leid. Aber es wird mit der Zeit auch in der Neuen wohnlich werden. Man braucht so viel Geduld im Leben & ich habe so wenig! Wie mag es Deinen Kindern gehn? & Deiner lieben Frau. Sie werden sich alle schwer in den neuen Zustand finden. Grüß sie alle. Hier habe ich schönes Wetter & die Leute sind nett & freundlich & hilfreich. Die Gegend paßt mir sehr. Page 134
Sei jetzt herzlichst gegrüßt von Deinem L. W. Page Break 135
223 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 135
HOCHREITH POST HOHENBERG N. Ö. [Herbst 1936] Sehr geehrter Herr Director Page 135
Vor einigen Tagen wurden mir definitiv 7 Schulräume in Meidling, noch dazu sehr schöne Räume, für meine Tagesheimstätte zugeteilt und mir damit eine grosse Sorge vom Herzen genommen. Ich verdanke diese Entscheidung gewiss mittelbar nur Ihnen sehr geehrter Herr Director und sage Ihnen herzlichen Dank für Ihre liebenswürdigen Bemühungen Ich freue mich schon jetzt darauf Sie zu Weihnachten in den neuen Räumen zu sehen (vorher natürlich noch in Neuwaldegg)! Page 135
Hoffentlich haben Sie sich alle recht erholt und einen guten wenn auch nicht »schönen Sommer« gehabt. Wir hatten es sehr gut!
Page 135
Mit besten Grüssen sehr geehrter Herr Director Hermine Wittgenstein 224 ERNST GEIGER AN HÄNSEL Page 135
Wien, 9. Säuleng. 18 Wien, 8. X. 36. Sehr geehrter Herr Direktor, Page 135
ich glaube, ich habe Ihnen noch nicht für Ihren Brief gedankt. Page 135
Ich möchte es jetzt tun und danke Ihnen herzlich dafür. Page 135
Ich bin seit einer Woche in Wien und das Studium nimmt wieder den geregelten Lauf; Laboratorien Page 135
Ich würde mich freuen, Sie einmal in Ihrer Sprechstunde besuchen zu können. Page 135
Da Sie sicher sehr viel zu tun haben lassen Sie sich bitte Zeit damit und wenn Sie mir schreiben wollten, tun Sie es nur, wenn Sie überflüssige Zeit haben. Page 135
Herr Dr Wittgenstein hat mir geschrieben, ich soll Ihnen von ihm herzliche Grüße ausrichten. Page 135
ergebenst Ernst Geiger Page Break 136
225 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 136
[Skjolden] 7. 11. 36. Lieber Hänsel! Page 136
Ich habe Dich & mehrere Andere einmal in der italienischen Gefangenschaft damit angelogen, daß ich sagte, ich stamme zu einem Viertel von Juden ab & zu drei Viertel von Ariern, obwohl es sich gerade umgekehrt verhält. Diese feige Lüge hat mich lang gedrückt, & ich habe diese Lüge, wie viele andere, auch andern Menschen gesagt. Ich habe bis heute nicht die Kraft gefunden, sie zu gestehen.--Ich hoffe, Du wirst mir verzeihen; ja ich hoffe sogar, Du wirst mit mir weiter & so wie bisher verkehren & mich nicht weniger gern haben. Ich weiß, das ist viel erwartet, aber dennoch hoffe ich es. Ich habe Dir auch sonst noch manche Lüge abzubitten.--Ich wünsche, daß Du diesen Brief Deiner lieben Frau & den Kindern, meinen Geschwistern & ihren Kindern, dem Drobil & meinen übrigen Freunden & der Frau Sjögren bekanntmachst; d.h. ihn ihnen zu lesen gibst. Mögen auch sie mir alle verzeihen; ich weiß, daß ich Dir & Allen einen großen Schmerz zufüge & doch muß ich es tun. Ich fürchte, daß mir mancher vielleicht nicht ganz wird verzeihen können. Ich will heute nicht mehr schreiben. Leb wohl! Dein Ludwig Wittgenstein Page 136
Es geht mir gut. 226 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 136
Wien, 15. Nov. 36. Lieber Wittgenstein! Page 136
Du bist (immer wieder) ein herrlicher Mensch! Dein Brief hat mich sehr ergriffen und mächtig gefreut, für Dich und für mich. (Ich danke Dir für Dein Vertrauen.) Was die Viertel jüdischen Blutes betrifft, habe ich zwar an Deinen Worten nicht gezweifelt, sonst aber habe ich--verzeih!--immerhin gewußt, daß Du es schwerer hast als andere Leute, eigene Mängel zuzugestehen. Ich kann es ja übrigens auch nicht. Du hast selbst oft davon gesprochen
und--in der Gefangenschaft mit Recht hinzugesetzt: andere seien mit ihrer Aufrichtigkeit im Kleinen unaufrichtiger als Du mit Deinen großen Lügen, oder so ungefähr. (Zu den anderen habe ich auch mich gerechnet und habe Grund genug, es jetzt erst recht zu tun.) Du aber machst alles wieder in so großer Weise gut. (Wenn ich Dir nur dazu helfen könnte, daß Du richtig beichten gingest. Könntest Du Dich mit der Sigrid Undset, in Norwegen, bekannt machen? Mit ihr persönlich. Von ihrem Roman Olav Andunssohn, glaube ich, hättest auch Du etwas.) Page Break 137 Page 137
Deinen Auftrag, den Brief meiner Familie, Deinen Geschwistern und den andern, die Du genannt hast, bekannt zu geben, wollte ich anfangs ausführen. Unter dem Eindruck Deines Briefes. Und mit der Überzeugung, die ich auch jetzt nicht geändert habe, sie würden darüber ebenso glücklich sein wie ich. Ich hätte ihre Freude gern mit der meinen geteilt und (z.B.) gern die Ergriffenheit meiner Kinder gesehen. Aber ich tu es doch nicht. Ich habe keine Kraft dazu. Auch nicht, wenn Du mich darum bittest. Ich könnte später einmal davon reden, Dir zu Ehren. Aber jetzt den Inhalt des Briefes bekannt zu machen, ihn vorlesen, ihn herumschicken, das darfst Du nicht von mir verlangen. Sei mir nicht böse, daß ich mich weigere! (Sei auch nicht böse, daß ich auf die Beichte, auch nicht, daß ich auf die Sigrid Undset hingewiesen habe!) Es geschieht (beides) aus Freundschaft. Ich bewundere Dich. Aber ich habe Dich doch auch gern, ganz menschlich und von Herzen. Daß Du Deine Fehler hast, ist selbstverständlich, und ich habe sie mir nicht wegdisputiert. Dazu bin ich zu nüchtern veranlagt. Ich habe auch die meinen (und viel armseligere als Du). Daß Du mich trotzdem gern hast und mir vertraust, gehört zu meinem Glück. Daß Du das und das an mir nicht anerkennst, schmerzt mich. Aber der Schmerz ist gesund. Er schützt mich (wie mich Karl Kraus hie und da geschützt hat) vor der Einbildung. Er hat bewirkt, daß ich auch gegen mich doch immer wieder einigermaßen nüchtern geblieben bin. Page 137
Aber, weil ich schon von mir zu reden angefangen habe: wir sind umgezogen in die fünf hallenden Säle, richten sie langsam ein, sind aber bis heute (meine Frau will jetzt noch nicht recht heraus) in dem kleinen Kabinett geblieben, in das wir uns gleich zuerst eingenistet hatten. Ich lege Dir eine Karte bei. Page 137
Alles Gute für Deine Arbeit und für Dein Herz! für Deine Seele. Dein Ludwig Hänsel 227 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 137
[Skjolden] 22. Nov. [1936] Samstag Lieber Hänsel, Page 137
Nur ein paar Worte in Eile. Ich danke Dir innigst für Deinen lieben & guten Brief, den ich in keiner Weise verdient habe. Daß Du aber meinen Brief nicht weiter schicken willst ist mir ein schwerer Schlag. Denn nun muß ich den Andern schreiben, denn wissen müssen sie es! Ja dies ist um so schwerer, als ich in ca 3 Wochen, wenn ich nach Österreich komme allen Freunden & Verwandten ein umfassenderes Geständnis ablegen muß & ich hoffte diesem auch durch meinen Brief den Weg zu bahnen; es für die Andern & auch für mich dann leichter zu machen. Ich wollte ja nicht, daß Du den Brief vorliest, sondern nur, daß Du ihn weiterschickst; zuerst etwa meiner Schwester Mining, damit sie dann das übrige tut. Page Break 138 Page 138
Ich will jetzt schließen. Ich bin wie immer Dein Ludwig Wittgenstein 228 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 138
Wien, 26. 11. 36.
Lieber Wittgenstein! Page 138
Du hast recht. Ich gebe Deinen Brief an Deine Schwester weiter. Ich sehe auf einmal ein, daß ich das darf und daß ich Dir damit helfen kann. Du mußt meine Unsicherheit verzeihen. Page 138
Alles Gute! Dein Hänsel Page 138
Ich werde den Brief auch meinen Kindern und meiner Frau vorlesen. 229 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 138
[Skjolden, 30. 11. 1936] Montag Lieber Hänsel Page 138
Dank Dir für Deinen Brief. Du hast mir aber mit Deiner Weigerung, meinen Brief weiterzugeben, einen großen Dienst erwiesen. Denn ich sah, daß ich nun mein ganzes Geständnis zu Papier bringen müsse. Denn erst hatte ich geglaubt, es nicht zu können.--Ich habe es vor 6 Tagen an meine Schwester Mining geschickt. Es ist für alle meine Verwandten & Freunde bestimmt & Du wirst es also auch erhalten. Page 138
Mögest Du mir auch das verzeihen, was Du dort lesen wirst! Über Beichte & die norwegische Schriftstellerin will ich mit Dir reden, wenn ich nach Wien komme. Ich möchte zwischen dem 12ten & 15ten kommen & freue mich darauf Alle wiederzusehen, wenn auch meine Freude mit Angst gemischt ist. Page 138
Ich werde in Wien Deine Hilfe sehr bedürfen. Page 138
Es geht mir sehr gut. Dein Ludwig Wittgenstein Page Break 139
230 PAUL WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 139
WIEN, IV. ARGENTINIERSTRASSE 16. 8. Dezember 36. Hochverehrter Herr Direktor, Page 139
Vom »Durchbrechen einer Schranke« kann keine Rede sein: ich bin dankbar für Ihre frdl. Zeilen! Schon deshalb, weil ich daraus ersehe, daß meine Gründe, wenn Sie sie auch entkräften wollen, dennoch auf Verständnis bei Ihnen gestoßen sind. Page 139
Das ganze für und Wider wäre viel zu lange für einen Brief; das könnte ich nur gelegentlich einer mündlichen Aussprache mit Ihnen erledigen. Doch bei der Zähigkeit meiner Ansichten, die einigermaßen tief sitzen, glaube ich nicht, daß ich von deren Gegentheil zu überzeugen sein würde; ich möchte Sie daher jetzt schon bitten, es mir nicht zu verübeln, wenn ich im Falle einer solchen Aussprache, auf meinen, vielleicht irrigen, Ansichten beharre. Page 139
In aufrichtiger Hochschätzung Ihr ergebener Paul Wittgenstein. 231 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 139
[Wien, vordem 11. 12. 1936] Sehr geehrter Herr Director Page 139
Beiliegend ist das Weihnachtsgeschenk für die »Kinder«, sie müssen mir dann, wie alljährlich, am 1. Feiertag das Resultat zeigen. Page 139
Eben erhielt ich ein Telegramm von Ludwig, besagend dass er Freitag Abend kommt. Ich bin so froh dass ich die Angelegenheit so betrieben habe, es fehlt jetzt nur noch Engelmann, dessen Adresse ich noch nicht habe und die in Amerika lebenden Genannten, über die meine Schwester Stonborough noch mit Ludwig sprechen will. Ich bin sehr gespannt auf seine Stimmung; ich glaube die Herzlichkeit aller, die das Geständnis gelesen, oder abgelehnt, oder für später erbeten haben, wird zugenommen haben, aber zum Contact gehören zwei Personen, es kommt darauf an wie Ludwig reagiert. Mit besten Grüßen sehr geehrter Herr Director H. Wittgenstein Page Break 140
232 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 140
Skjolden i Sogn Dienstag [9. 2. 37.] Mein lieber Hänsel! Page 140
Ich habe Dir versprochen, Deine Aufsätze zu lesen & Dir meine Meinung darüber zu schreiben. Das letztere ist aber furchtbar schwer für mich; & nachdem ich einige Zeit hin & her gedacht habe, sehe ich, daß ich nichts Eingehendes darüber schreiben kann. Mir fehlt dazu die Kraft. Page 140
Das glaube ich klar zu sehen, daß der Aufsatz über »Das Relative & d. Absolute« schlecht, sehr schlecht ist; & der über »Vaterländische Erziehung« viel besser; aber auch nicht etwas wirklich Gutes. Ich werde nun nur Bemerkungen über sie machen & mögen diese Bemerkungen Dich weniger schmerzen, als Dir gut tun! Page 140
Du schreibst im ersten Aufsatz: »Der Hinweis auf Widersprüche ist immer wieder das stärkste Argument in der Hand des flachen & bequemen Geistes gegen alles ›Absolute‹«. »Und auch für«, schrieb ich hinein. Aber das beweist natürlich nichts gegen oder für das Absolute, & es heißt nur, daß, solang der Geist flach & bequem ist, er nicht für oder gegen das Absolute argumentieren soll. Und Freund! wenn der flache & bequeme Geist nicht aus Deinem Aufsatz spricht, so weiß ich nicht, wo diese Worte anzuwenden sind!--Welch ein Gemengsel von ganz ungenügend Verdautem & Durchdachtem! Dazu die Ungründlichkeit: Z.B. Die vierte Dimension, ein Paradox der Wissenschaft?! Wer hat Dir das gesagt? Und was weißt Du von der »Materie, die sich in Energie verwandelt«? Ist ein, den Uninformierten paradox klingender Ausdruck ein Paradox?!--Wenn ich in diesem Aufsatz lese, so erinnert er mich an das, was einer erbricht: Halbverdaute Speisebrocken & eigener Schleim. Ich will den Vergleich nicht fortsetzen.--Und die großen Worte! Jeder Irrtum eines wirklichen Denkers enthält unendlich viel mehr Wahrheit als solche lau aufgetischte Wahrheiten (angenommen, daß es Wahrheiten sind; oder besser: angenommen, daß sich mit diesen Worten auch Wahrheiten sagen lassen.). Auch hier ist das Kalte dem Warmen näher, als das Laue. Page 140
Lieber Freund! Auch ich bin denkfaul & weiß darum so gut, wie es dem Denkfaulen geht. Freilich ist mein Fall ein ganz andrer als der Deine, weil meine Aufgabe eine ganz andere ist. Aber die Denkfaulheit ist, im Vergleich zur Aufgabe in unsern beiden Fällen ganz ähnlich. Und alles, was ich an Dir tadeln muß, muß ich mir selbst vorwerfen. Page 140
Ich glaube aber, es ist unverantwortlich, mit so wenig Denken & so wenig Gründlichkeit über dergleichen einen Vortrag zu halten; & gar an einer Volkshochschule, die ohnehin die Brutstätte der Ungründlichkeit & Seichtigkeit ist!--Ich glaube, daß so ein Vortrag den Hörern & Dir schadet, Dir aber am meisten. Ich fühle ebensosehr das Bedürfnis, Dich vor so etwas zu warnen, wie ich es fühlen würde, Dich zu warnen, Gift zu essen. Page 140
Über den zweiten Aufsatz kann ich gar nichts rechtes sagen. Es kommt mir vor als sähe ich Dich über ein tief zerklüftetes Terrain gehen; aber auf einer ziemlich dicken Schneeschicht, die die Risse & Klüfte nur schwach erkennen läßt.--Etwas Page Break 141
Gutes zu machen kostet eben sehr viel! (Und ich drücke mich auch immer wieder, den Preis zu zahlen.) Ich kann es also nicht von Dir verlangen. Aber darum bleibt doch gut gut, & schlecht schlecht.
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Ich meine natürlich nicht, es sei schlecht, sich über die vierte Dimension & anderes keine klaren Gedanken gemacht zu haben; auch nicht, es sei schlecht, etwa im Familienkreis, über so etwas zu reden (& zu sagen, »Ich habe nie recht verstanden, was es eigentlich mit der vierten Dimension in der Mathematik auf sich hat«). Ich halte es nur für schlecht mit dem Schein der Autorität über Dinge, über die man sich einige schwache & unklare Gedanken gemacht hat einen Vortrag zu halten. Nun weiß ich aber, daß es Dir fern liegt, ein Wissen vortäuschen zu wollen, das Du nicht besitzt. (Dies sähe viel eher mir ähnlich.) Nicht das ist es, was Dich verleitet, so zu reden. Sondern Oberflächlichkeit des Denkens & eine Art Phrasenhaftigkeit. Ein Mangel an Tiefe des Nachdenkens. Und, ich glaube, tieferes Nachdenken würde Dich zunächst nicht dahin führen, besser über diese Dinge zu schreiben, sondern, das Schreiben bleiben zu lassen. Page 141
Ich denke, Du bist Philologe!--Und in philologischen Fragen habe ich dich immer vorsichtig, bescheiden & gründlich gefunden. Es würde Dir nicht einfallen, mit anderthalb Gedanken & einer unverdauten Belesenheit über Philologie Vorträge zu halten. (Und Du würdest nicht ohne Geringschätzung über den reden, der es täte.) Page 141
Und was müßte man denn, Deiner Meinung nach, besitzen um über das »Relative & Absolute« reden zu können?--Doch wohl tiefe, schwer errungene, Gedanken, oder großes Wissen, oder vielleicht beides. Oder ist das ein Gegenstand über den man mit Nutzen plaudern kann? Page 141
Nun glaube nicht, daß ich Dein Denken über diese Dinge geringschätze! Weit entfernt! ich schätze es hoch. Aber nur solange Du dir Deiner Grenzen bewußt bleibst. Sonst wird es von etwas Schönem zu etwas Verächtlichem. Denke! & denke für den Hausgebrauch! Page 141
Man kann nichts Stärkeres zu Deinem Preise sagen, als daß man dich lieben & hochschätzen muß, obwohl du solche Escapaden machst. Page 141
Nun noch eins: Du sagst wahrscheinlich: »Man muß doch seiner Überzeugung Ausdruck geben, auch wenn sie mit dem eigenen Fach nichts zu tun hat. Denn ich (Hänsel) soll doch Leute erziehen, & das heißt nicht nur, ihnen Deutsch & Französisch beibringen.« Gewiß, das ist wahr. Aber seiner Überzeugung Ausdruck geben heißt nicht über Dinge schwätzen, auch nicht notwendig: über sie Vorträge halten. Vielmehr ist dies nur eine Art, der Überzeugung Ausdruck zu geben, & eine Art, die nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen (Dich & Deine Umgebung betreffend) möglich ist. Es kann einem sehr wohl verwehrt sein, ihr anständigerweise diesen Ausdruck zu geben.--Ich habe z. B. Gedanken (& nicht schlechte) über die populär-wissenschaftliche Schreiberei der heutigen Wissenschaftler; aber es ist mir versagt meine Meinung in Form von polemischen Schriften Leuten mitzuteilen. Ich habe die entsprechende Gabe nicht; & muß meine Überzeugung, die mir wichtig ist, auf anderem, weit weniger direktem, Wege an den Mann bringen.--Darum, weil ein Andrer das gut kann, kann ich es noch nicht; & darum, weil ein Andrer wieder es schlecht macht, darf ich es nicht auch schlecht machen! (Mir ist übrigens in diesem Falle meine Unfähigkeit ganz klar, & ich bin daher gar nicht in Versuchung Page Break 142
hier eine Dummheit zu machen.) Es gibt ja viele Wege Deine Überzeugung in reinlicher Weise & also mit der Kraft der Überzeugung, die ja dem Geschwätz immer fehlt, den Menschen beizubringen. Weil ein Weg dazu der direkte erscheint, deswegen darfst Du ihn noch nicht gehen. Und weil Deine Gegner ihn vielleicht unanständigerweise gehen, bist Du noch nicht berechtigt ihn zur Verteidigung der guten Sache zu gehen. Du mußt Dich vielleicht, in Gottes Namen, & um der guten Sache willen mit einem weniger direkten bescheiden. (Dazu gehört Kraft & Mut.) Du bist wie ein Mensch, dem seine Feinde Pflanzen aus seinem Garten ausgerissen haben, & der nun, um zu zeigen, daß er sich nichts gefallen läßt, statt Samen zu säen, alte Blumen aus der Vase nimmt & sie statt der ausgerissenen in den Boden steckt. Nur den, der eine frische Pflanze von einer alten nicht unterscheiden kann, wird dies, für kurze Zeit, täuschen; aber nach ein paar Minuten (wenn nämlich der Vortrag vorüber ist) verwelken die Blumen ganz, & der Garte[n] schaut so trostlos aus, wie vorher. Page 142
Ich will nun schließen. Nimm, bitte, von meinen Bemerkungen, was Du brauchen kannst; aber wirf nichts weg nur darum, weil es vielleicht schlecht schmeckt. Ja nicht einmal darum, weil es vielleicht mit unreinen Gedanken, Selbstgefälligkeit & dergl von mir geschrieben ist Die Wahrheit ist nicht immer angenehm, mir so wenig wie Dir. Und das weißt du ja alles genau! Nur Eins: wenn Du etwas schreibst, laß Dich's viel kosten. Dann wird gewiß etwas daran sein. Und sonst gewiß nicht. Page 142
Bitte glaube auch an meine unwandelbare Gesinnung & mein Gefühl für Dich! Grüße Deine lieben Kinder & Frau herzlichst von mir Dein alter Ludwig Wittgenstein 233 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 142
[Skjolden] Mittwoch, 10. 3. [1937] Lieber Hänsel! Page 142
Dank' Dir für Deinen lieben Brief! Page 142
Ich glaube ich sollte Dir noch einiges schreiben, um vielleicht die Situation klären zu helfen. Und ich werde in dem was ich schreibe wieder »hart« sein; aber das heißt nur soviel, als daß ich schreiben will, wie ich's wirklich meine. In dem, was Du mir schriebst, sehe ich manches, was geeignet ist, zu falschen Schlüssen zu führen, & es wäre, glaube ich, unendlich wichtig, daß hier Deine Gedanken sehr klar würden. Page 142
Denn wenn auch die Klarheit der Gedanken an & für sich nicht das Wichtigste ist, so wird sie doch dort überragend wichtig, wo Unklarheit zum Selbstbetrug führen könnte. Ich glaube z. B. ich könnte mich einem weniger klugen Menschen, als Du bist, leichter verständlich machen, da er nicht so leicht wieder eine Parade bei der Hand hätte, die dann erst wieder als nicht stichhältig erwiesen werden muß. Ich meine aber natürlich nicht, daß diese Klugheit etwas Schlechtes ist; sie ist nur etwas Gefährliches, wenn nicht noch weitere Klugheit dazukommt. Ich habe eine Page Break 143
Menge Klugheit, aber ich scheue davor zurück sie zur strengen Kritik meiner selbst anzuwenden. Page 143
Du schreibst, Du habest lange Zeit mit den Gedanken über das Relative & Absolute zu tun gehabt & es sei Dir ernst gewesen. Das glaube ich.--Aber der Ernst bestand darin, daß Du ein Problem gesehen hat & daran--wenn ich so sagen darf--genagt hast. Dieses Nagen--nehme ich an--war ernst. Damit ist aber nicht gesagt, daß es nun Ernst ist zu ungebildeten Menschen zu sprechen wie einer, der Wahrheit besitzt,--statt wie ein Suchender. Ernst wäre es, diesen Leuten zu sagen: »Meine Herren, ich habe über diese Dinge viel, wenn auch ganz ungenügend, nachgedacht. Vielleicht wird es dem Einen oder Andern von Ihnen helfen, wenn ich Ihnen sage, welche Argumente mir offenbar falsch,--welche mir plausibel erscheinen,--& was ich selbst glaube.« Page 143
Du schreibst: »Da & dort eines Sprunges bin ich mir dabei freilich bewußt«. Aber ich will sagen: Wäre der Geist der richtige, so wären einige, & auch viele, Fehler gar nicht so wichtig. Ich glaube ich kann das am besten dadurch erklären, daß ich von einem Beispiel rede, das mir selbst vor Augen ist: Ich kenne, wie Du weißt in Cambridge einen Prof. Moore. Er ist Professor der Philosophie (ein alter Mann). Dieser ist zwar ein Denker, aber er hat--soviel ich beurteilen kann--nie eine entscheidende Entdeckung in der Philosophie gemacht. Er hat aber in seinem Lehrberuf mehr genützt, als viele Andere, die ein entschieden größeres Talent haben, als er. Und zwar einfach durch seine Ehrlichkeit. Oder man könnte auch sagen, durch seinen Ernst, denn das ist hier dasselbe. (Und wenn man das Schlechte Deines Aufsatzes mit einem Wort treffen wollte, so müßte man sagen: es fehlt ihm am Ernst.--Wenn der Ernst auch beim Nagen da war.) Eine Vorlesung Moore's nun ist nichts weniger als Unterhaltend denn er bekennt sich als einer, der nagt & noch nicht klar ist. (Er nagt in der Vorlesung.) Und niemand hält ihn darum für dumm. Und auch der wenigst Gescheite lernt von ihm: 1.) wie schwer es ist die Wahrheit zu sehen & 2.) daß man nicht sagen braucht, man verstehe etwas, was man nicht versteht. Page 143
Aber gerade so hättest ja Du Deinen Zuhörern helfen sollen.--Nicht, daß Du ihnen das ›ungenügend verdaute‹ gegeben hast, ist das Schlimme, sondern, daß Du es ihnen als ein Verdautes gegeben hast.--Wer in Aphorismen, Bemerkungen, schreibt, der muß verdaut haben. sonst ist der Aphorismus ein Schwindel. (Ich weiß freilich, wie sehr die aphoristische Schreibweise--besonders durch Kraus--in unserer Zeit liegt. Und wie sehr bin ich selbst von ihm beeinflußt. Auch im schlechten Sinne. Page 143
Du, lieber Hänsel, müßtest Dich streng vor jeder aphoristischen Schreibweise in Acht nehmen: Und wo es Dir wirklicher tiefer Ernst ist--wie z.B. in Deinen lieben Briefen--da finden sich auch keine Aphorismen. Page 143
Du schreibst: »Es wird wohl immer so sein müssen & sein dürfen, daß der gerade ein bißchen Gescheitere
dem andern von seiner Weisheit abgibt.....«. Gewiß!! D.h.: Wenn Du etwas weißt, so sag's ihm; wenn Du einen Gedanken gehabt hast, so teil ihn ihm als Gedanken mit; wenn Du Zweifel hast, so teil sie als Zweifel mit, etc. Nur darin kann doch die Belehrung bestehen. Denn wenn der Gescheitere ihm Unklares mitteilt, aber so, als wäre es schon klar, & was er glaubt, als wäre es bewiesen etc., so gibt er ihm ja nichts von seiner Weisheit ab. Page Break 144 Page 144
Nur durch innere Wahrheit, ich meine durch Deine innere Wahrheit, kannst Du Andern zu größerer Wahrheit helfen. Ein anderes Mittel gibt es nicht. Merkwürdigerweise wirkt auch in so einem Vortrag der Mensch mehr durch das Beispiel, das er gibt, als durch die geäußerten Meinungen. Siehe Prof. Moore.--Und das bringt mich darauf, wie wenig ich dieses Beispiel, das ich selbst vor Augen hatte, nachgeahmt habe. Denn ich habe meinen Zuhörern unzählige Male verheimlicht, wie unklar die Sache mir selbst noch war, & habe getan, als wäre sie mir schon klar, wenn ich erst hoffte, sie würde mir klar werden. Page 144
Mein lieber Hänsel! Nochmals herzlichsten Dank für Deinen lieben Brief! Ich habe jetzt selbst, in gewisser Form, eine schwere Zeit hinter mir, & noch nicht hinter mir, denn ich muß mir selbst immer Vorwürfe machen, & habe doch nicht die Anständigkeit, es besser zu machen. Ich wünsche uns Beiden alles Gute Innen & Außen. Gott mit Dir! Page 144
Dein alter Ludwig Wittgenstein Page 144
Grüße Deine liebe Familie & denkt zu Ostern an mich, denn ich werde wahrscheinlich dann nicht in Wien sein. Grüß auch Drobil, wenn Du ihn siehst & überhaupt alle Freunde. Die Mareile soll fleißig & anständig zeichnen! 234 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 144
[Skjolden] 14. 4. [1937] Lieber Hänsel! Page 144
Ich möchte nur mit ein paar Worten Deinen letzten lieben Brief beantworten. Du sagst, in meinem letzten Briefe sei kein Zorn gewesen. Es war auch in meinem ersten kein Zorn; bitte glaube das ja nicht (& versuche es nicht zu glauben)! Ich habe mehrere Tage an ihm geschrieben, mir vorher lang überlegt, ob ich schreiben solle, & was; & nachdem ich geschrieben hatte, ließ ich den Brief ein paar Tage liegen & habe ihn dann noch einmal neugeschrieben. Natürlich ist damit nicht gesagt, daß ich es auf die richtigste Weise geschrieben habe. Page 144
Ernst, sehr ernst kommt mir die Sache auch heute noch vor; für Dich, aber auch für Deine ganze Umgebung. Denn ich bin überzeugt, daß, wie jede halbwegs anständige Tat gute Wirkungen ausstrahlt, so jede schlechte üble Folgen. Ich meine: Unechtheit gebiert Unechtheit & Echtheit gebiert Echtheit. Damit will ich Dich aber nicht dafür verantwortlich machen, daß die Mareile nur mehr Fahnen zeichnet. Aber wie mögen diese Fahnen sein?? Du wirst vielleicht sagen: »Ganz nett.« Und das ist, in einem Sinne, gewiß wahr & doch fürchte ich, es sei ein Abstieg. Möge ich im Irrtum sein! Denn daß sie sonst nichts mehr zeichnet, tut mir zwar sehr leid, aber der Grund könnte ja der sein, daß diese Quelle auf natürliche Weise versiegt. Wenn nur nicht etwas Unechtes daraus wird! Page 144
Ja, die Bewunderung ist schädlich! Das weiß ich auch von mir selbst. Page Break 145 Page 145
In ca 3-4 Wochen will ich nach Wien kommen & freue mich drauf Euch zu sehen. Möge es Euch gut gehen! Dein Ludw Wittgenstein 235 MARGARETE STONBOROUGH AN HÄNSEL Page 145
30/IV 37
Lieber Professor Hänsel Page 145
Ich freue mich immer, wenn Sie mir schreiben. Sie machen das so gut & mit so wenig Worten. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Wünsche & hoffe Sie bald zu sehen. Denn auch über ein Wiedersehen mit Ihnen freue ich mich immer. Page 145
Viele herzliche Grüße Page 145
von Ihrer sehr ergebenen Gretl Stonborough 236 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 145
[Skjolden, nach dem 12. 10. 1937] Lieber Hänsel! Page 145
Dank Dir für Deinen lieben Brief. Das Geld, von dem Du schreibst, werde ich gewiß bald erhalten. Aber, bitte, schick um Gottes Willen keins mehr! Erstens ist das Ganze nicht der Rede wert, zweitens kann ich mit dem, was Du mir schickst, jetzt gar nichts anfangen. Wenn es sein muß, werde ich Dir erlauben, mir jeden Heller zurückzuzahlen--wenn ich ihn brauchen kann. Page 145
Ratschläge habe ich eigentlich dem Hermann keine gegeben, es sei denn den einen, sein Gewissen, & alles was mit Religion zusammenhängt, ernst zu nehmen. (Ich hoffe, & glaube, er wird sich besser halten, als ich es unter den gleichen Umständen getan hätte.) Page 145
Denk viel an Gott & es wird zwischen Euch auch das Rechte herauskommen. Gute Ratschläge zu geben, habe ich aber nicht das Recht, denn ich selber bin ein Schwein. Page 145
Und das bringt mich auf den Drobil: hast Du ihn einmal gesehen? Arbeitet er etwas vernünftiges? Grüß Alle herzlichst. Page 145
Dein alter Ludwig Wittgenstein Page 145
Noch eines will ich schreiben; bitte nimm mir's nicht übel! Bitte, vergiss oder Page Break 146
übersieh' nicht, daß Hermann jetzt zum Mann wird; ich meine nicht dem Alter nach, aber tatsächlich dem Charakter nach. Er kommt zur Welt (& zu Gott) in ein selbständigeres Verhältnis; & möge es ein gutes werden! Aber wir, weder Du, noch ich, können unsern Wunsch auf einem direkten Wege durchsetzen. Du kannst nur, das Beste wünschend, an seiner Seite stehen. Ich glaube, was Du hoffst, ist viel ähnlicher dem, was ich hoffe, als Du ahnst. Verzeih mir alles das, was vielleicht unnütz ist, aber nicht schlecht gemeint. Ich danke Dir für Dein Vertrauen! 237 ERNST GEIGER AN HÄNSEL Page 146
[Innsbruck] 20. XII. 1937. Sehr geehrter Herr Direktor, Page 146
verzeihen Sie, daß ich solange nichts von mir hören ließ. Ich bin seit drei oder 4 Wochen mit den Arbeiten fertig, auch die praktische Prüfung habe ich gemacht, zur theoretischen Prüfung hat man mich nicht antreten lassen, da muß ich auf zwei andere Kollegen warten. Ich kann sie erst im Jänner machen. Page 146
Über Weihnachten bleibe ich hier um zu lernen. Page 146
Ich wünsche Ihnen herzlichst recht frohe Weihnacht und ein gutes neues Jahr! Ergebenst Ernst Geiger
238 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 146
36 Chelmsford Rd. Ranelagh Dublin 22. 2. [1938] Lieber Hänsel! Page 146
Es würde mich freuen von Dir zu hören. Ich möchte auch gerne von Dir ein vernünftiges Wort darüber hören, wie es jetzt in Wien steht. Hier hört man allerlei, was Angst erregen könnte, aber man kann den Zeitungen nicht trauen. Ich bin aber dennoch im Inneren besorgt. Page 146
Von mir kann ich nichts Klares schreiben. Ich schreibe & gehe manchmal in ein Irrenhaus (aber nicht als Patient). Was aus mir werden wird, weiß ich noch nicht. Körperlich geht es mir nicht schlecht, geistig so-so. Page Break 147 Page 147
Hast Du von Geiger etwas gehört? Hat er seine Prüfungen gut hinter sich? Sei nicht böse, daß ich nichts rechtes schreiben kann & nur viel wissen möchte. Page 147
Grüß Deine liebe Frau & die Kinder herzlichst. Page 147
Dein alter Ludwig Wittgenstein 239 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 147
36 Chelmsford Rd Ranelagh Dublin 15. 3. 38. Lieber Hänsel! Page 147
Bitte berichte mir kurz, wie es in Wien & bei Dir & Deiner Familie steht, auch, was Du von den Meinen weißt. Bitte schreibe mir, ob Du glaubst, ich sollte nach Wien kommen. Page 147
Ich denke viel an Euch. Dein Ludwig Wittgenstein Page 147
Hast Du keine Zeit so soll mir der Hermann schreiben, aber ich fürchte er würde zu wenig klar--weil schreibfaul--schreiben. Page 147
Grüß Alle! 240 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 147
[Wien, 1938 ?] Lieber Herr Direktor Page 147
Wissen Sie vielleicht welche Kriegsdekoration mein Bruder besitzt? Es wäre mir aus einem bestimmten Grund wichtig es rasch zu wissen. Drobil konnte mir's nicht sagen und ich weiss auch niemand den ich sonst fragen könnte? Wie geht es bei Ihnen? gibt es etwas Neues? Page 147
Mit besten Grüssen lieber Herr Direktor
Hermine Wittgenstein Page Break 148
241 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 148
[Wien, nach Ostern 1938 ?] Lieber Herr Director Page 148
Ich danke Ihnen sehr für Ihre freundlichen Zeilen; auch mir war es sehr leid Sie nicht angetroffen zu haben, ich wollte gerne alles über Sie hören. Nun habe ich es gehört, d h. gelesen, aber es ist nicht so wie ich gerne wollte. Ich hätte Sie z.B sehr gerne meiner Grossnichte Stockert als Direktor gegönnt! Aber es kann ja auch noch manches werden mit der Zeit, nicht wahr? Page 148
Von Ludwig habe ich die Nachricht, dass es ihm gut geht und dass er wieder in Cambridge Vorlesungen hält. Ein sehr lieber Freund von ihm, Prof. Sraffa ein Italiener, besuchte uns und brachte uns seine Grüsse und seine Fragen nach jedem einzelnen seiner hiesigen Freunde. Er kam unerwartet sonst hätte ich Sie zu ihm eingeladen. Page 148
Ich musste ein bisschen darüber lachen, dass Sie für das Ostergeschenk Ihrer Kinder danken, das können die grossen »Kinder« eigentlich selbst besorgen, denke ich!†* Ich hoffe Sie wieder bald einmal bei uns zu sehen lieber Herr Director und grüsse Sie bestens Hermine Wittgenstein 242 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 148
81 East Rd. Cambridge 7. 5. 38. Lieber Hänsel! Page 148
Ich wollte Dich schon lange bitten, Dich nach dem Aufenthalt & Befinden des Pfarrers Neururer zu erkundigen. Vor ca einem Jahr lebte er in Mitterbach an der Mariazellerbahn. Als ich ihm dorthin zu Weihnachten schrieb erhielt ich eine Antwort aus einem Ort in der Nähe von Zwettl & es schien, daß er nun dort lebte. Ich habe den Namen des Orts leider vergessen (war es ›Rosenburg‹?) & seine Karte verloren. Vielleicht kannst Du nach Mitterbach bei Mariazell schreiben &, wenn Du seine Adresse ermittelt hast, auch ihm schreiben & ihm Grüße & gute Wünsche von mir ausrichten. Ich wünsche sehr zu wissen, wie es ihm geht. Wenn ich seine Adresse weiß, werde ich ihm selbst schreiben. Page 148
Ich denke oft an Euch & mit vielen guten Wünschen für das innere & äußere Leben. Ich möchte gerne wieder von Hermann etwas hören, wenn er Zeit hat. Grüß Alle herzlichst! Dein Ludwig Wittgenstein Page Break 149
243 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 149
81 East Rd. Cambridge 31. 5. 38. Lieber Hänsel! Page 149
Dank Dir für Deinen Brief. Hermann schrieb, Du legest seinem Brief einen Brief bei, & ich nahm an, daß es ein Brief von Dir an mich sei.--Aber auch von Neururer lag nichts bei. Möchtest Du recht viel Gelegenheit haben, Leuten in ein oder der andern Weise zu helfen Page 149
Ich denke mir, eine Menge Menschen um Dich herum werden Dir heute dafür dankbar sein.
Page 149
Bei mir ist alles im alten. Ich hoffe Euch im Laufe des Sommers sehen zu können; aber es ist noch unbestimmt. Page 149
Ich bin für die Gesundheit meiner Schwester Gretl besorgt. Ich fürchte, die Anstrengungen, die sie sich zumutet, werden zu groß für sie sein; & von ihrem Leben hängt das Glück einer Menge andrer Leute ab. Page 149
Grüß Deine Kinder & Deine lb. Frau herzlich! Dein Ludwig Wittgenstein Page 149
Dank dem Mareile nochmals für die liebe Zeichnung! 244 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 149
81 East Rd. Cambridge 10. 9. 38. Lieber Hänsel! Page 149
Dank Dir für die Photographie! Ich gestehe, ein Bild, auf dem Du weniger--beinahe hätte ich gesagt--schelmisch ausschaust, wäre mir noch lieber gewesen. Aber ich habe es so beschnitten, daß nur die beiden Köpfe & etwas von Brust & Schultern zu sehen ist & jetzt gefällt es mir ganz gut. Ich weiß natürlich, daß der altväterisch lustige Eindruck des Bildes gänzlich unbeabsichtigt zustandegekommen ist; aber mir ist eine einfache, trockene &, womöglich, ernste Photographie immer lieber als eine Genrescene, so natürlich sie auch sein mag.--Ich werde einen Laokoon für Photographen schreiben.--Ich hoffe es geht Euch halbwegs gut. Mir geht es sehr gut, aber ich habe keine Hoffnung, bald nach Österreich kommen zu können, & mit[t]lerweile mag meinen Leuten Manches zustoßen.--Bitte grüß Deine Kinder von mir. Ich wüßte gern, was der Hermann macht; ich wollte ich könnte ihn einmal sehen. Du weißt, ich halte sehr viel von ihm. Page Break 150
Hilf, wenn Du kannst. Mögest Du die Kraft haben, Dir nichts vorzumachen. Grüß Deine liebe Frau herzlichst. Dein Ludwig Wittgenstein 245 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 150
81 East Rd Cambridge 14. 12. 38. Lieber Hänsel! Page 150
Dank Dir für Deinen Brief. Ich muß Dir sagen, daß er mich nicht--wie sonst alle Deine Briefe--wirklich gefreut hat. Es hat mich an ihm etwas befremdet, das ich lange nicht fassen konnte, wofür mir aber dann das Wort einfiel: Teilnahmslosigkeit. Es gab mir, als ich ihn las, einen Schock, wie Du nach einem Bericht über ein Knallgasexperiment der lb. Mareile am Schluß Deines Briefes schreibst, Du habest von meiner Schwester Gretl erfahren, wie es meinen Geschwistern ergangen sei. Als redetest Du von Menschen, die Du kaum je gesehen hast. Ich dachte: Bist Du denn jetzt ganz außer jedem Kontakt mit ihnen?! Und daß sie jetzt viel Sorge & Trübsal haben konntest Du Dir ja wohl denken.--Ich hoffe Du verstehst mich. Wenn nicht, so würde keine weitere Erklärung es klarer machen. Ich will Dich aber nicht kritisieren & habe dazu auch keinerlei Recht; Du sollst aber doch wissen, wie ich fühle. Page 150
Gerne hörte ich wieder etwas von Hermann. Ich wünsche ihm zu den »starken Muskeln« auch ein starkes Gehirn & noch mehr, ein ebensolches Herz. Nicht, daß ich zweifle, daß er es hat! Aber ich weiß nur zu gut: es ist schwer zu behalten. Von mir ist nichts zu berichten. Ich war zwei Monate lang etwas unwohl & bin jetzt wieder gesund. Ich arbeite nicht viel, bin auch faul, aber es geht gerade. Page 150
Ich kann jetzt noch nicht nach Wien kommen, glaube aber bestimmt, es wird zu Ostern schon gehen. Page 150
Als ich einmal schrieb, ich wünsche Dir, Du mögest Dir nichts vormachen, meinte ich eigentlich: ich wünsche Dir, daß Du Deinen Kopf Deinem Herzen nichts vormachen läßt. Der Kopf dreht sich einmal so, einmal so, aber es ist wünschenswert, daß das Herz, wie die Kompaßnadel auf dem Schiff, sich nicht mitdreht!†* Page 150
Ich glaube nicht, daß alles Unsinn ist, was ich jetzt geschrieben habe. Und daß ich nicht viel wert bin, macht es auch nicht zu Unsinn. Page 150
Sag Hermann, er soll mir einmal wieder eine vernünftige Zeile schreiben. Page 150
Grüß Deine liebe Frau & die Mädchen herzlich & nimm auch Dich nicht aus. Dein Ludwig Wittgenstein Page Break 151
246 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 151
[Wien, 1938 ?] Lieber Director Hänsel Page 151
Ich danke Ihnen sehr für Ihren Brief! Sehr gerne hätten wir Sie wieder einmal bei uns gesehen, wenn wir nicht immer Wohngäste hätten, die uns zwar lieb sind, die aber doch ein ungehemmtes Gespräch nicht zulassen!--Bis vor kurzem dachte ich, diese Zeit sei furchtbar hart für Juden, jetzt weiss ich aber, dass sie es ebenso für andere Leute ist, nämlich für die charactervollen Nicht-Nazi! Möge es doch noch irgendwie gut für Österreich werden, wie? das ist mir freilich rätselhaft so wie die Dinge jetzt aussehen, aber die Hoffnung will ich doch nicht aufgeben. Freundliche Grüsse lieber Herr Director Hänsel auch für Ihre ganze Familie Hermine Wittgenstein 247 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 151
[Wien, vor dem 25. 12. 1938] Lieber Direktor Hänsel Page 151
Besten Dank für Ihre freundliche Karte! Gewiss werde ich Sie sehr gerne einmal besuchen und ich denke mir, ich könnte wenn Sie am 25 zu uns kommen, mit Ihnen nach Hause fahren und mir Ihr Heim ansehen. Wir wollen heuer nur ganz einfache ernste Weihnachten feiern der ernsten Zeit gemäss, da habe ich am 25 bestimmt eine Menge Zeit, umsomehr als ja leider meine beiden Brüder nicht hier sein werden. Wann werde ich sie wiedersehen? Sehr leid tut es mir für Sie, dass Sie noch immer keine Erledigung Ihres Gesuches haben, es ist sehr schade um Ihre ungenützten Kräfte! Page 151
Beste Grüsse sehr geehrter Herr Direktor Hermine Wittgenstein 248 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 151
Wien, 28. 12. 38. Lieber Wittgenstein! Page 151
Alle fünf danken Dir herzlich für Deine lieben fünf Christmas-Karten! Richtiger: erst nur die drei, die daheim geblieben sind. Mareile kommt mit ihren alten Freundinnen erst zu Sylvester zurück. Dem Hermann, der länger ausbleibt--auf den Page Break 152
Radstädter Tauern und in den Schladminger Bergen--schicken wir Deinen Brief mit dem Paket, das die Mama eben packt: Weihnachtsbäckereien für Sylvester, die wahrscheinlich zu spät kommen werden, weil er seine Adresse so
spät geschickt hat. Page 152
Am Christtag war dieses Mal--auf meine Bitte--Dein Fräulein Schwester Hermine bei uns, in der neuen Wohnung, zur Jause (vormittag), statt umgekehrt wir bei ihr. Sie war so lieb, diesen meinen Vorschlag anzunehmen und ich glaube, es war sehr gut so, ich meine sogar, wenn ich da auch nur raten kann, es hätte sie ein bißchen gefreut. Sie hat auch meine Kinder wieder reichlich beschenkt und meiner Frau einen sehr schönen Zyklamenstock gebracht, und wir waren wieder so »blöde«, kaum Muh dazu zu sagen. Unsere Freude ist erst nachher herausgekommen, als sie schon fort war.--Ich muß das auch ihr selbst schreiben. Page 152
Bei mir hat sich noch nichts geändert.-Page 152
Zum neuen Jahr wünschen wir Dir alle das Beste! Mareile hat Dir das Neujahrslied von Mörike abgeschrieben. Ich hatte es mir anders gedacht. Aber sie meinte, es ginge in keiner anderen Schrift. Page 152
Aber: hast Du ihre Zeichnungen und meinen Brief auch wirklich bekommen? Und den von Hermann? Page 152
Ich freue mich auf das Wiedersehen zu Ostern. Page 152
Herzliche Grüße! Dein Ludwig Hänsel 249 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 152
81, East Rd Cambridge 29. 12. 38. Lieber Hänsel! Page 152
Vielen Dank für das Buch! Wenn mir auch ein abgetragenes aus Deiner Bibliothek noch lieber gewesen wäre, so hätte ich mir doch gewiß kein besseres aussuchen können. Wenn ich nur ein besserer Leser wäre! Von Mareile habe ich zwei liebe Zeichnungen bekommen. Das Kouvert in dem Du sie abgeschickt hast war aber gänzlich zerrissen & die hiesige Post steckte das Ganze in einen andern Umschlag. Ich schreibe dies nur, weil den Zeichnungen keine Zeilen beilagen & ich fürchte, es könnte ein Brief verloren gegangen sein. Page 152
Mir geht es körperlich gut, aber seelisch gar nicht recht. Ich bin dumm & reizbar.-Page 152
Möchtest Du meinen letzten Brief aufgenommen haben, wie er gemeint war: als eine Aufrichtigkeit†*, nicht als eine Bosheit; & ich hoffe, er war keine Ungerechtigkeit. (Aber wer weiß!) Page 152
Mit allen guten Wünschen & vielem Dank Dein Ludwig Wittgenstein Page Break 153 Page 153
Ich habe nie mehr etwas von Drobil gehört! Weißt Du etwas? 250 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 153
81, East Rd Cambridge 31. 12. 38. Lieber Hänsel! Page 153
Dank Dir für Deinen lieben Brief vom 28. 12.. Es war reizend vom Mareile, mir den Mörike abzuschreiben. Bitte sag ihr das. Auch war mir Dein Brief ein lieberes Geschenk, als selbst Dein offizielles Geschenk; so sehr das
mich gefreut hat. Page 153
Aber Dein Brief, von dem Du schreibst, ist offenbar verloren gegangen. Er lag wohl den beiden Zeichnungen des Mareile bei? (Die Post hat dieses Jahr mit den Paketen gewütet!) Page 153
Wenn ich zu Ostern, wie ich hoffe, kommen kann, muß ich dem Mareile erst richtig danken (durch einen Schlag auf den Kopf). Page 153
Grüß Deine liebe Frau & die Kinder herzlich. Euer Ludwig Wittgenstein 251 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 153
81, East Rd Cambridge 4. 1. 39 Lieber Hänsel! Page 153
Heute erhielt ich Deinen & Mareiles Brief vom 1. Jänner, die mich beide gefreut haben. Ich war offenbar vorschnell Dir Teilnahmslosigkeit vorzuwerfen. Ein schlimmer Fehler von mir, das hastige Urteilen; einer aus einer Armee. Daß jener Brief aber, besonders als ich ihn zum ersten Mal las, mir einen Schock gegeben hat, das ist wahr. Aber es war dieser Schock natürlich kein moralischer, etwa über etwas besonders Übles in Dir; sondern vergleichbar dem, welchen man in folgender Situation erhalten könnte: Denk Dir ich säße im Zimmer eines schwer Kranken; da geht die Tür auf & jemand kommt lachend herein & erzählt, wie hübsch es auf seinem Ausflug war. Das könnte einem einen Riß geben & man möchte sich vielleicht über Teilnahmslosigkeit beklagen. Aber es kann sich dann herausstellen, daß er, im Gegenteil, teilnehmend war, aber in diesem Moment verlegen, oder befangen, oder ich weiß nicht was. Page Break 154 Page 154
So gibt es eben allerhand Mißverständnisse. Sei bitte, nicht innerlich gekränkt über das Unrecht, das ich Dir getan habe. Page 154
Der Mareile & Anna dank, bitte, herzlich für ihre lieben Zeilen. Es tut mir sehr leid, daß der erste Brief der Mareile verloren gegangen ist. Page 154
Von Neururer erhielt ich gestern eine Karte. Er schreibt fast nichts; aber ich habe mich doch gefreut. Page 154
Grüß Deine liebe Frau & Dich selbst herzlich. Dein Ludwig Wittgenstein. 252 PAUL WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 154
9. I. 1939. Hotel Webster 40 W 45 Str Hochverehrter Herr Direktor, Page 154
Vielen Dank für Ihre freundlichen Zeilen, die darin enthaltenen Nachrichten und die Wünsche, die ich ebenso herzlich erwidere. Page 154
Es gibt eine Alserstraße, eine Alserbachstraße, eine Alszeile, eine Alsgasse--daß es auch eine Alseggerstraße gibt, habe ich nicht gewußt. Ich vermuthe, sie liegt irgendwo oben auf dem Bergrücken, in der Nähe der Czartoryskigasse. Page 154
Ich freue mich sehr zu hören, daß in Ihrer Familie Alles wohlauf ist. Auch ich bin, Gottseidank, gesund; meine Pläne jedoch leider immer noch nicht bestimmt. Man stößt überall auf Schwierigkeiten, kann nur hoffen, daß es gelingen werde sie zu überwinden. Page 154
Ich lese Tacitus und die Ciceronischen Briefe; namentlich die Letzteren mit ziemlichen Schwierigkeiten. Ohne Übersetzung, muß ich leider gestehen, käme ich vielfach damit nicht zu Rand. Page 154
Gelegentlich eines Aufenthaltes in Washington habe ich Ji und Karban getroffen, die sich beide ebenfalls besten Wohlseins erfreuen. Page 154
Bitte empfehlen Sie mich bestens Ihrer verehrten Frau Gemahlin und richten Hermann und seinen Schwestern meine herzlichsten Grüße aus! Page 154
Ihr aufrichtig ergebener Paul Wittgenstein. 253 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 154
[Wien, Frühjahr 1939] Page 154
Lieber Herr Direktor! Ich danke Ihnen sehr für Ihre lieben Zeilen und die Glückwünsche! Jetzt, wo die Sache durch die Mitwirkung vieler guter Leute gut Page Break 155
ausgegangen ist, weiss ich erst, was für böse Folgen unsere bodenlose Unerfahrenheit und Leichtgläubigkeit hätte haben können! Hoffentlich kommt nicht noch eine Unannehmlichkeit nach durch die Tatsache, dass es doch eine Zeitung gebracht hat, (noch dazu, glaube ich, entstellt, ich konnte mich nicht entschliessen es zu lesen,) aber wir sind so glücklich und dankbar über die Hauptsache, dass wir das andere alles gerne auf uns nehmen werden!--Merkwürdig ist die Sache mit Ihrem Brief an Ludwig! Schreiben Sie doch eine Karte bloss mit der Frage ob er Ihre Briefe erhalten hat, darauf muss er doch antworten! Schade dass er es nicht mündlich kann! Beste Grüsse geehrter Herr Direktor von Hermine Wittgenstein 254 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 155
Herrn Dr. Ludwig Hänsel 18. Alseggerstr. 38 Wien Austria [Poststempel: Cambridge, 13. III. 39] Lieber Hänsel! Page 155
Dank Dir für Deinen Brief. Gott sei Dank ist alles, wider Erwarten, gut gegangen. Vielleicht kann ich Euch in 1 1/2 bis 2 Monaten sehen. Page 155
Grüß Deine liebe Frau herzlichst! Page 155
Ich denke viel an Euch! Dein Ludwig Wittgenstein 255 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 155
d. 14. VIII [1939] HOCHREITH HOHENBERG
AMT MITTERBACH Sehr geehrter Herr Direktor Page 155
Ich danke Ihnen herzlich für den lieben ausführlichen Brief ich freue mich immer alles von Ihnen zu hören! Für meine sehr verspätete Antwort muss ich aber um Entschuldigung bitten, meine Schreibfaulheit und allerlei wirkliche Abhaltungen haben sich dazu verbunden! Mein Bruder Ludwig ist schon wieder in Cambridge, Page Break 156
(wenn er nicht von dort aus etwas für seine Erholung unternommen hat) ich schreibe ihm jedenfalls dorthin. Mir wäre es sehr lieb, wenn er noch vor seinem Amtsantritt etwas für sich tun könnte, denn die Tage in America müssen sehr anstrengend und auch aufregend gewesen sein, nach dem was mir Direktor Groller erzählte; und Ludwig war ja schon in Wien sehr nervös!--In unserer Angelegenheit hat sich noch nichts entschieden, aber wir können es ruhig abwarten, da alles Menschenmögliche geschehen ist. Man wird es später einmal gar nicht glauben, wie compliziert die Sache war! Page 156
Alle hier sind gesund und das ist die Hauptsache, mein Schwager der uns voriges Jahr so schwere Sorgen machte, geht sogar auf die Jagd und hat schon einen Bock geschossen, das beste Zeichen für seine Gesundheit! Es ist alles so viel schöner und besser als wir voriges Jahr erhoffen konnten, dass wir wirklich nicht genug dankbar sein können. Möchte es nur so bleiben! Meine Schwester Stonborough fängt endlich auch an, sich etwas zu erholen; sie könnte ja jetzt in Gmunden wirklich Ruhe haben, es ist ihr nur gar nicht gegeben sich Ruhe zu gönnen! Page 156
Nun habe ich Ihnen auch über uns berichtet und dazu fällt mir noch ein dass ich einen guten Brief von Geiger hatte, der in Köln in einer Apotheke angestellt ist und in Abwesenheit eines Collegen fast die Apotheke zu leiten hat. Es geht ihm gut aber er hat natürlich Heimweh! Page 156
Ich hoffe für Sie, dass die Tagung nicht abgesagt wird und es würde mich ausserordentlich interessieren zu hören, worüber Sie Vorträge halten sollen? Werden sie auch gedruckt? Hoffentlich haben Sie dann auch gutes Wetter, denn wenn auch die Alseggerstrasse besser ist als die innere Stadt, so würde ich Ihnen doch etwas Land zur Erholung wünschen Ihnen und Ihrer lieben Frau. Ihnen beiden herzliche Grüsse von Hermine Wittgenstein 256 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 156
81, East Rd Cambridge 26. 8. 39. Lieber Hänsel! Page 156
Ich will Dir nur Grüße senden & gute Wünsche für die Zukunft, die mehr als sonst verschleiert ist. Die Grüße sind übrigens aufzuteilen auf Dich, Deine liebe Frau & die Kinder. Wie es mit mir selbst werden wird kann ich mir noch gar nicht denken: ich fühle mich nichts weniger als fähig, Philosophie zu lehren. Nun wir werden sehen. Ich wünsche Euch alles Gute, außen & innen! Ich denke immer viel an Euch. Page 156
Wie immer Dein alter Ludwig Wittgenstein Page Break 157
257 MARGARETE STONBOROUGH AN HÄNSEL Page 157
3/I 40 Lieber Professor Hänsel Page 157
Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Wünsche (ich glaube Sie wissen, wie ganz & gar ich sie erwiedere!) & für Ihren lieben, sehr lieben Brief.--Sie können unmöglich erraten, warum ich Ihnen den D. F. Strauß geschickt habe. Ich besitze--& das ist wirklich wahr--einen Komplex, den ich den Aurelien Komplex nenne. Sie werden ihn gleich verstehen. Als wir noch Kinder waren, pflegten wir in eine Schwimmschule in Dornbach zu gehen. Dort gab es
einen Schwimmmeister, von dessen Tochter Aurelie mein ältester Bruder Hans sehr entzückt war. Einmal sagte er: »Der Kurt (sein jüngerer Bruder) soll die Aurelie heiraten. Ich heirate nicht, aber ich will sie in meiner Nähe haben.« Nun gibt es in der Welt ungezählte Bücher, die mich interessieren, die ich aber nicht lesen würde. Da habe ich dann einen Aurelien Komplex. Ein Anderer, auf den ich etwas halte, soll sie lesen, & mit mir darüber reden. Das Problem, das es dann bei ihm erzeugt, macht mich erst lebendig. Verstehen Sie das? Ich schenke z.B. der Mining Bücher mit Bilder-Reproduktionen. Ihre zum Teil der meinen entgegen stehende Bewertung & ihr viel größeres Wissen, erhöhen zuerst mein Interesse & zwingen mich dann, meine Einstellung ganz anders zu untersuchen & genau zu formulieren.--Das klingt, wie eine recht gemeine Faulheit. Es ist es aber nur zum Teil.--Jetzt hätte ich noch eine große Bitte: Ich bitte sehr, schreiben Sie mir die Fortsetzung des bewussten Briefes. Ich habe so viel von dem ersten Teil gehabt & genau das, was mir jetzt am meisten not tut & wol tut. Sie wissen, ich sage das nicht leichthin.--Ich weiß nicht, was Sie »fertig machen« wollen. Oder eigentlich; ich weiß nicht, wie man so etwas fertig machen kann. Heißt »fertig machen« nicht beherrschen? Und ist es denn denkbar, dass man dieses Geschehen beherrscht? Aber gehen Sie nur daran; für alles was Sie angehen bin ich ein sehr dankbarer Zuhörer. Wieder ein Aurelien Komplex: Ich kann's nicht, aber für das was Sie können bin ich froh & dankbar.--Verzeihen Sie diesen etwas konfusen Brief & seien Sie in herzlicher Freundschaft & warmen Herzens gegrüßt von Ihrer Margaret Stonborough Page Break 158
258 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 158
[Cambridge] 13. 8. 40. Lieber Hänsel! Page 158
Hoffentlich erreichen Dich diese Zeilen, die Dir nur sagen sollen, daß ich an Euch Alle immer mit den alten Gefühlen denke. Mögen wir uns wiedersehen! Page 158
Grüß Deine liebe Frau & die Kinder herzlichst! Page 158
Immer Dein alter Ludwig Wittgenstein SENDET ANTWORT AN MEINEN VOLLEN NAMEN PER ADRESSE POSTFACH 506. LISSABON. 259 HERMINE WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 158
Hochreit d. 4. Sept 1940 Geehrter Herr (Professor) Direktor Page 158
Es wundert mich eigentlich, dass ich den ganzen Sommer nichts von Ihnen hörte und ich hoffe nur, es hat nichts zu bedeuten und alles ist in Ordnung bei Ihnen? Bevor ich auf die Hochreit fuhr, telefonierte ich einmal Ihre Wohnung, und sprach mit Mareile; sonderbarerweise erschien mir ihre Stimme so erstaunlich unfreudig, dass ich beinahe nach dem Grund fragen wollte, aber vielleicht hatte sie nur Kopfschmerzen oder etwas ähnliches? Wie hat sie denn ihre Ferien verbracht und muß sie wieder nach Polen zurück? Gestern erhielt ich eine sehr liebe Karte von Hermann, die mich sehr freute; ich schicke sie mit, vielleicht hatten Sie längere Zeit keine, wie das ja manchmal geht. Möchte er doch gesund heimkommen!, ich erwarte mir etwas von Hermann und hoffe seine Entwickelung noch zu erleben. Aber was sehen und erleben diese jungen Leute jetzt und welche Wandlungen müssen sie innerlich durchmachen!--Eben erhalte ich ein Telegramm von Ludwig: »Good health loving thoughts longing for news from sisters and friends«. Ach wann werden wir uns wiedersehen und wie! Wie glücklich war ich immer wenn er hier war und was hat er mir gegeben! Er und meine Schwester Stonborough gehen mir unendlich ab! Sobald ich wieder in Wien bin,--(ich fahre noch auf 10 Tage nach München†* ) werde ich versuchen durch das rote Kreuz zu schreiben, ich hatte gehofft, er werde von meiner Schwester und einer Schweizer Dame auf dem Laufenden über uns und die Freunde erhalten!--ich bin neugierig Geiger u. seine Frau in Wien zu sehen; nach ihren Briefen ist die Frau mir recht sympathisch.
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Ich schreibe an Ihre Wiener Adresse, weil ich nicht weiss, wo Sie sind; hoffentlich sind Sie gesund, trotz allem, was Sie aushalten müssen! (Unsereines schämt sich über das friedliche, ganz friedensmässige Leben heroben, aber das ist nicht zu ändern. Wenn man mit Verwandten und Freunden und hauptsächlich mit Kindern so in der Einsamkeit sitzt, kommt unweigerlich so eine weltfremde Gehirntrübung zu stande.) Was sagen Sie über Koder's Verlobung, wir sind alle sehr erfreut darüber, finden ihn sehr zum Vorteil verändert! Das Glück belebt ihn! Page 159
Ich sende Ihnen beste Grüsse sehr geehrter Herr Professor und beste Wünsche in jeder Beziehung Hermine Wittgenstein 260 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 159
[Wien] 23. 11. 40. Lieber Wittgenstein! Page 159
Wir haben uns, soweit wir noch beisammen sind, sehr über Deinen Brief aus Lissabon gefreut. Grüße von Dir haben wir öfter bekommen, von Deinem Fräulein Schwester. Aber Deine Schriftzüge zu sehen, war doch etwas Eigenes. Page 159
Mareile ist nicht mehr bei uns. Sie ist Lehrerin in Radomsko bei Radom in Polen. Es ist kalt dort. Aber sie hat große Freude mit den Kindern. Zu Weihnachten kommt sie heim. Page 159
Hermann ist gerade auf Urlaub hier. Page 159
Anna ist mit ihrem Mann noch in der Hinterbrühl. Sie sieht sehr gut aus. Und ihre kleine Gertrud, die schon ein halbes Jahr alt ist, auch. Page 159
Wir grüßen Dich herzlich und wir freuen uns auf den Tag, an dem wir uns wiedersehen werden. Page 159
Alles Gute! Fröhliche, gesegnete Weihnachten! Dein Ludwig Hänsel Page 159
Es geht mir gut. Ihr dankbarer Hermann Herzliche Grüße! Anna Hänsel Page Break 160
261 HÄNSEL AN LUDWIG WITTGENSTEIN Page 160
Wien, 4. 3. 47. Lieber Wittgenstein! Page 160
Nun sind--nach einer langen Pause wegen der Transportschwierigkeiten--wieder zwei Pakete von Schweden (von Sjögren) gekommen, an meine Frau und mich. Sie sind, wie mir Koder gesagt hat von Dir und ich danke Dir herzlich. Wir sind sehr froh darum und freuen uns der Behaglichkeit, in die sie uns versetzen, wenn ich mir schon sagen muß, wie viel andere die Sachen viel nötiger brauchen würden--in Hamburg, nach dem, was ich vor Kurzem gelesen habe, aber auch in Wien oder in England. Gott verzeihe uns und sei uns gnädig. (Er war es mir zu Kriegsende in unheimlicher Weise.)-Page 160
Ji hat mir einen Aufsatz von ihm zu lesen gegeben über die »Re-education« der Deutschen. Schwere Sache an sich. Schwere Sache, was Anständiges dazu zu sagen, besonders für ihn, weil es schon fraglich ist, ob er anständigerweise an so etwas denken darf. (Ich will ihn auch darauf hinweisen. Er wird es sich sagen lassen.)--
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Wir haben noch immer ziemliche Kälte. (Ich bekomme noch neue Frostbeulen ist aber eine harmlose Sache* Meine Frau hat ärgere als ich. Aber--verzeih--ich fürchte, davon schon geschrieben zu haben! Ich könnte ja auch immer in Handschuhen lesen und schreiben und hantieren.) Die Schulen werden, soweit sie Kohle haben jetzt wieder eröffnet. Unsere Schule hat keine, so bleibt es weiter beim »Aufgaben-Unterricht«: jeder Lehrer kommt für 10 Minuten in die Klasse, sammelt die schriftlichen Aufgaben ein, gibt die Korrigierten zurück und gibt neue. (Gäbe auch eine Form ziemlich selbständiger Schülertätigkeit!) Nur die 8. Klassen bekommen (verkürzten) Unterricht in den kalten Klassen: 3 Stunden täglich. Page 160
Herzliche Grüße und (schon) Frohe Ostern. Etwas Grund für Freude gibt es immer! Dein Ludwig Hänsel Auch von mir vielen Dank u. herzliche Grüße! Anna Hänsel 262 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 160
Strathaird Lady Margaret Rd. Cambridge 11. 4. 50. Lieber Hänsel! Page 160
Dank Dir für Deinen lieben Osterbrief. Ich habe mich hier dem Arzt gezeigt, er hat mich untersucht & ist sehr zufrieden mit der Wirkung der Medikamente. Über Page Break 161
meine Zukunft bin ich noch sehr im Unklaren, aber sie wird sich schon irgendwie formen. Hermann habe ich noch nicht gesehen. Ich war froh allein sein zu können, denn meine Gastfreunde sind nicht in Cambridge & ich bin allein in ihrem Haus, & es wird bald genug wieder lebhaft um mich werden. Ich würde mir jetzt eigentlich wünschen längere Zeit allein zu sein.--Die französische Chrestomathie habe ich im Haus gefunden, vielleicht gehört sie meinem Bruder Paul. Behalt sie jedenfalls, wenn sie Dich interessiert. Den Vormerkkalender brauche ich nicht; bitte verbrenn ihn.--Ich hoffe es geht Euch allen Dreien gut. Page 161
Ich hätte auch gern die Osterjause mit Euch gehabt. Bitte grüß Alle von mir, die von mir gegrüßt werden wollen. Page 161
Wie immer Dein Ludwig Wittgenstein 263 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 161
27 St. John Street Oxford 29. 5. 50. Lieber Hänsel! Page 161
Dank Dir für Deinen Brief. Ich habe Hermann vor ca. 5 Wochen in Cambridge gesehen. Mein Eindruck war, daß er nicht unglücklich ist & mit seiner Arbeit eher zufrieden, aber vielleicht etwas an einem Mangel an passender Gesellschaft leidet. Ich selbst verkehre in Cambridge mit so gut wie niemandem, ja eigentlich nur mit der Familie meines Nachfolgers in der Professur; & mit diesen Leuten bin ich befreundet, weil er halb & halb mein Schüler war. Für Hermann aber muß es noch viel schwerer sein als für mich, dort einen geeigneten Umgang zu finden. Mir geht es körperlich ganz gut, aber verschiedenes bedrückt mich; besonders meine schrecklich geringe Arbeitsfähigkeit. Die erschwert das ganze übrige Leben.--Daß Du & Deine liebe Frau Anteil an meinem Befinden nehmen, scheint mir höchst natürlich, so seltsam das klingen mag. Aber es fällt mir jetzt oft schwer zu schreiben, zum Teil, weil ich mich meiner Lebensweise schäme.--Es freut mich, daß Miss Anscombe mit Euch so gut auskommt, denn nichts ist mir erfreulicher, als wenn meine Freunde gut miteinander stehen.--Grüß Deine liebe Frau herzlich von mir, & die Miss
Anscombe, & den Koder, wenn Du ihn siehst. Page 161
Wie immer, Dein Ludwig Wittgenstein Page Break 162
264 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 162
27 St. John Street Oxford 23. 6. 50. Lieber Hänsel! Page 162
Vor einigen Tagen sah ich Miss Anscombe hier. Sie erzählte mir davon, wie »engelsgut« Du & Deine liebe Frau mit ihr gewesen seit. Ich brauche Euch dafür nicht zu danken, denn Güte hat ihren eigenen Lohn.--Es geht mir recht gut, außer daß ich langsam & schlecht arbeite. Anfangs August werde ich vielleicht mit einem Freund auf ein paar Wochen nach Norwegen fahren. Wirst Du einmal den Pfarrer Neururer in Schloß Rosenau aufsuchen. Wenn Du's tust, so wirst Du ihn herzlichst von mir grüßen. Grüß Deine liebe Frau. Wie immer Dein Ludwig Wittgenstein 265 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 162
27 St. John Street Oxford 26. 8. 50. Lieber Hänsel, Page 162
Dank Dir für Deinen Brief. Es wird mir schwer zu schreiben, weil gar nichts neues los ist. Ich konnte nicht, wie ich vorhatte, im August nach Norwegen gehen, da der Freund, mit dem ich gehen wollte, jetzt nicht konnte. Ich habe vor, im Oktober zu reisen; freilich ist es dann schon kalt, dafür aber trifft man keine Touristen. Meine Gesundheit ist gut, aber meine Arbeit wird mehr & mehr wertlos. Das ist keine Klage.--Auch sonst ist zur Zuversicht, von der Du schreibst, kein Grund.--Möge es Euch nicht schlecht gehen! Ich wüßte gerne, ob Du den Pfarrer Neururer besuchen konntest. Vielleicht kann ich im Frühjahr nach Wien kommen. Es wäre schön, wenn wir uns noch sehen könnten! Grüß Deine liebe Frau herzlichst. Page 162
Wie immer, Dein Ludwig Wittgenstein Page Break 163
266 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 163
27 St. John Street Oxford 1. 12. 50. Lieber Hänsel! Page 163
Dank Dir für Deinen lieben Brief. Page 163
Ich war in Norwegen & habe zum Teil großes Glück gehabt, zum Teil nicht. Mein Freund, der mit mir ging, war zweimal krank, erst in Bergen, dann in Skjolden. Aber es war doch sehr, sehr schön & das Wetter ausgezeichnet. Ich muß Dir gestehen, ich habe halb & halb vor wieder hin zu gehen, ja mehr als halb & halb. Ich habe dort mehr Ruhe, als irgendwo anders; & wenn ich überhaupt noch fähig bin zu schreiben (was zweifelhaft ist) so wird es dort eher gehen als woanders. Wenn ich hingehe, so nicht leichten Herzens. Aber hier hat mein Leben verflucht wenig Sinn.
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Ich denke oft an Dich & Deine liebe Frau. Es freut mich, daß der Hermann bei Euch ist. Ich glaube, daß ihm die englische geistige Atmosphäre nicht eigentlich gut getan hat. Ich bin überzeugt, ein Land wie Holland wäre für ihn viel besser. Es ist schwer, das zu erklären--& vielleicht de[n]ke ich überhaupt Unsinn! Aber so schien es mir. Er ist zur unrechten Zeit & im unrechten Alter nach England gekommen.--Bitte grüß Alle, Deren Du habhaft werden kannst. Page 163
Wie immer Dein alter Ludwig Wittgenstein 267 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 163
[Cambridge, vor dem 25. 12. 1950] Lieber Hänsel! Page 163
Herzliche Grüße & Wünsche! Meine geplante Reise nach Norwegen werde ich leider hinausschieben müssen--nicht aus Gesundheitsrücksichten. Vielleicht kommt es überhaupt nicht dazu. Page 163
Wie Du weißt, wünsche ich Euch Allen alles erdenkliche Gute. Page 163
Wie immer Dein Ludwig Wittgenstein Page Break 164
268 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 164
27 St. John Street Oxford 12. 1. 51. Lieber Hänsel! Page 164
Vielen, vielen Dank für das herrliche Weihnachtspaket, das so wunderbar & weihnachtlich eingepackt war. So viel Güte ist beschämend für mich, aber ich lasse sie doch gern über mich ergehn. Wie Du siehst, ist aus meiner norwegischen Reise vorderhand nichts geworden. Erst erfuhr ich, daß ich dort, wo ich wohnen zu können glaubte, jetzt nicht wohnen kann, & dann wurde mein Gesundheitszustand so, daß die Reise unmöglich wurde. Ich muß mich also gedulden, denn es ist wohl möglich, daß ich meinen Plan noch ausführe (D. v.). Über Weihnachten war ich in Cambridge. Ich fuhr hin um mich meinem Doctor zu zeigen & hatte schon die Karten, um ein paar Tage darauf nach Norwegen zu fahren. Aber in Cambridge fing ich an, mich unwohl zu fühlen & mußte mich niederlegen & am Ende meine Fahrt aufgeben.--Hier bin ich sehr gut versorgt & es geht mir nichts ab. Ich muß einen Teil des Tages liegen, aber das macht mir nichts. Ich hoffe, ich werde vor allzulanger Zeit wieder auf die Beine kommen. (Wenn aber nicht, so macht es auch nichts!)--Dieser Brief ist an Dich & Deine liebe Frau gerichtet, aber an niemand andern. Mit Ausnahme von herzlichsten Grüßen, die ich Dich bitte meinen Schwestern & dem Koder & Drobil, wenn Du kannst, zu übermitteln. Miss Anscombe, die, wie Du weißt, im gleichen Hause wohnt, ist sehr gut zu mir & überhaupt bin ich mit zu viel Güte umgeben. Ich bitte Dich & Deine Frau sehr ernstlich von meinem Unwohlsein mit niemand zu reden, damit nicht auf einem Umweg meine Schwestern davon hören.--Noch einmal vielen, vielen Dank. Wie immer wünscht Euch alles Gute Euer Ludwig Wittgenstein Page 164
Herzliche Grüße von Miss Anscombe. 269 LUDWIG WITTGENSTEIN AN ANNA HÄNSEL Page 164
27 St. John Street Oxford 26. 1. 51.
Verehrte, liebe Frau Hänsel! Page 164
Ich will Ihnen nur schreiben, daß meine Freunde & ich Ihre herrliche Bäckerei genießen & immer wieder von den schönen Formen entzückt sind. Page Break 165 Page 165
Ich hoffe es geht Ihnen halbwegs gut. Grüßen Sie Ihren Mann & den Hermann herzlichst. Page 165
Alles Gute wünscht Ihnen, wie immer, Ihr Ludwig Wittgenstein Page 165
Miss Anscombe schickt die herzlichsten Grüße. Sie kann jetzt nicht schreiben, weil sie die rechte Schulter bei einem Fall verletzt hat. In 14 Tagen oder 3 Wochen wird aber alles wieder in Ordnung sein. 270 LUDWIG WITTGENSTEIN AN HÄNSEL Page 165
27 St. John Street Oxford 1. 2. 51. Lieber Hänsel! Page 165
Dank Dir für Deinen Brief vom 20. Jänner & für den zweiten Band Hamann. Du hättest mir nicht ein so kostbares Buch geben sollen! Daß Du jetzt Hofrat bist, ist keine Entschuldigung. Es ist freilich nur eine der vielen Formen Deine Güte zu zeigen. In Hermanns Brief, der dem Deinen beilag, schrieb er, Du hättest Fieber & starke Zahnschmerzen! Ich hoffe es geht Dir besser, wenn Dich dieser Brief erreicht.--Ich habe den Tag nach Erhalt der herrlichen Bäckerei Deiner lieben Frau Dir geschrieben. Hast Du den Brief nicht bekommen? Ich glaube, er war im Bett & mit Bleistift geschrieben. Ich bin jetzt beinahe täglich für einige Stunden außer Bett & habe in der schmerzhaften Zeit nur sehr leichte Schmerzen. Miss Anscombe ist unermüdlich in ihrer Güte & überhaupt wird mir von allen Seiten geholfen, was nicht hindert, daß ich manchmal ungeduldig & grauslich bin. Wie es weiter gehen wird, & ob ich noch werde nach Wien oder Norwegen reisen können, läßt sich nicht sagen. Ich werde wahrscheinlich in ca. einer Woche nach Cambridge reisen, dort bei meinem herrlichen Arzt wohnen & er wird versuchen ob sich etwas machen läßt. (Etwa Bestrahlung.) Ich vertraue ihm absolut, & habe auch guten Grund dazu. Er ist gut, gescheit & ein wirklicher Freund.--Wie ich Deiner lieben Frau in einem Brief schrieb, hat Miss Anscombe sich die rechte Schulter verletzt & kann nicht schreiben. Sie wird es tun sobald sie's kann. Es ist hier eine Grippe Epidemie, aber, Gott sei Dank, hat weder sie noch ich bis jetzt etwas abgekriegt. Und das bringt mich auf Hermanns Heirat. Bitte gib ihm meine herzlichen Glückwünsche. Ich werde ihm einmal selber schreiben, aber nicht heute. Es freut mich, daß er bei Euch wohnt. Man braucht auch tüchtige Leute in Österreich.--Ich lese in Deinem Hamann; er ist sehr schwer, & manches wegen der griechischen & schweren lateinischen Zitate mir unverständlich--übrigens auch aus andern Gründen--aber er ist Page Break 166
doch großartig & eindrucksvoll.--Auch ich möchte Dich sehen & mit Dir über manches reden, was sich nicht schreiben läßt. Vielleicht kommts noch dazu! Gott mit Dir & mit Euch Allen.--Grüß Deine liebe Frau & alle Andern. Page 166
Dein alter Ludwig Wittgenstein Page 166
Es ist immer erfreulich von Dir zu hören. Page Break 167
Aufsätze von Ludwig Hänsel Page Break 168
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Alexius von Meinong Die Grazer Meinong-Gedenkschrift von 1952 Page 169
Die Gedenkschrift†1 sollte ursprünglich als Festschrift zum 50. Jahrestage des Grazer Philosophischen Institutes (1947) erscheinen und wurde kurz vor dem 100. Geburtstag des Philosophen (1953) veröffentlicht. Diese Besprechung möge nun als Ausdruck auch persönlicher Verehrung zur 35. Wiederkehr seines Todestages (27. November 1920) zurechtkommen. Auf keinen Fall und zu keiner Zeit aber ist es unangebracht, von Meinong zu sprechen. In der gegenwärtigen Lage des philosophischen Denkens in Österreich wäre es sogar gut, ihn wieder mehr in den Vordergrund zu stellen.
PERSON UND BEDEUTUNG Page 169
1. Alexius Meinong (R. v. Handschuchsheim) war Professor der Philosophie in Graz von 1882 bis 1920. Er war als Forscher und Denker, als Lehrer und Person von ungewöhnlicher geistiger Größe. Der damalige Grazer Germanist Bernhard Seuffert hat ihn (in einem Schreiben an mich, seinen und Meinongs Schüler) den »selbständigsten, eigenrichtigsten Mann« genannt, der ihm begegnet sei; sein Augenleiden (er war beinahe blind) habe ihn »ganz nach innen, auf sich selbst«, gewendet; von ihm habe man »denken lernen« können. Page 169
Meinong hat in Graz das erste experimental-psychologische Institut Österreichs geschaffen. Er hat sich mit Alois Höfler--in entscheidender Stunde für die Philosophische Propädeutik an den österreichischen Mittelschulen eingesetzt. Er hat in Graz einen Kreis bedeutender Mitarbeiter um sich gesammelt: Mile Radakovi&ca;, R. Ameseder, V. Benussi, E. Martinak, St. Witasek, F. Weinhandl und andere. Sein Schüler E. Mally war sein Nachfolger, und dessen Nachfolger A. Silva Tarouca führt Gedanken Meinongs (in dritter Generation) weiter. K. Wolf ist Schüler E. Mallys. Franz Weber (France Veber) hat in Laibach (Ljubljana) Meinongsche Gedanken tradiert (in slowenischer Sprache). In Prag stand Chr. v. Ehrenfels auf seiner Seite. In Wien hatte sein Denken mit Alois Höfler und J. Kl. Kreibig Fuß gefaßt. Aber zurzeit haben es hier andere Interessen verdrängt. Nur in den pädagogisch-psychologischen und gegenstandstheoretischen Gedankengängen R. Meisters ist es noch spürbar. Vor dem ersten Weltkrieg freilich hatte man ihn schon, hatte ihn (das sah ich bei einem Vortrag) ein gut Teil der Mitglieder der damaligen Philosophischen Gesellschaft Wiens in Verdacht, mit seiner Gegenstandstheorie »scholastische Entitäten« erneuern zu wollen. Page 169
2. Aber Meinong hat über Österreich, den Südosten von Österreich und über den deutschen Sprach- und Denk-Raum hinaus internationale Bedeutung. Darin können sich außer Ludwig Wittgenstein wenig österreichische Philosophen mit ihm messen. Sein Einfluß war und ist wirksam in Italien (M. Losacco u. a.), in Schweden Page Break 170
(P. E. Liljeqvist) und insbesondere in England und in den U. S. A.: Mit B. Russell, J. M. Baldwin, W. M. Urban hat er sich noch selbst auseinandergesetzt. H. O. Eaton veröffentlichte 1930: »The Austrian Philosophy of Values.« Page 170
Über die Aufnahme, die Meinong in diesem Bereich bis zur Gegenwart gefunden hat, gibt einen sehr aufschlußreichen Bericht J. N. Findlay (London) in dem ersten Beitrag der vorliegenden Gedenkschrift: »The Influence of Meinong in Anglo-Saxon Countries«. Der Verfasser, der selbst über die »Theory of Objects«, die »Gegenstandstheorie«, geschrieben hat (London 1933), stellt in England zwei Meinong-»Wogen« fest, die Cambridger (B. Russell, G. E. Moore) und die Oxforder Woge (die der Cambridger Woge folgte); und in Amerika: den Einfluß Meinongs auf die »Neu-Realisten« (die 1912 als ihre »big brothers« in Europa Moore, Russell und Meinong nennen), auf die »Critical Realists« (auf ihre »world of essences«) und selbst auf die semantischen und phänomenologischen Richtungen. Er behauptet: »There are few thinkers of the first rank in Britain and America who haven't learnt much from his writings.« Und er zählt auf: Russell, Broad, Moore, Dawes-Hicks, Stout und Ryle in England; Santayana, Perry, Holt, Montague, Strong und andere in den USA. Sogar in den Bereich der Poeten sei sein Einfluß gedrungen: T. S. Eliot habe an der Harvard-Universität eine Studie über Meinongs Gegenstandstheorie verfaßt. Meinong sei fraglos einer der großen philosophischen Köpfe (philosophic intellects) des späteren 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts, mit dem sich jeder moderne Denker so oder so auseinandersetzen müsse. Findley schließt (1948) seinen Überblick mit einer Erinnerung, die ich ihm nachfühlen kann, nämlich, er sei, obwohl er seither in manchen Dingen weit von Meinong abgerückt sei, sich bewußt, niemals in einem solchen Zustand
unvermischter intellektueller Seligkeit (intellectual blessedness) gewesen zu sein wie während seines Studiums der Gegenstandstheorie. Page 170
3. Als jungem Studenten (1905-1910) wurde mir, wie so vielen anderen, die fast vier Jahrzehnte hindurch nacheinander seinen Hörsaal aufsuchten, das Glück zuteil, durch seine Vorlesungen und Kolloquien--auch zu seinem Seminar wurde ich zugelassen--zu wahrhaft echter Reflexion in die philosophische Problematik eingeführt zu werden. Für meine nüchterne, realistische (und doch auch wohl kritische) Auffassung der Dinge gab er mir zur rechten Zeit, das heißt gleich zu Beginn meines Nachdenkens, ein psychologisches, logisches und ontologisches Begriffssystem in die Hand, wie es präziser, sachgerechter und zeitgemäßer kaum anderswo zur Verfügung stand. (Seine Vorlesung aber über Werttheorie habe ich Ahnungsloser damals versäumt.) Page 170
Meinong wurde mir Vorbild des Suchens und eines Weiterdenkens, das an keiner gewonnenen Formel endgültig Genügen findet. Er reproduzierte nie einfach die Ideen anderer Denker (er war weder Historiker noch Anoder Nachempfinder), er lebte aber auch nicht von deren Kritik, und er wiederholte auch sich selbst nie geradezu. Er war immer mitten in der Auseinandersetzung, auch in seinen Vorlesungen, wenn er, mit seinen fast blinden, aufwärts gerichteten Augen, nach einer Zusammenfassung der letzten Vor-»lesung«, seine Gedanken weiter aus sich herausspann. Mit der Kreide spielend, die eine und die andere Formel in seiner »Begriffsschrift« auf die Tafel schreibend, bedachte, suchte, fand, gestaltete, ordnete er seine Ideen, während er sprach. Page Break 171 Page 171
4. Ein herrliches Denkmal hat seiner Persönlichkeit als Lehrer und Freund Mila Radakovi&ca; mit ihrem Beitrag in der Gedenkschrift gesetzt. Dieser Beitrag mit dem Titel: »Metaphysische Konsequenzen aus dem Persistenzgedanken Meinongs, Persönliches und Sachliches« ist ein Bekenntnis der Verehrung für den so feinfühligen und gütigen, zuhörenden und mitdenkenden, bereitwillig anerkennenden Lehrer und Helfer.--Mila Radakovi&ca; war damals (in den achtziger Jahren des verflossenen Jahrhunderts) die einzige Frau an der Universität.--Als Gegenstück dazu müßte man (in dem Vorwort zur ersten Auflage des Werkes: »Über Annahmen«, aus 1901) des Lehrers vornehmen, offenen, freudig ausgesprochenen Dank für die Anregungen und die Mitarbeit dieser seiner Hörerin lesen.
DIE PROBLEME DER GEDENKSCHRIFT Page 171
Über Meinongs Philosophie orientiert ziemlich gut der § 50 von Überwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie, IV. Teil. (12. Aufl., bearbeitet von T. K. Österreich, S. 534 ff.)--Nur müßte das Todesjahr richtiggestellt werden (1920, nicht: 1921); auf I. M. Boche&na;ski, Europäische Philosophie der Gegenwart, hat sich der Irrtum schon übertragen. Boche&na;ski übrigens stellt Meinong sehr richtig in Parallele mit Husserl.-Page 171
Die großartigste Übersicht über die Resultate seines Denkens, bis in die Problematik aller Verzweigungen, hat Meinong selbst gegeben im I. Band der Reihe: Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen (Leipzig, F. Meiner, 1921). Er schloß sie ab zu Beginn seines letzten Lebensjahres. Die Formulierungen, die er darin gefunden hat, sind, sosehr sie selbst wieder Erwägungen sind, Ausdruck seiner letzt-gültigen Auffassungen. Und sie tragen in Geist und Stil durchaus das Gepräge seiner Persönlichkeit. Page 171
Über die Geistesarbeit seiner Grazer »Schule«, über die Art, wie sich seine noch lebenden Anhänger mit Meinongs Ideen auseinandergesetzt, wie sie diese weitergebildet und in ihre eigenen Gedankenkonstruktionen eingebaut haben, geben die Beiträge der Gedenkschrift Auskunft in interessanter Mannigfaltigkeit. Page 171
Die zehn Beiträge folgen einander »linear« nach den Autoren in alphabetischer Reihe, stehen aber durch einen glücklichen Zufall auch so in einem fast durchwegs sinnvollen Zusammenhang. Im folgenden versuche ich, einen sozusagen mehr räumlichen Eindruck ihrer Bezüge zu geben. Page 171
Die Aspekte, die beiden Hauptaspekte: Gegenstand und Gegenstandserfassung von der einen, Wert und Wertgefühl von der anderen Seite her, lassen sich in Meinongs Gesamtkonzeption nicht rein auseinanderhalten: die Idee einer »emotionalen Präsentation von Gegenständen« verbindet den einen mit dem anderen. Darauf berufen sich mit Nachdruck die Aufsätze von Mila und Konstantin Radakovi&ca;. Meine Darstellung kann aber doch auf dieses Neben- oder Nach-einander nicht verzichten.
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1. Unter den Arbeiten, die sich an den einen Aspekt: Wahrnehmungs-, Erkenntnis-, Gegenstandstheorie, halten, treten (von dem Bericht Findlays abgesehen) Page Break 172
besonders die Abhandlungen von Kindinger und Weinhandl hervor. Sie entwickeln und würdigen Meinongs eigene Auffassung der Dinge. Beide Autoren zeigen in ihrer Weise Meinongs eingehende Analysen der Wahrnehmungsleistungen (der Leistung der »Halbwahrnehmungen« zum Beispiel), der »Annahmen« (durch welche Urteilsgegenstände--»Sachverhalte«--ohne die dem Urteil eigene Behauptung ihrer Tatsächlichkeit--bloß als solche »erfaßt« werden), der »Evidenz« der Wahrnehmung, der inneren und auch der äußeren, aber auch der »Vermutungsevidenz«, der schon genannten »Präsentation« von Gegenständen durch das Gefühl u. ä.; sie umschreiben Meinongs Kategorienlehre, seine Auffassung von dem »Gegenstand« und den Gegenstandsarten: den »Objekten« (Dingen und Eigenschaften) und den »Objektiven« (»Sachverhalten«, ob Tatsachen oder nicht; es gehören dazu insbesondere die Relationen)--bis zu den vielumstrittenen »unmöglichen Gegenständen« (denen Meinong bei all ihrer Negativität doch einen »Bestand«, eine Gegenständlichkeit, genannt das »Außersein«, sichern zu können glaubte). Page 172
Rudolf Kindinger (Graz), dem, wie das Geleitwort sagt, die erste Anregung und ein gut Teil der Vorarbeiten zu der Gedenkschrift zu verdanken ist, geht in seinem Beitrag »Das Problem der unvollkommenen Erkenntnisleistung in der Meinongschen Wahrnehmungstheorie« von Meinongs Hume-Studien I und II aus (1877 und 1882--aufgenommen in die Gesammelten Abhandlungen, Bd. I und II, Leipzig 1913/14), bezieht sich dann aber vorzüglich auf die beiden Werke »Über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens« (Berlin 1906) und »Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit« (Leipzig 1915). Es geht um den Wert, die »Dignität« der Wahrnehmungen für die Erkenntnis, wenn auch die »äußere« wie die »innere« Wahrnehmung »günstigsten Falls« nur zu »evidenten Vermutungen« von Tatsachen führten. Meinong hat, das ist der Leitgedanke, einerseits mit aller Unerbittlichkeit die Unvollkommenheit der Erkenntnisleistung der Wahrnehmungen, anderseits aber auch, gegen die philosophischen Tendenzen seiner Zeit, die Brauchbarkeit dieser unvollkommenen Erkenntnismittel mit Entschiedenheit herausgestellt. Er habe so eine Stellung wieder eingenommen und mit seiner schärferen Analyse des Erkenntnisbestandes besser begründet, die sich in ihrer Weise die schottische Common-Sense-Philosophie (insbesondere Th. Reid) schon »vor« Kant, wenn auch ungefähr gleichzeitig mit ihm, gegen den Skeptizismus Humes geschaffen habe. (Ein, wie mir scheint, sehr glücklicher Hinweis auf eine bedeutende, durchaus gleichrangige Verwandtschaft--ohne Filiation.)--»Hinter« Kant ist Meinong auch sonst, zum Beispiel in der Auffassung des »Apriori«, oder des »Objektes«, mit Bewußtsein zurückgegangen.--Es sei Meinongs Absicht gewesen, darzutun, daß der »naiv« denkende, das heißt aber der »erkenntnistheoretisch unbefangene« Mensch, mit dem Vertrauen auf seine Wahrnehmungen (eigentlich: in der Nicht-Reflexion auf sie) zwar nicht durchaus recht habe, aber »so unvollkommen seine Erkenntnisleistungen dabei sein mögen«, dennoch »cum grano salis« im Rechte sei. (»Cum grano salis«, ein bezeichnendes Lieblingswort Meinongs.) Der Naiv-Wahrnehmende halte zwar sehr gerne bloße »Halbwahrnehmungen« (»Aspekte«) für Vollwahrnehmungen, aber der »gesunde Menschenverstand« korrigiere in seiner »Elastizität« (wie Meinong sagt) derlei Fehler von selbst. Jedenfalls sei der Naive auf dem rechten Weg, wenn er von vornherein »Erscheinung« und »Erscheinendes« mit Selbstverständlichkeit auseinanderhalte. (Was einem der zwölf »Axiome« Th. Reids sehr Page Break 173
nahesteht. Vgl. Überweg III, 12. Aufl., S. 416.)--Der gegen E. Mach gerichtete, wesentliche Satz Meinongs: »Phänomene als solche sind unentbehrliche Erkenntnismittel, sie sind aber niemals ... Ziele unseres Strebens nach Erkenntnis des Wirklichen«, kehrt mit Recht, in der Festschrift noch zweimal wieder, bei A. Silva Tarouca und bei F. Weinhandl. Page 173
Ferdinand Weinhandl (Kiel-Graz), bekannt durch seine Arbeiten über »Gestaltanalyse«, über Goethes »Metaphysik« und »Morphologie«, entfaltet (auf Grund derselben Meinong-Schriften wie Kindinger, aber mit stärkerer Heranziehung der »Selbstdarstellung«) umsichtig, gründlich und klar »Das Außenweltproblem bei A. Meinong« und die Bewältigung dieses Problems durch ihn. Page 173
Meinongs Abhandlung »Über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens«, eines seiner »schönsten und bedeutendsten Werke«, steht in der Mitte. Ein besonderes Verdienst Weinhandls ist es (einige kleine Bedenken seien hintangestellt), die Eigenart des Meinongschen »Realismus« herausgearbeitet zu haben. Nach Meinongs Formel, Wahrnehmungen seien »urteilendes Seinsmeinen eines Soseinsgemeinten«, hätten ja die Wahrnehmungen zwar
Erkenntnischarakter auch in bezug auf die Eigenschaften der Objekte, gingen aber im wesentlichen, und zwar bis zur Preisgabe der »sinnlichen« (der »sekundären« wie der »primären«) Qualitäten, auf die Feststellung der Existenz von »Etwas«, dies freilich--das wird betont--nur mit »einer der besten Vermutungsevidenzen« (nach Meinongs eigenen Worten.) Jenes »Etwas«--das »Ding an sich«, auch »Noumenon« genannt (!)--sei der Gegenstand der »Erscheinung«, so wie umgekehrt das »Phänomen« die »Erscheinung« des »Noumenos« sei. (Eine Konzession Meinongs an eine ihm eigentlich fremde Terminologie.) Auf jeden Fall »transzendiere« sogar die »Halbwahrnehmung« in Form eines »äußeren Aspektes« über diesen Aspekt hinaus auf ein »Noumenon« hin, das sie als das eigentlich wahrgenommene Wirkliche in ihrem »Urteil« einschließe. Und dieses »Transzendieren« (auch dieses Wort ist nicht ganz am Platz, weil es die idealistische »Immanenz« voraussetzt) vollzieht sich--nicht als Kausalschluß vom Phänomen als (angenommener) Folge zurück auf das Noumenon als seine Ursache, sondern--als »Relationsübertragung« (auch das Wort »Übertragung« ist nicht ganz am Platz). Das heißt: Nicht die sinnlichen Qualitäten als solche würden beim »Ding an sich« als wirklich angenommen, wohl aber die Relationen zwischen ihnen in dem Gesamtkomplex der Erscheinung. Zum Beispiel: Nicht die räumlichen Qualitäten selbst, so wie sie sich in der Wahrnehmung geben, wohl aber etwas ihnen Entsprechendes werde mit großer Vermutungsevidenz dem »wirklichen« Ding zugeschrieben, und zwar so, daß die bestimmten Raumrelationen des Phänomens, Oben und Unten, Links und Rechts, Vorne und Hinten in derselben Konfiguration darin wiederkehrten. So gebe es hohe Vermutungsevidenz für Entsprechungen in »Verschiedenheit« und »Zahl«. So kommt es aber auch schließlich zu einer ganz ansehnlichen Rehabilitierung der Wahrnehmung: in ihr werde mit jenem Recht guter Vermutungsevidenz die »Gestalt« (als das Gefüge der Relationen innerhalb eines Komplexes), die Gestalt des wirklichen Gegenstandes in der Gestalt der Erscheinung erfaßt. Page 173
2. Um diese beiden umfassenden Untersuchungen von Meinongs Erfahrungsund Gegenstandstheorie stehen Arbeiten, die Einzelproblemen, insbesondere dem »Außersein« gewidmet sind. Page Break 174 Page 174
Franz Kröner (Zürich), »Zu Meinongs unmöglichen Gegenständen«, lehnt mit Berufung auf E. Mally (»Es gibt kein Außersein«) die Meinongsche Theorie der sogenannten »unmöglichen Gegenstände« (wie eines »runden Vierecks«) und ihrer Seinsart, des »Außerseins«, ab. Findlay hat in seinem Beitrag darauf hingewiesen, daß diese Theorie im angelsächsischen Bereich geradezu als »a typical case of philosophical puzzlement« gegolten habe.--Kröner verteidigt aber doch wieder Meinongs Auffassung gegen die Kritik B. Russells. So weist er dann Meinong Widersprüche mit sich selbst nach und ist doch mit Carnaps Lösungsversuch nicht einverstanden. Immerhin bleibt es bei dem Verzicht auf die »Einführung unmöglicher Gegenstände«, aber wieder mit dem Hinweis auf die Bedeutung dieser (unhaltbaren) Konzeption für »sehr wichtige logische Forschungen«: sie habe sogar eine gewisse Aktualität in der Gegenwart (bei Cl. J. Lewis). Page 174
Johann Mokre (Graz), jetzt Soziologe, hat aus der Zeit seines philosophischen Studiums (von ihm stammt auch eine »Einführung in die mathematische Logik«) eine Arbeit »Zu den logischen Paradoxen« beigesteuert. Darin bringt er die Problematik der antiken, durch die Logistik wieder hervorgeholten logischen Sophismen mit den »unmöglichen Gegenständen« Meinongs in Zusammenhang und kommt mit seiner Aufstellung von »Aussagen erster, zweiter, dritter Stufe« zu ähnlichen Postulaten wie B. Russell mit den »logical types«. (Eine Stellungnahme zu Russells Konzeption fehlt aber ebenso wie zu dem § 2 von Meinongs Schrift »Über emotionale Präsentation«: »Zum Russell-Mallyschen Paradoxon«, aus 1917.--Mokre wollte seine Arbeit so belassen, wie sie ursprünglich war.) Page 174
3. Die noch übrigen Arbeiten über Erkenntnis- und Gegenstandstheorie führen bewußt Meinongs Gedanken in eigener Ideenbildung weiter. (In irgendeiner Weise geschieht dies natürlich in allen Abhandlungen.) Page 174
Rudolf Freundlich (Graz) versucht in seinem Beitrag: »Die beiden Aspekte der Meinongschen Gegenstandstheorie« an Meinongs Begriff vom »Gegenstand« selbst aufzuweisen, in welchem Maße seine Gedanken »auch für uns Heutige« Bedeutung haben und daher weiterzubilden wären. Den »Gegenstand« nun stellt er unter zwei »Aspekte« (nicht im Meinongschen Sinn dieses Wortes): den seines »Seins« und den seines »Erfaßtwerdens«. Seine Betrachtung ergibt einerseits eine gute Orientierung über Meinongs eigene Position (ich greife den Satz der »Selbstdarstellung« heraus: »Dem Gegenstande ist es nicht wesentlich, erfaßt zu werden, wohl aber, erfaßt werden zu können. Insofern ist die Erfassungstheorie eine Art Ergänzung zur Gegenstandstheorie«) und (nebenbei) interessante Einblicke in den Meinongschen A-priori-Begriff und die »Irrationalität« gerade »des Apriorischen«. Die Abhandlung führt andererseits die Theorie des »Außerseins« über Meinong hinaus (Freundlich
versucht, dieses als ein »Gegenstand-sein« vor jedem Urteil, das dann erst über »An-sich-sein« und Seinsart des Gegenstandes gefällt würde, zu verstehen) und sie analysiert das Wesen der »Präsentation« in einer interessanten (plausiblen), aber mit den Ansichten Meinongs kaum mehr vereinbaren Weise. Auch über Freundlichs Begriff des »Gegenstandes«, über seine Ansichten von »Gestalt« und »Erfassen« wäre noch zu diskutieren. Page 174
Eine ganz andere Haltung nimmt Amadeo Silva Tarouca (Graz) in seiner Übersicht: »Die Erkenntnistheorie Meinongs in der Grazer Schultradition« ein. Er sieht die Ideenentwicklung der Grazer Erkenntnistheorie in vier Etappen der Einstellung Page Break 175
zum »Wirklichen« (und skizziert sie in einem übersichtlichen Schema): von F. Brentanos Intentionalismus (wenn man kurz so sagen darf) über Meinongs realistische Erkenntnistheorie und E. Mallys Einführung der übergreifenden Begriffe »Geschehen« und »Gemüt« hin zu seiner eigenen metaphysisch gerichteten Methode der »Ontophänomenologie«. Durch sie soll (ein Ziel, des höchsten Strebens wert!) »die Gefahr aller je entgegengesetzten Einseitigkeiten ... im denkenden Durchhalten aller und jeder Erlebnispolarität« vermieden werden: »Vor der Ontophänomeno-Logik kann keine kritische Lösung durch Unpolarität, kein Dualismus der Trennung, kein Monismus der Identifikation bestehen.« Das Recht zu dieser Betrachtungsweise, »vor« der »das Wirkliche« als »Erlebnis« sich selbst »begründe« (in den zwei Polaritäten des »Für mich--Ohne mich« und des »Denkens Wollens«), sei bereits durch Meinongs Überzeugung, daß die Wirklichkeit mit guter Vermutungsevidenz erkannt werde, gesichert; es habe sich nur darum gehandelt, die Methode daraus zu »entfalten«: »Würde Meinong heute leben, er wäre Metaphysiker.« (Vielleicht--aber in seiner »vermutenden« Weise.) Das Neue an der »Ontophänomenologie« sei der Schritt von Meinongs »reiner Erkenntnistheorie« zu einer Art »Erlebnistheorie« und damit die »Ausweitung der kritischen Rechtfertigungsargumente vom Denken allein zu dem (polar ebenso) das Wirkliche [sc. »dem Wirklichen«] begegnenden Wollen«.--Mit dieser Begründung des »Wirklichen« in ihm selbst, als dem »Erlebnis«, scheint freilich, wenn ich recht sehe, der Realismus, die »Auswärtswendung« Meinongs fast wieder zurückgenommen und durch einen Erkenntnis- oder Erlebnisimmanentismus, ähnlich dem der Brentano-Schule, ersetzt worden zu sein. Page 175
4. In vorsichtigerer Haltung suchen Mila und Konstantin Radakovi&ca; (Graz), fast mehr aus persönlichem Interesse (aus »existentiellem« Interesse, wenn man das Wort im ursprünglichen, kierkegaardschen Sinne nimmt), als um einer Theorie willen, »metaphysische« oder (wohl richtiger) religiöse Gewißheit aus Meinongs psychologisch-gegenstandstheoretischen Analysen, und zwar vorzüglich aus seiner Analyse der Leistungen des Gefühls, zu gewinnen. Page 175
Die Abhandlung von Mila Radakovi&ca;: »Metaphysische Konsequenzen aus dem Persistenzgedanken Meinongs. Persönliches und Sachliches«, wurde hier um ihrer persönlichen Züge willen schon hervorgehoben. Es spricht aus ihr die Dankbarkeit einer kongenialen, treuen Schülerin gegen den Lehrer, der sie einst mit feinem Verständnis und vornehmer Hilfsbereitschaft zur Mitarbeiterin gemacht hat. Sachlich liegt der Akzent der Studie auf der Erkenntnisleistung des Gefühls, die Meinong in seiner Theorie der »emotionalen Präsentation« und seiner Objektivierung des »Wertes« (»Dignität«, »Dignitativ«, »Desiderat«, »Desiderativ«), wenn auch sehr verklausuliert, herauszuarbeiten versucht hat. Mila Radakovi&ca; kann sich für ihre Auffassung auf das Wort ihres Lehrers berufen, daß die Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach dem Wert alles Geschehens »ihrem Wesen nach Gegenstände des Gefühls und nicht des Verstandes« beträfen. So blühte Friedrich Heinrich Jacobis religiöse Gefühlsgewißheit, wie sie sich dem Rigorismus des Verstandes zu Kants Zeiten entgegengestellt hat, hier in vielleicht ähnlicher Erkenntnissituation, genauer präzisiert, wieder auf: »Denn ebenso wie sich das von uns unabhängige Sein der Außenwelt im Urteil dokumentiert, ebenso dokumentiert sich das von uns unabhängige Bestehen der Werte im Gefühl. Das religiöse Gefühl faßt alle diese Seiten: das Page Break 176
Erfassen wie den Gegenstand des Erfaßten [vermutlich: »des Erfassens«] in eine letzte Einheit, in Gott, zusammen.«--Ich habe nun freilich den Eindruck, als ob Meinong trotz seiner Neigung, seiner allzu starken Neigung, Fühlen und Erkennen objektmäßig in Parallele zu setzen, nicht so weit mitgegangen wäre. Wir sind damit schon mehr in die Nähe Schelers oder Nicolai Hartmanns geraten. Und ich glaube mit oder ohne Meinong--außerdem nicht, daß man angesichts dieser schon ganz objektivierten »Welt der Werte« von einem »Einbruch des für den Verstand Unerforschlichen, des Absoluten, in die empirische Welt« sprechen könnte, wo sie »an die Metaphysik« rühre, »sei es in einer der Formen von Platos Ideenlehre, sei es in jenen der Religion«. (In die jenseitige Wirklichkeit ist der Mensch in ganz anderer, realerer Weise getaucht: in seinen persönlichen Bezügen, seelisch und geistig, wenn
auch das Wertgefühl für die Verbundenheit mit Gott nicht ohne Belang ist; nicht philosophisch, sondern existentiell--im Sinne Ferdinand Ebners.) Page 176
Das eigentliche Thema der Abhandlung, der Begriff der »Persistenz«, den Meinong für die zeitlich fixierten Ereignisse der Vergangenheit und Zukunft eingeführt hat, wird von Mila Radakovi&ca; in ähnlicher Weise (und im Sinne ihres Neffen) zu metaphysischen Folgerungen verwertet. Die Ereignisse bleiben in ihrer Tatsächlichkeit bestehen, auch wenn sie zurzeit eines Urteils über sie nicht mehr, oder noch nicht aktuell sind. (Sie haben, darf man sagen: »Zeitgestalt« wie jede Bewegung, jede Melodie, und treten in dieser Gestalt innerhalb der zeitlichen Ordnung an bestimmter Stelle auf.) In ihrer »Persistenz« als Tatsachen (als einmal Geschehenes, einmal Geschehendes) besitzen sie zugleich eine Art zeitloser, dem Vergehen enthobener Wirklichkeit. (A. Höfler hatte in seine »Zehn Lesestücke aus philosophischen Klassikern« schon 1890 die Betrachtungen »Über die Zeit« aus den Konfessionen des hl. Augustinus aufgenommen. Meinong hat in seinen Schriften zuerst 1899 von der »Persistenz« gesprochen: in der Abhandlung »Über Gegenstände höherer Ordnung«.) Mila Radakovi&ca; weist darauf hin, daß, mit diesem Gedanken, Meinong selbst, der sich sonst von allem Metaphysischen ferngehalten habe, in die Nähe einer »tief metaphysischen« Konzeption gekommen sei: des zeitlosen Seins alles zeitlichen Geschehens »in der allumfassenden Wirklichkeit Gottes«.-Page 176
Radikaler als seine Tante, in betont skeptischer Haltung (einer edlen, nicht nihilistischen Bedenklichkeit), bekennt er sich dennoch zu Meinong, nicht zum Realisten, nicht zum Lehrer der Evidenz, wohl aber zum Lehrer der Gefühls-Gegenständlichkeit, Konstantin Radakovi&ca; mit seiner Abhandlung: »Meinongs Beziehungen zu den Grundlagen unserer Erkenntnistheorie und Weltanschauung.«--»Unserer« Weltanschauung: gemeint ist wohl die seines Kreises und die vieler Agnostiker auch in »unserer« Zeit. (Vgl. R. Freundlichs Wort vorne: »Auch für uns Heutige«.)--Konstantin Radakovi&ca; weiß hinter sich: David Hume, den »großen Skeptiker«, der im Grunde doch (stoisch-)gläubig gewesen sei, Herbert Spencer, der trotz seinem Agnostizismus das »undeutliche Gefühl des Absoluten« nicht abgewiesen habe, Schleiermacher, der die Religion auf das Gefühl der »schlechthinigen Abhängigkeit« begründet, und Goethe, den Goethe des Faust-Wortes: »Gefühl ist alles.« Er anerkennt weder die logische Evidenz noch die der Wahrnehmung (Meinong habe ja das Existenz-Bewußtsein selbst auf etwas so Fragwürdiges wie die Erinnerung zurückgeführt), er läßt (mit Hume) nur die »passive Hinnahme eines uns vom Page Break 177
Leben Abgenötigten« gelten (auch Mila Radakovi&ca; gebraucht dieses Wort): »abgenötigter« Glaubensüberzeugungen (von »Wirklichem«) oder »abgenötigter« Denkformen (nach dem Prinzip des zu vermeidenden Widerspruchs). Er hält jedoch an der »grundlegenden« Überzeugung Meinongs von der »Gegenständlichkeit des Erlebnisses« fest, der Erlebnisse überhaupt, das heißt nicht nur, und nicht so sehr der Erkenntnisse, sondern vor allem des Fühlens. Und er sieht gerade in der Möglichkeit, durch Gefühle etwas Objektives zu erfassen, den auch für den erkenntnistheoretischen Skeptiker noch greifbaren weltanschaulichen Halt: in dem »Gefühl für das Absolute«.--Wir sind wieder bei Jacobi, mehr als bei Schleiermacher.--Das Vertrauen zu Gott, das Hiob, mitten in seinem sinnlosen Leiden, zurückgewonnen hat--es ist »unsere« Situation!--, sei ein »Vertrauen ohne Erkennen, ein irrationales Vertrauensgefühl« gewesen. Page 177
In solcher Berufung auf Meinong sind doch wohl wenigstens die Gewichte verkehrt verteilt. Meinong hat, dem Skeptizismus (und Sensualismus) seiner Zeit gegenüber, gerade auf der Evidenz der apriorischen Urteile wie auf der der guten Vermutungsevidenz der Wahrnehmungen, der inneren und der äußeren, bestanden. Dem Gefühl hat er nun allerdings--ich glaube mehr als billig--eine Rolle in der Erfassung gewisser »Gegenstände« (der »Dignitative« und »Desiderative«, deren Wesen noch zu diskutieren wäre) zugestanden, aber doch nur die einer »Präsentation« solcher Gegenstände (worüber auch erst noch zu verhandeln wäre). In der Abhandlung »Über emotionale Präsentation« überwiegen vorsichtige Wendungen wie: man könne das Gefühl »in den Dienst intellektuellen Erfassens nehmen«, oder: das Erfassen sei »doch jederzeit eine intellektuelle Operation«.--Immerhin ist eine Interpretation Meinongs in der Richtung dieser Abhandlung: »in den Gefühlen zugleich ein Erfassen von Gegenständen« festzustellen, nicht auszuschließen. Page 177
5. Mit diesen Arbeiten sind wir schon in den Bereich von Meinongs Werttheorie gekommen. Ihr gilt die letzte Abhandlung der Gedenkschrift: Karl Wolf (Graz) berichtet über »Die Entwicklung der Wertphilosophie in der Schule Meinongs.« Er beleuchtet--im Rahmen eines Überblicks über die Entfaltung der deutschen Wertphilosophie--Meinongs Ideengang von den »psychologistischen« Anfängen bis zur Wertgegenständlichkeit der letzten Phase: zum Begriff des »unpersönlichen Wertes«, des vom »Wertgefühl der Person« unabhängigen, für sich bestehenden »Dignitativs«. Er analysiert, in dem sehr gut gelungenen Kernstück seiner Abhandlung, vorsichtig
Meinongs--in dieser Denkschrift so oft berufene--Theorie der »emotionalen Präsentation«, sie zugleich in ihrer Eigenart von den verwandten Konzeptionen F. Brentanos und M. Schelers abhebend. Und er verfolgt die werttheoretischen Gedanken der Meinongschule weiter: Über Franz Weber (Laibach)--dessen Unterscheidung von »reaktionären« und »judikativen Werthaltungen« festzuhalten wäre--zu Ernst Schwarz und zu Ernst Mallys Metaphysik von der Wertfinalität des »unvollendeten Kosmos«. (Diesem seinem Lehrer galt ja schon Karl Wolfs kritische Untersuchung: »Dialektik des Gegenstandsbegriffs--Von der Gegenstandstheorie Meinongs zur Wirklichkeitsphilosophie Mallys«, Wr. Zeitschr. f. Philos., Psychol., Pädag., II/1, 1948.) Page Break 178
DIE DENKART DES PHILOSOPHEN Page 178
Wenn auch in den Abhandlungen der Gedenkschrift einige Richtungen des Meinongschen Denkens wenig oder kaum zur Sprache kamen--so die in seinen Hume-Studien II. entwickelte »Theorie der Relationen«, seine Theorie der Kausalität, sein Determinismus, seine Evidenzlehre (ein psychologistischer Rest)--: wenn auch bedeutende Mitarbeiter und Schüler Meinongs, wie Benussi und Witasek, Ehrenfels, Martinak und Höfler: die ältere Meinongschule, wenig zu Worte kamen--die Gedenkschrift war ja auch nicht auf Vollständigkeit angelegt--: so kommen doch die Grundtendenzen der Meinongschen Philosophie sehr gut darin zur Geltung; im besonderen: Page 178
der immer ausgeprägtere Objektivismus seiner Gegenstandstheorie, der sich schließlich auch auf seine Werttheorie überträgt (wenn auch eine neue Analyse des im »Dignitativ« Gemeinten einige Folgerungen wieder abschwächen dürfte); Page 178
in seiner Erkenntnistheorie die Verschiebung des Blickes von Ding und Qualität auf die Relationen als das eigentlich in der Wirklichkeit adäquat Erfaßbare (bei aller Festhaltung des »substantiellen« Momentes gegen die sensualistischen Auflösungstendenzen von damals): das real Erfaßbare ist eine gestalthafte Mannigfaltigkeit von Beziehungen an und zwischen unerfaßbaren Dingen oder Eigenschaften (Meinongs Begriffe könnten heute in den Aporien des physikalischen Positivismus vielleicht ebenso Lösungswege bieten wie ehemals dem sensualistischen Positivismus gegenüber); Page 178
der Realismus, die Nüchternheit und Genügsamkeit seiner Psychologie und Erkenntnistheorie (Halbwahrnehmung, Vermutungsevidenz) bei aller Subtilität der Unterscheidungen (Annahmen, Wertgefühl, Phantasiegefühle): seine Betrachtungsweise ist eine Art Gegengewicht zu dem Überschwang der »Phänomenologie«; Page 178
Meinong hält es auch nicht für ausgeschlossen, daß die moderne Werttheorie »den Weg der Entwicklung, den sie in anscheinend so natürlicher Weise gewonnen« habe, wieder werde zurückgehen müssen, »um Jahrhunderte sogar« (»Über emotionale Präsentation«, S. 150). Page 178
Dennoch: Auch die Gefahren seiner Denkart werden in diesen Abhandlungen sichtbar, zum Teil als solche eigens herausgehoben, so: Page 178
seine Lust, die Differenzierungen und Spezifikationen bis ins äußerste zu treiben (Außersein, Präsentation); Page 178
seine Neigung andererseits zu analogischen Vermutungen, versuchsweise zunächst--er erliegt aber dann dem Versucher, dem »Genius der Analogie« (Goethe) nur zu willig (vor allem in der Parallelisierung der Funktionen von Intellekt und Gefühl); Page 178
und sein (damit verbundenes) Bedürfnis nach symmetrischer Geschlossenheit des Systems: eine merkwürdige, seiner Common-Sense-Gesinnung entgegengerichtete Tendenz.-Page 178
Die Gedenkschrift hat aber auch Wünsche wachgerufen, nämlich: Page 178
nach der Herausgabe des noch immer ausständigen dritten Bandes seiner »Gesammelten Abhandlungen«--»Zur Werttheorie. Vermischtes«--, den Höfler seinerzeit in Aussicht gestellt hat, Page Break 179
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und nach einer umfassenden Biographie Meinongs, die, gestützt auf seine »Selbstdarstellung« und auf die noch da und dort lebendige Erinnerung einzelner seiner Freunde und Schüler, vor allem aber auf eine überlegene Kenntnis seines Denkens und seiner Schriften, manchen Irrtümern entgegentreten könnte, die sich über seine Theorien bis in gewisse Handbücher eingeschlichen haben (er gilt zuweilen noch als »Psychologist«), andererseits aber auch seine geistige Gestalt in das Ideengefüge unserer Zeit historisch einzuordnen imstande wäre. Page Break 180
Das Relative und das Absolute (Nach einem Vortrag an der Ottakringer Volkshochschule) Page 180
1. Relativismus als Grundanschauung geht tiefer und ist unheimlicher als irgendeine irrige Lehre sonst. Wem das Absolute fraglich geworden ist, steht vor der letzten Entscheidung seines Lebens. Die meisten philosophischen Lehren mit ihren alten Namen: Pantheismus und Materialismus, Hedonismus und Utilitarismus, Individualismus und Kollektivismus und viele andere »Ismen« behaupten etwas Bestimmtes, eine letzte »Wahrheit«, einen höchsten »Wert«. Es steht in ihnen Behauptung gegen Behauptung, Festes gegen Festes. (Wenn es auch relativistische Ansätze in allen irrigen Theorien gibt.) Konsequenter Relativismus aber stellt alles Endgültige in Frage. Er richtet sich nicht gegen eine einzelne Weltanschauung, sondern gegen jede, gegen die Berechtigung jeglicher Weltanschauung. Es geht da nicht mehr gegen bestimmte Behauptungen, gegen bestimmte Gesellschaftsordnungen (in Kirche und Staat), bestimmte ethnische Grundsätze, sondern gegen jede Behauptung und jede Werttafel, gegen das Recht jeder Ordnung, gegen den Sinn von Recht und Ordnung, im Grunde gegen den Sinn von Wahr und Falsch, von Gut und Böse überhaupt. Wo alles relativ ist, hat nichts Bestand. Page 180
In unserer abendländischen Kultur ist der Relativismus zumeist im Kampf gegen Kirche und Christentum groß geworden: im Kampf gegen ihre leicht zu sehenden Entartungen wie gegen ihre nicht verstandene Größe; im Kampf aber auch der christlichen Lehren untereinander. Mißtrauische Betrachtung der entgegengesetzten Lehren, Idee und Forderung der Toleranz waren Vorstufen dafür. Die Relativität der »Meinung« erschien als Rettung vor dem Druck der festen Lehre, vor dem »Dogma«. Jetzt ist Relativismus überall. Relativismus steckt in allen sensualistischen und positivistischen Theorien, überall, wo vom Subjekt her die Wirklichkeit in Bewußtsein aufgelöst wird und ebenso in allen naturalistischen und deterministischen Lehren, für die sich der Geist in materiale oder biologische Wirklichkeit auflöst; in der Soziologie, wo Kunst, Wissenschaft, Staat, Religion als ideologischer Überbau über wirtschaftlichen Zwangsläufigkeiten erscheinen, in der Psychologie, wo, psychoanalytisch, der Geist als ideologischer Überbau der Triebe angesehen wird. Relativismus steckt im Historismus, dem alles menschliche Denken und Werten und Wollen nur als zeit-, als stilbedingt gilt, in der Charakterologie, die alles aus der Anlage erklärt und die Frage auch der Religion mit der Aufstellung eines religiösen Menschentyps erledigt.--Ansätze zum Relativismus gibt es aber auch in den entgegengesetzten idealistischen Lehren, die eine Widerlegung jeglicher Skepsis bringen wollten: in jedem »Idealismus« (nicht dem platonischen), der die Welt aus der Idee heraus »setzte«, für den die Autonomie der Idee und die Autonomie des Gewissens, die Regeln der Vernunft, als das Letzte, das »Absolute« galten. Relativismus keimt in jedem Humanismus, dem der Mensch als höchster Sinn, als höchster Sinngeber erscheint. Scheinbar wird da im Menschen das Letzte, Absolute gefunden.--Wenn man aber etwas zum Absoluten macht, was es in Wahrheit nicht ist, zerstört Page Break 181
man den Sinn für das Absolute. Wie der Pantheismus auch, der die Welt als etwas in sich selbst Vollendetes, sich selbst Genügendes sehen will. Der Mensch, die Welt als absolut, das läßt sich auf die Dauer nicht glauben und nicht ertragen. Sie sind offenbar »relativ«, »abhängig«, damit dann aber auch alles. Page 181
So gibt es für viele, sehr viele Menschen nichts Absolutes und damit keine Wahrheit mehr. (Relativismus ist von Skepsis nicht zu trennen.) Wissen und Glauben werden zur Meinung, sind als solche erledigt und werden als solche geduldet. Alle »absoluten« Überzeugungen, alle »feste« Gesinnung kann anerkannt, auch »gewürdigt« werden als natürliche oder als »geistesgeschichtliche« Erscheinung, als Anlage oder Zeitgeist. Page 181
Die Überlegenheit über alle Standpunkte des Glaubens und der Grundsätze kann sich aber nicht wieder auf einen höheren Standpunkt von größerer Festigkeit berufen, sie ist und muß (so widerspruchsvoll das ist) »Standpunktlosigkeit« sein, wie sie Dilthey nachgerühmt wird. Das ist aber Haltlosigkeit. Haltlosigkeit fordert im
Grunde schon, wer Toleranz verlangt, d. h. Geltenlassen der anderen »Meinungen« (nicht der Personen), auch wo es sich um wesentliche Dinge handelt. Haltlos ist im Wesen der Liberalismus, das Kind der Toleranzidee. Haltlos ist der Relativismus der Menge, die Toleranz, der Liberalismus der Gasse. (»Es ist halt seine Meinung er kann nichts dafür--nu, laß ihn.«) Page 181
2. In den relativistischen Gedankengängen liegt Verführerisches genug. Und doch ist das Bedürfnis nach Endgültigem und Absolutem nicht auszutilgen. Es ist ein Bedürfnis nicht nur des »Gemütes« (das auch seine Rechte hat), sondern ebenso des Geistes. Daher die immer neuen Versuche, aus dem Relativismus heraus nach etwas Festem zu langen, wäre es auch nur ein Balken, der wieder auf den Wellen schwimmt. Page 181
Die Lehre des »Als ob«: Denke und handle so, als ob Wahrheit und Wert feststünden und zu erreichen wären, war ein letzter Versuch, Relativität und Entscheidung bewußt in einem festzuhalten. Aber so edel und heroisch dieser Skeptizismus sein mag, der auf den Zweifel verzichtet, in seiner Reinheit--wenn er wirklich nichts »dahinter« annimmt, was diese merkwürdige Situation erklärte--als konsequenter Fiktionalismus ist er (geistig!) nicht zu ertragen. Es ist Lüge, sich gegen die Welt so zu verhalten, als ob sie anders wäre, als sie ist, und als ob man selbst ein anderer wäre, als man sich weiß. Und es rettet auf die Dauer nicht vor der Trostlosigkeit des Nichts, vor dem Nihilismus, d. i. der pessimistischen, durch die Wertlosigkeit aller Werte bestimmten Form relativistischen Denkens und Fühlens, ob diese sich nun als klagende Melancholie oder als zynischer Hohn oder als lustloses Verfallensein an die Lust offenbart oder als heroisches Bewußtsein der endgültigen »Endlichkeit«, der »Geworfenheit« der menschlichen Existenz. Page 181
Es ist die Krankheit der Zeit, die »Krankheit zum Tode«. Nietzsche schon sah, daß Europa daran zugrunde gehen würde. In Trotz und Ironie wies er auf einen neuen Halt und einen neuen Wert hin: auf den Willen zur Macht als wahre Form des Lebens. Das Absolute sollte »das Leben« sein. Page 181
Daß Wesen und Wert des Lebens in solchem Licht erscheinen konnten, war zu gut verständlich als Reaktion auf den Mechanismus, Rationalismus und Utilitarismus des ökonomischen Denkens. Page 181
Und »Lebensphilosophie« trieb um und nach Nietzsche überall auf. Das »Leben« war nun das Letzte. Dilthey, vor ihm, der Begründer der »Geisteswissenschaften«, Page Break 182
so sehr er Skeptizismus und Relativismus von sich zu weisen suchte, auch er sah im Leben den letzten Grund: »Die letzte Wurzel der Weltanschauung ist das Leben.«--»Hinter das Leben kann das Denken nicht zurückgehen.« Page 182
Den »Primat des geschichtlichen (oder ungeschichtlichen) Lebens über die erkennende Vernunft« (Liebert) zu behaupten, wird Denkform der Zeit: bei Bergson, Simmel, Klages, Spengler, dem späteren Scheler. Scheler (und nicht bloß er) mit seiner Idee vom »werdenden Gott«, vom Menschen als »Erlöser Gottes« (der »deutschen Häresie«, wie Theodor Haecker sie nennt), so hoch er den Geist stellt, setzt ebenso als letztes Absolutes das Leben wie Klages in seinem Kampf gegen den Geist (gegen Vernunft und Willen des Menschen) als den Widersacher der Seele (d. h. der urtümlichen Lebenskräfte). Page 182
Welche Konsequenzen aber hat solche »Lebensphilosophie« für das Leben? Für die Person ist es der alte verführerische Imperativ: »Sei du!«--das alte, so wahre wie falsche: »Werde, was du bist«. Das »du«, das man in sich sieht, sind aber meistens nur die eigenen Anlagen, das eigene Glücksverlangen, die eigenen Triebe.--»Sei du«, heißt: »Setz' dich durch« oder in höherem Sinn: »Mach das Stärkste aus dir.« Für die »Gemeinschaften« aber gilt dann Macht der Partei, der Klasse, der Nation als das Letzte. Was früher als Entlarvung empfunden worden war: daß eine bestimmte Weltanschauung oder geistige Haltung die Folge der eigenen Anlage, der eigenen Wirtschaftslage, der eigenen Rasse, des eigenen Volksgeistes sei--man wollte doch »unbedingt«, »absolut« im Recht sein (wie kann man auch anders im Recht sein?)--, wird jetzt mit Stolz bejaht, beansprucht: die Klasse, die Nation »will« eine eigene Weltanschauung. Es heißt nicht mehr: wir wollen die und die Staatsform, die und die Güterverteilung, weil sie recht ist, wir bekennen uns zu dem und dem Gedanken, weil er wahr ist--sondern umgekehrt: Weil wir das wollen, darum ist es recht; weil wir das glauben, darum ist es wahr. Wir wollen unseren Mythus, sacro ist unser egoismo. Page 182
3. Das ist Zwang und Krampf.--Wir müssen zu natürlichem geradem Denken zurückfinden. »Selbstbesinnung« ist der richtige Weg für uns, die wir schon in die Irre geraten sind. Darin hat Dilthey recht. Aber es bedarf einer Selbstbesinnung, einer »Analyse des Bewußtseins«, die auch über die Befangenheit Diltheys, über
seinen Immanentismus (der Reflexion wie des Lebens) hinausführt. Und es gibt »feste Punkte«, fest an sich. Es gibt absolute Wahrheit und absolute Wirklichkeit. Page 182
Absolute Wahrheit im Denken, d. h. im Erfassen der Beziehungen, der Relationen selbst. Page 182
Zweimal zwei sind vier. »Sind« vier, nicht: »erscheinen mir« oder »uns« als »vier«; auch nicht: »können wir nicht anders denken, denn als vier«. (Frege.) Page 182
»Können wir nicht anders denken«, das wäre, was man Psychologismus nennt, ein Sprung in ein anderes Feld, in einen anderen Beweisgang. Kompliziertere mathematische Beweise werden sicher ohne Berufung auf »Denknotwendigkeiten« geführt, sie lassen sich mathematisch führen mit Berufung auf mathematische Wahrheiten. Erst bei den sogenannten Axiomen, weil sie nicht weiter beweisbar sind, meint man die psychische Erfahrung der Undenkbarkeit des Gegenteils zu Hilfe rufen zu müssen. Das ist aber kein Beweis für das Axiom. Die Axiome brauchen auch keine Beweise. Sie sind »selbstverständlich«. Page Break 183 Page 183
Freilich alle mathematischen und dazu alle logischen Sätze (denn alle Mathematik ist angewandte Logik, angewandt auf gewisse Beziehungen) sind auch nichts anderes als Selbstverständlichkeiten, »Tautologien« (Wittgenstein). »Nur« Selbstverständlichkeiten, nicht »Erleuchtungen« oder »angeborene Ideen« (wie man in einer noch gottgläubigen Zeit dachte, in der man die Relativierung alles Menschlichen durch Verankerung des Nichtbeweisbaren in Gott verhüten und alles Evidente nur als Erleuchtung durch Gott begreifen wollte). Es steckt nichts hinter diesen Sätzen, was der Erleuchtung bedürfte. Sie enthalten nichts Neues. Es sind rein »analytische« Sätze, wenn man ihnen ordentlich auf den Grund sieht. Es gibt keine »synthetischen Sätze a priori«. Die Frage Kants: »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich«, hat denn auch nur zur Autonomie der Vernunft, nicht zur Selbständigkeit der Wahrheit geführt. Hinter der Vernunftautonomie aber erhebt sich die relativistische Frage: Warum sollte diese autonome Vernunft gerade aus sich heraus das Wahre treffen, da die menschliche nicht selbstherrlich sein kann? Oder richtiger: Welchen Sinn hat das Denken noch, das so in sich selbst befangen ist? (Herder hatte ein ärgeres Wort dafür.)--Die »apriorischen« Sätze sind alle »analytisch«, sie enthüllen nicht, mit merkwürdiger Sicherheit, ungeahnte Wahrheiten, alle Logik ist Tautologie, aber das Verfahren ist richtig, absolut richtig. Es werden interne wahre Beziehungen festgestellt, »formale Wahrheiten« sagt man. Page 183
Wie aber steht es mit der Feststellung der »materialen« Wahrheit, mit der Erkenntnis des Wirklichen? Zwei berühmte »Modelle« des Erkenntnisvorganges stehen für uns da einander gegenüber, das des Aristoteles und das Kants. Sie stehen nicht an den äußersten Enden des Gegensatzes, aber es sind die typischesten. Für Aristoteles ist die erkennende Seele ein Wachstäfelchen, das die »Eindrücke« aufnimmt, die der Griffel der Wirklichkeit in sie gräbt. Die Erkenntnis erscheint als passiv, als prägbar, die Wirklichkeit als bestimmend. Für Kant hat der Verstand, haben, bei all ihrer »Rezeptivität«, schon die Sinne bestimmende Kraft. Die Erkenntnis ist ein spontaner, d. h. eigenwilliger oder doch eigengesetzlicher Akt. Die Wirklichkeit, wie sie als Reizmasse auf die Sinne wirkt, gilt als chaotisches Durcheinander, das erst durch die Aufnahmsapparate, durch Sinne und Verstand geprägt, in Raum und Zeit gegliedert, nach den Kategorien zum Objekt geformt würde. »Objekt« und »Natur« werden zu Gebilden des Geistes. Page 183
Richtig am Kantischen Modell wird der Gedanke bleiben, daß bei jeder Wahrnehmung und Erkenntnis die Fragestellung (dazu gehört auch die Bereitstellung von Kategorien und antizipierenden Theorien) vom Geiste des Erkennenden her bestimmt sein muß. Das besagt auch das Beispiel vom »Richter«. Dieser stellt an den Angeklagten die Fragen und bestimmt damit die Antworten. Aber er gibt die Antworten nicht selbst und kann sie nicht geben. Jede Frage läßt etwas offen (das ist der Sinn der Frage): Das Ja oder Nein oder eine Besonderheit an einem eben noch nicht in jedem Sinne festgestellten Sachverhalt. Die Antwort muß der Befragte aus seinem Wissen geben. Die Wirklichkeit muß (in der von dem forschenden Menschen vorgeschriebenen Richtung) ihrerseits den Ausschlag geben, bestimmend sein. Die Erkenntnisse sind nicht eigene Konstruktion, sondern Bilder der Wirklichkeit im Rahmen und in der Auffassungsweise des Geistes.' Freilich, es kommt sehr viel auf die Frage an: auf dumme Fragen bekommt die exakteste Wissenschaft keine gescheiten Antworten (Wittgenstein). Page Break 184
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Zur selben Anerkennung »subjektiver und objektiver Faktoren« beim Erkenntnisvorgang führt nun aber auch das scheinbar rein objektiv eingestellte aristotelische Modell. Auch das Wachstäfelchen nimmt Eindrücke nur nach seiner subjektiven Art auf, anders, wenn es weich, anders, wenn es hart ist, und es nimmt nur mechanische Eindrücke auf und nur Vertiefungen in der Fläche. Die photographische Platte hat andere Aufnahmsmöglichkeiten, für alle Farben aber wieder nur Schattierungen von Dunkel und Hell. Page 184
Die Wahrheit der Erkenntnis freilich, die adaequatio rei et intellectus (das ist, bei aller Einschränkung, der einzige Wahrheitsbegriff, der ursprünglichen Sinn hat), ist nicht beweisbar. Wie sollte sie es aber auch sein? Es liegt geradezu im Wesen des Erkenntnisvorganges, daß durch ihn ein Letztes gegeben ist. Wir stehen wieder vor einer letzten Unbeweisbarkeit. Das ist eine Fatalität, wenn man will. In Wahrheit ist es keine. Als solche empfinden kann sie nur ein merkwürdiges Sekuritätsbedürfnis, das jede »Versicherung« wieder »versichert« haben möchte. Jeder Versuch, sich dieser letzten Unbeweisbarkeit zu entziehen, führt zu Verbiegungen des Wahrheitsbegriffes, zu »immanenten« Wahrheitsbegriffen (für die Erkenntnis dessen, was man erkennen möchte: des »Transzendenten«!), und zwar nicht nur im »Transzendentalismus« Kants, sondern auch überall dort, wo man sich psychologistisch auf ein »Überzeugungsgefühl«, auf »Evidenz« berief (bei Brentano und auch noch bei Meinong). Der subjektive Standpunkt, das angebliche Ergebnis der »Selbstbesinnung«, muß aufgegeben werden. Richtige Selbstbesinnung darf nicht von der sekundären Erfassung der Bewußtseinsinhalte ausgehen, zu der wir erst durch »Reflexion« gelangen, sondern muß unsere primären Akte der Gegenstandserfassung als solche gelten lassen. »Immanenz« und »Transzendenz«: es gibt beides nicht oder höchstens in ganz anderem Sinn. Page 184
Wir müssen uns entschließen, die wirkliche Situation auch bei der Erkenntnis zu sehen und anzuerkennen. Wie die Erde nicht von einem Riesen getragen wird, der auf einem Elefanten steht usw. (worauf aber steht die Schildkröte?), so gibt es auch für die Erkenntnis nicht Begründung auf Begründung. Wir sind in die Welt hinausgestellt, »geworfen«, aber auch gehalten wie die Himmelskörper. Die alte Anschauung der »Schwere« (für die schon die Antipoden unbegreiflich waren) ist in der Naturerkenntnis überwunden, sie muß auch im Geiste überwunden werden. Wir sind Wesen, die von sich selbst und von der Welt wissen. Das eine ist vom andern nicht zu trennen. Wir schweben im Raume der Erkenntnis. Page 184
4. Feste Punkte, solche »feste« Punkte freilich wie die Sterne im »Äther«, gibt es nicht bloß für das Denken, sondern auch für das Wollen und das Fühlen. Page 184
Auch für das »subjektive« Fühlen, dem man solange keinerlei Objektivität zutrauen wollte. Auch hier ist der Blick zum Objektiven, zum absolut Feststehenden offen, sogar in zweifacher Hinsicht. Es gibt jenes im Grunde unfehlbare Verhalten des Gefühls, das sich in den »Wertantworten« kundgibt, in der Art wie unverdorbenes und unbefangenes Fühlen reagiert, sobald es einem Wert gegenübertritt (Hildebrand). Es reagiert anders vor den Werten des Sinnlich-Angenehmen als vor vitalen Werten (der Gesundheit und der Kraft, der Macht und des Adels) und wieder anders vor den geistigen Werten der Ordnung (des Wahren, Schönen, Gerechten) oder vor den religiösen Werten der Heiligkeit und der Liebe.--Beweisbar freilich ist kein Wert und kein Wertrang. Die Werte sind nicht Sache Page Break 185
des Intellekts. Für ein Wesen, das nicht »fühlt«, gibt es keinen Wert. Aber das Gefühl ist--Unbefangenheit vorausgesetzt--unbeirrbar. So kam es, daß man auch hier von einem a priori gesprochen hat.†1 Page 185
Eine ähnliche Gewißheit, Untrüglichkeit des Fühlens und Erkennens zugleich, besteht in den seelischen Beziehungen der Menschen untereinander. Es gibt eine Art Intuition der physiognomischen Erkenntnis, ein Erkennen von Seele zu Seele, durch das Auge, durch das Ohr, durch die Sinne zwar, aber so unmittelbar, als ob es keine Zwischenglieder gäbe. (Scheler.) Daher jene Sicherheit von Liebe und Haß, Sympathie und Abneigung, jene Instinkte von Geborgenheit und Gefahr, die beim kleinsten Kind schon vor aller Lebenserfahrung sich zeigen. Auch hier gibt es, trotz aller Irrungen des besser wissenden Verstandes, vor aller Interpretation durch ihn, im Grunde des Erlebnisses keine Illusion. Page 185
Im Bereich des Willens aber stehen wir vor jener so merkwürdigen Tatsache der freien Entscheidung, jenem Wunder der Selbstbestimmung, die, nicht anders als die Selbsterkenntnis, allen Voraussetzungen des natürlichen Denkens widerspricht, die daher scheinbar so leicht zu bestreiten ist. Sie ist Wirklichkeit trotzdem. Von nichts sind
wir in Wahrheit mehr überzeugt. Nichts ist unmittelbares Erlebnis. Aber auch sie ist unbeweisbar. Page 185
Neben der Freiheit der Entscheidung aber steht die sittliche Gebundenheit durch das Gewissen. So sicher wir uns frei fühlen, so gewiß fühlen wir uns auch verpflichtet zur richtigen Ordnung der Werte. Auch dieser Unbeirrbarkeit des Gewissens liegt etwas Letztes, etwas absolut Feststehendes zugrunde. Eine Art Autonomie, wenn man das Wort richtig versteht: nicht Kantische Kraft der Gesetzgebung aus eigener Machtvollkommenheit (nicht Verabsolutierung des Menschen oder der »Vernunft«), wohl aber die Fähigkeit der Gesetzfindung und der Anerkennung dieses »Gesetzes« in unserer Brust aus eigener Einsicht, jenes untrügliche Gewiß-sein über Wert und Verpflichtung. Page 185
5. Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung, es sind Tatsachen, die allen noch so »evidenten« Widerlegungen standhalten. Das Wort »selbst« an sich enthält schon die ganze Paradoxie, gegen die sich das mechanisch-logische Denken sträubt. Schon dem Lebendigen, dem Organismus gegenüber kommt man ohne dieses »Selbst« nicht aus, ohne die Begriffe »Selbsterhaltung«, »Selbstgestaltung«. Das ist auch von der Lebensphilosophie gesehen worden. Nur--wenn auch im »Selbst« der positive Sinn des Wortes »Absolut« schon enthalten ist--absolut im höchsten Sinn, d. h. nach jeder Richtung, das in sich vollkommene Selbst, das Selbst, das Kraft und Sinn des eigenen Seins in sich selbst hat, das Absolute der Wirklichkeit, sind Leben und Geist des Menschen nicht. Der Mensch ist Person, ein Selbst mit Selbstbewußtsein und mit der Fähigkeit der Selbstbestimmung. Und doch kein absolutes Wesen, wozu der Humanismus ihn machen wollte. »Absolut nur in der Potenz, Nichts in der Realität«, wie Solovjeff gesagt hat.†2--Und die Welt als Ganzes ist auch nicht das Absolutum, zu dem sie der Pantheismus machen möchte.--Mensch und Welt, sie sind beide in der Hand Gottes. Gott erst ist das wirklich absolute Selbst. Soviel man auch herumdenken mag, das ist immer wieder die plausibelste Erklärung für alles. Gott ist das letzte Postulat nicht nur der »praktischen«, sondern auch der »theoretischen« Vernunft. Immer wieder ist der natürliche Mensch auf dem Weg zu Gott, wenn er die Welt, ihr Sosein und ihr Dasein, Page Break 186
wenn er sich selbst zu verstehen sucht. Er versteht sich und die Welt am besten als Geschöpfe, als Kreaturen. Wenn ihn sein Drang über sich hinausweist, zu sein wie Gott: was in diesem Drang berechtigt ist, liegt im Wort der Offenbarung, daß er Bild Gottes sei.†3--Gott als Person ist das große »Du«, das der Mensch braucht, um nicht in der Fülle und in der Einsamkeit der Welt zu versinken. Gott ist der höchste Richter, den der Mensch braucht, und seine letzte Zuflucht. Page 186
Wer über diese Dinge nachgedacht hat, weiß von der Problematik aller Fragen um Gott und aller Gottesbeweise und Gottesbegriffe. Man muß sie erfahren haben, die prinzipielle Unmöglichkeit, mit endlichem und d. h. relativierendem Denken das Absolute widerspruchslos, geschweige denn ganz zu erfassen! Nur fordern kann es das Denken, jenes Absolute, bei allem Bewußtsein der Paradoxie. Und fordern muß es das Denken: als die Dimension, in der alles dem Denken so gemäße Relative erst seinen Sinn hat. Ein altes Bild: Im Kreisumfang liegen die Dinge schön nebeneinander und einander gegenüber. Wird der Kreis kleiner und kleiner, so rücken sie immer mehr aneinander und im mittleren Punkt sind alle Teile der Peripherie, alles Nebeneinander und Gegenüber in eins zusammengedrängt. So sind die Mannigfaltigkeiten und Gegensätze der Welt und der Menschen und die Ansätze, die von überall her auf Gott hin gemacht werden, in der Einheit Gottes beisammen. Gott ist die Einheit im Widersprechenden, das ist die Antithetik alles mystischen Denkens. (Die Einheit allerdings und nicht die Auflösung in die Widersprüche wie in der Mystik Jakob Böhmes und anderer bis auf die Gegenwart.) Von Gott läßt sich nur in Paradoxen reden, aber man muß wohl darauf sehen, daß das Denken nicht einseitig, nicht nur von einem Punkt der Peripherie zu Gott vordringe, sondern wirklich von allen Punkten, auch den gegenüberliegenden, gewissermaßen zugleich. Page 186
Noch schwerer als die Folgerichtigkeit des Denkens auf Gott hin ist für den Menschen der Gegenwart die richtige Aufgeschlossenheit für die Offenbarung, die absolute Wahrheit von Gott her, die richtige Stellung zu Christus, der Erscheinung des Absoluten im Relativen, und gar zur Kirche, der Bewahrerin des Absoluten im Relativen. Und doch, auch für den modernen Menschen gibt es einen unmittelbaren Zugang zu diesen Geheimnissen und Paradoxen, für den offenen, ehrlichen und ehrfürchtigen Geist wenigstens. Es gibt eine Physiognomik des Göttlichen vor allen historischen Nachweisen. In den Evangelien »offenbart« sich unmittelbar der Sohn Gottes.--Ferdinand Ebner hat so, d. h. mit physiognomischer Intuition, die Antwort auf die »Christusfrage« gefunden.†4 Christus zeigt sich uns im Grunde nicht anders als denen, die ihn auf Erden sahen. Page 186
Auf Paradoxien führt alles Geistige zurück und ohne sie hat es keinen Sinn. Wer darüber den Kopf schüttelt,
der möge sich bewußt machen, wie viel Paradoxe die Wissenschaft schon im Bereich der leblosen Natur, in der Physik in Kauf nimmt: die vierte Dimension z. B. oder Materie, die sich in Energie verwandelt und umgekehrt! Page 186
Wo das Absolute sich zeigt, auch nur von weitem, ist das Paradox die natürliche Art, es auszudrücken. Der Hinweis auf Widersprüche ist immer wieder das stärkste Argument in der Hand des flachen und bequemen Geistes gegen alles »Absolute«. Aber glatte Verständlichkeit ist nur im engsten Bereich möglich, nicht mehr, wie die Gegenwart deutlich genug erweist, in den Grundfragen der exakten Page Break 187
Wissenschaften, der Mathematik, der Physik, noch weniger in der Biologie, noch weniger in der Erkenntnis des Menschen. Page 187
6. Wozu man sich aufraffen muß (es wäre das Natürliche, aber längst Entwöhnte, längst zu sehr mit Mißtrauen und Verachtung Belastete), ist Bereitschaft für das Absolute, Bereitschaft es anzuerkennen, wo es sich offenbar zeigt, auch seine Paradoxien hinzunehmen, wo sie unvermeidlich sind, ist der Mut, »in der Luft« zu schweben, im Kraftfeld der Wirklichkeit, im Kraftfeld Gottes. Dann erst ist man wieder unbefangenen Geistes. Diese Bereitschaft soll einen aber--auch das gehört zur Unbefangenheit--umgekehrt wieder nicht hindern, auch das Relative zu sehen, überall, wo es Tatsache ist. Page 187
Die Angst um das gefährdete Absolute hat nur zu oft zu Kurzschlüssen geführt, die den Glauben an das Absolute dann noch mehr zerstörten. Es gibt auch Kurzschlüsse aus pädagogischen Gründen, in wohlgemeinter Absicht, um die Sache einfacher, leichter zu machen. Gott und das Christentum sind oft genug schon so mundgerecht gemacht, so vereinfacht worden, daß ihre Unbegreiflichkeit und damit ihre Größe verschwanden. Es gibt ganze Zeiten solcher Vereinfachung, in denen die Christen geistig nicht auf der Höhe ihres eigenen Glaubens stehen. Sie sind dann jeder »Entlarvung« preisgegeben und reagieren darum auf jeden Versuch der Untersuchung mit Angst. Page 187
Die Relativität ist aber auch dadurch nicht zu überwinden, daß man die Augen davon wegwendet und mit Stiernackigkeit einem »Mythus« sich hingibt, einem Gott, den man sich selbst geschnitzt hat. Es sind immer wirkliche Werte, die solche Mythen tragen, aber herausgerissen aus ihrem Zusammenhang, aus ihrer Ordnung, hinaufgerissen auf die höchste Stufe, verabsolutiert. Und so verbissen man sich ihnen hingeben mag, es bleibt das Bewußtsein der Verzerrung der Wirklichkeit. Und dieses Bewußtsein verzerrt die Seele, verzerrt das Gesicht. Page 187
Das Relative ist anzuerkennen, wo es sich findet: in der Erkenntnis, in den Stimmungen des Gemüts, in den Anlagen, im Charakter; in der Geschichte, im Stil der Moden und der Künste nicht nur, sondern auch der Lebensund Denkformen, des Rechtes der Staatsgebilde, der Philosophien. Alles Menschliche ist einseitig und abhängig von vielerlei. Es ist ein Teil Wahrheit in dem Satze Diltheys: »Die Weltanschauungen sind nicht Erzeugnisse des Denkens.« Page 187
Alles Menschliche (in jedem Rahmen, in jedem Stil) kommt der Wahrheit aber auch von irgendeiner Seite her nahe. Wie nicht ein Mensch alle Möglichkeiten menschlichen Lebens verwirklichen kann, wohl aber die Menschheit, so ist es auch in der Erkenntnis. Jeder »Standpunkt«, jede Art der »Perspektive« hat die Möglichkeit der Wahrheit. Jede Zeit ist in ihrer Weise »unmittelbar zu Gott« (nach dem Wort Rankes).--Das Relative muß auch gesehen und einbekannt werden in der Religion, an der Kirche. Es gibt auch hier nicht den reinen, wesentlichen Menschen, sondern nur bestimmte und damit beschränkte Menschen. Es gibt auch keine absolute Sprache und kein absolutes Begriffssystem. Jede wirkliche Sprache hat ihre besonderen Fähigkeiten im Ausdruck--und ihre besonderen Schranken. Keine Terminologie ist vollkommen und endgültig, jede relativ. Auch die Terminologien der Patristik und Scholastik, die Terminologie unserer Dogmen. In einer anderen Kultur hätte sich die Kirche anders entwickelt. Sie hätte vielleicht auch andere Dogmen aufgestellt, nach anderen Page Break 188
Denkrichtungen hin und in anderen Denkformen; auch sie aber wären wahr gewesen.--Ebenso gibt es Zeitformen der Frömmigkeit (Benediktus, Franziskus, Ignatius) von verschiedenem Stil, von verschiedener seelischer Haltung; und jede berechtigt. Page 188
Man kann um so mehr alles Relative als relativ gelten lassen, je mehr einem das wahrhaft Absolute feststeht--und je höher dieses Absolute steht: je mehr es wirklich das Absolute ist.
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7. Jede Zeit hat ihr Gutes. Auch unsere Zeit der Not und der Zerfahrenheit. Um uns wirbelt das unheimliche Chaos der »Meinungen«: Verworrenheit, Verwirrung, Haltlosigkeit, »Standpunktlosigkeit« (gewollte Standpunktlosigkeit), Nihilismus und Radikalismus, Sinnlosigkeit und Verbohrtheit. Anderseits aber hat die Zeit eine Möglichkeit der Vorurteilslosigkeit, der Unbefangenheit, der Bewußtheit wie noch keine andere. Und das ist etwas!--Es ist doch eine Lust zu leben. (Trotz allem!) Damit steht die Zeit aber auch dem Christentum wieder näher als andere, scheinbar gläubigere Zeiten. Denn das Christentum braucht Aufgeschlossenheit des Geistes und des Herzens. Page 188
Von der Relativitätstheorie Einsteins war bis jetzt nicht die Rede. Sie ist nicht wesentlich für unsere Frage. Immerhin ist sie bezeichnend für die Zeit: durch die bisher unerhörte Vorurteilslosigkeit gegenüber dem Standpunkt, von dem aus die Dinge gesehen, die Bewegungen berechnet werden; auch gegenüber dem »Wesen« der Dinge (die Materie kann zu einer Funktion der Bewegung werden), gegenüber der menschlichen Anschauung von Raum und Zeit. (Freilich auch hier ist ein Festes geblieben: die Lichtgeschwindigkeit.) Page 188
Wohin aber führt die Vorurteilslosigkeit? Von einem Weltbild, in dem das Relative ins Unendliche hinausgetrieben werden muß, von einer Welt im unendlichen Raum, in unendlicher Zeit (der Welt von Kant und Laplace), weil keine Grenzen »denkbar« sind, wo die Welt aufhören sollte--zu einer Welt, die zwar unbegrenzt, in sich aber geschlossen ist wie die gekrümmte Fläche einer Kugel, nur in jenem »gekrümmten«, vierdimensionalen »Raum«, den mit unserem dreidimensionalen die Zeit als vierte Ausdehnung bilden soll, mathematisch bildet. Page 188
Auch das Christentum ist vorurteilslos im höchsten Grad. Es relativiert die Dinge der Welt, unbefangen von jeder weltlichen Größe: die äußeren Werte, die Zeiten, die Helden, die Geschichte. Was ist die Geschichte von Jahrtausenden vor Gott? Was die Menschen und ihre Gebilde? Ihre Staaten, ihre Ideen, ihre Epochen, ihre Stile? Was die ganze Menschheit? Was bedeutet alles Irdische vor dem unum necessarium (dem einen Notwendigen): dem Verhältnis des Menschen zu seinem eigentlichsten Du, zu Gott? Alles Menschliche ist durch das Christentum relativiert worden. Das Christentum ist nicht naiv oder besser: nicht verbohrt, es ist ohne Vorurteile, im höchsten Grad unbefangen. (Sosehr es Raum hat für die Naiven, insofern gerade das die Unbefangenen sind--die Kinder: es gibt nichts Unbefangeneres als das Kind, freilich auch sehr bald nichts Befangeneres, sobald es angefangen hat, sich imponieren zu lassen.) Page 188
Aber gerade durch die vierte Dimension, durch das Übernatürliche, das Heilige im Raume Gottes--rundet sich die Welt, sie mag räumlich und zeitlich--und menschlich--in unserem Sinn unendlich sein, zum Kosmos, zum geordneten Ganzen, zum einheitlichen Gebilde in Gottes Hand, wenn auch wir mit unserem Page Break 189
Geist, der nur der dreidimensionalen Relativität, der irdischen Wirklichkeit gewachsen ist, wenn auch wir sie in ihrer Absolutheit, in ihrem vollen Sinn, als »Kosmos« nur ahnen, nur postulieren, und nicht schauen (es wäre denn eine Gnade Gottes) und nicht demonstrieren können. Page Break 190 Page 190
»Mikroskope und Fernrohre verwirren eigentlich den reinen Menschensinn.« Page 190
»Den Sinnen sollst du ferner trauen. Nichts Falsches lassen sie dich schauen, Wenn dein Verstand sie wach erhält.« Newton--Goethe--Pascal Die Farbenlehre und das Problem der Mitte DIE WISSENSCHAFT VON DER FARBE Page 190
Das Interesse an der Goetheschen Farbenlehre scheint in ein neues Stadium getreten zu sein. Sie ist interessant geworden für die Theorie des wissenschaftlichen Denkens. Aber auch die Bedeutung des Werkes in der
Geschichte des Geistes und seine symbolisch-menschliche Bedeutung haben ein neues Gesicht bekommen. Page 190
1. Goethe war leidenschaftlich davon überzeugt, die Theorie Newtons erledigt zu haben; und er trug, was er nur konnte, dazu bei, »daß sie je eher, je lieber«--auch in ihrem Ansehen bei den Zeitgenossen--»zusammenstürze«. In kurzem, hoffte er, würde man bei ihrer Erwähnung in wissenschaftlichen Sessionen nur lachen. (Ältere Einleitung, die von Goethe selbst noch in den »Nachträgen zur Farbenlehre« veröffentlicht wurde.) Page 190
Den meisten Physikern seiner Zeit aber schon--es waren nicht sehr große, die damit zu tun bekamen, immerhin war Lichtenberg darunter--erschien der Eigensinn des Dichters fatal genug. Goethe fand daher in der Physik nur wenig Anhang oder Verteidigung: L. von Henning hielt Vorlesungen in seinem Sinn. Anders, mit guten Gründen anders, verhielten sich die Physiologen: Purkinje, Johannes Müller, Gelehrte, deren Namen noch heute etwas bedeuten. Von seinen Freunden hatten manche Bedenken: Schiller†1 zum Beispiel und Humboldt; Eckermann freilich war ganz auf Goethes Seite. Durchaus willkommen war seine Theorie aber den spekulativen Philosophen der Zeit, Schelling und Hegel und auch Schopenhauer. (Siehe Parerga und Paralipomena II. § 250 und Schopenhauers eigene Schriften zur Farbenlehre.) Page 190
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zweifelte kaum jemand mehr daran, daß Goethe physikalisch gegen Newton im Unrecht war. Sein Haupteinwand: die »weiße Mitte« zwischen »farbigen Rändern«, wenn man bei offenem Tageslicht die Wand durch das Prisma beschaue (Goethes entscheidendes Erlebnis mit dem Prisma des Hofrats Büttner, 1791), war längst auch für den Laien wirkungslos geworden. Schon die Physiker, die Goethe selbst befragte, hatten dazu, begreiflicherweise, nur den Kopf geschüttelt. Die Wissenschaft war an der Theorie Goethes vorbeigegangen. Sie hatte sich durchaus im Sinne des Newtonschen »Spektrums« weiterentwickelt, das Goethe als »Gespenst« (spectre) schon glaubte verscheucht zu Page Break 191
haben. Von den Fraunhoferschen Linien, deren Entdeckung, 1814, Goethe auch mißfällig notierte, war sie zur Spektralanalyse (Bunsen-Kirchhoff, 1860) und damit zu den kosmischen Feststellungen der Astrophysik gekommen. Page 191
Die Versuche einzelner Sondergänger damals (F. Gravell) und in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts (E. Barthel), Goethes Physik neuerdings zu verteidigen, drangen gegen die »Universitätsphysik«, die eben doch dieses Mal die besser fundierte war, nicht durch. Page 191
Mit Ehrfucht aber erkannten auch die wissenschaftlichen Forscher nicht nur die ästhetischen Vorzüge der Goetheschen Betrachtungsweise und Darstellungskunst an--der Dichter war unterdessen eine Weltgröße geworden--, sondern auch seine physiologischen Erkenntnisse und Vermutungen (Helmholtz, E. Brücke, R. Wessely, A. Sommerfeld, S. A. Tschermak-Seysenegg).--Über diese Dinge orientieren physikalisch: M. Gebhardt »Goethe als Physiker«, 1932, und historisch-philosophisch: H. Glockners Habilitationsschrift »Das philosophische Problem in Goethes Farbenlehre«, 1924-Page 191
2. Durch die Entdeckung Maxwells, 1873, rückten die farbigen Lichtstrahlen in die Reihe der elektromagnetischen Wellen ein. Sie bilden in diesem ungeheuren »Spektrum« (einem Spektrum aber nicht mehr für das Auge) einen sehr kleinen Bereich (fast wie die Erde, der einstige Mittelpunkt, im Sonnensystem). Ihnen voran gehen auf diesem Band, der Wellenlänge nach: die Radiowellen (Lang-, Mittel-, Kurzwellen), die Mikrowellen, die Infrarot- oder Wärmestrahlen; auf sie folgen: die ultravioletten, die Röntgen-, die radioaktiven, die kosmischen Strahlungen. Die Farben selbst haben Wellenlängen von nur 0,00008 cm (rot) und 0,00004 cm (violett), d. h. Schwingungszahlen von 375.1012 Hertz bis 750.1012 Hertz. Das Auge ist somit Organ nur für eine Oktave von den 80 Oktaven des erforschten elektromagnetischen Wellenbereiches. (Das Ohr vermag immerhin 10 Oktaven von Tönen zu umfassen.--»Oktave« als Spanne von einer Welle bis zur Welle mit doppelter Schwingungszahl verstanden.) Page 191
Brechung, Absorption, Interferenz, Beugung, Polarisation des Lichtes sind mit Instrumenten erforscht, deren Feinheit dem Laien auch jetzt noch kaum glaublich scheint. (Das optische Gitter von Rowland, 1880, wies schon 1700 Striche im Raum eines Millimeters auf, eingeritzt in die Glasplatte.--Oder: Im Sonnenspektrum kennt man über 20.000 jener Fraunhoferschen Absorptionslinien.)--Von der technischen Verwertung dieser Erkenntnisse: Farbfilter, Farbfilm, Kolorimeter, Photometrie; von der Sichtbar- (und Hörbar-)Machung unsichtbarer Schwingungen, von der Radio- und Verstärkertechnik, von Röntgenphotographie und Polarisationsmikroskop; von Aufnahmen mit
ultravioletten, infraroten Strahlen, von der Schallphotographie sind die Zeitschriften und Zeitungen voll. Das Blau des Himmels, die Röte der untergehenden Sonne sind längst aus Beugung und Zerstreuung der Lichtstrahlen erklärt. Die Unterscheidung von Addition und Subtraktion der Farben hat die Farbenmischungen der Oberflächenfarben, die Entstehung des Grün zum Beispiel aus Blau und Gelb, verständlich gemacht. Page 191
(Darüber gibt jedes neuere Lehrbuch der Physik Auskunft. Die kleine »Einführung in die Farbenlehre« von Boller-Brinkmann-Walter, Bern 1947, auf die ich mich zum Teil stütze, bringt Physik, Physiologie, Psychologie der Farben und einen Überblick über die Geschichte der Farbenlehre.) Page Break 192 Page 192
Goethe aber hatte notiert: »So ganz leere Worte, wie die von der Dekomposition und Polarisation des Lichts, müssen aus der Physik hinaus, wenn etwas aus ihr werden soll. Doch wäre es möglich, daß diese Gespenster bis in die zweite Hälfte des (19.) Jahrhunderts hinüberspuken.« (Sprüche in Prosa, Aus dem Nachlaß.) Page 192
3. Dazu kommen seit der Jahrhundertwende die Entdeckungen und Anwendungen der Atomphysik: die Theorie der Lichtquanten, Photone (M. Planck), die die Deutung der Spektrallinien vollenden halfen; das Elektronenmikroskop, die Radaraufnahmen und einiges mehr. »Die mathematisch-formale Quintessenz aller chemischen Gesetzmäßigkeiten« erscheint als erwiesen. »Die Farben aller einfachen Stoffe« lassen sich »berechnen«. Page 192
(Das Buch von W. Heisenberg: »Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft«, 2. Auflage 1942, enthält auch einen Vortrag über »die Goethesche und die Newtonsche Farbenlehre«.--Da ich in physikalischen Dingen nur interessierter Laie bin, das heißt einer, der versucht, die Grundzüge der Theorien, ohne allzuviel Mathematik, nachzudenken, kann ich nur Hinweise wiederholen, wie ich sie in leichtverständlicher Fachliteratur gefunden habe.) Page 192
Auf diesem Weg von Newton und Huygens über Maxwell zur Atomphysik hat sich die Naturwissenschaft »von der lebendigen Natur immer weiter entfernt« (Heisenberg). Sie hat auf Sichtbarkeit, auf Vorstellbarkeit der von ihr festgestellten Bezüge und Vorgänge immer mehr verzichtet. Keine der für die Sinne gegebenen Eigenschaften, auch nicht Raumgestalt und Raumbezüge der Teile und Teilchen bleiben unter ihrer Analyse mehr bestehen. »Der Fortschritt der Naturwissenschaft wurde erkauft durch den Verzicht darauf, die Phänomene in der Natur (auch nur) unserem Denken ... unmittelbar lebendig zu machen.« Was geblieben ist, sind »partielle Differentialgleichungen in einem abstrakten, vieldimensionalen Raum«; in ihnen »symbolisieren« sich Farbe und Geschmack ebenso wie die »geometrischen Qualitäten« der Dinge. »Jede Art von Bild aber, das unsere Vorstellung vom Atom entwerfen möchte, ist eo ipso fehlerhaft. Ein Verständnis ›erster Art‹ ist für die Welt der Atome--beinahe möchte ich sagen: per definitionem--unmöglich« (Heisenberg). Mit dem Weltbild der Naturwissenschaft hat sich auch die philosophische Einstellung zur Erkenntnis der letzten Wirklichkeiten denkbar weit von Goethe entfernt, der schon zum Transzendentalismus Kants kein rechtes Verhältnis finden konnte. Jetzt wird manchem das vierdimensionale Raum-Zeit-Kontinuum an sich fast zur »Substanz«. Die Umwandelbarkeit von »Masse« in »Energie« und umgekehrt läßt bereits an einen Übergang von »Energie« auch in »Raum« denken. Als Ergebnis der Weltexpansion.--Blieben darnach als Wirklichkeiten nur noch die »Hier-So-Relationen« übrig, so würde auch gleich umgekehrt das »Hier-So« zum »Ding«: »Figur« und »Ding«, »Ding« und »Ort« würden identisch. (Nach E. Wasmuth »Der Mensch in der Mitte«, Berlin 1936.--Gewagte Auffassungen freilich, auch für die Gegenwart; und annehmbar doch wohl nur mit einigen Reservationen zugunsten des wirklichen »Etwas«, soll die Physik nicht von einer Tatsachenwissenschaft zu einer Wissenschaft von rationalen Bezugs-Möglichkeiten werden, also zu einer Art Mathematik.) Page 192
Sicher ist, Goethe steht außerhalb dieser Linie. Er begriff die Expansion des mathematischen Geistes schon zu seiner Zeit nicht. Logisch, dem Ideengang nach, wäre sein Platz am Anfang dieser Entwicklung, vor Newton also. Seine Physik war Page Break 193
von der Newtons schon ein Jahrhundert vorher abgelöst worden, abgelöst und aufgelöst, durchschaut und erklärt, so wie (nicht ganz so wie) dann die Newtons von der modernen Physik aufgelöst und erklärt wurde.--Goethe dachte also bereits »reaktionär«. Seine Theorie der Farbenlehre, deren Entstehung zeitlich (1790-1810) ungefähr in der Mitte zwischen den Arbeiten Newtons (1670-1704) und der Grundlegung der gegenwärtigen Theorien (seit 1900)
zustandekam, ist ein erstaunlicher Anachronismus†2.
DER MENSCH IN DER MITTE Page 193
Nach welcher Seite Goethe sich wendet, unerbittlich oder nachgiebig, er bleibt immer dialektisch in der Mitte wie die Körper zwischen Licht und Finsternis, in der Mitte auch innerhalb des Dreiecks der Diltheyschen Weltanschauungstypen, für deren einen er dennoch der Anlage nach als großes Beispiel gelten kann: er hält Distanz nicht nur vom »naturalistischen« Mechanismus (der französischen Materialisten) und dem »subjektiven«, das heißt hier ethischen Freiheits-»Idealismus« (Schillers und Kants), sondern auch von dem »objektiven«, das heißt Identitäts-»Idealismus« (Schellings und Hegels), mit dem er sich innerlich am meisten verwandt fühlen mußte, und behält gleichzeitig Bezug zu allen dreien: auch zur Empirie, auch zur sittlichen Selbständigkeit, dem »selbständigen Gewissen«, dem freien Willen zum Rechten (wie wir gesehen haben)--und selbstverständlich zum umgreifenden Allwesen »Natur« oder »Idee«. Er steht auch nicht auf einer Ebene mit ihnen, sondern wieder oberhalb: er hat auch Bezug nach oben, von der in ihm noch lebendigen Überlieferung und von (starken) persönlichen Erlebnissen her zum persönlichen Gott der Bibel. Entschieden hat er sich (in diesem Tetraeder) für keine Richtung durchaus, wahrhaftig auch nicht für diesen »Personalismus«.--Offene Metaphysik! (Vgl. noch einmal den zweiten Essay meines Buches, »Goethe, Chaos und Kosmos«, 1950.) Page 193
1. Und wie er sich selber weiß, so sieht er den Menschen: in der Mitte, schwebend, auf seine eigene Kraft angewiesen, »trotzig und verzagt«†3, aber zugleich groß, traumhaft seiner selbst gewiß und geborgen schließlich im Universum. Seine Verteidigung des Sinneseindrucks; seine Physik der unbefangenen und unbewehrten Anschauung; sein Beharren beim Phänomen, bei der Schau auch des Urphänomens, bei der immer noch menschlichen Ahnung der »Idee« als der Ordnung, die der Geist des Menschen in der Natur, der geistdurchwalteten, wie auf gleicher Stufe mit ihr zu erfassen vermag (»Ist nicht der Kern der Natur Menschen im Herzen?«): sie haben ihren Sinn in seinem Bewußtsein, selbst in der Mitte der Dinge zu stehen, und in der Überzeugung, den Menschen überhaupt in der Mitte sehen zu dürfen als Maß aller Dinge und als Vollendung aller Tendenzen der Natur. Page 193
Zwischen der barocken und der modernen Zeit, die in ihren Neigungen zum Extremen, zum Gegensatz, zum Chaos, nicht wenig miteinander gemein haben, zwischen dem Mechanismus, der Mystik und dem Zynismus des Barocks auf der einen, der Logistik, dem Existentialismus und Absurdismus der Gegenwart auf der Page Break 194
anderen Seite (die Unterschiede sollen darob nicht vergessen sein, besonders nicht der der Gläubigkeit; dazu käme aber noch die Gemeinsamkeit: Herrscherabsolutismus und totalitäre Staatsmacht); in engerer Spannung: zwischen Aufklärung und Romantik--war es zu jener großen humanistischen Reaktion von Weimar gekommen†4, zu jener Selbstbeschränkung auf die »natürliche« Mitte, die Resignation war und zugleich Konzentration auf die »edle Einfalt und stille Größe« der Humanität, des »reinen Menschensinns«. Page 194
Es war resignierende Selbstbeschränkung: das ganze Gedicht »Vermächtnis« zeugt davon; die Elite von Menschen in den »Wanderjahren« weiß sich als »Entsagende«; und der Naturforscher Goethe gibt immer wieder zu bedenken, »daß der Mensch in einen Mittelzustand gesetzt ist, und daß es ihm nur erlaubt ist, das Mittlere zu erkennen und zu ergreifen«: das gelte für das Auge selbst; und »das Höchste, die Idee« könne man erst recht »keineswegs ins Enge, noch ins Gleiche bringen« (Materialien, Dr. Blair).--Schiller: »Der Taucher«, »Das verschleierte Bild von Sais«, »Das Lied von der Glocke«, »Wilhelm Tell« brauchen nicht herangezogen zu werden.-Page 194
Es war Beschränkung aus Ehrfurcht, aus jener drei- oder vielmehr vierfachen Ehrfurcht der Pädagogischen Provinz, aus der Ehrfurcht aber auch des »Naturbetrachters«: vor den Urphänomenen, »wenn sie unseren Sinnen erscheinen, fühlen wir eine Art von Scheu bis zur Angst«. Page 194
Es war auch stolze Beschränkung: »Wenn ich mich beim Urphänomen zuletzt beruhige, so ist es doch auch nur Resignation; aber es bleibt ein großer Unterschied, ob ich mich an den Grenzen der Menschheit resigniere oder innerhalb einer hypothetischen Beschränktheit meines bornierten Individuums.« (Aus den Sprüchen zu den »Wanderjahren«.)--Und mit Stolz betont er, daß er als »Naturforscher« nach seiner Weise »in der mittleren Region zu verharren« sich erlaube (»Über die Spiraltendenz«). Page 194
Es war trotzige Beschränkung: Die Ausbrüche Fausts gegen die Jenseitswünsche und -erwartungen der Menschen, beim Abschluß des Paktes wie vor seinem Tod, haben ihr nüchtern bedachtes Seitenstück in einer Notiz
aus »Kunst und Altertum« von 1825, in der Goethe im Anschluß gerade an Hamann seinem Widerwillen gegen die Reden von »Dingen einer anderen Welt« Luft macht: »Der Mensch ist als wirklich in die Mitte einer wirklichen Welt gesetzt und mit solchen Organen begabt, daß er das Wirkliche und nebenbei das Mögliche erkennen und hervorbringen kann«. Das Jenseitsdenken erscheint da als geistige Krankheit, als ein Starren ins Leere, ein Sichvertiefen in einem »hohlen Fleck im Gehirn, das heißt eine Stelle, wo sich kein Gegenstand abspiegelt, wie denn auch im Auge selbst ein Fleckchen ist, das nicht sieht«. Page 194
Aber es war in der Konzentration auf die Mitte auch das ganze Bewußtsein der Größe und »Würde« des Menschentums. »Es liegt in jedem Menschen und ist ihm von der Natur gegeben, sich als Mittelpunkt der Welt zu betrachten, weil doch alle Radien von seinem Bewußtsein ausgehen.« (»Über Mathematik und ihren Mißbrauch«.)--Das könnte noch Konstatierung einer nicht gebilligten Anmaßung sein. Die Ergriffenheit Wilhelms aber (»Wanderjahre« I. 10) vor dem Sternenhimmel inmitten des Universums hat ausgesprochen positiven und dabei auch sittlichen Sinn: »Darfst du dich in der Mitte dieser ewigen Ordnungen auch nur denken, Page Break 195
sobald sich nicht gleichfalls in dir ein herrlich Bewegtes, um einen reinen Mittelpunkt kreisend, hervortut?« Page 195
In der Mitte weiß sich Goethe und weiß er den bedeutenden Menschen auch dann, wenn er ihm, als einer »großen Entelechie«, nun doch wieder Anrecht auf Unsterblichkeit zuspricht, auf ein Weiterbestehen und Weiterwirken in dem sonst abgelehnten Jenseits (zu Eckermann, 1. September 1829): »Denn die Natur kann die Entelechie nicht entbehren.« Page 195
Auf jeden Fall bleibt aufrecht: »Das Höchste, was wir von Gott und der Natur erhalten haben ... das Leben, die rotierende Bewegung der Monas um sich selbst...« hat seinen, hat ihren Sinn in sich selbst.--Auch unter dieser unheimlich mechanistischen Formulierung†5 (»Selbstbewegung« für »Leben« ist aber zugleich ein aristotelischer Begriff) bleibt Sinn und Wert, letzter Sinn und Wert des Lebens außer jeglichem Zweifel. Das hat Bedeutung für die Frage nach der Fortdauer der Entelechie (in einem Jenseits, das wieder »Natur« und »Leben« ist--»idem per idem«!), aber noch mehr für den Optimismus, die Daseinsbejahung, die ihn und seine Weltansicht trägt und mit Freude erfüllt.--Für den Kosmos drückt denselben Gedanken aus das Gedicht: »Wenn im Unendlichen dasselbe, sich wiederholend, ewig fließt... Strömt Lebenslust aus allen Dingen... Und alles Drängen, alles Ringen ist ewige Ruh' in Gott, dem Herrn.« Page 195
»Zweck sein selbst ist jegliches Tier« (»Metamorphose der Tiere«), Zweck sein selbst ist erst recht der Mensch. Was seinen Sinn in sich selbst hat, ist aber, wenn das Wort genau genommen wird, göttlich. Die Idee der Göttlichkeit des Menschen stellt sich denn auch immer wieder ein: der Mensch ist etwas Herrliches, etwas Göttliches. Page 195
2. »Alles, was wir Erfinden, Entdecken im höheren Sinne nennen, ist die bedeutende Ausübung, Betätigung eines originalen Wahrheitsgefühls, das im stillen längst ausgebildet, unversehens mit Blitzesschnelle zu einer fruchtbaren Erkenntnis führt†6. Es ist eine aus dem Innern am Äußern sich entwickelnde Offenbarung, die den Menschen seine Gottähnlichkeit vorahnen läßt. Es ist eine Synthese von Welt und Geist, welche von der ewigen Harmonie des Daseins die schönste Versicherung gibt.« (Aus den Notizen zu den »Wanderjahren«.--Vgl. auch dazu Leisegang, »Goethes Denken«, S. 114.) Page 195
Das Goethesche Werk seit der Jahrhundertwende enthält da und dort, wie Höhepunkte des Jubels in einer Symphonie, Verherrlichungen des Menschentums, die in ihrer unbefangenen Sicherheit über alles hinausgehen, was sonst diese humanistische Zeit an Preisliedern des Menschen hervorgebracht hat.--Hölderlin preist nicht das Menschliche, sondern das Göttliche; aber einiges im »Hyperion« ließe sich an deren Seite stellen, nur kommt Goethes Preislied nicht aus der Sehnsucht oder dem Leid, fast der Verzweiflung eines Einsamen, sondern es ist Jubel eines seiner selbst und der Welt sicheren, im Grunde heiteren Gemüts über Wirkliches und Mögliches, und dieser Jubel bedeutet bei Goethes unbeirrtem Blick für alle Menschlichkeiten umsomehr. Page 195
In seiner Schrift »Winckelmann«, die seine klassische Zeit (von der italienischen Reise bis zur Gemeinschaft mit Schiller) abschließt, 1804 bis 1805, stellt Goethe das antike dem modernen Lebensgefühl gegenüber: in dem einfachen Gegensatz unmittelbaren Seins und unbefriedigter Sehnsucht--welche Gegenüberstellung sich mit Page Break 196
umgekehrter Gewichtsverteilung in dem Vorwort zu »Helena, Zwischenspiel zu Faust« wiederholt: Faust lebt aus dem modernen Lebensgefühl, dem nie befriedigten Drang ins Unendliche.--Da aber kommt es zu folgenden hymnischen Sätzen auf das einfache Menschentum (die man auch auswendig lernen müßte, um ihren Gehalt zu erleben, den Worten, dem Rhythmus, der Melodie nach): Page 196
»Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt«--dann aber muß sie überschaubar bleiben--, »wenn das harmonische Behagen ihm ein reines, freies Entzücken gewährt: dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt, aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Wesens und Werdens bewundern.«--Dahinter steht der Bezug auf Herder hier und auf Hegel dort, auf die »Ideen zur Philosophie der Geschichte« wie auf die »Phänomenologie des Geistes«.--»Denn wozu dient alle der Aufwand von Sonnen und Planeten und Monden, von Sternen und Milchstraßen, von Kometen und Nebelflecken, von gewordenen und werdenden Welten, wenn sich nicht zuletzt ein glücklicher Mensch unbewußt seines Daseins erfreut?« Page 196
Ein glücklicher Mensch, der sich unbewußt seines Daseins erfreut: das höchste Ziel aller Natur!†7 Page 196
Aber auch der moderne Gegentypus, Faust, der immer wieder Scheiternde, der »Mann ... welcher, in den allgemeinen Erdeschranken sich ungeduldig und unbehaglich fühlend, den Besitz des höchsten Wissens, den Genuß der schönsten Güter für unzulänglich achtet, seine Sehnsucht auch nur im mindesten zu befriedigen«, der »Geist, welcher deshalb, nach allen Seiten hin sich wendend, immer unglücklicher zurückkehrt« (Vorwort zu »Helena«), auch er, der sich durchaus nicht in »harmonischem Behagen« unbewußt seines Daseins erfreut, der unklassische, inhumane Mensch, wird gerechtfertigt, wird in Gnaden aufgenommen (in den nicht griechischen Himmel der Eremiten und ekstatischen Väter, der Engel und seligen Knaben und reuigen Büßerinnen) als ein Wesen, das auch seinen Sinn, und einen bedeutenden, in sich selbst hat, als ein großes »Stück Natur«, das man bewundern müsse, es sei wie immer (wie es in Shakespeares »Coriolan« geheißen hatte). Vgl. den dritten Essay meines Buches »Goethe, Chaos und Kosmos«: »Faustisches Wesen und Faustisches Schicksal«.-Page 196
Auch auf dem Gang durch die Geschichte hat Goethe die Herrlichkeit des Menschentums erlebt. Gerade die Betrachtung der »Zwischenzeit«, der »Lücke«--im damaligen historischen Wissen--, bringt ihn zu einem Preis der Menschheit: Page 196
»Der Lobgesang der Menschheit, dem die Gottheit so gerne zuhören mag, ist niemals verstummt, und wir selbst fühlen ein göttliches Glück, wenn wir die durch alle Zeiten und Gegenden verteilten«--also nicht für die Antike, für Griechenland, für Athen reservierten--»harmonischen Ausströmungen, bald in einzelnen Chören, bald fugenweise, bald in einem herrlichen Vollgesang vernehmen«. (Materialien, Beginn der zweiten Abteilung.)-Page 196
Die »oberste Ehrfurcht«, die in der Pädagogischen Provinz gelehrt wird, die vierte über den dreien, die Vollendung also der »wahren Religion«, ist die »Ehrfurcht vor sich selbst«, durch die »der Mensch zum Höchsten gelangt, was er zu erreichen fähig ist, daß er sich selbst für das Beste halten darf, was Gott und Natur hervorgebracht haben«. Page Break 197 Page 197
Im religiösen Erleben selbst unterschied Goethe schon in der Frankfurter Zeit persönliches Erfülltsein von der Gottheit, das ist im Grunde: Leben aus der Fülle der eigenen Seele (Mahomet), und (im Gegensatz dazu) Bedürfnis des Erfülltwerdens durch eine andere Person, der Anlehnung an einen »Vermittler«, also aktive, schöpferische und passive, empfangende Religiosität. Als die eigentliche humane, dem Gipfel des Menschentums entsprechende Religiosität (die des Genies, als des vollendeten Menschen) galt ihm die persönliche, aktive, schöpferische. Er bedauert (1774) Lavater, daß er in seiner Christus-Seligkeit den Schwerpunkt seines Wesens außer sich verlegt und sich so »der besten Freude, des Wohnens in sich selbst, beraubt« habe. (E. Franz, »Goethe als religiöser Denker«, Tübingen 1932, S. 232.) Page 197
Dieses hohe Gefühl des eigenen Wertes, dieses Sich-selbst-Genügen, dieser stolzeste Humanismus, der zugleich so erstaunlich unbefangen und ohne »Dünkel« oder Pathetik war, durchdringt das ganze Daseinsbewußtsein Goethes. Die Zuversicht, in dem unbewehrten »reinen Anschauen« (»des Äußern und des Innern«), das freilich »sehr selten« sei (wie es in den Sprüchen zu den »Wanderjahren« heißt), in der reinen
»Erscheinung« also, im »Urphänomen« schon die Wahrheit zu haben, ist nur ein Ausdruck dieses Menschen-Selbstbewußtseins.
DIE FRAGLICHKEIT DER MITTE Page 197
Dieser stolze Humanismus nun aber kommt vom Christentum, ist ein mißdeutetes, säkularisiertes Erbstück des Christentums. Pico della Mirandola hat ihn zur Zeit der Renaissance aus antikem Geist neu begründet, aber noch christlich verstanden. (»Über die Würde des Menschen«, übertragen von W. Rüssel.--Vergleiche Rüssels Schrift »Gestalt eines christlichen Humanismus«--beide Werke: Pantheon 1940.) Er war da bereits in der Divina Commedia, in der es um den Menschen geht und um das Menschen-Schicksal, freilich gerade um sein Schicksal Gott gegenüber. Die frühchristliche Grundform dieses Humanismus aber ist aufbewahrt in dem herrlichen, kühnen und besonnenen liturgischen Gebet beim Offertorium: als Bewußtsein von der ursprünglichen »Würde der menschlichen Substanz«, der Erneuerung dieser Würde durch die Erlösung und als Hoffnung und Teilhaberschaft geradezu an der Göttlichkeit des Erlösers selbst.--Es ist doch wohl richtig, den Text hierher zu setzen, er stammt aus der Mitte des 2. Jahrhunderts: »Deus, qui humanae substantiae dignitatem mirabiliter condidisti et mirabilius reformasti, da nobis, per huius aquae et vini mysterium, eius divinitatis esse consortes, qui humanitatis nostrae fieri dignatus est particeps, Jesus Christus, filius tuus, dominus noster, qui tecum vivit et regnat in unitate Spiritus Sancti, Deus per omnia saecula saeculorum.« Page 197
Dem Bild des erlösten, begnadeten Menschen, der neuen Möglichkeit, steht jedoch im christlichen Bewußtsein seit jeher das immer wieder erlebte des sündigen, schuldigen, verworfenen Menschen gegenüber, der der Verzeihung, der Gnade, der Erlösung bedarf, vor der Goethe sich verschlossen hat. Page 197
Beide Bilder haben innerlich keinen festgelegten Bezug auf irgendein bestimmtes Bild von der physischen Schöpfung, vom Weltall. Page Break 198 Page 198
1. Als die Naturphilosophie und -wissenschaft der Renaissance (Kopernikus, Giordano Bruno) das alte Weltbild, die Perspektive von der Erde aus, das geozentrische System, also die naiven, der Sinnesanschauung entsprechenden Weltmaße erschütterte, flüchtete sich die Theologie (die katholische und die protestantische) nach einigem Schwanken (von immerhin einem Jahrhundert) hinter den Wortlaut der Genesis. Es war im Grunde aber nicht das Christentum als Heilsglaube und Heilssorge, sondern--neben der Sorge um die Autorität der Heiligen Schrift--die naive und die aristotelisch-scholastische Sorge um das handgreiflich-anschauliche Weltbild, um das physisch-kosmische (nicht: religiöse) Bewußtsein, in der Mitte der Schöpfung zu stehen. Die große Mehrzahl der Gelehrten und Theologen war noch nicht reif zu einer Umstellung. Page 198
Goethe erfaßte das Ungeheuerliche dieser Zumutung an das menschliche Denken sehr wohl: »Kaum war die Welt als rund anerkannt und in sich abgeschlossen, so sollte sie auf das ungeheure Vorrecht Verzicht tun, der Mittelpunkt des Weltalls zu sein. Vielleicht ist noch nie eine größere Forderung an die Menschheit geschehen«;--die Forderungen haben sich unterdessen reichlich gesteigert--»denn was ging nicht alles durch diese Anerkennung in Dunst und Rauch auf: ein zweites Paradies, eine Welt der Unschuld, Dichtkunst und Frömmigkeit« (das Mittelalter romantisch, wie von Novalis gesehen), »das Zeugnis der Sinne, die Übersetzung eines poetisch-religiösen Glaubens; kein Wunder, daß man dies alles nicht wollte fahrenlassen, daß man sich auf alle Weise einer solchen Lehre entgegensetzte, die denjenigen, der sie annahm, zu einer bisher unbekannten, ja ungeahnten Denkfreiheit und Großheit der Gesinnungen berechtigte und aufforderte«. (Materialien. Zwischenbetrachtungen.) Page 198
Goethe war in derselben Lage, hundert Jahre nach Newton, und hat reagiert wie die Theologen. Nicht Newton, wie er ihm vorwarf, sondern er selbst hat sich verhalten wie Tycho de Brahe gegen Kopernikus. Auch er hat das »Zeugnis der Sinne ... ein zweites Paradies, eine Welt der Unschuld, Dichtkunst und Frömmigkeit« (kosmisch und human) verteidigt gegen eine ihm noch nicht, oder wohl nicht mehr erträgliche »Denkfreiheit und Großheit der Gesinnungen«. Diese, dort unbewußt, hier schon fast bewußt humanistische Physik verbindet ihn mit der Theologie des 16. und 17. Jahrhunderts.†8 Page 198
2. Das Christentum als solches (auch innerhalb der Kirche) war jedoch an das alte Weltbild nicht gebunden und hat sich verhältnismäßig bald, wenn auch offiziell sehr langsam davon gelöst.†9 Die neue Situation in der
physischen Welt konnte für das religiöse Daseinsgefühl des Christen apologetisch sogar Bedeutung gewinnen. Den großartigsten Versuch in diesem Sinn hat Blaise Pascal gemacht, der überhaupt, auch erkenntnistheoretisch, der Skepsis (Montaigne) gegenüber, von der aus er selbst dachte, ganz neue Stellungen bezog zur Rechtfertigung des Christentums, aus dem er--in mystischer Ergriffenheit--lebte. Page 198
Goethe kannte es offenbar nicht, das Bild von der menschlichen Situation, das Pascal in dem bekannten großen Fragment der Pensées†10 in der Mitte des barocken Jahrhunderts, ungefähr zur Zeit, als Newton seine Farbentheorie zu entwickeln begann, auf ein Stück Papier geworfen hat. Es gehört, wenigstens in seinen bedeutendsten Sätzen, sehr wohl hierher als Gegenstück. Page 198
»Der Mensch betrachte doch die ganze Natur in ihrer hohen und vollen Majestät« Page Break 199
..., er schaue, wenn sein Blick nicht weiter reicht, mit seiner Einbildungskraft hinaus in ihre unendlichen Räume... »Diese sichtbare Welt ist ein kaum merkbarer Strich im weiten Schoß der Natur... Dann komme er zu sich zurück... in diesen verlorenen Winkel (canton, cachot), abseits der Natur ..., in dem er haust... Was ist ein Mensch im Unendlichen!?« ... Und nach der anderen Seite: die Milbe, die er kaum mehr sieht, habe noch Gliedmaßen und Blut in ihren Adern und Dämpfe in den Tropfen ihres Blutes. Aber diese »äußerste Kleinheit der Natur« sei noch von unendlicher Größe... »Ich will ihm (dem Menschen) neue Abgründe darin aufweisen ... eine Unendlichkeit von Universen, deren jedes sein Firmament, seine Planeten, seine Erde hat--in denselben Proportionen wie die sichtbare Welt--auf dieser Erde Lebewesen, und schließlich Milben, in denen er wiederfinden soll, was die früheren aufgewiesen haben ... ohne Ende, ohne Pause... Wer sich in diesem Sinn betrachtet, wird über sich selbst erschrecken... Bedenkt er, wie er, in der Körpergröße, die die Natur ihm zugewiesen hat, zwischen diesen beiden Abgründen« (nach oben und unten) »des Unendlichen und des Nichts ausgespannt hängt, so wird er zu zittern beginnen... Denn was ist der Mensch schließlich in der Natur? Ein Nichts vor dem Unendlichen, ein All vor dem Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und All. Er ist unendlich weit davon entfernt, die Extreme zu begreifen, Ende und Ursprung der Dinge sind für ihn unerbittlich in undurchdringliches Dunkel gehüllt«... (Wie ganz anders erlebte Goethe dieselbe Tatsache) ... »Nur weil sie (die Menschen) es versäumt haben, diesen Unendlichkeiten ins Auge zu schauen, haben sie sich verwegen an die Erforschung der Natur gemacht, als ob sie zu ihr irgendwie in Entsprechung stünden«... (Pascal bezieht aber sein Weltbild doch von dieser Forschung) ... »Wir treiben auf einer weiten Mitte (sur un milieu vaste) hin und her ... von einem Ende zum andern geworfen. Jeder Halt, an den wir uns klammern, ... weicht zurück ... entweicht immer wieder. Nichts hält fest für uns. Das ist unser natürlicher Zustand, und er ist doch unseren Bedürfnissen so entgegen. Wir brennen vor Verlangen nach einem festen Boden, einer letzten, dauernden Unterlage, um darauf einen Turm ins Unendliche zu bauen; aber unsere Grundfesten krachen, und die Erde öffnet ihre Abgründe.« ... Folgen Hinweise auf die Schwierigkeit, auch nur das eigene Wesen zu erkennen, das materiell sei und doch auch geistig sein müsse, auf die Schwierigkeit, so entgegengesetzte Naturen wie Körper und Seele zu begreifen: fast alle verstünden das Körperliche geistig, legten ihm geistige Tendenzen unter, Neigungen, Abneigungen, Scheu; und umgekehrt verstünden sie das Geistige körperlich, im Raum befindlich, den Ort verändernd. Page 199
Das folgende Fragment (bei Tourneur Nr. 183) bringt als Ergebnis die bekannte Formel: »Der Mensch ist nur ein Schilfrohr, das schwächste der Natur, aber«--und nun kommt doch die Wende in das Bewußtsein einer Überlegenheit, einer grandeur--»ein Schilfrohr, das denkt. Das Universum braucht sich nicht erst zu rüsten, um ihn zu zerschmettern, ein Wassertropfen genügt, ihn zu töten. Aber mag ihn das All zermalmen, der Mensch bliebe doch vornehmer als das, was ihn tötet, da er weiß um seinen Tod und um die Macht, die das Universum über ihn hat; dieses aber weiß nichts davon...«--Auch diese Überlegenheit hat wieder ihre Misère: die Schwäche der Erkenntnis wie des Willens. Erst in der »dritten Ordnung«, der der Gnade, ist Heil.†11--Es wäre hier wieder auf den Essay »Blaise Pascal« (den ersten in diesem Buche) zu verweisen.-Page Break 200 Page 200
3. Goethe hat von Pascal kaum Notiz genommen. Die Erwähnung in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen übergeht man wohl lieber. Er hätte ihn aber wahrscheinlich bei genauerer Kenntnis ebenso als »krankhaft« abgelehnt. Pascal am nächsten stand in seinem Bekanntenkreis F. H. Jacobi--aber den lehnte Goethe schließlich ja auch ab. So willkommen ihm manche Notiz der Pensées über die Verläßlichkeit der Sinne, über Leben und Bewegung, über die Bedeutung der Analogie, oder gegen die Geometer und für den esprit de finesse, oder über die
connaissances de coeur (das »Wahrheitsgefühl«) hätte sein müssen; so gut die Forderung, man müsse »mit einem Schlag, mit einem Blick« eine Sache erfassen, seinem Sinn für das Aperçu entsprochen hätte: er hätte die Aussicht, die Pascal eröffnet auf die Ausgesetztheit, die rein physische Verlorenheit des Menschen in einem--unperspektivisch gesehenen, überall gleich nahe gerückten--überall unendlichen, unüberschaubaren Weltall nicht ertragen. Sie hätte ihn bedrückt und verwirrt, wie der Blick durch das Fernrohr auf den Jupiter seinen Romanhelden bedrückt und verwirrt hat.†12 Er hätte dem unerbittlichen Denker auch die Bloßstellung der menschlichen Schwäche nicht verziehen, weder die Bloßstellung seiner intellektuellen Fragwürdigkeit noch die seiner moralischen Erbärmlichkeit. Wie sehr hätte es seinem Bild vom Menschen (bei all den Sarkasmen, die sich in den Zahmen Xenien und anderswo finden, bei all seinem Hohn auf das »Niederträchtige«) widersprochen, im Menschen eine »Chimäre«, ein »Ungeheuer«, ein »Chaos« zu finden, den Gegensatz aufgedeckt zu sehen zwischen seiner Bestimmung, »Richter über alle Dinge«, »Verwahrer der Wahrheit«, Vollendung und gloire des Weltalls zu sein,--und seiner Wirklichkeit, in der er »blöder Wurm«, »Kloake der Ungewißheit und des Irrtums« und »Abscheu des Universums« sei. (Tourneur, Pensées, Nr. 125.) Wie widerlich wäre seinem Lebensgefühl, das sich immer mehr für Sicherheit, Heiterkeit, Geborgenheit in einer harmonischen, mit dem Menschenherzen gleichgestimmten »Natur« entschied, das Wort von dem »moi haïssable« gewesen! Page 200
Goethe hätte wie Voltaire dagegen die »Partei der Humanität« genommen, wenn auch anders als dieser Kommentator der Pensées, der sie mit seinen Anmerkungen glaubte unschädlich machen zu können. Goethe hätte Pascal abgelehnt, wie es Nietzsche dann tat, aber aus entgegengesetzten Motiven, nicht als den hellsichtigen, kongenialen Durchschauer aller Vordergründe, der aber doch nicht die eisige Härte gehabt hätte, mit dem Bewußtsein der Abgründigkeit in stolzem Nihilismus zu leben. Er hätte ihn abgelehnt, weil er den Blick in die Abgründe selbst als krankhaft und als falsch verurteilt hätte: ihm erschienen diese Abgründe, von denen einiges im Natur-Fragment angedeutet war, immer mehr als große Polaritäten eines harmonisch gefügten Ganzen, als Aus- und Einatmen, als Systole und Diastole, als pulsierende »Manifestationen« des Göttlichen.†13 Page 200
Goethe hat auch das bedeutend harmlosere Gefühl kosmischen Schauders vor der Größe des Weltalls und der Kleinheit der Erde, die entweder mit aufklärerischer Überlegenheit oder mit neuer religiöser Ergriffenheit hingenommene Erkenntnis, weit weg aus der Mitte ins Unbedeutende geschleudert zu sein, nicht mitgemacht. Er hatte sehr verächtliche Worte für Fontenelle (Pluralité des mondes) und selbst für Voltaire in seinen »Materialien zur Geschichte der Farbenlehre«, sie waren ja beide Newtonianer; und er hat (unbewußt wohl) der »Frühlingsfeier« Klopstocks, Page Break 201
in der die Erde »ein Tropfen am Eimer« ist, seinen Hymnus von den »Grenzen der Menschheit« entgegengesetzt und den anderen: »Das Göttliche«: Page 201
»Und wir verehren--Die Unsterblichen,--Als wären sie Menschen,--Täten im großen,--Was der Beste im kleinen--Tut oder möchte.« Page 201
Und das ist seine Perspektive, seine Form, die Dinge zu sehen, geblieben. Page 201
4. Goethe hat unheimlich Abgründiges nicht nur in der »Natur« gespürt, sondern zuweilen wohl auch im eigenen Herzen, aber er hat es nicht gelten lassen.--»Doch deine Macht, o Sorge, schleichend groß, ich werde sie nicht anerkennen.«--In der Dichtung hat er das Abgründige auf den Gegenpol verbannt, auf die Seite der Finsternis und des Teufels, seines Teufels freilich, der humoristisch bleibt, auch wo sein Nihilismus sich radikal gebärdet. Mephistopheles durfte das ewig sich Regende, das Leben, verhöhnen--»Was soll uns denn das ewige Schaffen!«--das immer »im Kreis« sich Treibende, »als wenn es wäre«, das ist aber »die rotierende Bewegung der Monas um sich selbst«, die Goethe als das »Höchste« galt, »was wir von Gott und der Natur erhalten haben«. Mephistopheles durfte also das Höchst-Sinnvolle einen Augenblick gerade als das Sinnlose erscheinen lassen, in diabolischer Beleuchtung. Mit dem teuflisch-offenen Schluß aber: »Ich liebte mir dafür das Ewig-Leere«, war das Gleichgewicht wiederhergestellt. Unter der schweigenden Ironie, die über der Szene schwebt, fällt die Last der Sinnlosigkeit damit eindeutig auf den mephistophelischen Nihilismus zurück.†14 Page 201
Das war ein Blick aus dem Bewußtsein der Naturgeborgenheit in die Fraglichkeit des Sinns alles Seienden und ein Moment der Entscheidung. Im allgemeinen bleibt der Vorhang vor den letzten Konsequenzen geschlossen.†15 Page 201
Daß Goethe im Gespräch, »bei Expektorationen über den Lauf der Welt« solchen Gefallen an dem pessimistischen (nihilistischen) Distichon der Griechischen Anthologie finden konnte: »Alles Gelächter, und alles nur Dreck und alles das Nichts nur, Ist ja nur Sinnlosigkeit alles, was immer geschieht« (wie Riemer, der Philologe, berichtet), dürfte nicht so schwergenommen werden. Vor den Konsequenzen dieser Weltauffassung war er noch ganz anders gesichert als schon Schopenhauer. (Vergleiche übrigens in dem Buch von E. Franz, »Goethe als religiöser Denker«, Tübingen 1932, den Abschnitt »Religion und Ironie«.) Page 201
5. Es gibt aber auch ernste Äußerungen genug im Werk Goethes, die auf ein sehr deutliches Bewußtsein der Grenzen und der Unsicherheit, der Fraglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis hinweisen. Das repräsentativste Wort dazu, um das sich eine reiche Zahl anderer gruppieren ließe, steht im Vorwort zum Didaktischen Teil der Farbenlehre: Page 201
»Ist es doch eine höchst wunderliche Forderung, die wohl manchmal gemacht, aber auch selbst von denen, die sie machen, nicht erfüllt wird: Erfahrungen solle man ohne irgendein theoretisches Band vortragen und dem Leser, dem Schüler überlassen, sich selbst nach Belieben irgendeine Überzeugung zu bilden. Denn das bloße Anblicken einer Sache kann uns nicht fördern. Jedes Ansehen geht über in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren.«--Das ist eine Darstellung des Erkenntnisvorganges überhaupt und auch der wissenschaftlichen Page Break 202
Forschung, die nicht nur seinem eigenen Erlebnis und seiner eigenen Bewertung des Aperçus entspricht, sondern auch der Auffassung des Forschungsganges als einzelner Schritte, und zwar: von der Erfassung einiger Sachverhalte schon zu einem, zunächst intuitiven, ahnungsmäßigen, »gefühls«-mäßigen Vermuten von Zusammenhängen, dessen Berechtigung dann erst durch Überprüfungen festzustellen wäre, und so weiter von Vermutung (Hypothese) über Kontrolle (Verifikation oder Korrektur) zur nächsten Vermutung und gegebenenfalls schließlich zu einer bewährten und umfassenden Theorie, welche Auffassung sich im 19. Jahrhundert, nicht zuletzt unter französischem Einfluß (Claude Bernard, H. Poincaré), zur bewußten Methode ausgebildet hat.†16 Page 202
Daran fügt nun Goethe noch einen großartigen Appell an den Menschen im Forscher: »Dies aber mit Bewußtsein, mit Selbsterkenntnis, mit Freiheit und, um mich eines gewagten Wortes zu bedienen, mit Ironie zu tun und vorzunehmen, eine solche Gewandtheit ist nötig, wenn die Abstraktion, vor der wir uns fürchten, unschädlich und das Erfahrungsresultat, das wir hoffen, recht lebendig und nützlich werden soll.« Page 202
In solcher bewußter Ironie, das ist Selbstüberlegenheit (das »gewagte Wort« scheint doch wohl auch eine Konzession an die »romantische Ironie« Fr. Schlegels zu sein) sieht er, zu Beginn seiner »Materialien zur Geschichte der Farbenlehre«, unbefangen, »mit Freiheit« auf die Befangenheit des Menschen auf den »bestimmten« Kreis, wie er da sagt, von Irrtümern und Wahrheiten, den die Menschheit in der Geschichte ihres Geistes immer wieder zu durchlaufen hätte. (Scheinbar das Grundprinzip relativistischer Typologie und historisierender Psychologie der Weltanschauungen: die »Wiederkehr des Gleichen« im Geistigen, aber einmal nicht als erschütterndes Verhängnis erlebt, sondern mit Gleichmut, ohne Harm hingenommen, und schließlich auch nicht rein relativistisch verstanden: der Unterschied von Wahrheit und Irrtum ist ja nicht aufgegeben--ein Problem freilich des Glaubens an Wahrheit: auszuhalten, nur mit Hereinnahme perspektivistischer Zugeständnisse! Page 202
In solcher Ironie stellt er zu Beginn seiner Polemik gegen Newton, mit einigem Vergnügen an der Paradoxie, die Unvermeidlichkeit des »Vorurteils« fest: daß schließlich jeder doch nur das begreife, was ihm »gemäß« sei, »und was er deswegen zugeben mag«: »Im Wissen wie im Handeln entscheidet das Vorurteil alles, und das Vorurteil, wie sein Name wohl bezeichnet, ist ein Urteil vor der Untersuchung. Es ist eine Bejahung oder Verneinung dessen, was unsere Natur anspricht oder ihr widerspricht; es ist ein freudiger Trieb unseres lebendigen Wesens nach dem Wahren wie nach dem Falschen, nach allem, was wir mit uns in Einklang fühlen.« (Ähnliches steht in »Dichtung und Wahrheit«, 6. Buch; in den »Wanderjahren« I. 3; in den Sprüchen zu den »Wanderjahren« und anderswo.)†17 Page 202
In solcher Ironie wagt er--halb gegen Newton, halb gegen sich selbst, im ganzen gegen den menschlichen Geist überhaupt--den Verdacht einer »Lust« geradezu »am Irrtum«. (»Bedenklichstes«, aus »Kunst und Altertum«, 1820.)--In solcher Ironie bekennt er sich zu einer »tätigen Skepsis«, die nun allerdings wieder sehr positiv formuliert wird: sie müsse »unablässig bemüht« sein, »sich selbst zu überwinden und durch geregelte Erfahrung zu einer Art von bedingter Zuverlässigkeit zu gelangen«. (Aus »Kunst und Altertum«, 1827.) Page 202
»Skepsis und Ironie« hatten in Goethes Weltgefühl, wie alle diese Stellen zeigen, Page Break 203
doch nur am Rande Platz. Sie sind nie zur Mitte vorgedrungen, sie haben die ursprüngliche Denk- und Seinsgewißheit seines Geistes nie erschüttert. Gerade die Sicherheit seines Inneren erlaubte ihm das unbefangene Spiel mit solchen Möglichkeiten. Grundsätzlich war er weder Skeptiker, noch Relativist, noch Pragmatist. (Wer in den Distichen von den »Vier Jahreszeiten«--im »Herbst«--nachliest, dem wird der wahre Sinn des Verses: »Was fruchtbar ist, allein ist wahr«, nicht verborgen bleiben.) Goethe hätte sich aber auch nicht zu der äußersten Spannung der Gegensätze, zu der paradoxalen Dialektik in den Worten Pascals verstanden, auf die sein (»mit der Metaphysik gestrafter«) Freund F. H. Jacobi sich in seinem »Spinozabüchlein«, 1785 und 1789, beruft, die er »sein großes Thema« nennt: »Wir haben eine Unfähigkeit, etwas zu beweisen, der kein Dogmatismus, eine Idee der Wahrheit, der kein Pyrrhonismus (das heißt Skeptizismus) gewachsen ist.«†18 Und zwar schon deswegen nicht, weil dieses Sich-gegenseitig-in-Schach-Halten von Vernunft und Zweifel, wenn dahinter auch der Hinweis auf die Gewißheit des »Herzens«, auf »Instinkt« und »Gefühl« stand, der apologetischen Tendenz nach, bei Jacobi wie bei Pascal zu jenem »Salto mortale« (wie Jacobi sagte) in den religiösen Glauben führen sollte, Goethe aber sich nie zu der Annahme verstanden hätte, daß dieser »Todessprung« glücklich enden und sogar die einzige Rettung sein könnte. Page 203
6. Goethe hat sich im Gegenteil, instinktiv und mit Bedacht, vor gefährlichen Situationen, in denen seine Daseinszuversicht hätte stärker erschüttert werden können, zu bewahren gesucht, im Denken wie im Leben. Er wich aus, er kapselte sich ab vor dem Störenden, insbesondere vor dem Tod, er zog sich davor in sein Haus, in sein Bett zurück--vielleicht weil er mehr als andere solchen Erschütterungen wehrlos preisgegeben war. Goethe hat sich abgekapselt auch gegen das »Drüben«, nicht immer mit der Vehemenz seines »Faust«, nicht immer in derselben Gegensätzlichkeit: aber auch dort, wo er »das Unerforschliche ruhig verehrte«, wollte er es dahingestellt sein lassen, in Distanz wollte er eben in seinem Hause bleiben, in seiner Welt, in den Grenzen seines Horizontes, des Horizontes der anschaulichen Natur. Page 203
Ein positives Verhältnis zur Offenbarung kam nicht in Erwägung. Für den Wert, den er der Religiosität wirklich beimaß, spricht wohl am deutlichsten das Wort: »Frömmigkeit ist kein Zweck, sondern ein Mittel, um durch die reinste Gemütsruhe zur höchsten Kultur zu gelangen.« (Aus den Sprüchen zu den »Wanderjahren«.) Von diesem Sinn sind auch die »Bekenntnisse einer schönen Seele« getragen. [...] Page Break 204
DIE MÖGLICHKEITEN DES GEISTES Page 204
In der vor kurzem versuchten Analyse der abendländischen Kunst seit der Französischen Revolution: »Verlust der Mitte« (Salzburg 1948) führt H. Sedlmayr die überall zu spürende, bis zur wilden Lust sich steigernde Auflösung der inneren Form der Kunstwerke, das Abgleiten der Darstellungstendenz in das Phantastische oder Geometrisch-Abstrakte oder bewußt Chaotische, zurück auf den Verlust des menschlichen Selbstgefühls, des Gefühls der Würde, auf die Erschütterung des vorher so sicheren Bewußtseins, sinnvoll inmitten eines sinnvollen Ganzen zu stehen, sich als Mensch--nach dem Wort Goethes--»als Mittelpunkt der Welt« betrachten zu dürfen. Page 204
1. Der Kunsthistoriker zeigt den säkularen Vorgang an den großen, erschütternd wahren Beispielen der Architektur, der Malerei, der Plastik. Er begründet seine Deutung mit den großen, erschütternd wahren Zeugnissen derer, die diese Tendenzen frühzeitig erkannt und erlebt hatten: Nietzsches, Dostojewskis, Berdjajews, Jaspers', und derer, die sie mit Leidenschaft bejahen, von Nietzsche selbst bis zu den Surrealisten. Den Überlebenden der beiden Kriege ist die Wirklichwerdung dieser Tendenzen, der Sturz oder Sprung des Menschen ins »Bodenlose«, ins »Nichts«--der den Fallenden noch als Triumph, als »Überwindung der Erdgebundenheit« (selbst in der Architektur) erscheinen konnte, den Nietzsche schon in der Euphorie des Wahnsinns als Aufstieg gepriesen hatte, in immer geistigere Räume, in immer tiefere Einsamkeit freilich auch--den Überlebenden der Kriege und der noch unheimlicheren seelischen Kämpfe, die sie, manche von ihnen, austragen mußten, mit den Ideen ihrer Umgebung, mit dem Geist des Hohns, der Verzweiflung, der Gleichgültigkeit, ihnen ist dieses Geschehen ein immer erneutes Erlebnis. Es mitzumachen, es auszuhalten, es innerlich aufzuheben, seine innere Unwahrheit, die Unwahrheit seiner Voraussetzungen, zu erkennen, droht die Kräfte, die geistigen und seelischen, der meisten zu übersteigen. Page 204
Der Schwund des Selbstgefühls vollzieht sich seit langem mit immer mehr in das Bewußtsein dringender
Deutlichkeit. Zweifel, Auflösung des Vertrauens in die eigene Erkenntniskraft, in den Wert der Wahrheit selbst; Relativismus, Evolutionismus, Entwertung des Geistes zugunsten des Lebens, der Vitalität, der Leidenschaften, der Triebe; Verhöhnung der Triebe, der Leidenschaften, des Lebens vom zersetzenden Geiste aus, Auflösung des Wertes auch der Vitalität; die Zerstörung jedes noch einigermaßen bedeutenden, großen Bildes vom Menschen geht parallel mit einem immer allgemeiner werdenden Gefühl der Sinnlosigkeit alles Tuns, auch alles Verlangens nach Besitz und Genuß, parallel mit dem Schwinden der Scham vor dem Gemeinen, des Gefühls der Gebundenheit an Güte oder Treue, an das Edle oder das Rechte, mit der inneren Auflösung aller Liebe. Und dieser Vorgang ist nicht auf wenige geistig Blasierte beschränkt, immer mehr Menschen werden hineingerissen. Immer öfter kann man, wenn schon noch die Rede auf solche fremde Dinge wie Recht und Adel, Treue und Güte kommt, erstaunten, fragenden, leise lächelnden, spöttischen Gesichtern begegnen. Page 204
Die Versuche, unter Menschen solcher Gesinnung nach dem Durcheinander des Kriegsendes wieder eine gesellschaftliche Ordnung zu schaffen, zu erzwingen, sind Page Break 205
danach. Und sie werden nicht ernst genommen. Die Ideologien, durch die die Menschen ein neues Selbstbewußtsein erhalten sollten, werden von ihnen als propagandistische Verkleidungen des Zwanges angesehen, unter dem sie ja in Wahrheit stehen; sie wissen: wir müssen in dem ungeheuren maschinellen Betrieb die vorgeschriebenen Handgriffe tun, um dafür die karg zugemessene Ration an Nahrung und Kleidung und Vergnügen zu erhalten. Page 205
2. Daneben scheint der Verlust des sinnlich-anschaulichen, realen Weltbildes, um das Goethe gekämpft hat, kaum mehr etwas zu bedeuten. [...] Page 205
Vor diesem Blick in die Abgründe gibt es jenen glücklichen, durchaus gelungenen Menschen Goethes nicht mehr, der sich »in der Welt als in einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen« so voll »harmonischen Behagens« fühlen könnte, daß ihm sein Dasein »reines, freies Entzücken« gewährte, daß bei seinem Anblick »das Weltall ... als an sein Ziel gelangt, aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens« in ihm »bewundern« würde. Es hat ihn auch nicht in der Antike gegeben, es wäre denn in einer erträumten Antike, unter den »Göttern Griechenlands« (die Erkenntnis des Novalis in den »Hymnen an die Nacht«), oder im Athen Hyperions, es wäre denn im Paradies. Paradiesesträume waren alle diese Ideen von Rousseau bis Ludwig Klages. Und Träume von einer Wiederherstellung des Paradieses sind alle Phantasien einer zukünftigen geistigen und religiösen Einheit Europas, auch bei Novalis, einer »neuen Kirche«, einer Wiederkehr der Götter bei Hölderlin, aber auch die Ankündigungen einer neuen vollendeten Menschheit auf materiell-wirtschaftlicher Grundlage im vollkommenen Zukunftsstaat (wieder:) seit Rousseau. Page 205
Auch Goethe bezieht sich, mit Ironie, auf solche Zukunftsaussichten und erwartet sich davon eine Bekehrung der Mathematiker: »Wenn die Hoffnungen sich verwirklichen, daß die Menschen sich mit allen ihren Kräften, mit Herz und Geist, mit Verstand und Liebe vereinigen und voneinander Kenntnis nehmen, so wird sich ereignen, woran jetzt noch kein Mensch denken kann. Die Mathematiker werden sich gefallen lassen, in diesen allgemeinen sittlichen Weltbund als Bürger eines bedeutenden Staates aufgenommen zu werden, und nach und nach sich des Dünkels entäußern, als Universalmonarchen über alles zu herrschen; sie werden sich nicht mehr beigehen lassen, alles für nichtig, für inexakt, für unzulänglich zu erklären, was sich nicht dem Kalkül unterwerfen läßt.« (Aus den Sprüchen zu den »Wanderjahren«. Jetzt könnte man dabei an gewisse Logistiker denken.)--Das Paradies ist verloren, wir sind, das ist die Grunderkenntnis Pascals, die christliche Grunderkenntnis, gebrochene, mit inneren Widersprüchen belastete Wesen, geheimnisvoll geschlagen mit der Erbsünde, der »Ursünde«. Wir sind erlösungsbedürftig. Page 205
5. Es ist nicht zu erwarten, daß das Bild des autonomen Menschen, das im humanistischen Geistesbereich sich immer entschiedener durchgesetzt hatte, so bald wiederkehre, weder in der Gestalt, die Kant, noch in der, die ihm Schiller, noch in der, die Goethe ihm gegeben hat. Es ist auch in der Kunst nicht zu erwarten, daß das Menschenbild in der alles überdeckenden Größe, alles überstrahlenden Herrlichkeit wieder erstehe, wie es die Gemälde der Renaissance-Zeit ausfüllte. (H. Wölfflin, »Die klassische Kunst«.)--Immerhin wäre es denkbar, daß unserer Zeit der Widersprüche, der Abgründe, der Zersetzung, wieder eine der Ausgeglichenheit, der Einheitlichkeit, wenigstens des Strebens nach Ausgeglichenheit und Einheitlichkeit Page Break 206
folgte, eine Zeit des Aufbaus, wie das 12. und 13. Jahrhundert dem 10. und 11. gefolgt ist, wie die Renaissance der Spätgotik (sie waren aber beide problematisch genug), wie der Humanismus dem Barock, als dieses in seine
Gegensätze auseinanderfiel--in jenem »Kreis« der »Irrtümer« und der »wahren Ansichten«, den die Menschheit immer wieder durchläuft (wäre es auch in einer »Spirale«, wie Goethe hinzugefügt hat).†19 Manche Anzeichen, auch im philosophischen, im wissenschaftlichen Denken, in der Musik scheint es dafür zu geben. Aber der einzelne Mensch, der auf sich selbst angewiesen ist, der in seiner Zeit das Rechte finden muß, kann nicht auf eine neue Kultur- und Ideenwelle warten, die ja doch wieder Wahrheit und Irrtum zugleich in neuer Form mit sich bringen würde. Es muß in jeder Zeit für den Menschen die Möglichkeit geben, sich auf das Wesentliche zu besinnen, sich selbst zu erfassen--und wäre es zunächst in der Form von Widersprüchen--, für sich selbst und sein Dasein doch zuletzt einen eindeutigen Sinn zu finden. Page 206
Ein solcher letzter Sinn läge bereit in der Sprache der ungebrochenen, unverbogenen Tradition der religiösen Lehre, der Tradition der Offenbarung. Aber wie wenige sind noch imstande, sie dort zu erkennen! Eine Möglichkeit, sich selbst zu erfangen in dieser Welt, in der man verloren zu sein scheint, ist aber doch wohl auch dem Menschen möglich, der ganz »von vorne anfangen« muß (auch das war eine Haltung, von der Goethe schon gewußt hat: Lenardos Haltung in den »Wanderjahren«). Es scheint auch in der Gegenwart Ansatzpunkte für eine neue Gewißheit, schon einmal bloß unseres realen Daseins in einer realen Welt, zu geben, sogar Ansatzpunkte dafür in der Analyse unseres Bewußtseins, wenn sich diese ursprüngliche Gewißheit des Seins auch nicht weiter begründen läßt; und Ansatzpunkte dann auch für die Möglichkeit verläßlicher Erkenntnisse überhaupt. Gerade Pascals vérités de coeur scheinen dazu einen Weg weisen zu können. Es scheint aus allen biologistischen Vorstellungen vom Menschen sich eine neue Gewißheit unseres geistigen Selbst, unseres »selbständigen Gewissens«, des Rechtes unseres Wertgefühls zu befreien: einer Selbständigkeit unserer Person, die sich wohl nicht so schnell wieder zur Anmaßung jener Autonomie, jener gottgleichen »Selbstgenügsamkeit« (die auch dem Kantischen Moralprinzip zugrunde liegt) übersteigern dürfte. Page 206
Es scheint auch--und das wäre sogar die Grundbedingung--die Möglichkeit zu geben einer neuen Gewißheit des Sinnes alles Seienden, ohne alle Beweise freilich, denn es gibt keinen Beweis für diese tiefste aller Voraussetzungen, aber vielleicht gerade von der Einsicht her, daß ohne diese Voraussetzung die ganze Form unseres Denkens und Folgerns unmöglich wäre. (Das ist der Hintergrund, zu dem das Denken »transzendieren« müßte: das Axiom von der Sinnhaftigkeit alles Seienden.) Page 206
Der Mensch bekäme so, bei allem Bewußtsein seiner Problematik, seiner Gefährdetheit, seiner insecuritas (P. Wust »Ungewißheit und Wagnis«), auch wieder ein Bewußtsein seiner »Würde«, der »dignitas humanae substantiae«. Auch bei Pascal ist der Haß gegen das eigene Ich nur eine Seite des Gesamtaspektes; auf der anderen steht die Liebe zu sich selbst: »...qu'il se haïsse, qu'il s'aime...« (Tourneur, Nr. 113, 115 u. a. Von Pascal ist ja auch das grandiose Wort, »que l'homme passe infiniment l'homme«--Tourneur Nr. 125.) Und Pascal ist der Begründer jener Lehre von den »Ordnungen«, die, voneinander der ganzen Art nach getrennt, durchaus verschiedene Möglichkeiten, Stufen des seelischen Seins bedeuten. Er unterscheidet Page Break 207
ihrer drei, drei Horizonte des Erlebens wie des Denkens und damit zugleich der objektiven Bezüge: die »Ordnungen« vitaler Mächtigkeit, gedanklicher Klarheit und göttlicher Heiligkeit. (Tourneur Nr. 262.--Siehe das Nachwort von E. Wasmuth zu seiner Ausgabe der Aufsätze Pascals: »Die Kunst zu überzeugen«, Berlin 1938.)--Im mittleren Bereich, in der Ordnung des Geistes, selbst wieder haben sich für das wissenschaftliche, philosophische, kritische Denken mehrere Horizonte, Hintergründe hinter Hintergründen ergeben. Die Erkenntnis dieser Möglichkeiten müßte aber nicht auf jeden Fall zu dem Gefühl der Haltlosigkeit, der Bodenlosigkeit, des »Verlustes der Mitte« führen, der Preisgegebenheit an die »absolute Relativität«; es könnte sich mit der Vertrautheit des Denkens in mehreren Bereichen auch ein neues Gefühl schwebender Sicherheit entwickeln, der Sicherheit, die sich mit der Abhängigkeit jeder Erkenntnis, jeder Aussage, von dem Standpunkt, von dem aus sie erfolgt, einverstanden erklärte (der Sicherheit eines--besonnenen Perspektivismus. Page 207
Der Mensch könnte sich so--und das entspricht einer wesentlichen Möglichkeit seines Geistes--außerhalb jeglicher Bindung an Horizonte erleben, weil er sie alle durchstoßen, weil er von einer Ebene auf eine andere überspringen, weil er sich selbst dahin und dorthin versetzen (das Wort sehr wörtlich genommen) und gleichzeitig wissen kann, daß er auf einer Ebene, innerhalb eines Horizontes, auch wieder »in der Mitte« stehe von unendlich vielen (Pascal), aber doch nie den Limes von Null oder Unendlich erreichenden Möglichkeiten. (Vgl. das genannte Buch von E. Wasmuth, »Der Mensch in der Mitte«.) Page 207
Der Mensch kann sich jeweils--mit einer gewissen Willkür, aber er tut es auch unbewußt--als die Mitte des
Koordinatensystems betrachten, das er gerade von sich aus über die Welt legt. Er darf, mit einigem Anspruch auf Erkenntnis, die Dinge unter der gewählten Perspektive sehen, er muß sich nur--um nicht plötzlich erschüttert zu werden von einem Anfall der Skepsis--bewußt bleiben, daß sie unter dieser Perspektive stehen, er muß sie sozusagen mit dem Index dieser Sicht charakterisieren. Mit dem Index der Perspektive darf er dann auch wieder seinen Sinnen trauen, eben »wenn sein Verstand ihn wach erhält« (das heißt, wenn er sich dieser Sinnenperspektive bewußt bleibt--und das ist sicher auch im Goetheschen Sinn). Der Mensch darf so auch bewußt, und gerade bewußt, »anthropomorphistisch« denken.--Goethe meinte, der Mensch begreife niemals, wie anthropomorphistisch er sei. (»Aus Kunst und Altertum«, 1823.) Er sollte sich dessen aber soviel als möglich bewußt werden. Er sollte sich auch darüber klar sein, daß er gar nicht anders als eben in seiner menschlichen Weise, auf Grund seiner menschlichen Erfahrungen in den Formen seiner menschlichen Begriffe, seiner menschlichen Konzeptionen, Ideen, oder wie man das nennen mag, denken könne. Das ist auch eine Goethesche Erkenntnis.†20 [...] Page 207
Es hat gerade die Problematik der Gegenwart eine neue, vor fünfzig Jahren fast verschüttete Möglichkeit eröffnet: der Mensch kann sich, und das erscheint sogar als sein eigentliches Wesen, wieder als frei betrachten. Die ganze Existenz-Philosophie geht von dieser Tatsache aus. Er kann sich aber wohl auch--entgegen der Chaotik einer gott- und sinnlos gedachten Welt, entgegen dem Existentialismus von Sartre, entgegen dem Absurdismus von Camus--wieder in neuem unmittelbarem Bezug zu Gott erleben, und zwar (im Bereich der dritten Ordnung Pascals): als Page Break 208
ein der Welt überlegenes Wesen, Gott in besonderer Weise verbunden und verpflichtet, als ein kreatürliches Ich dem alles umfassenden Du »gegenüber«. Er darf so vielleicht sogar irgendwie wieder in seinem Dasein den Sinn des großen »Aufwands von Sonnen und Planeten und Monden« sehen, da er »den großen Gedanken« von Gottes »Schöpfung noch einmal denkt«. (Es soll auch Klopstock zu seinem Rechte kommen, und er hat eines.) Der Mensch wird sich freilich kaum mehr in der Möglichkeit befinden (das Wort »sich befinden« in dem ursprünglichen aktiven Sinn genommen, den Heidegger ihm wiedergegeben hat), sich »unbewußt seines Daseins zu erfreuen«--wie ein Kind, das »der Wohllaut erzog des säuselnden Hains«, das aber eben auch dorthin erst »gerettet« werden mußte, »vom Geschrei und der Rute der Menschen«, wie Hölderlin es von sich glaubte. (»Da ich ein Knabe war...«)--als »spielend«, aber doch vor Gott.†21 [...] Page 208
Dieser Zusammenhänge bewußt, mag der Mensch sich schließlich auch wieder, im Sinne Goethes, auf den begrenzten, menschlichen Bereich seiner Wirksamkeit und Wirkungsmöglichkeit bescheiden, auf das Dasein in seiner Umwelt, in seinem Milieu, nach dem sehr resignierten Wort Pascals: »C'est sortir de l'humanité que de sortir du milieu«. (Tourneur, Nr. 351--vgl. dazu Guardini.) Das ist zugleich ein Grundsatz Goethes.--Goethe kannte auch den anderen Weg: sich von seiner Umwelt zurückzuziehen, »sich vor der Welt ohne Haß zu verschließen«: »Was ich recht weiß, weiß ich nur mir selbst; ein ausgesprochenes Wort fördert selten...« (Aus den Sprüchen zu den »Wanderjahren«.)-Page 208
Es käme nur darauf an, daß man sich nicht, wie Faust (und Goethe zuweilen), auch vor dem »Drüben« verschlösse, seine Bezüge zu Gott zerrisse. Man müßte mit Gott zugewandtem Herzen, mit dem Bewußtsein, vor Gott zu sein, oder auch mit dem Bewußtsein, daß er groß und mächtig und liebevoll hinter einem stehe, sich den Dingen der Welt zuwenden können, in Treue, in Fürsorge, in Liebe, und doch ihnen innerlich enthoben, wie im Spiel eben (nel teatro del mondo), wie als Kind. Page Break 209
»sentiments«, die »vérités de coeur« von Pascal denken; übernommen hat er das Wort wohl von F. H. Jacobi. Page 209
»Wahrnehmung des Wirklichen und Gefühl der Wahrheit, Bewußtsein und Leben sind eine und dieselbe Sache.« (Vgl. F. A. Schmid, Fr. H. Jacobi, 1908, S. 44f. und 61.)--Aber Kestner hatte von Goethe schon 1772 gesagt: »Er strebt nach Wahrheit, hält jedoch mehr vom Gefühl derselben als von ihrer Demonstration.« Page 209
7 Vgl. dazu Goethes letzten Brief (an Humboldt). Page 209
8 In der Dichtung hielt Goethe auch an der Erde als Mitte der Welt fest, besonders im »Faust«, nicht nur in dem »Gottesbekenntnis« Faustens Gretchen gegenüber: »Wölbt sich der Himmel nicht da droben? Liegt die Erde nicht hier unten fest?« usw., sondern auch im Gesang der Erzengel: »Die Sonne tönt nach alter Weise In Brudersphären Wettgesang...«
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9 Goethe hielt an dem antiken mythischen Weltbild fest: a) gegen die philosophisch-wissenschaftliche Entgötterung, b) gegen die christliche Entmythisierung, c) gegen die Chaotisierung (Pascals). Page 209
10 In der neuen kritischen Ausgabe von Z. Tourneur--Editions de Cluny, 1938--hat es die Nummer 183.--In der Übersetzung war ich bemüht, möglichst wortgetreu zu bleiben. (Brunschvicg, Nr. 72.) Page 209
11 Pascal hatte Ernst gemacht mit der Entrückung der Erde aus der Mitte der Welt (in einen »verlorenen Winkel« des Universums), aber ebenso mit der Idee der Unendlichkeit der Welt im Sinne von Giordano Bruno. Page 209
12 Er hat Fr. H. Jacobi widersprochen, als er Pascals Wort vom »Schleier der Natur« wieder aufnahm: »›Die Natur verbirgt Gott!‹ Aber nicht jedem!« (Spruch aus dem Nachlaß.) Page 209
13 Maurice Barrès, der Wandelbare, nahm zuerst Partei für die Weisheit Goethes gegen die Angst Pascals, fand dann aber, daß ihn Pascal in der Tiefe seines Denkens ganz anders ausfülle (wie eine Rose von Jericho), spricht von einer Pascal-Krise, die ihn zum Katholizismus dränge, bringt aber schließlich Goethe und Pascal in eine Art polarer Eintracht. (B. Amoudru, La vie posthume des »Pensées«, 1936.) Page 209
14 Kaum zu spüren ist die Ablehnung des »ewigen Sinnes« in den meistens mit Pathos gesprochenen Versen: »Gestaltung, Umgestaltung, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung«. Aber auch diese Worte spricht Mephistopheles, der solche »Unterhaltung« nur sinnlos finden kann. Page 209
15 »In Goethe selbst aber, in seiner dichtenden Sprache, in seiner besonderen Einheit von Leben und Dichtung, Wahrheit und Dichtung ist schon mehr vom Unendlichen Pascals, als Goethe es hätte zugeben wollen.« (R. Kassner, Die Geburt Christi, 1951.)--Pascal wird hier allerdings zu sehr von Giordano Bruno aus gesehen.--Das Symbol »Mitte« hat bei Kassner auch einen anderen Sinn als bei Pascal (»Das physiognomische Weltbild«). Man könnte sagen, Kassner goethisiere Goethe, trotz der Gegengewichte Pascal und Schopenhauer, »Abgrund« und »Einbildungskraft«. Page 209
16 Claude Bernard (in der Introduction à la médecine expérimentale, 1865) spricht wie Pascal von dem ersten Einfall (der Intuition, der Conaissance du coeur, dem Aperçu) als von einem sentiment (einem »Wahrheitsgefühl«).--Vgl. wieder die entsprechenden Teile in dem voranstehenden Essay über Blaise Pascal. [in: Begegnungen und Auseinandersetzungen] Page 209
17 Weniger ironisch schreibt F. H. Jacobi (David Hume über den Glauben, 1787): »Alle Meinungen wurden im Schoße der Wahrheit empfangen; alle Wahrheiten im Schoße der Meinung. Vor den Begriffen sind die Wahrnehmungen, vor den Beweisen die Urteile. Die wichtigsten Lehrsätze hatten lange gegolten, ehe Philosophie sie nachbuchstabierte und die Gründe, warum sie gelten mußten, gewahr wurde.--Die höchsten Grundsätze ... sind--unverkleidet--bloße Machtansprüche, denen wir (blindlings?--wie dem Gefühl unseres Daseins!) glauben. Man könnte sie ... ursprüngliche, allgemeine, unüberwindliche Vorurteile nennen: als solche wären sie das reine Licht der Wahrheit, oder gäben vielmehr der Wahrheit das Gesetz.« Page 209
18 »Nous avons une impuissance de prouver invincible à tout le dogmatisme; nous avons une idée de la vérité invincible à tout le pyrrhonisme.« Dazu der zweite Satz, den Jacobi anführt: »La nature confond les pyrrhoniens et la raison confond les dogmatistes.«--Vgl. Page Break 210
Tourneur, Nr. 125.--Es ist die misère der zweiten »Ordnung«, der Ebene des Geistes.--Brunschvicg: Frgm. 395 und 434. Page 210
19 Vgl. den letzten Essay meines Buches »Goethe, Chaos und Kosmos«: die wechselnden Chaos- und Kosmos-Tendenzen in den Weltauffassungen des Abendlandes. Page 210
20 Und dann, vorübergehend, eine Schillersche. Page 210
21 Huizinga »Homo ludens«.--Vgl. dazu die »Theologische Betrachung des homo ludens: »Das göttliche Kinderspiel« von Hugo Rahner (Wort und Wahrheit, Wien, Jänner 1949), und mein Goethebuch, S. 51.
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Karl Kraus Page 211
Karl Kraus, der Sechzigjährige, ragt fremd in die Literatur der Gegenwart, eine einsame Größe--von wenigen verstanden (noch immer, auch nur dem Wortlaut seiner Sätze nach--schon darum wissen nur einige wirklich von ihm); in weitem Bogen von vielen gemieden (sie können nicht von ihm sprechen, ohne sich zu entlarven: sie dürfen nicht unter sein Licht geraten); selbst immer wieder mit schärfster Unerbittlichkeit die Kreise seiner Anhängerschaft sprengend (von ein paar Ehrlichen abgesehen, keiner erfreulichen), die sich, bewundernd, an ihn herandrängt, die in das Schweigen der andern sein Lob in jenem falschen Ton hineinschreit, den gerade er unmöglich gemacht hat (er entzieht sich ihr gerade dann, wenn sie glaubt, ihn für ihre Sache, für ihre Partei eingefangen zu haben); und doch der Führer einer Jugend in allen Fragen der Literatur, der Presse, der Sprache, der Gesinnung, dem Ludwig Ficker und der »Brenner« und Theodor Haecker gefolgt sind.--Ist er, nach den wenigen Literaturgeschichten, die von ihm Notiz nehmen, mit seinem großen Werk, seiner Satire und seiner Lyrik, seiner Sprache und seinem Vortrag, seiner ungeheuren Kraft und seinem unglaublichen Können, doch nur eine lokale Größe, »genialer Stilkünstler und Schelter« (Nadler), verständlich aus dem jüdischen, journalistisch-literarischen Wiener Kreis, von dem er kommt, mit dem er sich schlägt, seit er in der »Demolierten Literatur« (1896) das Café Griensteidl abgetragen (Hermann Bahr war schon damals Objekt seines Spottes)--oder ist er, der Jude (seiner Abstammung nach), trotz seiner Virtuosität, jeden kleinen Anlaß, wie er will, zum großen Symbol hinaufzuschrauben, wie es ihm paßt, durch Dumm-Machen der Gegner, Unterschiebung bestimmter Motive, Festlegung auf unrettbare Typen, trotz seiner Kunst, immer wieder gerade auf der nicht erwarteten Seite das Recht zu verteidigen, trotz seinem oft sehr persönlichen Haß und seiner Gehässigkeit, trotz seiner sprichwörtlichen, von ihm selbst sprichwörtlich gemachten, zum Prinzip erhobenen Eitelkeit (kein anderer Schriftsteller hat sich selbst so oft porträtiert und formuliert), trotz seinem Stolz, trotz seiner Ausfälligkeit, die ihn alle Angriffe mit solchen Keulenschlägen beantworten ließ, daß es gefährlich ist, ein Wort der Kritik gegen ihn zu wagen--ist er trotz allem wirklich so etwas wie der berufene Richter der Zeit, der, eine »Geißel Gottes« zum mindesten (wie Ficker im »Brenner« gesagt hat), Juden und Deutschen und Europäern das grauenhafte Bild ihrer Verdorbenheit und Verworfenheit bei jedem Anlaß, dem größten und dem kleinsten, bei einem Mord im Chinesenviertel, beim Untergang der Titanic, angesichts des Weltkrieges ebenso wie bei einem »Konkordia«-Ball oder der Amerikafahrt des Wiener Männergesangvereins oder wegen des Punktes, den auf dem Gebäude die Aufschrift »Burgtheater« hinter sich hat, vor Augen halten, ins Gesicht schleudern darf? Hat er das Recht zu seinen Titeln: »Die letzten Tage der Menschheit«, »Untergang der Welt durch schwarze Magie«, »Weltgericht«, zu seinem »Gebet an die Sonne von Gibeon«? Page 211
Ich glaube, daß er es ist, ich glaube, daß er es hat. Page 211
Ich bin nicht berufen, über ihn zu entscheiden. Ich weiß, wie hoch sein Geist, seine Kraft, seine Leidenschaft, seine Sprache über meinem Vermögen stehen. Aber Page Break 212
ich habe seit meiner Jugend, schon einige Jahre vor dem Krieg (»Die Fackel« erscheint seit 1899), mit ihm, das heißt mit seinen Aufsätzen, Glossen, Aphorismen, Gedichten, wirklich zu tun gehabt. Er ist (durch sie) einer meiner Erzieher geworden, sprachlich, literarisch, moralisch. Ich habe die Kunst seines Wortes und seiner Satire wahrhaftig genossen, oft genug auch der Tendenz seiner Polemik erfreut, erlöst zugestimmt, ich habe aber daraus auch manche (heilsame) Ohrfeige bezogen (auf mich bezogen) und mit manchem seiner Gedanken--falschen Gedanken! schwer gerungen. Ich verstehe kaum, wie ein Mensch, in der Klarheit, mit der er sieht (und es ist keine Dumpfheit in ihm), auf die Dauer eines Lebens dort verharren kann, wo er steht, aber ich bin oft neben ihm gestanden, begeistert oder bezwungen von der Wahrheit in seinem Wort, und ich habe, was immer er geschrieben, auch was mir gründlich wider den Strich und wider die Überzeugung, und was gründlich wider die Wahrheit ging, gründlich ernst genommen. Und als solcher darf ich für und gegen ihn zeugen. Page 212
Seine Polemik gegen Gesellschaft, Gerichtssaal und Psychoanalyse, gegen Journalisten, Literaten und Dichter, gegen Herrscher, Heerführer und Demokraten hat alle Zeit hindurch, bei allen Wandlungen und »Widersprüchen«, denselben Grundzug beibehalten: Kampf gegen jede Art von Unnatur, das heißt Kampf, und mit beißendem Spott, gegen Affektation, Phrase, hohles Pathos; und Kampf, mit der Leidenschaft des Zornes, gegen jede Vergewaltigung ungeschützten Lebens. Page 212
(»Konsequenteste Abwehr allen Eingriffs in Natur und Geistesrechte« formuliert er selbst: Fackel, Nr. 890 bis 905.)--Eine Position, ursprünglich und weit genug, um den Polemiker über alle Parteien hinauszuheben, unmittelbar und menschlich genug, um eine grundsätzliche Ablehnung von seiten irgendeiner Partei als unratsam erscheinen zu lassen: überlegen und unangreifbar. Page 212
Aber »Unnatur« und »Natur« und »Leben« und »Recht«: es ist der liberale, individualistische Geist des 19. Jahrhunderts, in dem sie gesehen werden; auch dort, wo es um soziale und sozialistische Formen geht. Das zeigen schon die beiden Dominanten der Gesinnung, die auch für seine Haltung Geltung haben und sie rechtfertigen müssen: Ehrlichkeit und Mitleid: leidenschaftliches Mitleid mit aller gequälten Kreatur, mit Hund und Bauer und Weib, mit allem Hilflosen und Getretenen; und unbedingte, radikale Ehrlichkeit, Vorurteilslosigkeit, Wahrhaftigkeit (beides Motive, unangreifbar an sich und doch für so vieles, ach, und Unberechtigtes verwendbar, weil sie nicht ausreichen für alles).--Und es ist Liberalismus, aus dem die Freiheit des einzelnen in der Gestaltung seines »privaten« Lebens verfochten wird (in der Fasson, in der er selig werden will), es ist Liberalismus, der zu Libertinismus wird in dem Kampf um die Freiheit auch der erotischen Lust, sie mag wie immer sich wandeln, gegen die Zugriffe der »Moral«; einem ernsten, pathetischen Libertinismus freilich, der aus Mitleid und Ehrlichkeit gegen die heuchlerische Gesellschaft und gegen das Christentum, das diese Heuchelei verschuldet haben soll, den »verbannten Eros« erlösen, das heißt »Genuß und Ethik«, die nichts miteinander zu tun hätten, »auseinander«-reißen wolle (»Die chinesische Mauer«). Moralische Entrüstung gegen die Moral. (Seine Auffassung von der sexuellen »Natur« des Weibes, deren »einzige Mission« es sei, »vorbehaltlos der Freude zu dienen«, ermöglicht es ihm [nicht ihm zuerst], jener Gesellschaft zum Trotz die Dirne, die von ihr gebraucht und verachtet wird, als die Heldin zu preisen, die allein es wage, ganz Page Break 213
Weib zu sein: »Ehre jenen sei--die an der Ehre starben, heldische Opfer--, geweiht dem größeren Mutterland Natur!«) Page 213
Die geistige Welt, aus der diese Auffassung vom Menschen gewachsen ist, Rousseau und Schopenhauer und Nietzsche, französischer und englischer Immoralismus (Oskar Wilde)--pour épater le bourgeois--und Wiener (jüdische) Psychologie, erscheint hier in einer neuen Gestalt, gesäubert von überflüssigem Sentiment und fremden, idealistischen Zusätzen, die die anderen noch mitgenommen hatten, in zynischer Vereinfachung und einer Folgerichtigkeit ohne Scheu, überlegen und selbstsicher und ohne Ressentiment, frei auch von der moralischen Gequältheit Wedekinds wie von der ethischen Verzweiflung Weiningers. (Zu Weininger verhält sich Karl Kraus wie Nietzsche zu Schopenhauer: Er nimmt seine Konzeption von der Amoralität des Weibes an, wie Nietzsche Schopenhauers Auffassung von der Welt, aber er sagt ja, nicht nein dazu: »Ein Frauenverehrer«, schreibt er ihm, »stimmt den Argumenten Ihrer Frauenverachtung begeistert zu.«--Mit dem Wissen Weiningers, Strindbergs, Wedekinds bleibt er bei Schiller: Anmut ist das Wesen des Weibes--mit seinen Lastern--, es ist Natur, nur eben nicht moralische.) Page 213
Weder Weininger noch Kraus freilich haben recht, noch auch die anderen, mit ihrer Anthropologie, mit ihren Paradoxen vom Menschen und vom Weibe und vom Christentum. Page 213
Aber es steckt in diesen Paradoxen auch Wahrheit! In dem zum Beispiel, was Karl Kraus von der Tragik des weiblichen Schicksals empfunden, auch in dem, was er von dem Unsinn der sexuellen Aufklärung oder der »Kameradschaft« zwischen den Geschlechtern gesagt hat. Und es ist nicht einfach, das Falsche, das fatal Falsche, von dem Wahren zu sondern.--Der »Zynismus« allein ist kein Argument gegen solche Lehre. Zynismus (und nicht bloß »ein zynisches Kapitelchen zum Schluß«, wie Lessing es für »Werthers Leiden« wollte) tut zuweilen not und gut. Und dieser Zynismus in seiner Schärfe und Präzision ist zudem alles eher als Frivolität, er ist geladen von moralischem Pathos. Wenn auch in der Liebe zwischen Mann und Frau nur die sexuelle Lust gesehen wird (das ist die fatale Enge dieses Blickes), so wird dieser Lust--und auch sie hat ihren Wert--nur das Wort geredet aus Mitleid, zur Verteidigung der Natur, und nicht aus Lüsternheit oder Leichtsinn, aus Mitleid auch nicht etwa mit den Bedürfnissen des Mannes (sie sind dessen schwächste Seite), sondern mit der Natur des Weibes, wie er sie sieht: »Weib sein beruht in Wonne und Weh.--Mann zu sein, rettet er seine Reste.« Nicht um die Lust an sich geht es ihm. Was liegt ihm an der Lust? Mit derselben Energie und mit dem ganzen Anteil seiner Person verpflichtet er den Mann dem »Geiste«. Der Geist ist es, der durch die Lust befruchtet werden soll. Im Geistigen kehre sich das Verhältnis der Geschlechter um. Page 213
Dieser Dualismus von Logos und Eros, aufgeteilt (zu einfach aufgeteilt) auf Mann und Weib (zu einfach,
trotz der langen Reihe von Vorgängern, die Kraus darin hat), nicht beklagt, sondern begeistert bejaht, hebt ihn (auch hier wieder) hinaus, sowohl über den Zwiespalt, den Weininger, für den Geist gegen den Eros, als ewige Qual verflucht hatte, weil ihm das Streben hoffnungslos schien, die Triebe der Seele geistig zu durchformen, als auch über Klages' Kampf gegen den Geist als Widersacher der Seele (wogegen es nichts verschlägt, daß Karl Kraus sich selbst als »Widerpart eines naturfeindlichen Intellekts« erklärt). Page Break 214 Page 214
Sein Zynismus, seine unbeirrbare Sachlichkeit, trennt diesen Liberalismus auch von dem »idealistischen« Liberalismus der Professoren und der Presse und der landläufigen Gesinnung, jenem charakter- und konsequenzlosen Gemenge von Freisinn und Befangenheit, in dem kein Wort und kein Wert mehr seinen ursprünglichen Sinn behielt, jener bürgerlichen »Moral«, die die alten moralischen Formen ohne ihre Gründe festhalten wollte, und in Wirklichkeit auch diese Formen nicht mehr, wohl aber, aus Bequemlichkeit oder aus Feigheit, ihren Schein. Page 214
Gegen diese Heuchelei erst richtet sich die ganze Wucht seiner Polemik, der schneidendste Hohn seines Hasses. Dagegen verschwinden alle seine Ausfälle (und es sind Fluten von Schimpfreden) gegen die »Reaktion«, die unbewegliche und die revolutionäre, die »Neandertaler« und die »Troglodyten«. Seine eigentliche Stellung hat er erst bezogen, wenn er, der radikal Freisinnige, dem Freisinn, der Liberale dem Liberalismus zu Leibe geht, nicht schimpfend bloß und scheltend, sondern mit der auflösenden Kraft seiner Analyse, die alle Parolen zersetzt, schon indem sie sie anrührt, indem sie sie anführt. So hat es wiederholt geschienen, als ob er für die Konservativen Partei nähme. Und er hat für sie Partei genommen, ohne freilich ihre Parteigesinnung anzunehmen; was er dann bei der nächsten Gelegenheit wieder mit kräftigen Schlägen zu fühlen gab.--Er sagt es vom »Künstler« (von Nestroy, den er der liberalen »Nachwelt«, die ihn für sich beansprucht, als ihren Satiriker entgegenstellt, und von sich selbst), aber es gilt auch vom Menschen Karl Kraus: »Der Künstler ... nimmt so wenig Partei, daß er Partei nimmt für die Lüge der Tradition, gegen die Wahrheit des Schwindels ... und statt der Religion die Pfaffen wirft er der Aufklärung lieber die Journalisten vor und dem Fortschritt die Wissenschaftlhuber.«--Es hat keinen schärferen und erfolgreicheren Feind gerade der jüdisch-liberalen Presse gegeben als ihn. Sie haßt und fürchtet ihn. Keiner hat sie so bloßgestellt wie er. Und nicht in allgemeinen Wendungen, sondern von Person zu Person, mit allem Risiko für sich selbst. Und nicht bloß durch die Streiche, die er ihr gespielt mit dem »Grubenhund«, jener Einsendung, auf die die Neue Freie Presse gerade um ihres wissenschaftlichen Unsinns willen hereingefallen ist, und durch manche ähnliche Aufsitzer vorher und nachher. (Nicht genannt wird er von dieser Presse.) In dieser Stellung, paradox und überlegen, muß sich der Satiriker vor allem gefallen: Opposition gegen die Opposition, aus deren Geist man stammt, ohne deswegen die Reaktion, die man verteidigt, zu nahe an sich heranzulassen; eine Art Kontrapost, wie die gewundene Haltung der Barockfiguren, die, abgewendet mit dem ganzen Leib von dem geistig überwundenen Alten, das sich nur in der Richtung der Füße noch geltend macht, mit dem Kopf doch wieder in die alte Richtung zurückkehrten, nicht zwar hinab zum Standpunkt der Füße, sondern hinauf oder hinaus. (Wie Rousseau zur Natur, Schiller zu den Griechen, die Romantik zum Volke, Schopenhauer zum Christentum sich zurückbogen, weg von der Entartung und Barbarei und Gemeinheit der Zeit und doch im Bann ihres Geistes.) Page 214
Diesem neuen Geschlecht aber des »Schwindels«, des »Fortschritts« und der »Journalisten«, das die ganze Welt mit ihrem Netz umzogen hat und beherrscht, diesem Geschlecht der »Herzverhärtung und Gehirnerweichung«, den Konservativen in ihrer Entartung freilich ebenso wie den Liberalen in ihrer Gesinnungslosigkeit, dem Fortschritt wie der Reaktion, den Christen wie den Juden, dem ganzen gegenwärtigen Geschlecht der Käuflichkeit und der Niedertracht, der Maschine und Page Break 215
der Phrase, der »öffentlichen Meinung«, der Presse, das keiner wahren, unmittelbaren menschlichen Haltung mehr fähig ist, das alle Natur aus sich vertrieben hat und sie verfolgt und erdrückt, wo immer sie sich noch regt, ihm weissagt er, wünscht er mit dem wütenden Haß eines Schopenhauer, mit der leidenschaftlichen Entrüstung eines Propheten, mit der diabolischen Schadenfreude eines Dämons (man weiß oft nicht, was überwiegt): den Untergang, die Vernichtung, das Chaos: »Und das Chaos sei willkommen, denn die Ordnung hat versagt.« Mit schreiender Leidenschaft stimmt er dem »gigantischen Hohn« zu, »dessen die rachsüchtige Natur fähig« sei, wenn Menschenhände und Menschenberechnung sie für ihre erbärmliche Ordnung mißbrauchten: die Natur der Erde, die, wenn sie wolle, mit einem »Achselzucken« alle technischen Fesseln abschüttle (Erdbeben von Messina), und die Natur der Sinne, des Weibes, das, in »sozialer Bindung« scheinbar »gezähmt«, allen »Wahn« der Menschen doch
nur ihrer »Wonne« dienstbar mache. (Und doch ist im Chinesenviertel nicht »die Fäulnis der Moral aufgebrochen«, sondern, auch wenn er es leugnet, »die Fäulnis jener, die die Moral verletzten«. Das gilt gegen ihn und Nietzsche und Heine. »Lust« gibt es, wenn auch verschieden, bei Mann und Weib, aber auch »Moral« gibt es bei beiden, und von »Natur« aus. Und »Genuß und Ethik« zu trennen, wäre wider die Natur! Aber »die Fäulnis jener«--unser aller Fäulnis--sie stinkt zum Himmel.) Page 215
Und sein Haß auf die Menschen überträgt sich auf den Erdball, »diese Kugel aus Kot, die einst der Teufel warf in die Planetenbahn«, diesen »Wechselbalg ... für den Sternenlauf ... ein ewiges Hindernis«. (»Gebet an die Sonne von Gibeon«.) Er hat in Szenen von beißendem Spott und in gigantischen Visionen des Grauens »die letzten Tage der Menschheit«, die Ungeheuerlichkeit des Weltkrieges dargestellt, das Leiden des wehrlosen Lebens unter der Brutalität, der alle Mittel der Macht in die Hand gegeben waren, und unter der Profitgier der Hyänen des Schlachtfeldes, der Händler und Journalisten. (Ein Bild des Krieges von unerträglicher Schärfe, aber auch von unerträglicher Einseitigkeit. Nein, er war nicht nur so, der Krieg, jene entsetzliche Notwendigkeit, die über allen Verbrechen seiner Urheber und seiner Ausbeuter steht. Er war aber auch so.--Es war nicht leicht, mit seinen Aphorismen von 1915 in der Tasche und im Kopf, ein anständiger Soldat zu sein, gerade sie aber halfen dazu, daß man es war.) Page 215
Doch dieser Anarchist des Lebens und des Geistes, so sehr er auf Gesinnung und Haltung und Form des jungen (literarischen) Kommunismus, des expressionistischen und des sachlichen, gewirkt hat (auf Werfel, dessen Spiegelmenschentum er dann in der großartigen »Operette« »Literatur« vernichtend erledigt hat, wie auf Brecht, dessen »eigentlichen Sprachwert« er von der »Gehirnschande« der übrigen sozialistischen Kampfliteratur »rechtens« abgelöst wissen will): er rief nicht nach dem Chaos der Bolschewiken, die auch die Natur mit ihren Konstruktionen vergewaltigen (»Eine Doktrin kann das Gehirn niet- und nagelfest machen gegen alles, was Natur und Vernunft dawider haben«), sondern lieh, in dem Österreich nach dem Kriege, der sozialdemokratischen Partei die Stimme seiner Zeitschrift und seiner Vorträge (und diese Stimme vermochte viel bei der unruhigen geistigen Jugend), und er ist bei der letzten Wendung der Dinge gegen die Sozialisten, die ihren Augenblick versäumt, ihre Möglichkeiten schmählich vertan hätten, für die Konservativen, für die Katholiken in Österreich eingetreten, bei denen er, zurzeit, noch Page Break 216
am ehesten gesichert sieht, was am meisten not tut, Menschlichkeit. Denn er will nicht das Chaos an sich, er will, trotz aller Wut und allem Haß auf die Menschheit, aus Mitleid mit allem Menschlichen, lieber als alles Chaos: »Ordnung«; auch nur einen Schimmer von Ordnung, in der es sich leben ließe. Wenn es nicht jene ideale, liberale (aber unmögliche und ordnungsfeindlichste!) Ordnung ist, die die Freiheit des Geistes und des Genusses sichert (um deretwillen er vor dem Krieg sogar das technisierte Berlin dem gemütlich-verwahrlosten Wien vorgezogen hatte: »Im Wesenlosen schaffe ich, woran mich das Unwesen hindert«), so die (menschlichere!) Ordnung, die die Konservativen, die alten, sozusagen naiven Konservativen, gegen den unmenschlichen Wahn des »Umsturzes« oder »Umbruches« verteidigen. So setzte er sich für Franz Ferdinand, den Thronfolger, gegen »die Talente« ein, so konnte er zum Lobredner der Vergangenheit (der Juden zum Beispiel vor dem Durchzug durch das Rote Meer) werden. Page 216
Nicht aber als Mensch, als Polemiker der Welt gegenüber, sondern als Künstler, als Satiriker (so unterscheidet er »Polemik« und »Satire«) will er in Wahrheit selbst »für die Lüge der Tradition gegen die Wahrheit des Schwindels« Partei genommen haben. Page 216
Nicht an dem Chaos der Vernichtung, das aus Zorn der Mensch dem Menschengeschlecht wünschen mag, obwohl er, resigniert, schon ein bißchen menschliche Ordnung wieder verteidigen kann, sondern an dem Chaos, das die Kunst verursacht, ist ihm eigentlich gelegen: »Kunst bringt das Leben in Unordnung. Die Dichter der Menschheit stellen das Chaos wieder her.«--Ein typisch expressionistischer Satz, könnte es scheinen, er reicht aber über den Expressionismus weit hinaus, er hat liberale Farbe, er könnte fast auch von Friedrich Schlegel sein und im »Athenäum« stehen. Und er gilt--ebenso wie die entgegengesetzte Wahrheit: Die Dichter der Menschheit stellen den Kosmos wieder her. Es ist das Chaos der »Natur« und der Kosmos des »Geistes«, die wiederherzustellen Sache der Dichter ist. Dieses Chaos ist nur die Vorbedingung für den rechten Kosmos. Auch bei Karl Kraus: »Es gibt keinen so positiven wie den Künstler, dessen Stoff das Übel ist. Er erlöst von dem Übel. Jeder andere lenkt davon nur ab und läßt es in der Welt, welche dann das schutzlose Gefühl umso härter angreift.« (»Pro domo et mundo.«) Page 216
Die Kunst hat für Karl Kraus aber nicht nur den Wert solcher Wirkung, solchen Dienstes, sie gilt ihm, dem Künstler, als Befreierin und Erlöserin an sich. Das Leben, in die Kunst aufgenommen, verliert seine Schwere, der
»Anlaß«, von der Sprache erfaßt, seine ursprüngliche Bedeutung, er wird gleichgültig. Am Leben bleibt von ihm nur, was der »Geist« aus ihm gemacht, das Gedicht, das Kunstwerk der Satire. Der Stoff wird zur Gestalt, die Materie, das Nichtige, zur Form.--Kraus ist auch hier einer Parole des liberalen Geistes (l'art pour l'art von Schiller bis Wilde), einer liberalen, einer klassischen liberalen Wahrheit, über Expressionismus und Neue Sachlichkeit hinaus und in die paradoxesten Konsequenzen eines exklusiven Ästhetizismus hinein treu geblieben, in dieser Position noch um eine Ebene höher, überlegener, noch weniger angreifbar: in der »Selbstherrlichkeit geistigen Wirkens«, in dem »wahren Übermut, dem nichts unheilig ist«.--»Denn was sich im Geist begibt, ist unbeträchtlich im Staat, dessen Dimensionen für die Probleme der Nahrung und Bildung geschaffen sind.« Page 216
Die Kunst hat andere Sorgen. »Hat sich das Wort mit der Welt eingelassen, so ist Page Break 217
sie unendlich. Zur Welt gekommen, schafft es neue Welten; und das Anbot der Materie, ihr Werben um Erhöhung hört nimmer auf.«--»Der Künstler ist der Zauberlehrling, nach dessen Willen die Schöpfung leben soll, seit Gott aus ihr sich doch einmal wegbegeben hat. Ach! Und hundert Flüsse stürzen auf mich ein.--Ach! Nun wird mir immer bänger... Wehe! Wehe! Hab' ich doch das Wort vergessen! ... Vielleicht ist die Kunst, die mit Geistesstärke Wunder tun soll, wie sie nur, zu seinem Zwecke, der alte Meister vermag, am Ende die beschämteste unter allen menschlichen Künsten. Vielleicht war solche Überhebung gar nicht Kunst. Aber ob Kunst so hoch sei wie ihr Wahn oder so klein wie ihr Anlaß: sie soll erkannt sein, damit man sie nicht für Zeitvertreib halte. Wie die unausgesetzte Lust des Weibes, an der gemeinsten Reibefläche sich entflammend, zwischen Ehrfurcht und Abscheu lebe, aber nicht zum Vergnügen.« (»Pro domo et mundo.«)--Der Vergleich, wahrlich kein zufälliger, ist auch in seiner Problematik ein Symbol für die Problematik dieser Kunstauffassung. Page 217
Karl Kraus nimmt nichts so ernst wie seine Kunst. Jeder Satz, jedes Wort, jede Interpunktion (wie bei Nietzsche und doch anders), man darf es ihm glauben, werden für ihn zu Abenteuern ungeahnter Möglichkeiten des Suchens und Findens und Wiederverlierens (»Abenteuer der Arbeit«). Er und Thomas Mann haben unter den Schriftstellern der Gegenwart am meisten von Lust und Qual ihres Berufes geredet. Aber, bei aller Achtung (einer nicht unbeschränkten), die Thomas Mann gebührt, wie natürlich, gesund, unverkünstelt mutet Karl Kraus, auch in seinen Paradoxen, gegen ihn an. Auch wenn er Kassandraklagen über die eigene satirische Gabe ausstößt, sagen zu müssen, was er leide (Fackel Nr. 890 bis 905). »In sprachzerfallenen Zeiten--im sichern Satzbau wohnen«, bleibt das »Glück« für ihn, »das letzte Glück«, die letzte Geborgenheit. Da ist er unangreifbar wie kaum irgendwo sonst. »Im Spiegel der Sprache« hat er, bei der »Untrennbarkeit des Wirklichen und des Wörtlichen«, überdies das unfehlbare Kriterium für Klarheit und Verworrenheit, Anstand und Gemeinheit der Menschen und der Zeit. (Das Chaos der Zeit drückt sich im Chaos der Sprache aus: Theodor Haecker.)--So wie er selbst in seiner Sprache, in den einfachsten Sätzen und in den kompliziertesten Gefügen seiner Aufsätze sein eigenes Wesen spiegelt. Page 217
Die Sätze bauen sich auf, zum Sprengen gefüllt, große, weitgespannte Rahmen für einen Inhalt, der sich sogleich in allen seinen Beziehungen zeigen soll--voll Anspielungen also, die man verstehen muß--, »lauter Quintessenzen, lauter Hauptsachen, nichts, was der Leser auch allein denken würde« (Schopenhauer, »Über Schriftstellerei und Stil«), mit der »Unverständlichkeit«, die Friedrich Schlegel meint, und doch nicht in dem Sinn »überladen« wie Maximilian Hardens Sprache, dessen »Desperanto« Karl Kraus glänzend in Banalität aufgelöst hat. (Harden teilte seinen Lesern alles mögliche mit, auch was nicht zur Sache gehörte, Karl Kraus setzt bei den seinen alles mögliche voraus.) Karl Kraus schreibt nicht auf ebener Erde, sondern sozusagen in den höheren Stockwerken eines Gedankengebäudes. Und die Sätze folgen sich zu fast stets neuer Überraschung, jede Erwartung des Kommenden enttäuschend oder überflügelnd. Ein Stil letzter (barocker) Kunst, unnachahmbar, nur auszufüllen mit einem Geist seiner Spannkraft, der sich's, er weiß es sehr gut selbst und sagt es, »wohl zutraut, Dinge zu unternehmen, die es in der deutschen Polemik noch nicht gegeben hat, zum Beispiel vierhundert Seiten, deren Page Break 218
Bau nicht durch Addition von Eindrücken zustandekommt, so im Gleichgewicht zu erhalten, in Motivenfülle und Wortverkettung panoptisch so zu sichern--daß ihn schließlich die Arbeit mehr befriedigt als das Werk.« Die letzte Wendung, wieder wirklich eine Wendung, ist ein Bekenntnis, das ihn auch noch über das »Werk« hinaushebt. Wir aber finden seine Kunst in diesem. (Die letzte Fackel, Nr. 890 bis 905, gibt einen Rückblick, letzte Formulierungen seiner Stellung; wie die Sammlung seiner ersten Aufsätze, das Buch »Sittlichkeit und Kriminalität«, in noch breiteren Ausführungen, fast programmatisch, die Ziele und Gründe seiner Ideen entwickelt.)--Ob er Aphorismen von Lichtenbergscher Kühle schreibt oder Stellen aus der Presse mit einem Titel erledigt oder durch ihr bloßes Dasein entlarvt; ob er ein Wort, eine Wendung mit unglaublicher Erfindungskraft variiert oder in ihre letzten Windungen
verfolgt, die Phrase gewissermaßen umstülpt und ihre Innenseite bloßlegt; ob er eine triviale Situation, im Restaurant zum Beispiel, bis zum phantastischen Traum, bis zum Wahnsinn steigert oder ein unbedeutendes Ereignis zum grauenhaften Symbol ausweitet; in den knappsten Epigrammen, in den langatmigsten Gesprächen, in den ungeheuerlichsten Visionen (die nicht in den närrisch-blasphemischen, überdimensionierten Phantastereien der »Blechschmiede« von Arno Holz, sondern höchstens in den Zwischenspielen des »Guntwar« von Reinhard Johannes Sorge ihr Gegenstück haben): überall zeigt sich jene verblüffende Gewandtheit, die keine Schwierigkeiten zu kennen, keine Hemmungen zu spüren scheint, jede Position in einer neuen zu übertrumpfen vermag, verbunden mit einem Ernst und einer Leidenschaft, das heißt einem Pathos, das allen Zweifel an der Ehrlichkeit dieses Zauberers ausschließt.--Pathos und Ehrlichkeit geben auch seinem Witz, dem Witz der Kombinationen, der Ironie dramatischer Situationen, dem unerschöpflichen Wortwitz das Schwergewicht, das sie von den unverantwortlichen Einfällen der Witzmacher seines Volkes unterscheidet. Es steckt jüdische Vorurteilslosigkeit, Unbefangenheit, man kann auch sagen jüdischer Zynismus, und, so unglaublich es bei diesem größten Kenner, Künstler und Lehrer der deutschen Sprache scheinen mag, doch wohl ein letzter Rest von Sprachfremdheit, Sprachungebundenheit hinter diesen Witzmöglichkeiten (im letzten Fackelheft gibt es reichlich Kombinationen wie »Moskauderwelsch« oder »Folterkammerspiele« oder »Bürokrater« oder »der vieillard terrible Shaw«), aber auch eine Treffsicherheit und eine Unerbittlichkeit ohnegleichen: die Kraft, mit einem Worte zu töten. Wie endgültig hat er das Fortschrittsgetue erledigt dadurch, daß er die Phrase wörtlich nahm: »Wir stehen im Zeichen des Fortschritts.« (Ich muß unterstreichen.) Solche Erhellungen gelten für immer, wie auch der Satz: »Wo überall das allgemeine Niveau gehoben wird und niemand draufsteht«, oder das Wort von den »Hochämtern der Phrase«, die er (oft nicht mit Unrecht) in katholischen Blättern gefeiert findet. Page 218
Diese Ausdruckskraft, diese Einfälle aber will er wieder nicht seiner Gewalt über die Sprache, sondern ihrer Gnade verdanken. Zwei Aphorismen aus »Pro domo et mundo«: »Die Sprache ist die Mutter, nicht die Magd des Gedankens«--»Die Sprache Mutter des Gedankens? Dieser kein Verdienst des Denkenden? O doch, er muß sie schwängern.«--Zwischen dem Wissen Schillers von dem »Vers«, der »dir gelingt in einer gebildeten Sprache, die für dich dichtet und denkt«, und der Mystik des Novalis: »Gerade das Eigentümliche der Sprache, daß sie sich bloß um sich selbst bekümmert, weiß keiner ... daß, wenn einer bloß spricht, um zu sprechen, er Page Break 219
gerade die herrlichsten und originellsten Wahrheiten ausspricht«, eine besonnene Mitte, in der Tradition der Hamann, Herder und Wilhelm Humboldt. Page 219
Karl Kraus will in der Kunst, allen den Tagesprogrammen der gerade modernen Richtungen zum Trotz, »Epigone« der klassischen Form sein: »Ich bin nur einer von den Epigonen,--die in dem alten Haus der Sprache wohnen.--Doch hab' ich drin mein eigenes Erleben,--ich breche aus und ich zerstöre Theben.« Nirgends ist er, der Anarchist des Lebens, so entschieden Feind jeder Anarchie, jeder Revolution, jeder Neuerung wie in sprachlichen Dingen; so konservativ, daß er »Auf den Tod eines Lautes«, des aspirierenden h nach einem t (Thal, Thor, Thräne), eine sehr schöne--»Elegie« schrieb. (Eine »Neue Apologie des Buchstabens h« hatte schon Hamann geschrieben.) Page 219
Sosehr er oft in der stolzen Abwehr des Lobes, er »beherrsche« die Sprache, während er doch »Diener am Worte« sei, die Selbstherrlichkeit der Sprache ohne jegliche Polarität zu behaupten scheint, im Grunde will er damit von sich nicht mehr behaupten, als er von Nestroy sagt, den er den ersten deutschen Satiriker nennt, »in dem sich die Sprache Gedanken macht über die Dinge. Er erlöst die Sprache«, fährt er fort, »von ihrem Starrkrampf, und sie wirft ihm für jede Redensart einen Gedanken ab.«--»Aus tagverlornen Lauten--erlöst er die Metapher.« Page 219
Der Künstler, der dieses Spracherlebnis so bewußt erlebt, wird zum Schutz dieser von ihren Sprechern und Schreibern so »besudelten« deutschen Sprache (»Sie läßt sich zwar wie man nur will prostituieren; wenn man sie aber nicht prostituieren will, so ist man ihr rein ausgeliefert.« Fackel Nr. 890 bis 905), zu ihrem Lehrer, zu ihrem Grammatiker, zum Hüter ihrer Form gegen alle »Gespenster« der Gegenwart. Besorgt um Wort und Satz, wie sein »alter Lehrer« Professor Sedlmayer es für sein geliebtes Latein war (»Doch näher deinem reinen Herzen--lag wohl das Wohl eines armen Wortes.«--Ein sehr wahres »Epigonen«-Wort schließt sich übrigens hier an, Grundformel unserer Sprachkultur: »Latein und Deutsch: du hast sie mir beigebracht.--Doch dank' ich Deutsch dir, weil ich Latein gelernt«), aber doch wohl schärfer, unerbittlicher gegen den Mißbrauch der Sprache als jener alte Lehrer, dessen Unterricht »von strenger Milde« war, wenn er es auch, konnte einer eine Vokabel nicht, »eine Seelenroheit« nannte. Die Aufsätze zur Sprachlehre, über den Reim, über Subjekt und Prädikat, bis jetzt noch in den Heften der »Fackel« verstreut, werden jedem, der sie (mit Genuß und Bedacht und wohl auch Bedenken) durchgekostet und durchgearbeitet hat, lebendig bleiben: geistvolle Grammatik. Auch auf diesem Gebiet kann seiner untrüglichen Kritik
nichts Verbogenes standhalten, auch nicht bei den Größen der Literatur. Gundolfs Shakespeare-Dramen und Georges Shakespeare-Sonette sind durch seine Untersuchung für immer ihres Nimbus beraubt. Page 219
Durch seine Kritik und seine Vorlesungen ist Karl Kraus auch zum Lehrer der Literatur geworden. Page 219
Goethe in »Shakespeare und kein Ende«: »Es gibt keinen höheren Genuß und keinen reineren, als mit geschlossenen Augen durch eine natürliche, richtige Stimme ein Shakespearisches Stück nicht deklamieren, sondern rezitieren zu lassen.«--Aber auch der Genuß--ich kann es bezeugen und nicht bloß von mir--, Shakespeare-Dramen von Karl Kraus vorlesen zu hören, mit all der Kraft der Deklamation, die diesem Schauspieler des Wortes zur Verfügung steht, ist unerhört groß und Page Break 220
rein, größer und reiner als das Erlebnis jeder Bühnenaufführung. Karl Kraus liest mit einer Kraft und Eindringlichkeit wie kein anderer Sprecher in dieser Sphäre: mit dem vollen Einsatz seiner Person (das ist wohl das Geheimnis), mitreißend, erschütternd, ob er »aus eigenen Schriften« vorliest oder aus den Dichtungen seiner poetischen Welt. Page 220
Er hat für sich und für viele (für viele auch, die es nicht ahnen) eine eigene Welt der Dichtung geschaffen, eine Auswahl mit eigener Rangordnung: durch Lob, Verteidigung, Rettung, Entdeckung, durch Ausfälle, Angriffe, Entlarvungen, Vernichtungen, einseitig zwar oft, aber von großzügiger Einseitigkeit, und doch nie so, daß man sein Urteil leicht nehmen könnte, auch hier ein Richter seiner Zeit. Page 220
Nicht bloß Salten und Hans Müller, Werfel und Stefan Zweig und Hermann Bahr, auch Hofmannsthal und George und Nietzsche versagen vor seinem Blick. Sie erweisen sich als hohl, als löchrig, wenigstens unter seiner Sonde. Es sind, abgesehen von ausgesprochenen Dienern der Phrase, zumeist pathetische Dichter, denen das Pathos zum Gerüst oder zur Draperie geworden ist. Auch im Stil Georges und Nietzsches reizt ihn die Manieriertheit, so viel er von Nietzsche empfangen hat, geistig und sprachlich. Aber es sind auch Spötter, Satiriker darunter, aus seinem Volk, schwergewichts- und charakterlose wie Kerr, wie deren größter: Heinrich Heine. Kein deutscher Literaturhistoriker, auch Bartels nicht, hat vor ihm die innere Form Heines so durchschaut und aufgedeckt wie Karl Kraus. Seine Schrift »Heinrich Heine und die Folgen« (die »Folgen«, das sind der Journalismus und der Heinesche Lyrismus) ist ein Meisterwerk der Satire nicht bloß, sondern zugleich eine Fundgrube gesunden, unbeirrbaren Urteils über Echt und Unecht in Sprache und Poesie und damit eine Erledigung jenes Dichters, dem wir Deutschen fast ein Jahrhundert lang sein »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten« und nicht bloß dieses nachgesungen haben.--Die Seele seiner poetischen Welt ist Shakespeare, das Burgtheatererlebnis seiner Jugend (»Im Wolterton unendlich ruft von hinnen--die Klage Shakespearischer Königinnen«), das größte Erlebnis seiner Hörer im Rahmen des »Theaters der Dichtung« (seiner dramatischen Vorlesungen); aber nicht nur als Dramatiker und Dichter, sondern ebenso als Menschenkenner und -künder und -richter. Um Shakespeare: Goethe, der Goethe des »Sprachwunders« der »Pandora«, des II. Teils des »Faust«; Raimund und Nestroy; Claudius und Liliencron; Gerhart Hauptmann, aber nur der Dichter der »Weber«, des »Hannele«, auch noch der »Pippa«, nicht mehr der spätere, der sich in den Ruhm des deutschen Dichterfürsten gefunden; und Strindberg, seine Freunde Wedekind und Peter Altenberg: Kinder, Sucher, Unmittelbare, Ergriffene, Weise, Umfassende: Echte, Dichter, die sagten, was sie zu sagen hatten. Er hat ihr Ansehen zum Teil bestimmt, zum Teil wiederhergestellt oder doch entscheidend dazu beigetragen (bei Nestroy zum Beispiel), er hat Literaturgeschichte gemacht.--Die Krone seiner Welt, in den letzten Jahren erst durch die Bearbeitung seiner Libretti und durch die Vorlesung (und Vorsingung) seiner Operetten als Krone herausgestellt, ist Offenbach, nun doch wieder ein Jude, ebenso von ihm verehrt wie Heine verworfen. Ich verstehe zuwenig von Musik, ich weiß zuwenig von Offenbachs wirklicher geistiger Stellung und Bedeutung, aber ich war ohne Rückhalt dem sprudelnden Witz, der nicht zu überbietenden Lebendigkeit des Vortrags der »Großherzogin von Gerolstein« hingegeben, die er allein mit aller erdenklichen Anschaulichkeit mimisch und musikalisch in den Saal gezaubert hat.--Operette, jene Page Break 221
dichterische und musikalische Gattung, die (ich weiß den Wortlaut der Formel nicht mehr) die sinnlose Welt in die Heiterkeit des Unsinns auflöse und darin erlöse, sie ist auch für ihn offenbar, obwohl sich darin alles wiederholt, womit er im Leben kämpft, eine beglückende Erlösung in ihrer Zwecklosigkeit, noch innerhalb der Insel der Dichtung ein Bezirk der Freiheit, und nun der Freiheit von jeglichem Gesetz der Schwere und des Stoffes. Shakespeare und Offenbach sind die Pole seiner dichterischen Welt, Offenbach aber will er es selbst zuschreiben, daß er von der Begeisterung für die Idole seiner Zeit bewahrt blieb. »Denn was sich solche Tölpel immer ›vorstellen‹ mögen [die Sozialisten, die ihn jetzt für die Interessen ihrer Partei belangen wollten]: unvorstellbar wäre, daß einem, der sich nun als gemeinschaftswidrig erweist, der Reihe nach das Ultimatum gestellt würde, wie Marx auch Wagner,
Nietzsche, Freud, womöglich noch Heine mit den Folgen nachzuholen und überhaupt alle Kinderkrankheiten, denen er, geistig (wie den physischen), durch ein Wunder entgangen ist--offenbar doch, weil er den Schuß ›Jean Jacques Offenbach‹ bekommen hat« (Fackel, Nr. 890 bis 905). Page 221
Satiriker, sein ganzes Leben lang im polemischen Kampf mit seiner Umwelt, in allen Bänden seiner Prosaschriften, in seinen dramatischen Bildern, in seiner »Operette«, in den Umdichtungen der Offenbachschen Operettentexte, in den Couplets dazu, Satiriker fast noch in der Bearbeitung und Nachdichtung Shakespeares (gegen Gundolf und George), er wäre doch in seinem Grunde nicht erkannt, wenn es seine Lyrik nicht gäbe, seine neun Bände »Worte in Versen«, die seit 1916 erschienen sind (1920 gab er davon eine Auswahl). Auch in diesen Bänden noch ist das meiste Satire. Alle Themen seines Prosawerkes kehren darin wieder und alle die Visionen und Flüche, Klagen und Epigramme auf den Krieg, darunter das »Gebet an die Sonne von Gibeon« und jene (beklagenswerten, giftigen) Angriffe auf den (toten) Kaiser Franz Joseph.--Aber die Satire ist für diesen Satiriker »so recht die Lyrik des Hindernisses, reich entschädigt dafür, daß sie das Hindernis der Lyrik ist. Und wie hat sie beides zusammen: vom Ideal das ganze Ideal und dazu die Ferne.« (»Nestroy und die Nachwelt.«) Seine Lyrik ist die andere Seite seiner Satire: Sehnsucht nach dem Ideal, nach der Natur, nach der Unmittelbarkeit, nach der Kindheit, nach zeitloser Entrücktheit, nach der Heimkehr zum Ursprung. »Oh, das verlorne Glück!--O stände doch die Stunde!--O ging es in der Runde--zum Anfang doch zurück!« Page 221
Oder Rührung, zitterndes Glück, bange Frage im Erleben des Ideals, des Traums, des Entrücktseins: des Frühlings, des »Flieders«, des »Wiedersehens mit Schmetterlingen« (er ist kein Herbstdichter)--»Vor einem Springbrunnen«--»Unter dem Wasserfall«. Page 221
In der Landschaft (gegen Goethes ruhige Aufnahme desselben Tals, Briefe aus der Schweiz, Genf, 27. Oktober 1779, die Stifter in sein Lesebuch gesetzt hat): »Du himmlisches Geflecht, du Glockenblumenkorb, Ursprung der Orbe, der Welt, du unversehrtes Ziel, du Wonnewort Vallorbe, das in den Mai mir fiel, du Thal der Thäler du, traumtiefes Thal der Orbe! ... Wie blau ist doch die Welt, vom Schöpfer aufgethan!« Vallorbe Page Break 222 Page 222
Nichts freilich hat er übrig für die Landschaft, die der »Bürger« brauche, um sich erhoben zu fühlen, die Gebirgslandschaft, das »Panorama«, die »Ansichtspostkarte«: »...Den Höhenrausch trink ich nicht von den Höh'n. Um Sturm zu haben, brauch' ich nicht den Föhn.« Aus dem »Epigramm auf das Hochgebirge« Page 222
Im Tier, im Hund vor allem: »...Das stolze Aug, der stummen Gottheit Pfand, das Licht der Liebe ist nun ausgebrannt. Wie lautlos lebte er vorbei dem Streit. Würdig und weise schritt er durch die Zeit. Wir andern leben auf des Glaubens Grab. Sein Auge dankte, daß es andre gab...« Als Bobby starb Page 222
Im Menschen, vor dem Weib: »Ich habe einen Blick gesehn«--»An eine Falte« (die »Wehmut« Heines bei Karl Kraus, Anklang und Gegensatz).-Page 222
In der Liebe.--Im Schaffen. Page 222
Sentimentale Lyrik im Sinne Schillers (und Weiningers): Abkehr, Entrücktsein angesichts und im Bewußtsein der grausigen Wirklichkeit.
»Das Leben, meistens greller als die Glosse, Ist manchmal schöner doch als ein Gedicht.« Page 222
Daher als Form des Glücks: zweckerlöste Lust, Befreiung von Raum und Zeit: »Der Brunnen rauscht, nur ihm vertraut vom Jauchzen bis zum Klagelaut, dem ewigen Ton, der ihm nur sagt, daß hier die Lust die Welt beklagt, die ihre Lust zum Zweck verdarb, bis alles Licht des Lebens starb; die sich die eigene Liebe stahl und ist bestraft mit Scham und Qual. ...daß nie verrinne Lust und Zeit. O schöne Überflüssigkeit!« Vor einem Springbrunnen Page Break 223 Page 223
Es ist eine Lyrik, die sich am Gedanken, in der sich der Gedanke am Wort entzündet: »Worte in Versen«, klar, antithetisch, epigrammatisch.--Die »Inschriften« (Reflexion und Satire) machen einen großen Teil seiner »Worte in Versen« aus. Eine Lyrik, die auch im Jubel des Glücks ihren Ursprung aus dem Geist und aus dem Wort, dem Witz, nicht vergessen läßt (Orbe--Welt, Lust--Verlust), zu deren Wesen bewußte Klarheit gehört: in der Analyse geistig-seelischer Beziehungen (des Liebeserlebnisses von Mann und Frau in den ausgewogenen Zweizeilern von »Abschied und Wiederkehr«--der Lust in »der Geschlechter unnennbarer Kluft«), in der Rechenschaft von sich, von seinen Kämpfen, seiner Kunst, seinem Schaffen (»Abenteuer der Arbeit«, »Jugend«, »Bekenntnis«, »Der Reim«, »Memoiren«, »Nach zwanzig Jahren«, »Nach dreißig Jahren«). Page 223
Eine Lyrik des Gedankens und des Worts, aber des erlebten, und eine Lyrik, in der Gebilde von herrlicher Vollendung und Schönheit gewachsen sind, Kunstwerke der Form, vom Zweizeiler bis zur feinen, oft genau symmetrischen Komposition der Bände. Und doch durchlebt. Erfüllungen seiner eigenen Idee von der Lyrik, die sei »ein Drinnen von einem Draußen geholt, eine volle Einheit, die angeschaute Realität ins Gefühl aufgenommen« (»Nestroy und die Nachwelt«). »Lyrik ist alles, was am tiefsten Grund, mögt oben ihr die Widersprüche lesen, identisch wird zu immer neuem Wesen, aus Klang und Ding ein unlösbarer Bund.« »Nach zwanzig Jahren« Page 223
Seine Lyrik aber, doch auch sein Blick, seine Wohltätigkeit und manches Wort inmitten der schneidendsten Flüche, lassen erkennen, daß in diesem flammenspeienden Hasser und Verächter nicht nur der selbstherrliche Künstler oder der feinfühlige Sucher und sehnsüchtige Träumer weltverlorener Seligkeit, sondern auch ein gütiger, liebender Mensch steckt (die Gegenseite des harten Polemikers), dessen Herz, dessen Mitleid, dem Stolz seiner Kunst, der Schärfe seines Hohnes, dem Mut seines Angriffs das Gleichgewicht hält. Page 223
Seine letzten Worte sind Gebete, Gebete seiner Art (siehe sein »Gebet«, aber auch die Bitten in dem Gedicht »Bange Stunde«). Und die Erlösung, die Gott dem »Sterbenden Menschen« gewährt, es ist das faustische und gegenfaustische Wort: »Im Dunkel gehend, wußtest du ums Licht. Nun bist du da und siehst mir ins Gesicht. Sahst hinter dich und suchtest meinen Garten. Du bliebst am Ursprung. Ursprung ist das Ziel. Du, unverloren an das Lebensspiel, nun mußt, mein Mensch, du länger nicht mehr warten.« Page 223
Es ist schon nicht leicht, ihm standzuhalten (ohne ihm zu verfallen oder ihn zu verwerfen), es ist wahrhaftig nicht leicht, ihm gerecht zu werden. Ich weiß, daß ich ihn nicht ganz erfaßt und begriffen habe, ich weiß, daß ich,
was ich von ihm Page Break 224
erfaßt, nicht ganz habe sagen können. Immer wieder ist er ein anderer und doch eine Einheit, die man bewundert und liebt, auch wo man widerspricht und zweifelt.
NACHTRAG Page 224
Karl Kraus starb 1936, im Alter von 62 Jahren, noch vor dem Einmarsch Hitlers in Österreich.--»Die dritte Walpurgisnacht«, schon 1933 geschrieben, erschien erst 1952--als erster Band der neuen Ausgabe seiner Werke im Kösel-Verlag, München.--Herausgeber »Der Fackel« und der ersten Buchausgaben waren Jahoda und Siegel, Wien (z. T. auch Langen, München). Page 224
Zu S. 212f.: Die erste Sammlung der Aufsätze zur Sprachlehre erschien bereits 1937, Wien, Verlag »Die Fackel« unter dem Titel »Die Sprache«. Eine umfassendere Sammlung bildet unter demselben Titel der II. Band der Werke von Karl Kraus, Verlag Kösel, München 1954. Page Break 224a Page 224a
1) Aus einem Brief Ludwig Hänsels an seine Frau Anna (Cassino, 20. 2. 1919). Page 224a
2) Anna Hänsel (ca. 1915). Page 224a
3) Ludwig Hänsel (ca. 1915). Page 224a
4) Bild gegenüber: Ludwig Hänsel und Georg Trakl im Untergymnasium in Salzburg. Georg Trakl mit Bierkrügl, dritter von links; Ludwig Hänsel dritter von rechts (ca. 1900 / 1901). Page 224a
5) Familie Hänsel in den Zwanzigerjahren. Page 224a
6) Wittgensteins Wanderkarte des Gebiets südlich von Wien mit den Dörfern seiner Lehrtätigkeit. Page 224a
7) Aus der Umgebung von Trattenbach. Page 224a
8) Aus der Umgebung von Trattenbach. Page 224a
9) Beispiel einer Vorbereitung Wittgensteins für einen Schultag (vgl. Kommentar Nr. 67). Page 224a
10) Wittgenstein mit seinen Schülern aus Puchberg am Schneeberg. Page 224a
11) Ein von Wittgenstein erstellter Stundenplan für Oktober 1923 (vgl. Kommentar Nr. 120). Page 224a
12) Familie Wittgenstein im Garten von Neuwaldegg anläßlich eines Heimaturlaubs im Ersten Weltkrieg. V. l. n. r.: Kurt, Paul, Hermine, Max Salzer, die Mutter, Helene und Ludwig Wittgenstein. Page 224a
13) Ludwig und Anna Hänsel anlälßlich eines Treffens der Familien Hänsel und Sandner (vermutlich in den Zwanzigerjahren). Page 224a
14) Leopoldine Wittgenstein. Page 224a
15) Der Foliant mit dem Dialog De deo abscondito von Nikolaus von Kues (vgl. Brief und Kommentar Nr. 26). Page 224a
16) Der Foliant mit dem Dialog De deo abscondito von Nikolaus von Kues (vgl. Brief und Kommentar Nr. 26). Page 224a
17) Hänsels Abschrift des Dialogs (vgl. Brief Nr. 26). Page 224a
18) Michael Drobil in seinem Atelier. Page 224a
19/20/21) Ludwig Wittgenstein: Bleistiftzeichnungen von Michael Drobil. Page 224a
22) Die im Nachlaß von Ludwig Hänsel gefundene und mit seinen Randbemerkungen verschene lateinische Ausgabe von Spinozas Ethik mit dem lateinischen Originaltitel: Ethica. Ordine Geometrico demonstrata (vgl. Kommentar zu Brief Nr. 129). Page 224a
23) Ludwig Wittgenstein: Bleistiftzeichnung von Michael Drobil. Page 224a
24) Margarete Stonborough im Boot auf dem Traunsee (vermutlich in den Dreißigerjahren). Page 224a
25) Margarete Stonborough an Ludwig Hänsel (Brief Nr. 235). Page 224a
26) Paul Wittgenstein an Ludwig Hänsel (Brief Nr. 114). Page 224a
27) Paul Wittgenstein (um 1940). Page 224a
28) Porträt Wittgensteins zur Verleihung des College Stipendiums (1929). Page 224a
29) Ludwig Wittgenstein an Ludwig Hänsel (Brief Nr. 184). Page 224a
30) Hermine Wittgenstein. Page 224a
31) Hermine Wittgenstein an Ludwig Wittgenstein (7. VI. 1917). Page 224a
32) Ansichten von Skjolden. Page 224a
33) Ansichten von Skjolden. Page 224a
34/35) Hermann Hänsel (1938); Ludwig Wittgenstein an Ludwig Hänsel (Brief Nr. 236). Page 224a
36) Ludwig und Anna Hänsel mit ihrer Tochter Maria Dal Bianco in den Fünfzigerjahren. Page 224a
37) Ludwig und Anna Hänsel in den Fünfzigerjahren. Page 224a
38) Ludwig und Anna Hänsel in den Fünfzigerjahren. Page 224a
39) Seite aus Hänsels Aufsatz Wertgefühl und Wert mit Randbemerkungen von Ludwig Wittgenstein. Page 224a
40) Ludwig Wittgenstein im Garten von G. H. von Wright, aufgenommen von K. E. Tranoj im Spätfrühling 1950. Page 224a
41) Ludwig Hänsel anläßlich einer Tischrede. Page Break 225
Eine Fackel christlichen Geistes JUBILÄUM UM DEN »BRENNER« Page 225
Nahe bei Innsbruck vollendet Ludwig Ficker sein siebzigstes Jahr in den Räumen, in denen--sie müssen voll der Erinnerungen für ihn sein--so viele verschiedenartige Menschen für Stunden, für Tage, für Monate und länger Aufnahme gefunden haben, geistvolle, oft sehr sonderbare, zuweilen schon fast verzweifelte Menschen, die Erfüllungen wurden, der Erwartungen, die er in sie setzte, oder Enttäuschungen. Der wahrhaft gastfreundliche Hausherr hat manchem von ihnen das Leben gerettet, darf man wohl sagen, das geistige und auch das physische. Und es waren Bedeutende darunter. Er hat ihnen Raum gegeben auch in seinem Herzen, dem gütigen, wahrhaft wohlwollenden, menschengläubigen, immer wieder, und er erkannte zuweilen mit intuitiver Sicherheit das Einmalige, Große, Echte im unscheinbar Bizarren, Hoffungslosen, Verlorenen. Er hat dann vielen unter ihnen in seiner Zeitschrift das Wort gegeben, das sie sonst vielleicht nie gefunden hätten. Page 225
Die Zeitschrift, die er gründete, und der Verlag, den er dazu eröffnete, wurden jedoch zu einem Faktor im geistigen Leben der Zeit, und jetzt bilden die Hefte der einen, die Bücher des anderen ein Dokument des vergangenen halben Jahrhunderts der beiden Weltkriege, wie es nur wenige in Österreich und in Europa gibt. Page 225
»Der Brenner« war vor 1914 ein kleines, kampflustiges, modernes Literaturblatt mit kulturkritischen Tendenzen. Während des ersten Krieges erschien er nur einmal, als Jahrbuch, mit Versen von Rilke, mit den letzten Gedichten von Georg Trakl, dem großen Dichter, den das Literaturblatt der Welt gebracht hatte, mit einer Betrachtung von Kierkegaards »Vom Tode« (übersetzt von Theodor Haecker), mit der eigenwilligen Übertragung des Tao-te-king von Carl Dallago, mit der stark von Karl Kraus inspirierten Satire von Theodor Haecker: »Der Krieg und die Führer des Geistes«. (Nebenbei: Dieses Jahrbuch wie die Kriegsnummern der »Fackel« von Karl Kraus sind Zeugen einer für uns fast nicht mehr glaublichen Freiheit des Wortes im Krieg.) Page 225
Damit hat »Der Brenner« die Richtung eingeschlagen, die ihm seine Funktion in den folgenden Jahrzehnten gab. In dem Programm der VI. Folge (vom Oktober 1919 bis Juni 1921) bestimmte Ludwig Ficker das geistige Feld und die innere Spannung mit stolzem Bogen: zwischen der »Entrücktheit« Lao-tses und der »Denk- und Glaubensinbrunst« Kierkegaards--zwischen Carl Dallago, wie sich bald herausstellte, und Theodor Haecker--im
Gegensatz zu der Gesellschaft, die den Krieg verschuldet hatte, zu dem liberalen, selbstzufriedenen Bürgertum wie zu dem verweltlichten, verbürgerlichten, entseelten Christentum (beider Konfessionen), das ihn gesegnet hatte, das sich ahnungslos noch so sicher fühlte. In der Ablehnung dieser Gesellschaft und dieses Christen- und Kirchentums waren sich alle Mitarbeiter einig: Dallago und Haecker, Erik Peterson und Kanso Utschimura, der Christ gewordene Japaner, und der nun neu auftauchende Ferdinand Ebner (zu dessen Ehren Ludwig Ficker vor kurzem in Gablitz gesprochen hat). Page Break 226 Page 226
Bald freilich kam es zu Auseinandersetzungen gerade in der Frage der Kirche. Ludwig Ficker hatte in seinem Programm noch erwartet, es würde sich der »Anschluß an ein Urheimatliches«, das der Welt verlorengegangen sei, in den Heften der Zeitschrift auf beiden Polen der Spannung gleichmäßig vollziehen, in dialektischer Gegensätzlichkeit; aber er wurde für die meisten Mitarbeiter früher oder später und schließlich für Ficker selbst Heimweg zur Kirche, trotz allem Ärgernis, das sie gegeben hatte und gab. Page 226
Der »Brenner« hat große Zeugen aufgerufen für sein Werk: Dostojewski und immer wieder Kierkegaard (in der Übersetzung und Auffassung Theodor Haeckers), gelegentlich Vergil (wieder in Haeckers Sprache) und Hölderlin, die Patmos-Ode (noch bevor die »späten Oden« Mode geworden waren) und Karl Kraus. Vor solcher Zeugenschaft aber war er der Vermittler und Erreger religiöser Unruhe und religiösen Dranges für viele, die sich im kirchlichen Bereich durch nichts mehr angesprochen fühlten, nicht durch die Sonntagspredigt, nicht durch das »gute Buch«, nicht durch die Liturgie. Die Kraft dazu bekam die Zeitschrift durch ihre großen Mitarbeiter. Page 226
Ludwig Ficker hat vor dem ersten Weltkrieg Georg Trakl entdeckt, vielleicht gerettet, indem er seine schwer verständlichen Gedichte treu, mit unbeirrtem Glauben an ihren Wert, mit sicherem Gefühl für ihre Tiefe wie für ihren Wohllaut, Folge für Folge aufnahm. Er hat sie so dem kleinen Kreis bekanntgemacht, von dem aus sie ihren Gang in den Ruhm antraten. (Ficker hat noch für das Grab Trakls gesorgt.)--In ähnlicher Weise hat er sich nach dem (ersten) Krieg um Ferdinand Ebner angenommen, ihn für einige Zeit zu sich geladen und dem Einsamen und Kranken dadurch das noch nie erlebte Glück des Verstandenseins gegeben. Er hat dessen Werk »Das Wort und die geistigen Realitäten« erst stückweise in der Zeitschrift, dann in seinem Verlag veröffentlicht und in den folgenden Jahren eine Reihe bedeutender Aufsätze dieses ernsten Denkers. Er hat schließlich vor und nach dem zweiten Krieg den Träumen und Visionen von Paula Schlier das erste Erscheinen ermöglicht. Daneben kamen Tiroler Lyriker zu Wort, Santer und Leitgeb, aber auch Theodor Däubler und Gertrud von Le Fort und auch Hildegard Jone. Page 226
Eine solche Zeitschrift, ein solcher Verlag, das waren natürlich nicht einträgliche Geschäfte. »Der Brenner« konnte nur mit großen Opfern erhalten werden. Seine Anhänger gehörten nicht unter die reichen Leute, wie Ficker wohl wußte. Das Bestehen der Zeitschrift war eine ständige Sorge für den Herausgeber. Trotz aller Nöte, trotz Verdrängung und Krieg blieb »Der Brenner« aber erhalten. Er erstand wieder 1946 und 1948. Er hätte auch der Gegenwart noch etwas zu sagen. Page 226
Dem Siebzigjährigen aber ist er zum Denkmal geworden nach außen: wie könnte man ihm besser gratulieren als mit einem Hinweis auf diese Bände?--wenn er darin blättert, muß ihm Erinnerung über Erinnerung kommen: Seite für Seite muß ihm der Geist entgegentreten, den er geweckt, gehegt, bewahrt hat, der Geist der Poesie und der Religion, in dem er selbst gelebt hat. Page 226
Und wir, die wir in unserer Jugend von diesem Geist ergriffen, erschüttert, gestärkt wurden, wir blättern darin mit Rührung nicht nur, sondern immer wieder auch mit Staunen über die Fülle dessen, was von dort her uns jetzt noch lebendig anspricht. Page Break 227
Ferdinand Ebner
DER DENKER--ERSTER EINDRUCK Page 227
Noch nicht sehr viele wissen von der Person und den Gedanken jenes ernsten Christen, der, fern von dem Literaturgetriebe, als kranker, pensionierter Lehrer, noch nicht fünfzig Jahre alt, 1931 starb und auf dem Friedhof
von Gablitz im Wienerwald begraben liegt. Seine Wirkung aber auf das Denken der Zeit war schon in den anderthalb Jahrzehnten seit dem Erscheinen seines Buches »Das Wort und die geistigen Realitäten« (1921) nicht gering. Die »Stimmen der Freunde«--»Für Ferdinand Ebner« (von Hildegard Jone eingeleitet)--bezeugen es. Bedeutende (protestantische) Theologen der Gegenwart wie Karl Heim haben entscheidende Anregung oder überhaupt die Richtung ihres Denkens von ihm erhalten. Und Karl Thieme, der Konvertit, bekennt, daß er sich unter dem Eindruck dieses Buches »wohl zum erstenmal wirklich bekehrt, das heißt grundsätzlich umgedacht« habe. Vielleicht ist unterdessen für mehr Menschen die Zeit gekommen, auf Ferdinand Ebner zu hören. Der Fortschrittsoptimismus ist vorüber, die Menschen sind sich ihrer chaotischen Lage reichlich bewußt. Bald werden sich wohl selbst unter den Optimisten des Nichts die Enttäuschten mehren, unter den »heroischen« Fatalisten nämlich, die glauben, mit solchem Pessimismus ließe sich wirklich leben. Wohin sollen sie sich wenden? An die Christen, die nach dem Kriege, während Ebner sich aus der (noch immer ästhetischen) »Tragik« des »Lebens« zur Wirklichkeit der Liebe durchrang, schon erwarteten, ihr Geist und ihre (noch immer ästhetische) »Metaphysik« werde siegreich in die neue Zeit einrücken? Deren Zuversicht ist bereits gründlich zerstört. Viele werden sich jetzt nur an dem heroischen, aber sinnvollen Glauben des einsamen Denkers aufrichten können. Page 227
Die Bedeutung, die Ebner in der Philosophie der Gegenwart zukommt, hat Theodor Steinbüchel in seiner kleinen, geistesgeschichtlich weitblickenden Schrift »Der Umbruch des Denkens« darin gesehen, daß ihm die Unzulänglichkeit aller »Philosophie« (aller »Metaphysik«) aufgegangen sei. Auch der Philosoph nämlich versuche, wie der Dichter, die Lebensproblematik des einzelnen, »das Gefühl, daß das Leben, das man lebe, doch nicht das rechte sei«, zu »objektivieren«, zu »distanzieren« und damit erträglich zu machen. Page 227
Mit erstaunlicher Unbeirrtheit ist Ebner nicht bloß über den »Naturalismus« seiner Zeit, über Materialismus und Biologismus hinausgekommen, sondern auch durch den »Idealismus«, das Gegenmittel, das die Zeit und das die abendländische Kultur gegen den Naturalismus bereit hält, durchgestoßen in die reine Luft der »geistigen« (nicht »idealistischen«, sondern »pneumatologischen«) »Realitäten«: zu dem »Ich« und dem »Du«, und zu den beiden wirklichen Verbindungen zwischen Ich und Du: dem »Wort« und der »Liebe«. Page 227
Ebner würde nicht zustimmen, wenn seine »Philosophie« nun »Personalismus« genannt würde. Damit wäre nur wieder das, was gelebt und geleistet werden soll, »objektiviert«; ein »Personalismus« wäre wieder nur »Weltbild«, »Weltanschauung« Page Break 228
eines »Genies«, entlastet von der Verantwortung des erlebenden Ichs. »Das Ich ist nicht, aber ich bin« (»Wort und Liebe«, S.159.-- »Idealismus« ist im Sinne Ebners nicht nur die Bewußtseinsphilosophie, für die alles Wirkliche in die Ebene des Bewußten fällt (der Gegensatz dazu ist die geistige Wachheit, das »bewußte Sein«), Idealismus ist auch die Weltanschauung, als deren Norm die Idee, die Form, der Kosmos gilt, ist auch eine Philosophie vom »Reiche der Werte«. Alle diese Gedanken sind für ihn Träume der »Ich-Einsamkeit«. Für alle diese »Träume vom Geiste« gilt etwas Unpersönliches, Sachliches, eine »Idee«, eine »Ordnung«, ein »Wert« als das Entscheidende. Die Wirklichkeit beginnt für Ebner erst jenseits dieser Ideen in der persönlichen Beziehung des Ichs zum Du, in dem Erlebnis des »Angesprochenseins« vom eigentlichen Du des Menschen, von Gott, in der Aufgeschlossenheit des Menschen gegen Gott und gegen die anderen Menschen, im »Wort« und in der »Liebe«. Page 228
»Durch das Wort und die Tatsache, daß seinen Geist ... das Wort erreicht, daß er vom Wort angesprochen werden kann und ›Sinn‹ hat für das Wort, und daß sich ihm der ›Sinn‹ des Wortes offenbart: dadurch allein ist der Mensch erst Mensch. Das Wort hat ihn zum Menschen gemacht. Er wurde durch das Wort geschaffen.« (»Das Wort und die geistigen Realitäten«, 2. Aufl., S. 97f.) Page 228
Ebner ist dem Wort, der Tatsache der Sprache (mit laienhaften Vermutungen oft, aber) mit einem seelischen Anteil und (bei aller Unzulänglichkeit) mit einem Tiefsinn nachgegangen, die noch lange nicht ganz miterlebt und erkannt sind. Es ist begreiflich, daß ihm der »Logos« im Johannesprolog zum »Wort« im ursprünglichen Sinne wird: »Im Anfang war das ›Verhältnis des Ich zum Du‹ und das Verhältnis war bei Gott und Gott war das ›Verhältnis des Ich zum Du‹.« (»Das Wort und die Liebe«, S. 253.) Das richtige Verhältnis des Ichs zum Du aber ist Aufgeschlossenheit, das heißt Liebe--»Restloses Sicherschließen des Ichs ist die Seligkeit der Liebe« (S. 153).--Das falsche Verhältnis ist die »Ichabgeschlossenheit«. Sie ist die »Sünde«, sie führt zum Verbrechen oder zum Wahnsinn. Page 228
Steinbüchel, der die »Ungegenständlichkeit« dieses
»pneumatologischen« Denkens--dessen Gegenstand eigentlich erst »im lebendigen Hinüber und Herüber« zwischen den Personen besteht--sehr deutlich herausarbeitet, versucht (wenn auch mit schonender Vorsicht†1), auch in solchem personalistischem, dynamischem Denken, soweit es eben Denken über die Wirklichkeit dieser Ich-Du-Beziehungen ist, die Statik der philosophischen Begrifflichkeit nachzuweisen (S. 111 f.), und er tut recht daran. Ebners Eifer gegen alle Philosophie hätte seinem eigenen Denken den Boden entzogen. Philosophisches Denken (warum soll man es anders bezeichnen?), das begrifflich die Lebensproblematik zu »bewältigen«, das heißt zu erfassen, zu verstehen und »objektiv« darzustellen versucht, ist noch nicht deshalb zu verwerfen, weil es ständig in der Gefahr schwebt und oft genug dieser Gefahr erlegen ist, zu glauben, mit der begrifflichen Bewältigung sei es getan, mit ihr sei das Lebensproblem selbst bewältigt. Sprache ist auch Darstellung, nicht bloß Anrede, und Sprache redet in Begriffen. Freilich durch die Darstellung, durch die objektive Feststellung von Sachverhalten, durch die Begriffe hindurch spricht in Wahrheit Person zu Person. Die Größe Ebners liegt in der Unerbittlichkeit, mit der er über die oft so undurchdringliche, selbstgenügsame, »ideale« Sphäre der Begriffssysteme hinaus (die »Chinesische Mauer« nennt er sie) auf die Wirklichkeit des Geistes Page Break 229
in jenem Verhältnis des Ichs zum Du hingewiesen hat.--Nachträgliche Bemerkung: In dem Widerstreben Ebners gegen die »Objektivität« der Philosophie und gegen die Rede vom »Ich« in der dritten Person (»es«), lag aber wohl auch das methodologische Bedenken Wittgensteins von der »Unmöglichkeit«, der freilich auch noch zu diskutierenden Unmöglichkeit, das, was sich »zeige«, in Worten »sagen« zu wollen.-Page 229
Dieser Hinweis aber auf die Wirklichkeit des Geistes in dem Bezug von Ich und Du hat für Ebner religiösen Sinn. Er ruft den Menschen, die sich dem »Wort« Gottes verschlossen haben, zu, daß gerade der religiöse Bereich der Bereich der geistigen Wirklichkeit sei. Und sowenig er von einer philosophischen oder weltanschaulichen Objektivierung Gottes wie des Ichs wissen wollte, er kann vielen zum religiösen Erwecker werden durch sein eigenes Erleben und durch die Kraft, mit der er zu solchem Erleben, zum Erleben des »Angesprochenseins« von Gott, auffordert. Die Realität der menschlichen Situation, die »Lebensgebrochenheit« (ihm war sie mehr als anderen leidvolle Wirklichkeit), das Bewußtsein des »Sterbenmüssens«, der Sinn von »Sünde« und »Gnade«, von »Demut« und »Vertrauen«, sie werden aus den Sätzen Ebners wieder lebendig auch für eine Gegenwart, die alle diese Dinge längst hinter sich geworfen hat. Sie kommen ihr wie neue Erkenntnis entgegen. Page 229
Ebners Bedeutung für den Christenglauben aber liegt in der--auch wie neue Erkenntnis wirkenden--Darstellung der Göttlichkeit Jesu.--»Wäre Jesus nur ein Mensch gewesen, so würde auch sein Leben vergebens gelebt, sein Wort vergebens gesprochen sein.«--Die Art, wie ihm die Göttlichkeit Christi aus den Evangelien klargeworden ist, weicht von den gewöhnlichen (»objektiven«) Formen des Erweises dieser Göttlichkeit in charakteristischer Weise ab. Auch hier ist es die unmittelbare, un-»sachliche«, persönliche Angesprochenheit, die entscheidet. In seiner Darstellung (»Die Christusfrage« in der Zeitschrift »Der Brenner«, 1922) geht alles Erkennen zurück auf physiognomisches Verstehen. So wie Jesus in den Evangelien redet und handelt, so redet und handelt kein Mensch. Im Evangelium lesend, fühlt sich der Mensch von Gott angesprochen, wie wenn er ihm in die Augen schaute.--»Das Christentum ist keine Idee.« Page 229
Diese scheinbar ganz »subjektive« Art des Erkennens und Glaubens ist aber doch wohl die ursprüngliche und die letzte Form, in der wir von jedem Du, von jeder Person Gewißheit bekommen. So und nicht anders müssen auch die Jünger Jesus erkannt haben. Vor diese physiognomische Entscheidung waren (trotz Wunder und Propheten) die Juden, sind schließlich alle Menschen auch jetzt noch gestellt. Page 229
Ebner hat sich diesen physiognomischen Glauben nicht leicht gemacht: »Das Geheimnis im Tode Jesu ist schwerer zu erfassen als das seines Lebens--und das Mysterium seiner Auferstehung schwerer als das seines Todes.« Gleich darauf heißt es freilich in seinen Aphorismen: »Durch das Mysterium seiner Auferstehung wurde das Leben Jesu der Relativität alles bloß Historischen entrückt.«--Seine Erkenntnis und sein Glaube aber stehen in unmittelbarer Beziehung zu seiner Lebenslage: »Hat bei jedem der Glaube an die Göttlichkeit Jesu die Entwurzelung aus dem natürlichen Leben zur Voraussetzung?« fragt er, der seinen Glauben so gewonnen hat. Und umgekehrt stellt er aus eigenem Erleben fest: »Es ist tatsächlich so: Der Mensch wird im Geist der Lehre Jesu neu geboren.« Page 229
Ebner hat sich seine Erkenntnisse und seinen Glauben erst erwerben müssen. Page Break 230
Seine geistige Entwicklung läßt sich sehr gut in den Aphorismen verfolgen, die Hildegard Jone unter dem Titel
»Wort und Liebe†2« herausgegeben hat. Von positivistischen und subjektivistischen Anfängen (ein gewisser Subjektivismus in der Auffassung der Erkenntnis ist ihm geblieben) steigt sein Denken zuerst zu einer Verherrlichung des Lebens als des »Mysteriums« auf, zum Teil wohl unter Schellings Einfluß, zum Teil unter dem der Lebensphilosophie jener Tage†3. Leben und Sterben treten als Gegensätze in den Vordergrund. Das »Genie« gilt noch als Vollendung des Menschlichen. Nietzsche aber (»der verlogenste aller Philosophen«) und die Psychoanalyse werden schon zu dieser Zeit abgelehnt. Die Philosophie hat ihren Wert aus ihrem »ethischen« Gehalt. Der »Geist«, das »Schöpferische« wird (manichäisch) der Überwinder der Materie, das »Göttliche« (platonisch) der nicht mehr »mit der Materie ringende« Geist.--Dann aber tritt eine zweite Wandlung ein. Die Worte bleiben, sie bekommen aber anderen Sinn, die Begriffe anderen Wert. Die Rätselhaftigkeit des Lebens ist nicht mehr das Ende. Die Lebensphilosophie wird verspottet. Sie sei zwar (und das bedeutet Anerkennung) nüchterne, unidealistische Psychologie, aber eben nur »Psychologie«: ahnungslos dem »geistigen« Leben gegenüber. Der »Geist« steht nicht mehr auf der Ebene des »Genies«. Der (erste) Kierkegaardsche Gegensatz des »Ethischen« und »Ästhetischen« greift vollends durch. »Ich« und »Du«, das »Wort« und die »Liebe« werden zu den Angelpunkten des Denkens und des Lebens. Die Ideen der »Gnade«, der »Demut« werden als sinnvoll erlebt. »Unsterblichkeit«, eben noch eine »Illusion«, wird zum Postulat. Die »Liebe«, vorher noch (wohl unter Weiningers Einfluß) »Illusionierung des Willens zum Wert«, wird zur Erfüllung alles Menschentums, zur Überwindung der »Icheinsamkeit«, zur höchsten Realität, zur Erlösung aus allen »Träumen vom Geiste«. Page 230
Dabei war Ebner kein »Idealist«, auch nicht in dem Sinn, als ob er die Menschen in ihrer Erbärmlichkeit nicht gesehen hätte. Ein Idealist allerdings in dem Sinne, daß er opfervoll und gewissenhaft seinen Idealen des Menschlichen und der Liebe getreu gelebt hat, war er trotz seines Protestes gegen allen Idealismus. (Man braucht nur zu hören, was seine Witwe von ihm erzählt.) Aber er hat sich über die Menschen nichts vorgemacht. Er war kein Rousseauist. (Nur einige seiner letzten Aphorismen verraten einige Illusion über die Wahrscheinlichkeiten der menschlichen Gemeinschaft--seine eigene Liebeskraft mag ihn zu dieser Überwindung seiner pessimistischen Menschenschau gebracht haben.) »Der Pessimismus angesichts der Menschheit« erscheint ihm erlaubt. Seine Neigung zur Satire bricht nicht selten durch. Er findet es wahrlich »keine Lust, Mensch zu sein«.--»Die eine Hälfte der Menschen wird als Bankrotteure des geistigen Lebens geboren. Aber das ist am Ende noch die bessere. Denn an die andern kommt die Forderung des Geistes überhaupt nicht heran. Also kann sie ihm auch nichts schuldig bleiben.«--Er weiß von der Tragik des Daseins. Kunst erkannte er sehr bald (sicher mit Nietzsche) als Überwindung des Leides durch »ästhetische Distanz«. An Beethovens Pastorale beklagt er »die Flucht vor der inneren Tragik des Lebens«. »Schönheit« versteht er als Verklärung der »Lebensgebrochenheit«. Diese ist für ihn freilich die Voraussetzung auch der Überwindung des Lebens, das heißt des Sterbenmüssens, die Voraussetzung auch des richtigen Verhältnisses zu Gott†4. In religiöser Liebe aber distanziert er sich schließlich sogar von seiner Menschenverachtung. Der Haß der Page Break 231
Satire darf nicht mehr das Letzte sein. Es siegt der Glaube an das »Wunder« der Güte. (Das Wort »Wunder« sagt freilich noch, wie unwahrscheinlich sie ihm war, die Güte der Menschen.--Auch für Goethe ist sie das »Unmögliche«, aber eben »das Göttliche« im Menschen.) Page 231
Ebner ist erfüllt (oder doch stark beeinflußt) von den Ressentiments der geistigen Sphäre, in der er sich entwickelt hat. Es ist die Geistigkeit des, könnte man sagen, schopenhauerischen Wien von Weininger, Karl Kraus und den Schriftstellern des »Brenner«†5. Auch in Kierkegaards und Pascals Gedanken steckte genug Menschenpessismismus. Als Gegengewicht wirkte wohl Hamann.--Es war die antibürgerliche und staatsfeindliche Stimmung der Kriegs- und Nachkriegsjahre, in der er lebte, die Verachtung der Geldverdiener und der Phrasenhändler, des Fortschritts, aber auch des verbürgerlichten Christentums, Ärgernis an der Verweltlichung der Kirche (im Sinne Tolstois oder, vom »Brenner« her: Carl Dallagos). Das alles konnte aber seinem Christusglauben nichts mehr anhaben. Er hat auch der Kirche gegenüber--Theodor Haecker hatte schon zu ihr heimgefunden--nach Verständnis gerungen†6. Seine (trotz allem nicht leicht zu erledigende) Anklage gegen sie (»Ärgernis der Repräsentation«, »Brenner« 1922) hat er vor seinem Tod zurückgenommen. Sie sollte nicht mehr gedruckt werden. Er ist versöhnt mit der Kirche gestorben. Auch hier hat seine Liebe gesiegt und »die im tiefsten Leid sich bewährende, von keinem Leid zu verzehrende Freude, daß Gott ist und daß der Mensch Gottes Kind ist.« Page 231
Manches von dem, was Ebner gedacht hat, auch von dem, was er als seine endgültige Meinung vertrat, wird und muß den Widerspruch der Theologen herausfordern. Zum Teil werden die Theologen daran schuld sein, zum Teil aber auch Ebner. Er kommt als Autodidakt in die Philosophie und die Theologie (»Pneumatologie« würde er sagen). Er ist gewissermaßen ohne theologisches Herkommen, ohne geprägtes Denk»gehäuse«, von vornherein
mißtrauisch gegen die Theologie wie gegen die Denkgehäuse.--Er ist ein Anfänger. Anfänger aber haben auch ihr Recht, und gerade den Anfängern ist nicht selten eine Verlebendigung des Denkgutes zu danken, die so von den Vertretern des Herkommens nicht zu schaffen gewesen wäre. Es ist mit dem menschlichen Denken nun einmal so, daß die exaktesten Formeln plötzlich inhaltslos werden können für Menschen, die nicht mehr den Geist gerade für diese Art von Formeln haben. Oft haben ihn selbst die Verteidiger dieser Formeln nicht mehr. Dann aber kommt einer, der auf einem neuen Weg zur alten Erkenntnis findet. Und vielen seiner Zeitgenossen wird auf diesem Weg die alte Wahrheit wieder lebendig. Page 231
Für uns ist Ebner ein solcher Führer. Sein Weg ist der, den die Menschen der Gegenwart wahrscheinlich ganz gehen müssen, den vielleicht jeder wahre Christ gegangen ist--auch in den Zeiten, wo die christliche Philosophie die Welt in schönerer Ordnung sah, als sie den Menschen jetzt sich darstellt†7. Kommt er auch »von unten« her, er sieht von unten, aus dem »Chaos«--das heißt de profundis--, hinauf zu Gott. Denken wir nur durch, was er von dem »ungeheuren Widerspruch der Existenz im Menschen« sagt--es ist eine ergreifende Zusammenfassung seiner Lebensauffassung, seines Christentums: Page 231
»Der Widerspruch liegt darin, daß das geistige Leben im Menschen und sein Wille, sich in der Welt zu behaupten, auf entgegengesetzten inneren Voraussetzungen beruhen. Der Mensch muß, um zu seinem wahren geistigen Leben zu kommen, Page Break 232
durch das Gefühl, nicht das rechte Leben zu leben, hindurch, es auskostend bis auf seinen Grund, und das heißt aber auch: sein Wille, sich in der Welt zu behaupten, muß gebrochen werden. Das und nichts anderes fordert ja auch das Evangelium. Er muß bis zum letzten Grund dieses Gefühls--und der liegt in der Ich-Einsamkeit seiner Existenz und der geistigen Unhaltbarkeit dieses Zustandes--hindurch, um es recht zu verstehen. Er muß die ihm natürliche gute Meinung von sich selbst preisgeben†8 und damit den natürlichen Grund und Boden menschlichen Existierens in der Welt†9 unter seinen Füßen wegziehen. Das kann ohne Schaden nur, wer zur Realität des geistigen Lebens erwacht.« (»Das Wort und die geistigen Realitäten«, 2. Aufl., Ges. Werke, Bd. I, S. 276.)
DAS WORT IST DER WEG Page 232
»Wer der Welt entsagt, muß alle Menschen lieben, denn er entsagt auch ihrer Welt. Er beginnt daher das wahre menschliche Wesen zu ahnen, das nicht anders als geliebt werden kann, vorausgesetzt, daß man ihm ebenbürtig ist.«--»Wer innerhalb der Welt seinen Nächsten liebt, tut nicht mehr und nicht weniger Unrecht, als wer innerhalb der Welt sich selbst liebt. Es bliebe nur die Frage, ob das erstere möglich ist.«--Das sind Sätze, nicht von Ferdinand Ebner, sondern von Franz Kafka. (Aphorismen aus dem Nachlaßband »Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande«.) Bei Ebner heißt es: »Die Endlichkeit unserer Existenz liegt in der Du-Losigkeit unseres Ichs. Ein Mensch, dessen Ich sein wahres Du gefunden hat, tritt aus der Endlichkeit heraus und in die Unendlichkeit hinein. Am Rande der Endlichkeit unserer Existenz liegt der Abgrund, von dem das du-los gewordene Ich verschlungen wird...« Und: »Es gibt zwei Tatsachen, nicht mehr, des geistigen Lebens, zwei Tatsachen nämlich, die sich zwischen dem Ich und dem Du zutragen: das ›Wort‹ und die Liebe. In ihnen liegt die Erlösung des Menschen, die Befreiung seines Ichs aus seiner Selbstabschließung.« Page 232
Die Parallelen, die zugleich Gegensätze wären, inverse Parallelen, könnten fortgesetzt werden bis zu dem Wort Ebners: »Wehe dem Menschen, der in seiner letzten Erkenntnis die Einsamkeit seines Lebens nicht überwindet, der in Lieblosigkeit zu seiner letzten Erkenntnis kommt! Aber ich rufe dieses Wehe über mich selbst herab.«--Ebner hat den Durchstoß, den er immer wieder von sich forderte, schließlich doch gewagt: zum unmittelbaren »Dialog mit Gott«, mit dem letzten »Du« jedes Menschen, zum Glauben, um den er immer wieder ringen mußte, an den Christus der Evangelien. Page 232
Von Ferdinand Ebner ist erschienen: »Das Wort und die geistigen Realitäten, Pneumatologische Fragmente« (Brenner-Verlag, 1921), eine Reihe von Aufsätzen in der Zeitschrift »Der Brenner« zwischen den beiden Kriegen (über diese Zeitschrift siehe »Wiener Zeitung« vom 17. April 1949 und die Monatsschrift »Wort und Wahrheit«, April 1949) und nach seinem Tod eine Auswahl aus seinen »objektiven« Tagebüchern: »Wort und Liebe« (Regensburg 1935), herausgegeben von Hildegard Page Break 233
Jone, der Verwalterin seines Nachlasses.--Ein großer Teil seiner Manuskripte ist noch unveröffentlicht†10.
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Ferdinand Ebners Denken wurde nach diesen Veröffentlichungen der damals neuen (noch nicht von Frankreich zur Mode gemachten) Existentialphilosophie, dem persönlich ernsten Denken über die Situation des Menschen im Chaos der Welt, zugeteilt. (Das Chaos am Ende des ersten Weltkrieges fing an, die Menschen dafür reif zu machen.) Danach war Ferdinand Ebner ein erster christlicher Existentialist (in der Nachfolge Kierkegaards).--Th. Steinbüchel (»Der Umbruch des Denkens«, Regensburg 1936) hat diese Einordnung durchgeführt. Vergleiche die Gegenüberstellung von Heidegger und Ebner durch Albert Auer (Theologie der Zeit, Wien 1937, Folge 1).--Es ist dies der eine Pol des Philosophierens, das sich selbst aufheben möchte, der andere ist der logische Positivismus, soweit er hinter sich als das Eigentliche das Nicht-Sagbare weiß (Ludwig Wittgenstein). Ebner teilt mit dieser Philosophie: die Abkehr vom »Idealismus«, das heißt von der Betrachtung der Welt als einer Bewegung oder Beziehung von »Ideen«; die Hinkehr vom »Abstrakten« zum »Konkreten«, von der »Idee« zur »Person«; die Erkenntnis, daß das wahre »Reale« in den Bezügen des »Ich« zum »Du«, in der »existentiellen Begegnung« der Personen bestehe: Martin Buber, Franz Rosenzweig, Karl Heim, Karl Jaspers (personale »Kommunikation«). Page 233
Ebners eigener Weg führt über die (Kierkegaardsche) Unterscheidung von »Geist« und »Geist«: Dichtung und Philosophie dort, »Ich« und »Pneuma« hier, zu seiner Auffassung aller »Kultur« als »Traum der Menschheit vom Geiste« (von diesem Gedanken sei eine »Revolutionierung des gesamten europäischen Geisteslebens der Gegenwart« zu erwarten); zu seiner Erkenntnis des wahren geistigen Lebens im »Wort«, das »wahr« nur sei, wo der »Geist« sich aufschließt, das heißt, aus der »Ich-Einsamkeit« heraustritt, das heißt, in der »Liebe«; und (über Kierkegaard hinaus) zum Glauben an den persönlichen Gott (vor dem die anderen alle sich scheuen, von Kafka bis Jaspers), zum Evangelium und zuletzt zur Kirche (trotz dem zutiefst erlebten scandalum ecclesiae). Page 233
Diesen Weg bis zum gläubigen und gehorsamen Ende: wie in den Aphorismen und Reflexionen von »Wort und Liebe«, kann man ihn hier, in den »subjektiven Tagebüchern«, verfolgen, nur von einer anderen Seite her, wenn auch schon da das Erlebnis zumeist zum Aphorismus drängt, nämlich von den seelischen Nöten der Person her.--Ferdinand Ebner kommt aus »sehr kleinbürgerlichen Verhältnissen«, wie er in der vorausgeschickten, sehr aufrichtigen Lebensskizze selbst sagt. (Geboren 1882.) Er wurde Lehrer--und litt dann schwer unter seinem Beruf. Er hat sich sein Wissen durch private, nicht sehr systematische Lektüre verschafft (auch ein Zug, der ihn von den akademischen Philosophen, den Existentialisten von Beruf, vom Katheder oder von der Literatur, unterscheidet). Er hat die Geistigkeit des damaligen Wien, Otto Weininger, Karl Kraus, Sigmund Freud (auch Gerhart Hauptmann), er hat Schelling, Kierkegaard, Dostojewski (auch Angelus Silesius und Meister Eckhart), hat die Musik Mozarts und Beethovens, die Plastik der Wiener Museen und Denkmäler (des Stephansdoms) in sich aufgenommen. Er teilt mit seiner Zeit, mit diesem Geist seiner Zeit Kulturverachtung und Distanz von der »Wissenschaft« (Verachtung des »Ungeistes der modernen Wissenschaft« von damals). Aber er war Page Break 234
kein Parvenü des Geistes, kein Snob. Ihm ging es um die Sache, und diese Sache war: der »Sinn« des Lebens, des Menschenlebens überhaupt und des eigenen Lebens im besonderen. Er kann nicht aufhören, danach zu fragen, die Antwort darauf in immer neuen Varianten zu versuchen. Daß das Leben einen »Sinn« haben müsse, war ihm nie zweifelhaft geworden. Evolutionismus und Psychoanalyse scheinen ihm gerade das Wesentliche am Menschen außer acht zu lassen. So war ihm bei allen (sehr begreiflichen) Ressentiments gegen die Welt, die ihn umgab, aus seiner unendlichen Sehnsucht nach der »Liebe«, die Heimkehr zum Glauben seines Vaters, die aber trotzdem ein Sprung für ihn war, vor dem er immer wieder zauderte, leichter möglich (wenn man so etwas behaupten darf) als manchem von den Akademikern. Page 234
»...vor der Wahrheit des Evangeliums in Ehrfurcht sich beugen, weil es die Wahrheit ist (man denkt an Goethes Würdigung der Sakramente in ›Dichtung und Wahrheit‹), und an Christus glauben, an den, der gesagt hat, er sei die Wahrheit, der Weg, das Leben--daß das zweierlei ist, zweierlei wie Tod und Leben, oh, wie gut ich das weiß. Wie aber kommt es, daß ich das weiß? Ja, das weiß ich nicht.« (Die Kursivauszeichnungen sind nicht von Ebner.) Ebner hat sich schließlich doch für das zweite, das »Leben«, entschieden. Page 234
Er hatte es leichter vielleicht auch, weil er es in seinem Leben so unendlich schwer hatte. Er war ein schwerkranker Mensch, vielleicht noch mehr als Pascal, litt unter Depressionen, körperlichen und zugleich seelischen, unter äußerer und innerer Trostlosigkeit, daß er immer wieder glaubte, »am Ende seiner Leidensfähigkeit« zu sein.--Es ist erschütternd, diese Klagen, diese Feststellungen der Schmerzen, der Verzweiflung, der tiefsten Müdigkeit, der Todessehnsucht zu lesen. Aber: Körperlich »zerbrochene Existenz« muß nicht zum
Christentum führen, sosehr eine »Gebrochenheit« der Seele für viele, vielleicht für alle irgendwie Voraussetzung dafür sein dürfte. Auch Nietzsche und Leopardi, Proust und Keats waren kranke, zerbrochene Naturen. Page 234
Was Ebner geworden ist, ist in einem eminenten Maß das Werk seines Ernstes, freilich auch Geschenk seiner Veranlagung. Er war offenbar ungemein gütig von Natur aus: »Ich müßte mich förmlich erst selbst vergewaltigen, wenn ich einer auch innerlich entschiedenen und festen Abwehrattitüde gegen einen fähig sein wollte, von dem mir etwas Unangenehmes widerfahren ist.«--Er war rührend empfänglich für die Anmut des Tieres (des Rehs), des Kindes, beglückt von der Schönheit der Natur, des Abends zumal und des Herbstes. Immer wieder bemüht er sich, Landschaftsstimmungen festzuhalten. Eines der reinsten Bilder: »Die ersten Herbsttage--voll Sonnenschein und milder Luft, Stille und Schönheit ... das Erlebnis des Lichts--der Abendglanz auf den leise sich verfärbenden Wäldern--irgendeine ferne Höhe von ihm umleuchtet.--Und er war doch wieder ungewöhnlich menschenfremd. Er litt unter seiner Einsamkeit, jede Begegnung mit Menschen aber warf ihn wieder auf ihn selbst und sein Tagebuch zurück. Wie Hölderlin klagt er: »Daß ich diese Welt und diese Menschen nicht verstehe.«--»Gibt es überhaupt noch geistige Fäden, die mich an diese Welt knüpfen?« fragt er sich und hatte schon festgestellt »Mein psychischer Organismus verträgt die Berührung mit Menschen, es wäre denn die allerflüchtigste, nun nicht mehr.« Page Break 235 Page 235
Aus dieser seelischen Lage erwachsen seine verklärten Worte, die immer wiederholten, von der Aufschließung des Ichs in der »Liebe«. Es sind Worte der Sehnsucht von einem, der die Abschließung des Ichs immer wieder an sich selbst erlebt. Und er weiß mit schmerzlicher Klarheit um diesen Abstand der »Erkenntnis«, die ihm zuteil geworden ist, von der Wirklichkeit, die er erreicht. Das ist das eigentliche persönliche Problem seiner »Existenz«: zu wissen und doch nicht zu wollen. Der Ernst dieses Wissens und die Tiefe der Sehnsucht, aus seiner Lage herauszukommen in die Aufgeschlossenheit, in die Liebe hinein, die allein Freiheit und Freude wäre: das ist das zweite Erschütternde dieser Tagebuchaufzeichnungen: »Das Vaterunser richtig beten zu lernen«, sieht er als die »innere Aufgabe« seines Lebens an. Und wie oft muß er feststellen, daß er nicht beten konnte, des Morgens nicht, eher noch des Abends (wenn er auch über die erste Bitte nicht hinauskommt), in waagrechter Lage nicht, aber auch aufrecht kaum.--Dabei arbeitete er an den religiös-philosophischen »Fragmenten«. Page 235
Erlösung brachte ihm--es war hohe Zeit--Ludwig Ficker. (Auch das ist eine der großen Taten Fickers: wie Georg Trakl, so hat er Ferdinand Ebner gerettet.) Über den »Brenner« fand Ebner den ersten Weg in die Öffentlichkeit, denn es verlangte den Einsamen danach, sein Wort an ein »Du«, einen Leser richten zu können, erst dann war es ja »Wort«. Im Hause Fickers (bei Innsbruck) fand Ebner dann selbst für fünf Wochen Aufnahme und ein aufmerksames, verstehendes Ohr. Eine lange Zeit der Vereinsamung, der Ichverschlossenheit, des Angewiesenseins auf das Tagebuch, mit ihrem Auf und Ab von Depression und neuer Hoffnung, von Verzagtheit und Ergebung in Gott, war mit diesen Augusttagen von 1920 zu Ende.--Er heiratet nun. Er erlebt das Glück des Vaters an seinem Söhnchen. Er findet Freunde, von denen er sich verstanden weiß. Nur hat er nicht mehr lange zu leben. Er stirbt im Herbst 1931. In Gablitz im Wienerwald, wo er Lehrer und Schulleiter war, wo er in den Ruhestand getreten ist, wo er geheiratet hat, ist er begraben.-Page 235
Die Auswahl an sich zu beurteilen ist schwer. Wir wissen nicht, was beiseite blieb. Aber sie bringt sehr Wesentliches und sie scheut sich, was wichtig sein dürfte für den richtigen Eindruck, vor Wiederholungen nicht. Zu wünschen wären einige wenige Zeitdaten: eine kurze Zeittafel oder Angaben in Klammern bei der Lebensskizze. Page 235
Zur Verteidigung Ebners und auch dieser Besprechung sei am Schluß sein Wort über den »Philister«, wie man damals noch sagte, angeführt: »Die Tatsache, daß es dem Philister die größte Genugtuung bereitet, einen geistig produktiven Menschen in bürgerlicher und moralischer Hinsicht sich abnormal gebärden zu sehen, ist ein Beweis, daß die geistige Existenz eines Philisters doch nicht so unschuldig und harmlos ist, als sie ausschaut.«--Das gilt noch immer, auch wenn es--in der Kunst wenigstens--unterdessen Mode geworden ist, »sich abnormal zu gebärden«. Es gilt zumal der »Abnormalität« des wirklich Christlichen gegenüber. Page Break 236
FERDINAND EBNERS RELIGIÖSER ENTWICKLUNGSGANG
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Ferdinand Ebner, geboren 1882, gestorben 1931, trat aus bäuerlich-kleinbürgerlicher Familie, als Knabe von etwa 14 Jahren, ziemlich unvermittelt (geistig unvorbereitet und ungeschützt) in die religionsentfremdete Atmosphäre der kleinstädtischen Bildungsschichte seines Geburtsortes Wiener Neustadt. Er legte fast über Nacht seinen Kinderglauben beiseite. In der Zeit seines Studiums an der Lehrerbildungsanstalt war er »Materialist«. Zugleich glaubte er sich zum Dichter berufen. Er hatte das Gefühl des Andersseins und das Bedürfnis geistigen Höherseins. Und er nahm sein Leben ernst. Page 236
Schon damals zeigte sich die Schwäche seiner körperlichen Konstitution. Eines Lungenspitzenkatarrhs wegen kam er in eine Heilanstalt. Jahre hindurch litt er an Schwindelanfällen und seit 1908 Jahr für Jahr, besonders im Herbst, an schweren »Depressionen«: unerträglichen Kopfschmerzen in schlaflosen Nächten, verbunden mit dem Gefühl, das Leben nicht mehr ertragen zu können. Page 236
Als Lehrer in dem abgelegenen Ort Waldegg erweiterte er durch eigenes Studium sein Wissen besonders in literarischer und bald auch in philosophischer Richtung. Er lernte Französisch, Latein und etwas Griechisch. Er las moderne französische Lyriker: Baudelaire, Verlaine. Er las aber auch und mit stark persönlichem Anteil Pascal und Bergson (diesen in Übersetzungen). Er studierte psychologische Schriften. Er machte sich bekannt mit Hamann, Fichte, Schelling. Page 236
Im Jahre 1912 vollendete er sein erstes philosophisches (noch ungedrucktes) Werk »Ethik und Leben«. Und sein eigenes Leben »ethisch« zu führen, war, wie seine Tagebücher zeigen, sein sehr ernstes Bemühen.--Sein ganzes Schrifttum wurde Ausdruck seines persönlichen geistigen Suchens und Ringens. Page 236
Der »Ethiker«, der sein Leben bewußt und mit dem Gefühl der Verantwortung lebe, der nicht nach Lust und Glück frage, der insbesondere bewußt zu sterben wisse, erscheint ihm in dieser Zeit zugleich als der Erfüller des wertvollsten Lebens, das heißt des ausgefülltesten und produktivsten Lebens: produktiv und ausgefüllt und aufs höchste gesteigert in jedem Augenblick. (Damit hat Ebner den Vitalismus Nietzsches bereits hinter sich. Nietzsche erscheint ihm als der »verlogenste der Philosophen«.) Page 236
Gegen Ende seiner Lehrtätigkeit in Waldegg hatte er sich bereits entschlossen, seine dichterischen Versuche einzustellen. Im Jahre 1909 war sein letztes Gedicht entstanden: »Golgatha«. Es ist eine Vision. In schwüler Mittagsstunde, im Walde, vernimmt er von einem Crucifixus, wie aus der Todesnot--ein Tropfen seines Blutes fällt ihm auf die Hand--, den Vorwurf des Verrates, der Verhöhnung. Der Gewitterdonner verstärkt die Schwere der Stimme. Er muß seines verstorbenen Vaters gedenken, der ihm ein immer lebendiger Vorwurf seiner Glaubenslosigkeit ist. (Pascals »Mystère de Jésus« steht offenbar im Hintergrund. Das Wort »Jésus sera en agonie jusqu'à la fin du monde« war in ihm lebendig, er hat es mehr als einmal zitiert.) Page 236
Später, im Jänner 1917, notierte er in sein Tagebuch: »Die absolute Hochschätzung des Christentums habe ich als das geistige Vermächtnis meines Vaters übernommen. Hierin liegt der tiefere Sinn meines Verhältnisses zum Vater.«--Im Page Break 237
Dezember 1917 fügte er hinzu: »Im Verhältnis zu meinem Vater liegt vielleicht die tiefste Schuld meines Lebens ... An ihm scheiterte der eine geistige Irrtum meines Lebens: der Versuch, mein geistiges ›Problem‹ in der Sphäre der dichterischen Auseinandersetzung mit ihm zu einer Lösung zu bringen... Dann kamen die Jahre des Philosophierens, der ›Philosophie‹, der metaphysischen Spekulation. Und auch das alles bedeutete, auf einem Irrweg gehen. In allem dem war noch nicht der Ernst des geistigen Lebens...« Page 237
Im Jahre 1912 kam er als Lehrer nach Gablitz bei Purkersdorf im Wienerwald. Page 237
In der Sammlung von Aphorismen, die Hildegard Jone (leider ohne Jahreszahlen) unter dem Titel »Wort und Liebe« veröffentlicht hat (Regensburg 1935), läßt sich der Entwicklungsgang der Reflexion von seiner ethisch-philosophischen zu seiner geistig-religiösen Haltung, der Übergang vom »Leben« zum »Geist« sehr gut verfolgen; es ist: Page 237
die Abkehr vom »Genie« und der »Idee« (vom »Idealismus«), das Auftauchen der Erkenntnis, daß beide in den Bereich des »ich-einsamen«, des »du-verschlossenen« Daseins gehören (dieses der »Kultur« hingegebene
Denken des »Genies« wird ihm zum »Traum vom Geiste«)-Page 237
aber auch die Abkehr von dem »Unglauben« hin zum »Glauben«, repräsentiert in dem Aufsteigen des Glaubens an die persönliche Unsterblichkeit, zunächst als eines Wunschgedankens, dann als »einer inneren Manifestation eines ethisch gerichteten Lebens«-Page 237
vor allem das Aufsteigen des Gedankens der Du-Bezogenheit alles personalen Seins, zunächst noch in der paradoxen (immerhin auch in der christlichen Morallehre heimischen) Form, daß die »Aufopferung des Ichs« an das »Du« als »schöpferisches Erfülltsein vom Du« erlebt wird-Page 237
und zugleich die immer entschiedenere Gewißheit von der Göttlichkeit des Menschensohnes. Von den zahlreichen Bekenntnissen dieser Überzeugung nur zwei: »Wäre Jesus nur ein Mensch gewesen, so würde auch sein Leben vergebens gelebt, sein Wort vergebens gesprochen sein. Ein indirekter Beweis für die Göttlichkeit Jesu.«--Und das zweite: »Durch das Mysterium seiner Auferstehung wurde das Leben Jesu der Relativität alles bloß Historischen entrückt. Ohne dieses Mysterium hätte es für die Menschen nur eine historische (und darum relative), nicht aber eine ewige, absolute Bedeutung.« Page 237
Mitten im Ersten Weltkrieg, unter dem Ebner sowohl geistig wie leiblich schwer gelitten hatte, im Jahre 1917, in seinem 35. Lebensjahr, begann, wie er selbst sagt, »die bedeutsame Wendung zum Christentum«. Und unmittelbar nach Kriegsschluß, 1918/19, schrieb er sein zweites Werk: die »Pneumatologischen Fragmente« (er nennt sie so, um seinen neuen, religiösen »Geist«-Begriff herauszuheben), die unter dem Titel: »Das Wort und die geistigen Realitäten« 1921 gedruckt wurden--und 1952 in 2. Auflage als Bd. I der Gesammelten Schriften Ferdinand Ebners wieder erschienen. Page 237
Zu Kriegsende, im Oktober 1918, hatte er notiert: »Im Zerbrechen meines Lebens fand ich den Weg zum Christentum. Ich bin einen langen Irrweg gegangen und durch eine sehr dunkle geistige Nacht. Ich kam als ein Mühseliger und Beladener, Page Break 238
als ein Kranker, der den Arzt braucht. Ich kam als einer, dessen Existenz bis in ihre Wurzeln hinab den Sinn des Lebens in Frage stellt. Diese Frage verstummt in mir. Und ich glaube, dieses Verstummen ist etwas anderes als ein resignierter Verzicht auf einen Sinn des Lebens. Ich sehe es vor mir, worin der Sinn des Lebens inmitten des Todes gerettet ist. Ich weiß es, wo alle Unruhe des Geistes im Menschen allein ihre Ruhe finden kann.--Wir lebten gar nicht ohne die Gnade Gottes«... Er setzte aber hinzu: »Warum will ich auf sie nicht vertrauen? Darauf vertrauen, daß Gott, den meine Gedanken suchen--und den ich bisher in der Gottlosigkeit meiner Existenz nur in Gedanken suchte--, sich eines Tages werde finden lassen--im Leben und so mein Leben rettend.« Page 238
Mit der Zusammenfassung seiner Gedanken über die einzigen »geistigen Realitäten«, Page 238
das sind die persönlichen »konkreten«, nicht in abstrakter Objektivität, sondern im unmittelbaren Gegenüber erlebbaren Bezüge von Ich und Du, in Ansprache und Angesprochensein, im »Wort« und, sobald alle Verschlossenheit überwunden ist: in der »Liebe«-Page 238
mit dieser »Erkenntnis« hat aber Ferdinand Ebner selbst als Mensch, seine Ruhe nicht gefunden. Es blieb ihm zeit seines Lebens die Qual, daß er das, was er begriffen hatte, nicht zu verwirklichen, daß gerade er sich nur schwer in Liebe aufzuschließen vermochte: sowohl den Mitmenschen wie Gott gegenüber. Ein Zeugnis dafür ist sein Ringen um die Gnade, das Vaterunser richtig beten zu können. Page 238
Am Christtag 1917 (im Jahr seiner Umkehr) hatte er in das Tagebuch eingetragen: »Auch heute lag ich wieder, um 4 Uhr herum, sehr lange wach und versuchte, das Vaterunser zu beten... Das sehe ich gleichsam als die innere Aufgabe meines Lebens an: das Vaterunser im rechten Sinn beten zu lernen, die Unendlichkeit des göttlichen Wortes in die Endlichkeit meiner Vernunft aufzunehmen... « Derselbe Gedanke wiederholt sich in den Aufzeichnungen von 1918/19, er wurde auch in die »Pneumatologischen Fragmente« aufgenommen. (Eine Auswahl aus seinen »subjektiven« Tagebüchern hat Hildegard Jone 1949 veröffentlicht: »Das Wort ist der Weg«, Herder Wien.--Ein erschütterndes Buch.) Page 238
Ebner hat immer aufs neue auch um seinen Glauben an die »Unsterblichkeit« und an das »Wunder«
kämpfen müssen. Page 238
Er mußte andererseits in der Auseinandersetzung mit sich selbst, über sein Lebens»Problem« einen Schritt weiter gehen. Es stand das »Problem« der Kirche vor ihm. Und es lebten in ihm Widerstände, Gegengefühle (Ressentiments) gegen die Kirche und den Klerus von solcher Stärke, daß er damit bis in seine letzte Lebenszeit nicht fertig wurde. Er schöpfte immer wieder Grund zum »Ärgernis« an der Institution und der Art der »Repräsentation« der Kirche, fast an dem Prinzip der Repräsentation selbst, und noch mehr an so manchen Erscheinungsformen kirchlichen Wirkens, wie er es in seiner Umgebung sah. Diese Gegengefühle traten in den »Brenner-Aufsätzen« zutage, die in den zwanziger Jahren in der Innsbrucker Zeitschrift »Der Brenner« (einer Zeitschrift, die samt ihrem Herausgeber Ludwig Ficker selbst der Bekehrung entgegenschritt), erschienen und die nun unter dem Gesamttitel »Die Wirklichkeit Christi« den Bd. II der Gesammelten Schriften bilden sollen. Page Break 239 Page 239
Wie sehr Ebner diese Auseinandersetzung mit der Kirche, die größtenteils wirklich mehr Auseinandersetzung mit sich selbst war, naheging, zeigen die spärlichen Worte, die er darüber seinen skizzenhaften »Notizen zu einer Geschichte meines geistigen Lebens« einfügte. (Abgedruckt in der Tagebuch-Ausgabe »Das Wort ist der Weg.«--Von den religiösen »Irritationen« seiner Kindheit kann an dieser Stelle nicht die Rede sein.) Page 239
Für die Zeit nach dem Erscheinen seines Werkes: »Das Wort und die geistigen Realitäten«, heißt es: »Haeckers [des eben konvertierten] Newman-Übersetzung Mahnung zum Katholizismus.«--Etwas später, nach Hinweisen auf den Tod der Mutter, die zuletzt geistig umnachtet war: »Depression. Regung des ›katholischen Gewissens‹, Selbstmordgedanke...«--Und wiederum, etwa für 1923: »Die Frage: Warum das alles? Die ›Stimme‹: Kirche--Verzweiflung--kein Ausweg--Selbstmordversuch.«--Einige Monate später ein zweiter! Es war die Zeit seiner größten Niedergeschlagenheit, seiner schwersten inneren Kämpfe wohl auch. Seine Kollegen zwangen ihn schließlich, Urlaub zu nehmen. Er ließ sich dann pensionieren. Er muß noch zweimal ein Sanatorium aufsuchen. Die Heirat mit der Kollegin Maria Mizera scheint ihn gerettet zu haben. Page 239
Im Jahre 1925 schrieb er den Aufsatz: »Die Wirklichkeit Christi.« In den biographischen Notizen vermerkt er: »Abermalige Depressionsperiode mit religiösen Gewissensqualen. Selbstkritik usw. Korrekturen des Aufsatzes. Erscheinen des Aufsatzes.--In-der-Luft-Hängen des ganzen Gedankenganges.--Allmählicheres Ruhigwerden. Im Mai 1927 Klärung.« Page 239
In seinen Tagebüchern aber stehen folgende zwei bedeutende Eintragungen: Page 239
Im September 1922: »In der Zeit der schwersten inneren Bedrängnis meines Lebens... in einer schlechten Nacht ... es war im Laufe dieses traurigen Jahres, verhinderte mich der Gedanke, daß ich außerhalb der Kirche stehe, daß ich mich in der Sünde meines Lebens in jungen Jahren von ihr entfernt habe, am Gebet. Und damals, in diesem Augenblicke verzweifelter Not, klammerte sich meine ganze Seele an das eine Wort Christi: Wer an mich glaubt, hat das ewige Leben. Und ich konnte, für den Augenblick wenigstens, wieder beten.« Und im Februar des folgenden Jahres (1923) bekennt er »Das Geheimnis meiner schlaflosen Nachtstunden: daß das Problem des Katholizismus als mein ureigenstes Problem in meinem Gemüte steckt. Ich war in der Sünde, als ich mich dem moralischen und religiösen Einfluß der kirchlichen Lehre verschloß, und diese Verschließung selbst war Sünde.« Page 239
Es ist wohl nicht möglich, zu sagen, wie sich die Gedanken und die Gesinnung Ebners weitergebildet und zu welchem Entschlusse er gekommen wäre, wenn er länger gelebt hätte. In seinem Testament hat er den Willen geäußert, daß sein kurzer Aufsatz aus 1922: »Das Ärgernis der Repräsentation« nicht mehr gedruckt werde. Und seine Witwe bezeugt, daß er in strenger Rechtlichkeit und mit einem fast rührenden Willen zur Güte gerade in seinen letzten Jahren gelebt hat. Page 239
Jedenfalls gehört Ferdinand Ebner mit allen Unausgeglichenheiten, Einseitigkeiten und Gegengefühlen in den Raum der katholischen Kirche. Vom Protestantismus trennt ihn seine Herkunft, trennt ihn (trotz mancher Glaubensund Gefühlshaltungen) auch seine Grundeinstellung. So viel er Kierkegaard verdankt, sosehr er ihn verehrt hat, seine Auffassung des Ichs steht geradezu typisch in Gegensatz zu Page 239 Page Break 240
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Kierkegaards Begriff des »Einzelnen«. Bei diesem steht der einsame Mensch in Angst und Qual dem verschlossenen Gott gegenüber, bei Ebner eröffnet sich (sollte sich wenigstens eröffnen) jedes Ich ohne Rückhalt, in Liebe jedem Du, dem liebenden Gott und den Mitmenschen. Die katholische Einstellung Ebners ließe sich auch in einer Reihe von Einzelheiten aufweisen. So hat er in Tagebuch-Notizen wie in den »Pneumatologischen Fragmenten« von der Lutherischen Übersetzung des Wortes Luc. 17, 21: »Das Reich Gottes ist inwendig in euch«--εντοσ(12) υµων(13) zu der Übersetzung der Vulgata zurückgefunden: intra vos, »mitten unter euch«.†11 (Das Wort »Golgatha« statt Golgotha war noch der Luther-Bibel entnommen.) Page Break 241
Wort der Eduardschen Monade, als das Teufelchen sie haschen will: »Ich b-b-bin ja gar nicht so übel!« und an das Kreischen des Schwarzen: »Also auch das noch!«...? Page 241
9 Das, was die Individualpsychologen »Selbstwertgefühl« nennen. Page 241
10 Wieder wird nachträglich auf die »Gesammelten Werke« verwiesen, deren I. Band in zweiter Auflage »Das Wort und die geistigen Realitäten« enthält (1952), dessen II. Band demnächst unter dem Titel »Die Wirklichkeit Christi« die »Brenner«-Aufsätze bringen wird. Page 241
11 Die Auffassung der Stelle schwankt übrigens, wie ich nachträglich festgestellt habe, sowohl auf reformatorischer wie katholischer Seite. Vgl. Luther: »inwendig in euch«; Züricher Bibel: »in eurer Mitte«; lateinische Übersetzung von Th. Beza, Cambridge 1624: »regnum Dei intus habetis«; Holy Bible, Cambridge, aber ebenso Ausgabe der Catholic Truth Society: »within you«; Abbé Crampon, Amiens: »au dedans de vous«; deutsche katholische Übersetzer: »(mitten) unter euch«, mit der Begründung, Jesus spreche von dem Reich Gottes, das mit ihm in die Welt gekommen und so inmitten der Apostel schon da sei.--Vgl. meine Übersetzung des UNESCO-Berichtes »Humanismus und Erziehung im Westen und Osten«, Austria Edition, Wien 1956, S 51. Page Break 242
Ludwig Wittgenstein (1889-1951) Page 242
1. Positivismus--als Beschränkung auf das positiv, das heißt tatsächlich Gegebene (und auf das daraus sich Ergebende)--ist an sich ein geradezu selbstverständliches Denkprinzip. Dagegen, daß man nicht mehr für wirklich nehmen dürfe, als man für wirklich nehmen müsse (entia praeter necessitatem non esse multiplicanda), das ist die »Devise Occams«†1, läßt sich kaum etwas einwenden, vorausgesetzt, daß man wirklich jede Erfahrungstatsache in ihrer Eigenart und alle daraus sich ergebenden Denkfolgerungen (und selbst Denkpostulate) in ihrem Wahrheitsoder Wahrscheinlichkeitscharakter gelten läßt.--Meistens freilich bezeichnete man als positivistisch die Beschränkung auf ein irgendwie »unmittelbar« Gegebenes mit Verzicht auf alles, was (unter den zu erschließenden Ursachen) nicht selbst wieder »unmittelbar« erfaßt werden könnte, mit Ausschluß zumal des »Metaphysischen«. So ist jeder Phänomenalismus positivistisch, sind es Pragmatismus und Behaviorismus oder auch die Reduktion des physikalischen Geschehens auf mathematisch formulierbare Funktionen. Auch allen derartigen Versuchen ist natürlich ihr Anspruch auf Berechtigung nicht von vornherein abzusprechen. Page 242
In der Philosophiegeschichte tragen den Namen Positivismus ausdrücklich drei Theorien und Schulen: der szientistische Positivismus, den Auguste Comte begründet hat, der sensualistische Positivismus von Ernst Mach und der logische Positivismus, der allerdings seinen Namen nur halb zu Recht trägt: er verweist auf keine Art positiver Gegebenheiten mehr, er begrenzt nur mehr den Bereich des Erfaßbaren, schränkt ihn ein auf den »logischen Raum«. Page 242
Ihren Ausgang nahm diese Denkweise von den Bemühungen G. Freges, dann B. Russells und A. N. Whiteheads um die Grundlegung der Mathematik, um die Ausarbeitung einer »Begriffsschrift« (in der alle Verschiebungsmöglichkeiten der natürlichen Sprachen fehlen) und um die Aufstellung logischer Grundbezüge, letzter Bezugsmöglichkeiten (Logistik). Diese Ideen wurden dann im »Wiener Kreis« zum Teil auf Machscher Grundlage (sensualistisch) und mit besonderem Bezug auf Wissenschaftsbegründung (szientistisch) weiter ausgebildet und mit großem Elan vertreten, insbesondere gegen die »Scheinprobleme« und die »Sinnlosigkeit« der Metaphysik†2. Page 242
Und doch wäre der »logische Positivismus« am wenigsten zum Negativismus gedrängt (der immanenten Gefahr oder auch bewußten Tendenz aller Positivismen). Er hat nichts Wirkliches, sondern nur Mögliches, logisch Mögliches, zum Gegenstand, müßte also allem, was wirklich wäre, offenbleiben können. Page 242
2. Ludwig Wittgenstein hat mit seinem »Tractatus Logico-Philosophicus«†3 diesem »logischen Positivismus« (die nachträglich aufgekommene Bezeichnung ließ er sich gefallen) eine Grundlage gegeben, wie sie wenigen philosophischen Richtungen der Gegenwart zuteil wurde in der Präzision und Unbefangenheit der Analyse, der Klarheit und Vollendung des Wortes, dem Ernst und der Tiefe des Geistes. Wittgenstein hat über philosophische Fragen außer diesem Buch nur noch eine kurze Abhandlung über »logische Form«†4 veröffentlicht. Aber er hat den größten Einfluß auf den »Wiener Kreis« ausgeübt, war so der Vermittler zwischen Cambridge Page Break 243
und Wien†5, deren verschiedene Ausgangstendenzen G. Ryle in einem Radiovortrag treffend formuliert hat†6, und beeinflußte als Professor in Cambridge und im angelsächsischen Bereich überhaupt das philosophische Denken und selbst die Art der Diskussion wesentlich. Sein Nachlaß, ein in großen Teilen vollendetes neues Werk, in dem manche seiner Aufstellungen geändert sind, liegt in guter Hand--in der von Elizabeth Anscombe--und wird wieder doppelsprachig herauskommen, wenigstens zum Teil. (Nachträgliche Anmerkung: 1953 erschienen die »Philosophischen Untersuchungen«, die in wesentlichen Dingen zu neuen Resultaten kamen; 1956 die »Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik«--beide im Verlag Basil Blackwell, Oxford. Die englischen Titel sind: »Philosophical Investigations« und »Remarks on the Foundations of Mathematics«.) Page 243
Der »Tractatus« ist ein genau geordnetes System einzelner, zumeist selbständiger Sätze, von Aphorismen. Sieben Sätze enthalten die Hauptthesen, die anderen Sätze schließen sich an sie an, numeriert nach der Dezimalklassifikation†7. Zugrunde liegt der Abhandlung eine Analogie: daß unsere Gedanken und damit unsere »sinnvollen Sätze« Bilder seien (wahre oder falsche) von Tatsachen, so wie räumliche Konfigurationen Bilder von räumlich geordneten Gegenständen sind: »4.01: Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns vorstellen.« Page 243
Daraus aber ergibt sich ihm die Konsequenz, daß ebenso, wie bei räumlichen Konfigurationen die Art der Abbildung (die Abbildungsform) nicht selbst wieder durch räumliche Konfigurationen dargestellt werden kann, auch die Form der sprachlichen (und gedanklichen) Abbildung nicht wieder in der Sprache selbst ausgedrückt werden könne. »2.172: Seine Form der Abbildung aber kann das Bild nicht abbilden; es weist sie auf.« Page 243
So könnten Sätze die Form ihrer Abbildung, die »logische Form«, zwar nicht wieder in sinnvollen Sätzen darstellen, wohl aber müßten sie diese Form »aufweisen«--ein wichtiges Wort: Auf diese Art läßt sich doch etwas erfassen, was sich nicht sagen läßt, und obwohl es sich nicht sagen läßt. Page 243
Jenseits des Sagbaren (logisch Denkbaren) stehen aber außer der »logischen Form« für Wittgenstein ebenso: auf der einen Seite das Ich, das »metaphysische Subjekt« (so wie das Auge außerhalb des Gesichtsraumes steht) und auf der anderen Seite »die Welt als Ganzes«, und damit der »Sinn der Welt« (das metaphysische Objekt). »5.6: Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.« (Was Kant den »Ideen« absprach, spricht Wittgenstein auch den Verstandesbegriffen ab. Auch die Sätze über die »Kategorien« und selbst die über Raum und Zeit wären nicht mehr innerhalb des Sagbaren: sie bilden den logischen Raum, wären aber nicht in ihm. Page 243
Dieser Grundgedanke ist ausgeführt im Rahmen der logistischen Problematik (in Auseinandersetzungen, insbesondere mit Frege und Russell) und ausgestaltet in einer reichen Mannigfaltigkeit von Einzelerkenntnissen: Form des »allgemeinsten Satzes«--Sätze als »Wahrheitsfunktionen«--Theorie der Zahl--die »Tautologien« der Logik--der Glaube an den »Kausalnexus« als »Aberglaube« (ein Gedanke, der so, wie er von Wittgenstein gemeint ist, durchaus nicht von obenhin abzuweisen ist) und andere. Page 243
Für die Philosophie ergab sich daraus: Sie »ist keine Lehre, sondern eine Tätigkeit«; ihr Resultat »sind nicht ›philosophische Sätze‹, sondern das Klarwerden von Page Break 244
Sätzen«; »sie soll das Denkbare abgrenzen und damit das Undenkbare« (4.112 und 4.114). Page 244
Dabei bleibt jedoch die Möglichkeit und--wo sie sich »aufweist«--sogar die Gewißheit nicht sagbarer, nicht
denkbarer Wirklichkeit, und gerade der einzigen Wirklichkeit, die Bedeutung hat, ethische Bedeutung, unangetastet. »6.522: Es gibt allerdings Unaussprechliches, dies zeigt sich, es ist das Mystische.« Wittgenstein ist inmitten seiner positivistisch geschlossenen Welt unbefangen geblieben und offen für das, was er das »Ethische« und das »Mystische« nennt: »6.41: Der Sinn der Welt muß außerhalb ihrer liegen ... es gibt in ihr keinen Wert--und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert...« »6.432: Wie die Welt ist, ist für das Höhere vollkommen gleichgültig. Gott offenbart sich nicht in der Welt.« »6.44: Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist.« »6.45: Die Anschauung der Welt sub specie aeterni ist ihre Anschauung als--begrenztes--Ganzes. Das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes ist das Mystische†8.« Page 244
Was seit 1922 an Problemen der Sprachlogik, der Logistik, der Wissenschaftsbegründung gelöst wurde oder neu sich »knüpfte« in Wien, in England, in Amerika, bei Schlick, Carnap, Wright, Popper, Reichenbach (»Verifikation«, »Physikalismus«, »Metasprache« usw.) ist in dem genannten Buch von V. Kraft oder (knapper) bei J. M. Boche&na;ski, »Europäische Philosophie der Gegenwart«, 1947†9, dargestellt. Einmal müßten auch die entgegengesetzten Schulen der Existenzphilosophen und Logistiker konfrontiert werden. Es gäbe merkwürdige Parallelen, zum Beispiel gerade zwischen Jaspers und Wittgenstein†10.--Das letzte Wort Wittgensteins selbst, zu den Problemen wie zu seinen eigenen Thesen, ist noch ungehoben. Sein Opus posthumum wird vielleicht einen neuen »großen Schritt« bedeuten. (B. Russell hatte seinerzeit zu Wittgensteins Schwester, Hermine Wittgenstein, gesagt: »We expect the next big step in philosophy to be taken by your brother.«) Page 244
3. Wittgensteins Leben aber ist nicht weniger bedeutend als sein Werk. Und beide sind, so streng er die Grenzen von Sagbarem und Unsagbarem gezogen hat, in engstem Zusammenhang. Schon die äußeren Daten seines Lebensganges†11 zeigen das Außerordentliche seines Wesens. Page 244
Zu diesem gehört es, daß er (nach dem ersten Weltkrieg) sein Millionenerbe den Geschwistern überließ und, während sein »Tractatus« erschien, Lehrer von Landkindern wurde, er, der Sohn einer Familie von höchster Geistigkeit und Kultur. Er hatte aber eine erstaunlich ernste Liebe zu den Kindern (schon der Blick, mit dem er Kinder ansah, zeigte es), und er hatte eine ungewöhnliche Lust und Kraft des Lehrens. Sein Schulunterricht war danach: etwas Unerhörtes in den Dörfern. Page 244
(Von ihm stammt übrigens ein »Wörterbuch für Volksschulen«, 1926, an dem er mit größter Genauigkeit gearbeitet hat. Es ist vom Unterrichtsministerium approbiert worden†12.)--Es gehörte zu seinem Wesen, daß er den Akt des Verzichtes wiederholte, 1948, mit dem Rücktritt von seiner Lehrkanzel in Cambridge.--Es gehörte dazu, daß er (vor Kriegsausbruch 1914), sein Werk einsam, in einem Blockhaus über dem Sogne-Fjord, das ihm gehörte, geschrieben hat. Er ist später auf ein Jahr dorthin zurückgekehrt. Und vor seinem Tod, dessen Unabwendbarkeit und dessen Termin er ein Jahr voraus wußte (dank der Aufrichtigkeit seines Arztes, den er gerade darum sehr verehrte), wollte er sein Blockhaus noch einmal aufsuchen. Seine Schwäche hat es ihm nicht mehr erlaubt.--Es gehörte zu ihm, daß er in den Jahren Page Break 245
zwischen seiner Lehrtätigkeit an den Volksschulen (am Semmering oder am Schneeberg) und seiner Universitätsprofessur†13 seiner Schwester Margaret Stonborough die Villa in der Kundmanngasse (Wien III) baute†14, ein Haus von großer geistiger Schönheit, streng, edel, ohne jegliches Ornament†15; daß er in dieser Zeit sich zugleich im Dirigieren versuchte (er erlebte Musik ungemein tief--Paul Wittgenstein, der berühmte Klaviervirtuose ist sein Bruder, der feinfühlige Klavierspieler R. Koder sein Freund) und (im Atelier seines Freundes, des Bildhauers M. Drobil) eine Plastik von eigenartig herber, traumhafter Fremdheit schuf. Geradezu ein Zug seiner Gesinnung war sein Verhalten zur Sprache. Es gibt in seinen Schriften (auch in seinen Briefen) keinen Satz, der nicht wohl gebaut wäre, auf Klarheit, Natürlichkeit, Einfachheit hin: kein Wort trifft daneben, kein Wort ist zuviel oder zuwenig, keines zu hoch gegriffen, keines affektiert, keines ein bloßes Ornament. Er »wohnte« wahrhaftig »im sichern Satzbau«.†16 Page 245
Es gehörte zu ihm, daß er, obwohl körperlich sehr sensitiv und anfällig für Krankheiten, in der frugalsten Weise lebte (zumal als Lehrer); daß er, obwohl seelisch sehr erregbar und labil, sich wieder in edelster Form zu fassen wußte: seine Geduld, seine Milde, gerade in den letzten Jahren, hatten etwas Ergreifendes. Und ebenso gehörte zu ihm die Treue zu seinen Freunden (er war selbst ein herrlicher Freund, auch in seiner Strenge) wie die Treue zu den Büchern, die er liebgewonnen hatte. Er las immer wieder dieselben Bücher, empfahl sie, schenkte Exemplare davon seinen Freunden, las daraus vor. Er kannte sie fast auswendig. Was er zitierte, waren Sätze, über die andere hinweglasen, die ihn aber ergriffen hatten um ihrer Wahrheit, ihrer Wärme, ihres echten Tonfalles willen.
Zu seinen Büchern gehörten (es geht nicht an, in derselben Weise von seinen Freunden zu sprechen): »Der König der dunklen Kammer« von Rabindranath Tagore (mit seiner fast europäischen Mystik), Gottfried Kellers Novellen, insbesondere die Episode mit Figura Leu im »Landvogt von Greifensee«, die »Brüder Karamasoff« und »Eduards Traum« von Wilhelm Busch. Noch bei seinem letzten Aufenthalt in Wien zitierte er daraus mit schmerzlichem Ernst eines seiner Lieblingswörter: »Und Spaß beiseit', meine Freunde, nur wer ein Herz hat, kann so recht fühlen, und zwar von Herzen, daß er nichts taugt. Das Weitere findet sich.«--Es sind zumeist Bücher unpathetischen, verhaltenen Tones, insbesondere die von deutschen Dichtern. Das »Mystische« darin ist nicht unterstrichen, aber es ist da, es »zeigt sich«, es »weist sich auf«: gute Form des bürgerlichen 19. Jahrhunderts. So liebte er auch das Märchen »Von Himmel und Hölle« aus Volkmann-Leanders »Träumereien an französischen Kaminen« oder die Legende von den »Drei Greisen« aus den Volkserzählungen Tolstojs. (Wer die Dinge kennt, weiß, worum es geht.) Page 245
4. Wittgensteins Christentum war nicht kirchlich, es war aber mehr als Achtung und Ehrfurcht vor etwas Großem.--Eine Art Verlangen nach dem Kloster hat ihn nie verlassen, sowenig er sich in irgendeines hätte finden können. Er war sofort abgestoßen von Getue wie von Gemütlichkeit.--Als wirkliche Christin verehrte er »die alte Trattin« auf dem einsamen Berghof am Semmering, bei der er als Lehrer einen Winter lang zu Mittag aß. Page 245
Zu den Evangelien war er--in der Gefangenschaft nach dem ersten Weltkrieg--über Tolstojs Evangelienerklärung gekommen. Damals lernte er auch die Bekenntnisse des heiligen Augustin kennen und lieben. Sie müssen ihm viel bedeutet haben. Page Break 246
In einer Nacht, während seiner Lehrerzeit, hatte er das Gefühl, gerufen worden zu sein und sich versagt zu haben. Page 246
Er gehört wohl zu jenen religiös Ergriffenen der Gegenwart, die die Bekehrung zur Kirche nicht mehr oder noch nicht zu vollziehen vermochten.-Page 246
Die große Spannung aber zwischen seinem Lebensernst, das ist seiner Religiosität, und seinem analytischen Denken: er selbst vermochte sie durchzuhalten; nur wenige außer ihm jedoch, auch unter seinen Schülern, hatten die Kraft dazu. Er bekannte mit Sorgen, er fürchte, mit seiner Philosophie, sowenig er es wolle, zersetzend zu wirken. Aber er hatte auch ernste, lebendige Katholiken, Konvertiten, in seinem engeren Kreis. Und das beglückte ihn. Page 246
5. Ich konnte meinem Freund in die Konsequenzen seiner Bildtheorie nicht folgen, sosehr manche seiner Gedanken (gerade während unserer Gefangenschaft nach dem ersten Weltkrieg, als ich ihn kennenlernte und das Manuskript des »Tractatus« mit ihm lesen durfte) meinen Gedanken entgegenkamen. Ich kann auch nicht an die Bezuglosigkeit der Einzeltatsachen in der Welt glauben, es wäre denn als Ergebnis erster Erfahrungen.--Vielleicht aber darf ich mich mit folgenden Vermutungen zu ihm bekennen. Page 246
Es ist zu erwarten, daß eine neue »Religionsbegründung«, jenseits der (naiven) Metaphysik des Mittelalters, jenseits aber auch von Kritizismus und Psychologismus, von Denkern seiner Art ausgehen werde. Er ist kein Ideologe. Er hat manchen Zug mit Kierkegaard und insbesondere mit Pascal gemeinsam. Diesen beiden war wie ihm das Unsagbare oder Paradoxe der letzten Wahrheiten bewußt geworden. Das Bewußtsein davon ist jetzt allgemein geworden. (Pascal schon hatte gesagt: Tout ce qui est incompréhensible, ne laisse pas d'être: Nicht alles, was unbegreiflich ist, hört damit schon auf, wirklich zu sein.--Und Pascals Idee von mehreren »Ordnungen« war bereits ein Lösungsversuch.) Vielleicht kommt die Zeit, wo eine unbefangene Schau der Welt und der Wahrheiten des Christentums das »Unerforschliche« (das nur in Sinnbildern oder widersprüchlichen Begriffen Zugängliche und doch Wirkliche) ohne die Zudringlichkeiten der Kritik und die Subtilitäten der Erklärung, ohne jegliche begriffliche Anmaßung, als Mysterium »ruhig zu verehren« lehrt--merkwürdig, daß einem dazu ein Goethe-Wort einfällt--, und es, das Mysterium, das Unerforschliche, doch vor Augen behielte als das einzig Wesentliche im menschlichen Dasein. Es wäre ein Sein vor Gott.
NACHTRÄGLICHE BEMERKUNG Page 246
Die beste Charakterisierung Wittgensteins brachte 1955 (mit einem Bild Wittgensteins aus seiner letzten Zeit) sein Schüler, dann sein Nachfolger auf der Lehrkanzel in Cambridge, Georg Henrik von Wright (jetzt Professor in Helsingfors, seiner Heimat): »Ludwig Wittgenstein, a Biographical Sketch«, Sonderdruck aus »The Philosophical Review«, Vol. LXIV, Nr. 4. Oktober 1955.--G. H. von Wright arbeitet zurzeit an einem Kommentar zu dem »Tractatus«.--Über Wittgensteins eigentümliche Art vorzutragen und zu diskutieren, berichtete schon 1951 ein sehr
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interessanter (anonymer) Artikel in einer australischen Zeitschrift für Philosophie: The Australasian Journal of Philosophy, Nr. 2, 1951.--Außerdem wären natürlich die Artikel von G. E. Moore (Wittgensteins Vorgänger) im Mind 1954/55 heranzuziehen. Page Break 248 Page Break 249
Kommentar Page Break 250 Page Break 251
A) ERLÄUTERUNGEN ZU DEN BRIEFEN
(1) 12.9.1919 Page 251
Postkarte. Page 251
Ludwig Wittgenstein: Geb. 26.4.1889, Wien; gest. 29.4.1951, Cambridge. Achtes Kind von Karl und Leopoldine Wittgenstein (geb. Kallmus). Nach anfänglicher Privaterziehung im Hause Wittgenstein kam Ludwig im Herbst 1903 an die Oberrealschule in Linz, wo er 1906 maturierte. Von 1906-1908 studierte er an der Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg und ging dann nach England. Nach aeronautischen Experimenten bei Glossop/Derbyshire war er Research Student an der Universität Manchester. 1912 Immatrikulation im Trinity College in Cambridge und Freundschaft mit Bertrand Russell, George Edward Moore und John Maynard Keynes. Von Ende Oktober 1913 bis Ende Juni 1914 Aufenthalt in Skjolden in Norwegen, wo er wichtige Erkenntnisse in der Logik gewann. Am 7. August meldete er sich als Kriegsfreiwilliger, obwohl er wegen eines doppelseitigen Leistenbruchs vom Militärdienst freigestellt worden war. Er kam nach Galizien, wo er u.a. Dienste auf dem Wachschiff »Goplana« auf der Weichsel, in der Artilleriewerkstätte der Festung Krakau und auf dem Artillerie-Werkstätten-Bahnzug bei Sokol nördlich von Lemberg versah. Später wurde er als Artilleriebeobachter bei Sanok an die Front versetzt. Am 1. September 1916 Beförderung zum Korporal. Anschließend war er als Einjähriger an der Artillerie-Offiziersschule in Olmütz, wo er Paul Engelmann kennenlernte. Am 1. Dez. 1916 Beförderung zum Fähnrich i. d. Res. 1917 Rückkehr zu seinem Regiment in die Bukowina. Am 1. Februar 1918 Beförderung zum Leutnant i. d. Reserve, im Frühjahr Versetzung an die italienische Front bei Asiago. Im Sommer 1918 Urlaub in Wien, auf der Hochreit und in Hallein bei Salzburg, wo er die endgültige Fassung der Logisch-Philosopischen Abhandlung niederschrieb. Ende August kam Wittgenstein wieder an die Front. Er wurde im Krieg mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit der Silbernen Tapferkeitsmedaille. Am 3. November Gefangennahme bei Trient; im Jänner 1919 kam er in ein Kriegsgefangenenlager bei Monte Cassino. Page 251
wieder hier: Wahrscheinlich hatte Ludwig Hänsel nach der Rückkehr aus Monte Cassino noch seine Verwandten in Salzburg besucht. »Wittgenstein ist mit mir aus der italienischen Kriegsgefangenschaft (Lager Cassino, einigermaßen am Fuß von Monte Cassino) am 26. August 1919 zurückgekommen. Page 251
Dort haben wir uns kennen gelernt, dort hat er mich in die Logistik eingeführt und mich seinen Tractatus Logico-Philosophicus im Manuskript lesen lassen, dort haben wir mitsammen Dostojewski und die Confessiones des Augustinus gelesen--eine wunderbare Zeit für mich.« (Brief Hänsels an Ludwig von Ficker, 2.12.1953, Brenner-Archiv). Vgl. auch Franz Parak: Wittgenstein in Monte Cassino. In: Ludwig Wittgenstein: Geheime Tagebücher 1914-1916. Hrsg. und dokumentiert von Wilhelm Baum. 2. Aufl. Wien 1991, S. 145-158, hier S. 144: »Eines Tages sah ich ihn nun, der mit einem neuen Transport angekommen war, auf der Lagerstraße mit einem Regimentskameraden auf und ab gehen, der sich später durch ein Werk über Goethe einen Namen machte.« Der hier gemeinte Regimentskamerad Ludwig Hänsel vermittelte die Bekanntschaft Paraks mit Ludwig Wittgenstein. Parak war neben Hänsel einer der ersten Leser des Tractatus, einem Manuskript »auf etwa fünfzig maschinengeschriebenen Blättern, die in einen braunen Leinenumschlag geheftet waren« (vgl. ebenda S. 147). Zur Rückkehr siehe Hänsels Bericht Gefangenenlager bei Cassino.
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Am 25. August befand sich Wittgenstein mit Sicherheit wieder in Wien und hielt sich ab dem 3. September für ca. 8-10 Tage auf der Hochreit auf (vgl. dazu Wittgensteins Briefe an Paul Engelmann vom 25.8. bzw. vom 2.9.1919, in: Briefe, Nr. 101, 103). Am 26. August präsentierte sich Wittgenstein bei der Heimkehrer-Zerstreuungsstation in Wien-Hietzing. Auf dem Heimkehrer-Präsentierungsblatt (Wien, Kriegsarchiv) ist in der Sparte Zivilberuf »student« eingetragen. Page 251
Alleegasse 16: Mit Bleistift--vermutlich von der Post--durchgestrichen und durch Page Break 252
XVII/2 ersetzt. Die Karte wurde anscheinend an die Villa in Neuwaldegg, einen weiteren Wohnsitz der Familie Wittgenstein im XVII Bezirk, weitergeleitet. Page 252
L. B. Anstalt: Wittgenstein besuchte vom 16. September 1919 bis Juli 1920 den vierten Jahrgang der Staatslehrerbildungsanstalt in der Kundmanngasse, Wien III. Aufgrund seiner Reifeprüfung an der Staatsrealschule in Linz mußte er nur mehr die Fächer Pädagogik, Spezielle Methode und praktische Übungen, Hygiene, Landwirtschaftslehre, Schönschreiben, Singen, Orgel- und Geigenspiel absolvieren, um zum Volksschullehrer ausgebildet zu werden. Page 252
Drobil: Michael Drobil: Geb. 19.9.1877, Wien; gest. 12.9.1958, Wien. Akademischer Bildhauer. Studierte von 1897-1905 bei Eduard Helmer an der Wiener Akademie. Von 1920-1939 Mitglied der »Wiener Secession«, seit 1940 Mitglied des Künstlerhauses, das ihn mit dem goldenen Lorbeer auszeichnete. Träger mehrerer Staatspreise der Republik Österreich. Werke und Ausstellungen in der »Wiener Secession« (Nr. = Nummer der jeweiligen »Secessionsausstellung«): Nr. 57 (April-Juli 1920): »Lachendes Kind« (Marmor), »Weiblicher Studienkopf« (Marmor); Nr. 80 (November-Dezember 1924): »Am Morgen« (Bronze); Nr. 85 (Oktober-November 1925): »Kinderkopf« (Bronze), »Bildnis« (Bronze), »Schlummernde« (Bronze); Nr. 96 (26.11.1927-8.1.1928): »Knabe« (Halbfigur in Marmor); Nr. 101 (Oktober-Dezember 1928): »Brunnenfigur« (Gips); Nr. 112 (9. Mai-31. August 1930): »Mädchenkopf« (Marmor); Nr. 114 (November-Dezember 1930): »Karyatide« (Kalkstein). Page 252
Drobil fertigte Bleistiftzeichnungen und eine Büste Wittgensteins an. Hermine war mit dem Marmorporträt ihres Bruders nicht ganz einverstanden, da ihrer Meinung nach Wittgensteins ruheloses Wesen dabei nicht ausgedrückt war (vgl. Hermine Wittgenstein: Familienerinnerungen, S. 118; Abbildung siehe Nedo, S. 215). Auch Wittgenstein versuchte sich in Drobils Atelier am Modellieren. Bekannt ist seine während der Bauarbeit am Haus seiner Schwester Stonborough angefertigte Büste eines Mädchenkopfes, die sich auch heute noch im Haus in der Kundmanngasse befindet.
(2) [um den 20.9.1919] Page 252
Brief (Zettel) undatiert, von Hänsel nachträglich mit »Herbst 1919« datiert.
(3) [um den 20.9.1919] Page 252
Notiz auf einer Feldpostkarte für Kriegsgefangene. Auf der Rückseite steht als Absender Anna Hänsel, adressiert ist die Karte an Albert Sandner (k.u.k. Inf. Regt N° 59) Antipicha b. Tschitta (Ostsibirien). Albert Sandner war der Bruder von Hänsels Gattin Anna. Diese hatte offensichtlich die Karte nicht weiter beschrieben und sie Wittgenstein für seine Mitteilung an Hänsel zur Verfügung gestellt. Page 252
mit dem reichen Wittgenstein verwant: Gemeint ist damit höchstwahrscheinlich Wittgensteins Vater Karl: Geb. 8.4.1847, Gohlis bei Leipzig; gest. 20.1.1913, Wien. Großindustrieller. »Schöpfer« der österr. Stahlindustrie, die bis zum Jahre 1879 zum großen Teil aus unrentablen Einzelunternehmungen bestand, die von Karl Wittgenstein zusammengefaßt, ausgebaut und rationalisiert wurden. Er gründete auch das Edelstahlwerk »Poldihütte« in Kladno, die steirischen Gußstahlwerke in Judenburg und bewirkte die Verschmelzung der beiden Industriezentren Böhmen und Alpenländer. Wittgenstein betätigte sich auch journalistisch. Im Jahre 1898 schrieb er in einem Artikel: »Der Industrielle muß wagen, er muß, wenn es der Moment erfordert, imstande sein, auch alles auf eine Karte zu setzen, selbst auf die Gefahr hin, daß er die Früchte, die er zu erreichen hofft, nicht einheimst, seinen Einsatz verliert und wieder von neuem anfangen muß.« (Vgl. Die Ursachen der Entwicklung der Industrie in Amerika in Viennese
Heritage. Wiener Erbe. Karl Wittgenstein. Politico-economic writings. Edited by J. C. Nyíri. Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins Publishing Company 1984, S. 59). Karl Wittgenstein war auch ein sehr kunstsinniger Mensch, in dessen Hause u.a. Joseph Joachim, Johannes Brahms, Max Klinger und Rudolf von Alt verkehrten. Er förderte das Ausstellungsgebäude der Wiener Secession so großzügig, daß sein Name neben denen der Künstler Rudolf von Alt und Theodor von Hoermann im Vorraum des Page Break 253
Secessionsgebäudes angebracht wurde (vgl. Klimt. Leben und Werk. Hrsg. von Susanna Partsch. München: I. P. Verlagsgesellschaft 1990, S. 239). Er beauftragte Gustav Klimt, ein Porträt seiner Tochter Margarete anzufertigen, das sich heute in der Pinakothek in München befindet. Karl Wittgenstein wurde von seinen Kindern, insbesondere aber von seinen Töchtern, sehr verehrt. (Mitteilung von John Stonborough an Ilse Somavilla, 13.11.1992). Er spendete gerne und großzügig, doch mußte er von der Zweckmäßigkeit des Gebens überzeugt sein und er bestand darauf, daß sein Name geheim blieb. (Familienerinnerungen, S. 71f.) Als er am 20.1.1913 an Krebs verstarb, schrieb Ludwig Wittgenstein am 21.1.1913 an Russell: »Gestern ist mein Vater gestorben. Er hatte den schönsten Tod, den ich mir vorstellen kann; ohne die mindesten Schmerzen schlief er ein wie ein Kind! Während der ganzen letzten Stunden war ich keinen Augenblick traurig, sondern voller Freude, und ich glaube, dieser Tod war ein ganzes Leben wert.« (Vgl. Briefe, S. 26). Bei seinem Begräbnis sagte Marie Salzer, eine Freundin Hermines, angesichts der vielen Menschen, die die Kirche füllten: »Es wird kaum ein Mensch hier anwesend sein, der nicht sagen könnte, dieser Mann hat mir in irgend einer Form geholfen oder mich gefördert oder mir Gutes getan.« (Vgl. Familienerinnerungen, S. 71).
(4) [vor dem 24.9.1919] Page 253
Brief (Zettel) ohne Datum. Page 253
gestern versäumt, und heute wieder nicht getroffen: Die unsichere Datierung der Briefe Nr. 2 und Nr. 3 stützt sich auf diese Äußerung. Demnach wäre Wittgenstein an zwei aufeinanderfolgenden Tagen vergeblich bei Hänsel zu Hause gewesen und hätte ihm beide Male eine Nachricht, Nr. 2 und Nr. 3, hinterlassen.
(5) 24.9.1919 Page 253
Brief mit Kuvert. Auf der Rückseite des Kuverts notierte Hänsel: »Wittgenstein (Schulschrift) September 1921 [sic!]«. Unter den bisher bekannten Briefen Wittgensteins ist dies der einzige in Kurrentschrift verfaßte. Page 253
bei meiner Mutter: Leopoldine (Poldy) Wittgenstein, geb. Kallmus: Geb. 14.3.1850, Wien; gest. 3.6.1926, Wien. Leopoldine war eine feinsinnige Frau, deren Liebe vor allem der Musik galt. Sie spielte ausgezeichnet Klavier und Orgel und galt dabei als strenge Kritikerin. Rudolf Koder behauptete, daß sie besser Klavier spielte als alle anderen Mitglieder der Familie, selbst als ihr Sohn Paul, der Pianist (Mitteilung von John Stonborough an Ilse Somavilla, 2.4.1993). Hermine Wittgenstein schrieb in ihren Familienerinnerungen: »Wenn ich aus eigener Anschauung über meine Mutter sprechen soll, so leuchten mir als die hervorstechendsten Züge ihres Wesens ihre Selbstlosigkeit, ihr hohes Pflichtgefühl, ihre Bescheidenheit, die sie fast sich auslöschen liess, ihre Fähigkeit des Mit-Leidens und ihre große musikalische Begabung entgegen. [...] Selbst als sie im Alter am Star erkrankte, konnte sie noch lange Zeit Musikstücke, die ihr von früher her bekannt waren, vierhändig spielen, und beinahe die letzten Worte, die meine schwerkranke Mutter wenige Tage vor ihrem Tode sprach, gehörten der von ihr so geliebten Musik. Die Musik war gewiss auch das schönste Bindeglied zwischen ihr und ihren Kindern, später auch ihren Enkeln. [...] Ich sah oder fühlte aber doch deutlich, daß meine Mutter geradlinig tat, was sie als recht und gut erkannt hatte, und dass sie dabei nie ihre eigenen Wünsche im Auge hatte, ja gar keine zu haben schien. Auch ihre Fähigkeit des Mit-Leidens war mir früh klar und ich weiss noch, dass mir einmal während der Matthäus-Passion von Bach, bei dem Vorwurf, der den Aposteln gemacht wird, weil sie am Oelberg nicht gewacht hatten, der Gedanke durch den Kopf flog: meine Mutter wäre nicht eingeschlafen! Sie schonte sich nie, ja sie war sehr hart gegen sich selbst und verheimlichte besonders vor ihrem Mann und vor ihrer Mutter jeden Schmerz. [...] Ihre Schwiegermutter selbst schrieb ihr einmal die Worte: »Liebe Poldy, es gibt ein Wörtchen ›zu‹, man kann auch zu gut, zu ›selbstlos sein;‹ und jetzt, da ich tiefer in ihr Wesen eindringe, sehe ich, wie erstaunlich streng dieses in der Richtung der Pflicht orientiert war. [...] So glücklich, ja unendlich glücklich die Ehe meiner Page Break 254
Mutter war, so war es doch die Ehe einer ausgesprochen zum Dulden geborenen Frau mit einem ausgesprochen zum energischen Handeln geborenen Mann. [...] Wir begriffen unter anderem nicht, dass sie so wenig eigenen Willen und eigene Meinung hatte, und bedachten nicht, wie unmöglich es war, neben meinem Vater eigene Meinung und Willen zu bewahren. Wir standen ihr eigentlich verständnislos gegenüber, aber auch sie hatte kein wirkliches Verständnis für die acht sonderbaren Kinder, die sie geboren hatte, ja, bei aller ihrer Menschenliebe hatte sie merkwürdigerweise kein wirkliches Verständnis für Menschen überhaupt.« (Familienerinnerungen, S. 90-95) Aus den Briefen Leopoldine Wittgensteins an Ludwig Wittgenstein (Kopien im Brenner-Archiv) geht hervor, daß sie ein inniges Verhältnis zu ihrem Sohn hatte. In der Volksschullehrerzeit hat sie viel mit Ludwig musiziert. Dies geht aus mehreren undatierten Briefen aus den Zwanzigerjahren hervor: «ich sehne mich nach Dir und bin sehr betrübt, daß so gar keine Aussicht auf Dein baldiges Kommen besteht. Wie glücklich werde ich sein wie werde ich es genießen die Brahms-Sonaten die ich jetzt [soweit] es überhaupt möglich ist, studiere mit Dir spielen zu können. Sie sind gar so schön!«. Page 254
»Daß Du Dich wieder mit der Clarinette beschäftigst freut mich über alle Maßen. Ich werde es dankbarst genießen Dich am Klavier begleiten zu dürfen sei nur so lieb und gut mich bei Zeiten wissen zu lassen was ich vorbereiten dürfte«. Page 254
Im Ersten Weltkrieg schrieb Russell einen Brief an Leopoldine Wittgenstein, aus dem diese ihrem Sohn die folgenden Zeilen abschrieb und am 17.4.[1915] sandte: »I have heard from your son, which was a great happiness to me, as I have a profound affection and respect for him. I am writing now to ask, whether you would do me a great kindness. If anything happens to him, could you let me know? I only ask because the anxiety is trying. Apart from affection it is to him that I look for the next real important advance in philosophy.« Page 254
Neuwaldegg: In der Neuwaldeggerstraße 38 im XVII Bezirk von Wien besaßen die Wittgensteins eine Sommervilla, die in den Siebzigerjahren abgerissen wurde. (Auskunft des Magistrats der Stadt Wien vom 7.7.1992). Ansonsten hatten sie einen Wohnsitz in der Alleegasse 16 im IV. Bezirk in einem von Karl Wittgenstein adaptierten Stadtpalais, in der Nähe der Karlskirche. Später wurde die Alleegasse in »Argentinierstraße« umbenannt; das Palais Wittgenstein wurde im Zweiten Weltkrieg beschädigt und ist mittlerweile abgerissen. Wittgenstein wohnte damals schon bei Frau Wanicek im III. Bezirk, Untere Viaduktgasse 9 (vgl. Wittgenstein an Paul Engelmann, 25.9.1919, in Briefe, S. 93).
(6) [vor dem 13.10.1919] Page 254
Brief, undatiert, von Hänsel irrtümlich mit »Herbst 1911« (also wohl 1919) datiert. Page 254
die zweite Zeichnung: Vgl. dazu Hermine Wittgensteins Bemerkungen in den Familienerinnerungen: »Drobil hat von Ludwig ein paar flüchtige, aber sehr ähnliche Bleistiftskizzen gemacht, die mir sehr lieb sind« (S. 118). Hänsel legte einem Brief an Ludwig von Ficker vom 8.7.1951 ein Bild Wittgensteins bei, »eine Zeichnung unseres gemeinsamen Freundes aus der Gefangenschaft 1918/19, des Bildhauers Drobil. Es ist von den sehr guten Skizzen, die er damals gemacht hat, die edelste. Ich habe sie vervielfältigen lassen.« Page 254
meiner Schwester: Hermine Wittgenstein (Mining): Geb. 1.12.1874, Eichwald bei Teplitz, Böhmen; gest. 11.2.1950, Wien. Wurde laut Auskunft von John Stonborough nach einer Figur von Fritz Reuters Roman Ut mine Stromtid (»Das Leben auf dem Lande«, 3 Teile. Wismar: Hinstorrfsche Hofbuchhandlung 1863-64) Mining genannt. Hermine war das Älteste der Kinder von Karl und Leopoldine Wittgenstein und übernahm z.T. die Mutterrolle für ihre jüngeren Geschwister. Sie blieb unverheiratet und wurde in späteren Jahren faktisch zum »Oberhaupt« der Familie. Gemeinsam mit ihrem Vater legte sie eine Gemäldesammlung an und er diktierte ihr seine autobiographischen Notizen. Hermine malte und zeichnete, spielte Klavier und organisierte musikalische Abendveranstaltungen. Im Ersten Weltkrieg leitete sie eine chirurgische Ambulanz im Rudolfsspital in Wien. Im Jahre 1921 gründete sie eine Tagesheimstätte für »arme christliche Knaben«, die sie bis zum 17.3.1938 aus eigenen Mitteln erhielt. Dort bekamen dreißig bis vierzig bedürftige Knaben Verpflegung, Nachhilfe- und Page Break 255
Werkstättenunterricht. Im Juni 1944 begann Hermine in Wien die Familienerinnerungen zu schreiben, die sie im August 1944 auf der Hochreit, von Februar bis Mai 1945 in Gmunden fortsetzte und im Juli 1947 auf der Hochreit beendete. Hermine stand ihrem Bruder Ludwig sehr nahe, der gegenüber Rush Rhees einmal bemerkte, daß sie unter seinen Geschwistern »bei weitem die tiefste« sei. (Vgl. Porträts und Gespräche, S. 7). Als Hermine im Sterben lag,
notierte er: »Ringsherum werden die Wurzeln abgeschnitten, an denen mein eigenes Leben hängt. Meine Seele ist voller Schmerzen. Sie hatte vielseitiges Talent. Aber nicht nackt zu Tage liegend, sondern verhüllt; wie die menschlichen Eingeweide liegen sollen. (MS 138, 25.2.49, vgl. Nedo, S. 331). Page 255
Frege: Gottlob Frege: Geb. 8.11.1848, Wismar; gest. 26.7.1925, Bad Kleinen. Philosoph. 1879-1918 Professor der Mathematik in Jena. Durch die »Begriffsschrift« wurde er zum eigentlichen Begründer der modernen Logik. Frege sah in der Mathematik einen speziellen Zweig der Logik. Seine »Begriffsschrift« übte großen Einfluß auf die mathematische Logik aus. Freges Neubegründung der philosophischen Semantik bestand in der Unterscheidung zwischen »Zeichen«, »Sinn« und »Bedeutung« von Eigennamen, Sätzen und Begriffen. Werke u.a.: Die Grundlagen der Arithmetik (1884); Über Sinn und Bedeutung (1892); Grundgesetze der Arithmetik (2 Bände, 1893/1903); Logik (1898); Logik in der Mathematik (1913). Wittgenstein schätzte Freges Grundgesetze der Arithmetik, die er sich selbst während seiner Gefangenschaft in Monte Cassino von Engelmann nachschicken ließ (vgl. Wittgensteins Brief vom 24.5.1919 an Engelmann, in Briefe, S. 86) und die für die Abfassung seines Tractatus eine wichtige Grundlage bildeten. Noch im Jahre 1931 schrieb Wittgenstein: »Es ist, glaube ich, eine Wahrheit darin, wenn ich denke, daß ich eigentlich in meinem Denken nur reproduktiv bin. Ich glaube, ich habe nie eine Gedankenbewegung erfunden, sondern sie wurde mir immer von jemand anderem gegeben. Ich habe sie nur sogleich leidenschaftlich zu meinem Klärungswerk aufgegriffen. So haben mich Boltzmann, Hertz, Schopenhauer, Frege, Russell, Kraus, Loos, Weininger, Spengler, Sraffa beeinflußt.« (Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe Bd. 8, S. 476.) Nach der Fertigstellung seines Tractatus ließ Wittgenstein Frege eine Abschrift zukommen, worauf dieser am 28.6.1919 u.a. antwortete: »Ich finde sie schwer verständlich. Sie setzen Ihre Sätze nebeneinander meistens ohne sie zu begründen oder wenigstens ohne sie ausführlich genug zu begründen. So weiss ich oft nicht, ob ich zustimmen soll, weil mir der Sinn nicht deutlich genug ist. Aus einer eingehenden Begründung würde auch der Sinn klarer hervorgehen. Der Sprachgebrauch des Lebens ist im Allgemeinen zu schwankend, um ohne Weiteres für schwierigere logische und erkenntnistheoretische Zwecke brauchbar zu sein. Es sind, wie mir scheint, Erläuterungen nötig, um den Sinn schärfer auszuprägen. Sie gebrauchen gleich am Anfange ziemlich viele Wörter, auf deren Sinn offenbar viel ankommt.« (Die Originale der Briefe Freges an Wittgenstein liegen im Brenner-Archiv, sie wurden in den Grazer Philosophischen Studien, Vol. 33/34, 1989, S. 5-33 von Allan Janik und Christian Paul Berger publiziert).--Als Wittgenstein in seinen Bemühungen, sein Werk zu veröffentlichen, sich an Frege wandte, schrieb dieser am 30.9.1919 den »höchst sonderbaren Brief«. Darin machte Frege Wittgenstein den Vorschlag, den Tractatus in Teilen in den Heften der Zeitschrift Beiträge zur Philosophie des Deutschen Idealismus erscheinen zu lassen. (Die Zeitschrift wurde im Auftrag der Deutschen Philosophischen Gesellschaft herausgegeben; Bruno Bauch, Professor der Philosophie in Jena, war Mitbegründer der Deutschen Philosophischen Gesellschaft; der Professor an der pädagogischen Akademie in Erfurt, Arthur Hoffmann, war damals Geschäftsführer der Deutschen Philosophischen Gesellschaft und Herausgeber der Beiträge): »Ich könnte bei Prof. Bauch anfragen, ob er das Mscrpt zu sehen wünsche. Ich glaube aber kaum, dass dies einen Erfolg haben würde. Wenn ich mich nicht verrechnet habe, würde Ihr Mscrpt etwa 50 Seiten der Beiträge füllen, also vielleicht in einem Hefte der Beiträge grade Platz finden. Es scheint mir aussichtslos, dass der Herausgeber ein ganzes Heft einem einzigen, noch dazu unbekannten Schriftsteller einräume. Wenn an eine Veröffentlichung in einer Zeitschrift gedacht werden soll, dürfte eine Zerteilung der Abhandlung nötig sein.« (Grazer Philosophische Studien, Vol. 33/34, 1989, S. 23). Die Veröffentlichung in den Beiträgen zur Philosophie des Deutschen Idealismus ist nicht zustande gekommen. Vgl. dazu Wittgenstein an Ludwig von Ficker, [ca. 7.10.1919]: »Nun wandte ich mich Page Break 256
endlich noch an einen Professor in Deutschland, der den Verleger einer Art philosophischer Zeitschrift kennt. Von diesem erhielt ich die Zusage die Arbeit zu übernehmen, wenn ich sie vom Anfang bis zum Ende verstümmeln, und mit einem Wort eine andere Arbeit daraus machen wollte.« (Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1914-1925. Innsbruck: Haymon 1988, S. 190).
(7) 13.[10].1919 Page 256
Postkarte, Poststempel: Wien, 13.X.19, von Hänsel irrtümlich mit 13.9.19 datiert. Page 256
in der Werkstatt: Drobils Werkstatt befand sich in der Wiedner Hauptstraße im V. Bezirk.
(8) 24.10.1919 Page 256
Brief. Page 256
Janko: nicht ermittelt. Page 256
Urania: Ab Samstag, den 20. Dezember 1919, hielt Hänsel im Klubsaal der Wiener Urania einen Kurs in sechs Vorträgen mit dem Titel Einführung in Kants Kritik der reinen Vernunft: »Der Kurs erstrebt eine Einführung in den Grundgedanken des großen Werkes. Durch die Erklärung der wichtigsten Begriffe soll zunächst ein Ueberblick über die philosophischen Probleme seiner Zeit geboten und zu einer fruchtbringenden Lektüre dieses Grundwerkes moderner Weltanschauungsfragen angeleitet werden. I. Form und Inhalt der Erkenntnis.--II Vorstellung, Begriff, Urteil.--III: Raum und Zeit.--IV. Die ›Kategorien‹.--V. Die Kausalität (Hume-Kant-Schopenhauer).--VI. Die Möglichkeit von Wissenschaft und Metaphysik nach der »Einleitung« und der ersten »Vorrede« des Werkes. (Vgl. Verlautbarungen des Volksbildungshauses Wiener Urania, Nr. 37, 13.12.1919, S. 7). Page 256
Später, vom 7. Februar bis zum 7. Juni 1921, leitete Hänsel an der Wiener Urania eine Arbeitsgemeinschaft über Hume und Kant. Lektüre und Erklärung ausgewählter Stücke. Mittwoch, 6-8 Uhr (vgl. Verlautbarungen des Volksbildungshauses Wiener Urania, Nr. 4, 12.1.1921, S. 4). Vom 10. Oktober 1921 bis zum 10. Februar 1922 leitete Hänsel, jeweils Donnerstags von 6-8 Uhr, eine Arbeitsgemeinschaft über Die Erkenntnis und das Ding an sich. Dabei legte er Wert auf gemeinsames Lesen und Durchdenken ausgewählter Stellen aus Kants Kritik der reinen Vernunft und verlangte Teilnehmerarbeiten (vgl. Verlautbarungen des Volksbildungshauses Wiener Urania, Nr. 30, 10.9.1921, S. 3). Page 256
Dehmel: Von Dienstag, den 2. März 1920, an hielt Hänsel im Kleinen Saal der Wiener Urania drei Vorträge über Richard Dehmel als Erzähler und Dramatiker: »Der kürzlich verstorbene Dichter war vorzüglich als Lyriker bekannt und berühmt. Die Analyse seines dramatischen und epischen Schaffens soll den Ideen- und Motivenkreis aufdecken, der den Dichter bewegt: ›Michel Michael‹ führt in seine politische Welt ein; um die ›Menschenfreunde‹ und den ›Mitmenschen‹ gruppiert sich, verbunden durch die Variationen eines eigentümlichen Gesellschaftsproblems, ein großer Teil seiner Novellen und Verserzählungen; von einigen Kindermärchen aus ergibt sich auch ein Einblick in seine religiösen Stimmungen. Auf diese Weise werden zugleich die Grundlagen seiner Lyrik beleuchtet.--I. ›Michel Michael‹ und das Kriegstagebuch.--II. ›Menschenfreunde‹, ›Mitmensch‹ und Novellen.--III. Die Märchen« (vgl. Verlautbarungen des Volksbildungshauses Wiener Urania, Nr. 8, 21.2.1920, S. 4). Page 256
Drobil: Mutter und Kind (vgl. Reproduktion in Nedo, S. 215). Page 256
in der neuen Umgebung: Gemeint ist Wittgensteins Umzug zu Frau Hermine Sjögren, XIII. Bezirk, St. Veitgasse 17.
(9) [nach dem 24.10.1919] Page 256
Brief, undatiert. Von Hänsel nachträglich mit »Herbst 1919« datiert. Page 256
Heft des Brenner: Es handelte sich dabei um das erste nach dem Krieg erschienene Heft der Zeitschrift Der Brenner (hrsg. von Ludwig von Ficker), 6. Folge, Ende Oktober Page Break 257
1919, mit folgendem Inhalt: Ludwig Ficker: Vorwort zum Wiederbeginn; Der Sonnengesang des hl. Franziskus (in freier Uebertragung des Franz Brentano); Carl Dallago: Weltkrieg und Zivilisation; Anton Santer: Stationen (Türkei 1918); Ferdinand Ebner: Fragment über Weininger; Sören Kierkegaard: Eine Möglichkeit; Lorenz Luguber (Ps. für Ludwig Ficker): Rückblick auf Galizien; Erik Peterson: Der Himmel des Garnisonspfarrers; Kanso Utschimura: Wahre und falsche Propheten; Theodor Haecker: Ausblick in die Zeit. Page 257
Ludwig von Ficker hatte am 4.10.1919 wieder den brieflichen Kontakt zu Wittgenstein aufgenommen. Auf Anregung Fickers schickte Wittgenstein ihm Ende Oktober ein Manuskript des Tractatus, das im Brenner veröffentlicht werden sollte (Vgl. Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1914-1925. Briefe Nr. 462, 463, 466 und 468). Ficker befand sich zu dieser Zeit in großen finanziellen Schwierigkeiten und bat daher Rainer Maria Rilke, in Deutschland einen geeigneten Verlag ausfindig zu machen: »Er [Wittgenstein] hat mir eine ›Logisch-Philosophische
Abhandlung‹, die ich bedeutend finde--einen Extrakt letzter Erkenntnisse, fußend auf den Forschungen seines Freundes, des englischen Philosophen Bertrand Russell--mit dem Ersuchen gesendet, sie wenn irgend möglich (sie umfaßt im Manuskript kaum sechzig Seiten) in meinem Verlag zu publizieren. Nun sind aber der Bewegungsfreiheit meines Unternehmens äußerlich so enge und innerlich so bestimmte Grenzen gezogen, daß ich bei aller persönlichen Bereitschaft, jede andere Erwägung in diesem Falle hinter die rein menschliche zurückzustellen, unter den gegenwärtigen, so drückenden Verhältnissen das Risiko nicht werde auf mich nehmen können.« (Ficker an Rainer Maria Rilke, 2.11.1919, Briefwechsel 1914-1925, Nr. 469). Am 16.1.1920 mußte Ficker endgültig absagen: »Mit oder ohne Russell: Die Drucklegung Ihrer Abhandlung ist unter den gegenwärtigen Verhältnissen ein Wagnis, das in Österreich heute kein Verleger auf sich nehmen kann. Am wenigsten ich, der ich mir schon mit meiner Zeitschrift keinen Rath mehr weiß.« (Ficker: Briefwechsel 1914-1925, Nr. 493).
(10) 3.11.1919 Page 257
Brief.
(11) [Ende 1919/Anfang 1920 ?] Page 257
Visitenkarte mit dem versal aufgedruckten Namen »Hermine Wittgenstein«. Beiliegend ein Kuvert, adressiert an »Herrn Professor Henselt«. Das Kuvert ist auf der Rückseite von Hänsel mit »Winter 20/21« datiert. Aufgrund der nachfolgenden Briefe muß diese--möglicherweise erste--Kontaktnahme wohl schon Ende 1919 oder Anfang 1920 stattgefunden haben.
(12) 16.1.1920 Page 257
Brief. Page 257
ob ich hier bleiben oder wegziehen soll: bezieht sich auf Wittgensteins Aufenthalt bei Frau Hermine (Mima) Sjögren in der St. Veitgasse 17 im XIII. Wiener Bezirk. Mima Sjögren (geb. Bacher, 1871-1965) war die Witwe eines schwedischen Ingenieurs, der als Direktor an einem von Karl Wittgensteins Walzwerken tätig gewesen war. Mima war mit Ludwigs Schwestern befreundet und Ludwig selbst mit Arvid, dem Ältesten ihrer drei Söhne. Wittgenstein wohnte bei Frau Sjögren von Ende Oktober 1919 bis zum März 1920. Vgl. Mima Sjögren an Wittgenstein, 23.3.1920 (Abschrift im Brenner-Archiv): »Ludwig mußte denn das sein ging es nicht anders? Warum mußten Sie fort von uns, die wir Sie so lieb haben. Sie, der doch immer sagt, alles kann man leichter entbehren als Liebe. [...] Wars wegen Arvid? Aber selbst da, wenn Sie nicht mehr das in ihm fanden, was Sie früher hofften, hätten Sie doch bleiben können. Ich denke und denke und verstehe es nicht, weiß nur, daß es furchtbar traurig ist. Wenn Sie wenigstens durch die Trennung glücklicher würden, dann wäre ich zufrieden, wenns auch schwer fiele. Aber Ludwig ich fürchte Sie quälen sich umsonst. Wie gerne würde ich Ihnen helfen alles für Sie tun nur froh sollen Sie sein. Ich mache mir solche Vorwürfe daß ich Sonntag wie ich Ihnen adieu sagte mich durch Ihr abwesendes ›o nichts ist mir‹ Page Break 258
abweisen ließ, daß ich nicht noch eindringlicher zu Ihnen gesprochen; ich bin überzeugt, Sie wären von Ihrem Vorsatz abgekommen, aber ich wollte Ihnen nicht wieder lästig fallen und ging weg, aber mit einem schweren Gefühl noch auf d. Straße wäre ich am liebsten umgekehrt. Wie denken Sie denn weiter sichs einzurichten? Bleiben Sie bei Hänsels oder nehmen Sie wieder ein Zimmer?.« Kurz danach ist Wittgenstein wieder umgezogen; vgl. Wittgenstein an Russell, 9.4.1920, und Wittgenstein an Engelmann, 24.4.1920: »Meine Adresse ist jetzt: III. Rasumofskygasse 24 (bei Herrn Zimmermann). Dieser Wohnungswechsel war von Operationen begleitet, an die ich nur zu denken brauche, damit es mir schwummerlich wird.« (Briefe, S. 109f.)
(13) 17.1.1920 Page 258
Brief. Page 258
die Kantvorträge: Es handelte sich um Hänsels Vorträge zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Page 258
Faustvorträgen: nicht ermittelt.
Page 258
Frau: Anna Hänsel, geb. Sandner: Geb. 20.7.1887, Dürrnberg bei Hallein; gest. 7.9.1976, Wien. Anna Sandner besuchte in Vöcklabruck als interne Schülerin das Pädagogium, damals bereits eine Schule der Schulschwestern von Hallein. Anschließend war sie Lehrerin in Wals im Flachgau, bis sie am 6.9.1913 Ludwig Hänsel heiratete. Laut Auskunft ihrer Enkelin Elisabeth Windischer war sie eine sehr gütige Frau, die nie etwas Negatives über andere sagte, und im Gegensatz zu ihrem eher schweigsamen Mann war sie lebhaft und gesprächig. Page 258
Laokoon-Aufsatz: Ludwig Hänsel verfaßte zu Gotthold Ephraim Lessings kunstphilosophischer Studie Laokoon: oder Über die Grenzen der Mahlerey und Poesie. Mit beyläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte (erschienen im Jahre 1766) einen Aufsatz mit dem Titel Zur Komposition des »Laokoon«, der in der Zeitschrift für Österreichische Gymnasien, Jg. 66, 1915, H. 6 u. H. 7, S. 481-506, 577-589 erschienen ist.
(14) [11.2.1920] Page 258
Postkarte.
(15) [20.2.1920] Page 258
Postkarte. Nicht kollationierte Abschrift im Brenner-Archiv; das Original ist derzeit unauffindbar. Das Datum stammt möglicherweise vom Poststempel. Page 258
Auf der Rückseite hat Wittgenstein folgendes notiert: Page 258
»1) Wie viel Stunden hat die Woche Page 258
2) Wie viele Schulstunden habt ihr in M. Page 258
3) Das Jahr hat 4 M à 30 T, 7 M à 31 T. Page 258
4) Wieviele Minuten müßt Ihr täglich ruhig sitzen Page 258
5) Das Jahr hat 52 Wochen Page 258
6) Wieviele Min. 9 Stunden Page 258
8) Ein erwachsener Mensch hat 75 Pulssch pro Min wieviel in 3 Min, 5 Min. Page 258
9) Bei Fieber 84-96 Page 258
19 x 7,9«
(16) [2.3.1920] Page 258
Postkarte. Page Break 259
(17) 5.3.1920 Page 259
Brief. Page 259
Direktor Dr. Latzke: Regierungsrat Dr. Latzke war Direktor der Lehrerbildungsanstalt, als Wittgenstein diese besuchte. Daß der Kontakt auch nach seiner Ausbildung noch anhielt, bezeugt ein Brief vom 23.12.1924 von Dr. Latzke an Wittgenstein, mit dem er diesem ein »Büchlein von Bauernfeld« schickt. Als Wittgenstein sein
Wörterbuch für Volksschulen herauszugeben beabsichtigte, wandte er sich an Dr. Latzke, der sich daraufhin mit dem Verlag Hölder-Pichler-Tempsky in Verbindung setzte. (Vgl. Wörterbuch für Volksschulen, S. IX). Page 259
Dostojewski-Aufsatz des Brenners: Es handelte sich dabei um den Aufsatz Über persönliche Vervollkommnung im religiösen Geiste (Der Brenner, 6. Folge, H. 2, Dezember 1919, S. 122-132). Dostojewski hatte diesen Aufsatz im Jahre 1880, kurz vor seinem Tode, als Entgegnung auf Einwendungen eines Herrn Gradowsky gegen seine berühmte Puschkin-Gedächtnisrede geschrieben. Page 259
das mittlere der drei Kinder: Maria (Mareile) Dal Bianco geb. Hänsel: Geb. 9.12.1915, Wien; gest. 18.3.1993, Hainburg an der Donau. 1935 Matura an der Lehrerbildungsanstalt in Wien, Döbling. Ab 1935 Lehrerin an der Volksschule der Theresianischen Akademie in Wien. 1939 Strafversetzung nach Polen (Generalgouvernement). 1943 Heirat mit Dozent Dr. med. Peter Dal Bianco, Wien, mit dem sie 7 Kinder (5 Mädchen und 2 Buben) hatte. Nach dem Tod des Gatten (27.6.1974) bat Maria 1976 um Aufnahme in die Benediktinerinnen-Abtei des Klosters Nonnberg in Salzburg und erhielt dort am 8.12.1977 die hl. Monica zur Namenspatronin für den weiteren klösterlichen Weg. Am 13.12.1981 Ablegung der ewigen Gelübde und Empfang der Witwenweihe. Maria war künstlerisch sehr begabt: sie zeichnete und malte von Kindheit an und fertigte später Tonarbeiten an, auch in der Keramikwerkstätte des Klosters. Ihren Glauben sah sie als das »Erbe des von tiefer Religiosität geformten Elternhauses«, der »nach strengen christlichen Grundsätzen empfangenen Erziehung, vor allem seitens des Vaters«, und die sie rückschauend als »benediktinisch geprägt« nannte. Nicht unwesentlich war wohl auch der Einfluß von Pater Bruno Spitzel OSB, des Studienkollegen ihres Vaters und Freundes der Familie. (Vgl. Nachruf der Äbtissin und des Konvents der Abtei Nonnberg anläßlich des Todes von Frau Maria Monica Dal Bianco geb. Hänsel OSB am 18.3.1993). Page 259
der Bub: Hermann Hänsel: Geb. 13.1.1918, Wien; lebt in Wien. 1935 Matura am Realgymnasium der Theresianischen Akademie, 1935-1937 Studium der Fächer Deutsch und Französisch an der Universität Wien, 1937-1940 Studium der Landwirtschaft an der Hochschule für Bodenkultur in Wien. 1940-1946 Deutsche Wehrmacht und Gefangenschaft. 1946 Fortsetzung des Studiums an der Hochschule für Bodenkultur, Wiss. Hilfskraft am Institut für Pflanzenbau und Pflanzenzüchtung der Hochschule für Bodenkultur. 1946 Dipl. Ing. (Landwirtschaft). 1948 Doktorat (Pflanzenzüchtung). 1949 Stipendium der FAO, Landw. Universität in Wageningen (Holland). 1949-1950 Stipendium des British Council, Univ. Cambridge (Master of Arts). 1951 Heirat mit Dr. Ingrid Hänsel (geb. Hacker). 1951-1988 Wiss. Leiter und Getreidezüchter an der Probstdorfer Saatzucht, GmbH. Nachf. Einzelfirma. 1954: Habilitation, Lehrbefugnis für »Allgemeine und spezielle Pflanzenzüchtung«; ab 1955 1-stündige Vorlesungen über verschiedene Gebiete der Pflanzenzüchtung, insbesondere der Getreidezüchtung, Mutationszüchtung und Resistenzzüchtung. 1962 tit. a.o. Universitätsprofessor. 1970 Ruf an die Georg-August-Universität Göttingen (nicht gefolgt). Ab 1989 Consulent. Gastvorlesungen und Gastvorträge an zahlreichen in- und ausländischen Universitäten. Über 100 wissenschaftliche Veröffentlichungen. Mitglied des Advisory Board of the Genetic Division, FAO-IAEA. Vorstandsmitglied der Europäischen Gesellschaft für Züchtungsforschung. Obmann der Arbeitsgemeinschaft für Züchtungsforschung, Wien. Mitherausgeber von Plant Breeding, Zeitschrift für Pflanzenzüchtung, Berlin-Hamburg. 1977 Österreichisches Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst, 1.Kl. Page 259
die Ältere: Anna Krenn-Hänsel: Geb. 1914, Salzburg; gest. 1947 (Autounfall). 1932 Matura am Gymnasium St. Ursula in Wien. 1939 Promotion zum Dr. med. an der Universität Wien. 1940 Heirat mit Dr. med. Leo Krenn, Primarius in Amstetten. Aus der Ehe gingen 4 Page Break 260 Page 260
Kinder hervor. Noch 1947--kurz vor ihrem Tode--kam es am Bahnhof in Innsbruck zu einem Treffen mit Ludwig Wittgenstein, der den Kindern Hänsels zeitlebens herzlich zugetan war. Page 260
holländ. Jause: In der Nachkriegszeit war die Nahrungsmittelversorgung in Wien sehr schlecht. Lebensmittel erhielt man nur mit Lebensmittelkarten, Frischmilch gab es z.B. nur für Säuglinge und Kranke, viele Kinder litten an Unterernährung. Mehrere ausländische Staaten--darunter auch Holland--starteten Hilfsaktionen, um die Notlage zu lindern. Es wurden öffentliche Ausspeisungen und Erholungsurlaube für Kinder organisiert.
(18) 16.3.1920
Page 260
Postkarte. Page 260
16. 3. 20: Der Poststempel lautet jedoch auf den 15.111.20.
(19) [April 1920 ?] Page 260
Brief, von Hänsel mit »Winter 1919/20« datiert. Page 260
Ludwig bei sich aufgenommen: Nach dem Weggang von der Familie Sjögren wohnte Wittgenstein kurzfristig bei Hänsels, bis er dann Anfang April zu Herrn Zimmermann in die Rasumofskygasse übersiedelte.
(20) 26.4.1920 Page 260
Brief. Page 260
eine mir bekannte Dame: Helene Lecher, geborene von Rosthorn: Geb. 20.8.1865, Wien; gest. 2.10.1929, Wien. Gattin des Physikers Ernst Lecher (Geb. 1.6.1856, Wien; gest. 19.7.1926, Wien). Frau Lecher leitete eine »Verpflegsstation für schwache Kinder« in Grinzing. Bei seinen Lehrausflügen nach Wien hat Wittgenstein seine Schüler mehrmals in diesem Heim untergebracht. Dies ist durch 4 Briefe Helene Lechers an Wittgenstein aus den Jahren 1921/22 (Originale im Brenner-Archiv) belegt.
(21) [Frühjahr 1920 ?] Page 260
Brief, undatiert, von Hänsel nachträglich mit »1920« datiert. Geschrieben auf einem Formular mit den vorgedruckten Worten: »Betreff«, »DIENSTZETTEL«, »Wien, am«, »An«, »Unterschrift«. Wenn man sich auf Hänsels Datierung verläßt, so müßte dieser Brief noch während Wittgensteins LBA-Zeit--also vor dem Sommer 1920--entstanden sein. Page 260
philos. Ges.: Der Verein »Philosophische Gesellschaft an der Universität zu Wien« wurde 1888 von den Mitgliedern des »Brentano-Kreises« gegründet. Der erste Obmann war Alois Höfler, sein Nachfolger wurde Friedrich Jodl (1903-1912), 1913-1922 übernahm wieder Alois Höfler den Vorsitz; Robert Reininger, der nach dem Tode Alois Höflers zum Obmann gewählt wurde und bis 1939 die »Philosophische Gesellschaft« leitete, rief nach dem Zweiten Weltkrieg die Gesellschaft neuerlich ins Leben; sie besteht heute noch. Hannelore Rodlauer weist in dem Buch Otto Weiniger: Eros und Psyche. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1990, S. 17-51, auf die große Bedeutung der »Philosophischen Gesellschaft« für Weiningers Bildungsweg hin. Der Verein veranstaltete regelmäßig Vorträge und Diskussionen, die in einem jährlichen Bericht der Philosophischen Gesellschaft an der Universität zu Wien verzeichnet wurden. Bis 1918 sind diese Berichte regelmäßig erschienen, dann klafft--aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Situation--eine Lücke bis zum Jg. 1926/27, von wo an sie unter dem Titel Wissenschaftlicher Jahresbericht der philosophischen Gesellschaft an der Universität zu Wien bis zum Jg. 1934/35 wieder regelmäßig erschienen sind. Die Festschrift 50 Jahre Philosophische Gesellschaft an der Universität Wien 1888-1938 (hrsg. von Robert Reininger. Wien 1938) verzeichnet allerdings auch die Veranstaltungen der frühen 20er Jahre. Im Vereinsjahr 1919/20 fanden folgende Veranstaltungen statt: Page Break 261
3.11.1919: Jahreshauptversammlung im Hörsaal 50 der Philosophischen Fakultät. Anschließend hielt Dr. Robert Neumann einen Vortrag über Vogelgesang und Musik, der am 10.11. fortgesetzt wurde. 8.3.1920: Rechtsanwalt Dr. Anton Wesselsky: Das autonome Maß und Ziel des Menschen (Gedankengänge zu einer Philosophie der Tat). 10.3.1920: Besprechung über die Frage: Ist Schopenhauers Wille ohne Intellekt psychologisch und logisch möglich? 11.5.1920: Univ.-Prof. Dr. Artur Haas (Leipzig): Die Sphärenharmonie des Atoms. 14.5.1920: Dr. Otto Neurath: Spenglers Kulturbegriff. 15.5.1920: Dr. Theodor Weindl: Der reine (radikale) Dualismus in seiner historischen Entwicklung und aktuellen Bedeutung. 11.6.1920: Besprechung über Kultur und Zivilisation. (Im Anschluß an den Vortrag vom 14. Mai 1920). 18.6.1920: Univ.-Prof. Dr. M. Sternberg: Die Bedeutung der scholastischen Philosophie für unser heutiges medizinisches Denken. 25.6.1920: Dr. Ernst Müller: Die Unendlichkeitsbegriffe der neueren Mathematik. Ob und welche Veranstaltungen Wittgenstein besucht hat, konnte
nicht ermittelt werden.
(22) [Juli 1920] Page 261
Postkarte. Von Hänsel mit »Juli 20« datiert. Page 261
Klosterneuburg: Wittgenstein arbeitete von Ende Juli bis ca. 23. August als Gärntnergehilfe im Stift Klosterneuburg bei Wien. Vgl. seinen Brief vom 19. Juli 1920 an Paul Engelmann: »Ich sehnte mich nach irgend einer regelmäßigen Arbeit, welche--wenn ich mich nicht irre--für meinen gegenwärtigen Zustand noch das Erträglichste ist. Eine solche Arbeit scheine ich gefunden zu haben: Ich bin als Gärtnergehilfe im Stift Klosterneuburg für die Zeit meiner Ferien aufgenommen. (Wie es mir da gehen wird, wird sich zeigen).« (Briefe, S. 114). In einem weiteren Brief an Engelmann vom [20.8.1920] schreibt er: »in 3 Tagen ziehe ich wieder nach Wien und warte auf Anstellung. Die Gartenarbeit war gewiß das Vernünftigste, was ich in den Ferien habe machen können. Wenn die Arbeit am Abend getan ist, so bin ich müde und fühle mich dann nicht unglücklich. Freilich graut mir etwas vor meinem künftigen Leben. Es müßte mit allen Teufeln zugehen, wenn es nicht sehr traurig ja unmöglich wird.« (Briefe, S. 115).
(23) 3.8.1920 Page 261
Brief. Page 261
Unsere Angelegenheit: nicht ermittelt. Page 261
Porträt: Wann Drobil die Wittgenstein-Büste angefertigt hat, konnte nicht ermittelt werden (vgl. Abbildung der Büste in Nedo, S. 215).
(24) 7.8.1920 Page 261
Brief. Page 261
heutigen Ausgabe: Wahrscheinlich handelte es sich um die Fürsorgezettel, die die Geschäftsstelle »Kinder ins Ausland« des staatlichen Volksgesundheitsamtes verteilte. Nach einer ärztlichen Untersuchung und nach Maßgabe der sozialen Bedürftigkeit wurde ein Kinder-Kataster erstellt, der den ausländischen Kinderhilfsorganisationen vorgelegt wurde. Diese entschieden dann, welche Kinder für ihre jeweiligen Aktionen (Ausspeisungen, Erholungsurlaub usw.) in Frage kämen. Page 261
Zegani: nicht ermittelt.
(25) 10.8.[1920] Page 261
Brief, von Wittgenstein mit »Ich glaube der 10.8.« datiert, darunter in Hänsels Schrift »1920«. Page 261
Zettel aus der Hofbibliothek: Die Hofbibliothek wurde Mitte August 1920 in »Nationalbibliothek« umbenannt (vgl. Wiener Zeitung, 18.8.1920). Der Zettel und sein Bezug auf Wundt konnte nicht ermittelt werden. Page Break 262 Page 262
Wittgensteins Schreibung des Namens ist nicht korrekt. Es handelt sich um den deutschen Experimentalpsychologen und Philosophen Wilhelm Wundt: Geb. 16.8.1832, Neckarau; gest. 31.8.1920, Großbothen bei Leipzig. 1851-56 Studium der Medizin in Tübingen, Heidelberg und Berlin. 1857 Habilitation für Physiologie in Heidelberg, dort seit 1864 a.o. Professor. Experimentelle physiologische Arbeiten führten Wundt zur Psychologie. 1874 Professor für induktive Philosophie in Zürich, als Nachfolger von Friedrich Albert Lange. 1875 Prof. der Philosophie in Leipzig, wo er das erste Institut für experimentelle Psychologie gründete. Werke u.a.: Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung, 1862; Logik, 2 Bde., 1880-1883 (5. Aufl., 1920f.);
Völkerpsychologie, 2 Bde., 1904 (3. Aufl., 10 Bde., 1911-1920); Erlebtes und Erkanntes (Autobiographie), 1920; Hrsg. der Philosophischen Studien, 20 Bde., 1883-1902 und der Psychologischen Studien, 7 Bde., 1906-1917. Page 262
Die psychologischen Theorien Wilhelm Wundts (»Elementenpsychologie«) sind in gewisser Hinsicht mit denen Ernst Machs verwandt und waren in den Zwanzigerjahren äußerst populär (vor allem Wundts vielbändige Völkerpsychologie): Welches Werk Wundts Wittgenstein in seinem Brief meinte, läßt sich nicht ermitteln. Mit einiger Wahrscheinlichkeit aber dürfte es sich um ein psychologie-propädeutisches Kompendium gehandelt haben, vielleicht um Wundts diesbezügliches Hauptwerk Grundriß der Psychologie (Leipzig 1896, das 1922 schon in 15. Aufl. erschien). Page 262
der Zeitungsausschnitt: bezieht sich auf den Artikel Eine Schule der Weisheit, der im Abendblatt der Neuen Freien Presse vom 6.8.1920 erschienen ist. Darin heißt es u.a.: »Graf Hermann Keyserling, der Verfasser des ›Reisetagebuch eines Philosophen‹, zeigt in seiner neuen Schrift ›Was uns not tut--Was ich will‹ wie Weisheit, nicht Wissen allein uns retten kann und fordert als gleichwertig neben Kirche und Universität eine Heimstätte für die Weisheit. Die Bedeutung dieses Gedankens und die dringende Notwendigkeit seiner Verwirklichung ist sofort erkannt worden: Die Freunde der Keyserlingschen Philosophie haben sich in der Gesellschaft für freie Philosophie zusammengeschlossen, um die Forderung des Grafen Keyserling in die Tat umzusetzen. Der Großherzog Ernst Ludwig von Hessen hat durch eine namhafte Stiftung und indem er die erforderlichen Räume zur Verfügung stellte, die erste Grundlage geschaffen, die sich durch weitere Stiftungen schon so weit gefestigt hat, daß das Unternehmen auch wirtschaftlich gesichert ist. Graf Keyserling ist somit in der Lage, in der von ihm erschaffenen und geleiteten Schule der Weisheit eine freie Lehrtätigkeit zu entfalten und der Verwirklichung seines Zieles zu leben: der Wiederverknüpfung von Geist und Seele, der wechselseitigen Durchdringung von Lebensinhalt und Lebensform, der Verbreitung weltmännischer Erziehung in Deutschland. Die Schule der Weisheit wird aber kein festumschriebenes Lehrprogramm aufstellen, denn sie ist nicht auf ein ›Können‹, sondern auf das ›Sein‹ eingestellt. Der menschlichen Vollendung als solcher will sie dienen. Da das ernsteste Problem unserer Zeit die Erziehung der Erzieher ist, so sollen wertvolle Persönlichkeiten mit Führereigenschaften eingeladen werden, für einige Zeit in unmittelbarem Gedankenaustausch mit dem Grafen Keyserling zu leben.« Page 262
Dein Freund: nicht ermittelt.
(26) 30.8.1920 Page 262
Brief mit Beilage: Nikolaus de Cusa: Dialogus de deo abscondito. Page 262
Stiftsbibliothek: Es handelt sich um die Bibliothek des Erzstiftes St. Peter (OSB) in Salzburg, deren Lesesaal zu Hänsels Zeiten frei zugänglich war. Laut Auskunft des Bibliothekars der Erzabtei handelt es sich mit größter Wahrscheinlichkeit um den Folianten mit der alten Signatur 79 C 5, der in 5mm dicken Holzdeckeln eingebunden ist. Dieser enthält den Dialog in der Ausgabe eines Frühdruckes, Paris: Ascensiana 1514, die Abhandlungen De transmutationibus geometricis und De mathematicis complementis, die astronomischen Arbeiten Reparatio Calendarii, Correctio Tabularum Alphonsi und die Epistolae ad Bohemos (die Cusanus in seiner Funktion als päpstlicher Legat an die hussitischen Böhmen schrieb). Page 262
Der Dialog De deo abscondito ist Bestandteil eines dreiteiligen philosophischen Sammelwerkes von Nikolaus von Kues (enstanden ca. 1444/1445) (Die beiden anderen Abhandlungen, Page Break 263
ebenfalls zur Gottesproblematik, in diesem dreiteiligen Werk sind: De quaerendo deum und De filiatione dei). Page 263
Die von Ludwig Hänsel verfertigte Abschrift des Dialogs ist nicht vollständig, sie enthält Unterstreichungen und Markierungen durch Wellenlinien, die laut Auskunft von Hermann Hänsel mit großer Wahrscheinlichkeit von seinem Vater stammen. Page 263
Die von Hänsel verfaßte Abschrift des Textes weist einige Besonderheiten auf: Hänsel hielt sich nicht an die in der Vorlage wiedergegebenen spätmittelalterlichen Abbreviaturen, sondern vervollständigte die jeweiligen Kasus-Endungen und lateinischen Konjunktionen, weiters wurden von ihm im Text auftretende Sprachfehler berichtigt, in mehreren Fällen hielt sich Hänsel nicht an die Originalschreibweise von lateinischen Wörtern, auch einige Flüchtigkeitsfehler Hänsels sind im Text vorhanden (jedoch nur sehr geringfügige, so daß auf eine gesonderte
Anführung derselben verzichtet wurde). Page 263
Übersetzung des lateinischen Textes (die von Ludwig Hänsel aus der Vorlage gestrichenen Textstellen werden durch eckige Klammern gekennzeichnet): Page 263
Heide: Ich sehe dich in größter Hingabe ausgestreckt Tränen der Liebe vergießend, die keineswegs unecht, sondern herzlich sind. Ich frage dich: Wer bist du? Page 263
Christ: Ich bin ein Christ. Page 263
Heide: Was verehrst du? Page 263
Christ: Gott. Page 263
Heide: Wer ist der Gott, den du verehrst? Page 263
Christ: Ich weiß es nicht. Page 263
Heide: Wie kannst du das ernsthaft anbeten, was du nicht kennst? Page 263
Christ: Weil ich es nicht kenne, deshalb bete ich es an. Page 263
Heide: Merkwürdig, ich sehe einen Menschen sich einer Sache hingeben, die er nicht kennt. Page 263
Christ: Es ist viel merkwürdiger, wenn er sich einer Sache verschriebe, die er zu kennen glaubt. Page 263
Heide: Warum das? Page 263
Christ: Weil er dasjenige, von dem er glaubt, er kenne es, weit weniger gut weiß als dasjenige, von dem er ohnehin weiß, daß er es nicht kennt. Page 263
Heide: Verschaffe mir Klarheit darüber! Page 263
Christ: Wer auch immer glaubt, daß er etwas wisse, wo wir doch nichts wissen können, der scheint mir verrückt zu sein. Page 263
Heide: Mir scheint vielmehr, du hast den Verstand verloren, wenn du behauptest, daß man nichts wissen könne! Page 263
Christ: Ich verstehe unter Wissen das Begreifen der Wahrheit. Derjenige, der sagt, daß er wisse, der sagt damit in einem, daß er damit die Wahrheit begriffen hätte. Page 263
Heide: Dasselbe glaube ich auch. Page 263
Christ: Wie also kann man die Wahrheit begreifen, wenn nicht durch diese selbst? Sie wird nicht erst dann erfaßt, wenn der Verstehende früher ist als das zu Verstehende. Page 263
[Heide: Ich verstehe nicht, daß die Wahrheit nicht anders als durch sich selbst begriffen werden kann? Page 263
Christ: Glaubst du etwa, daß sie auf andere Art und anderswo erfaßbar sein könnte? Page 263
Heide: Ja das glaube ich! Page 263
Christ: Du irrst offensichtlich!] Denn außerhalb der Wahrheit gibt es keine Wahrheit, so wie es außerhalb der Rundheit keinen Kreis gibt und so wie es außerhalb der Menschheit keinen Menschen gibt. [Wir können also außerhalb der Wahrheit die Wahrheit nicht finden, nicht anderswie noch anderswo. Page 263
Heide: Wie ist mir also bekannt, was ein Mensch, was ein Stein ist, und was jedes einzelne Andere ist, das ich aus der Erfahrung kenne? Page 263
Christ: Du kennst nichts von all dem, sondern du glaubst vielmehr all das zu kennen. Wenn ich dich nämlich über die Beschaffenheit (quidditas) jener Dinge befragte (was du von ihnen zu wissen glaubst)], dann wirst du mir bestätigen, daß du eigentlich nichts über jene Wahrheit Page Break 264
des Menschen bzw. des Steines aussagen kannst. Jedoch weißt du, daß der Mensch nicht der Stein ist und dies geht für dich nicht aus dem Wissen hervor, daß du den Menschen sowie den Stein, sowie deren unterschiedliche Beschaffenheit kennst, sondern vielmehr aus der Zufälligkeit, aus der Verschiedenheit der Handlungsweisen und der äußeren (figuralen) Beschaffenheit. Solange du also diese unterscheidest, wirst du ihnen auch verschiedene Namen beilegen. Es gibt nämlich eine unterscheidende Bewegung (im Sinne von aktiver Tätigkeit /Die Übers.) im Verstand, diese führt zu den verschiedenartigen Namen. Page 264
Heide: Gibt es nun eine oder mehrere Wahrheiten? Page 264
Christ: Es gibt nur eine, denn es gibt nur eine Einheit und Wahrheit und Einheit fallen zusammen, zumal wahr ist, daß die Einheit eine sei. Wie also in der Zahl nichts anderes als die Einheit zu finden ist, so auch in der Vielheit nur die eine Wahrheit. [Und wer von dort nicht die Einheit erreicht (attingit), der wird nie die Zahl kennen und wer die Wahrheit nicht in der Einheit erfaßt, der wird nie wahrhaftig wissen können.] Und obwohl jener glaubt, das wahrhaftig zu wissen, was er zu wissen vermeint, kann man doch in Erfahrung bringen, daß man dieses noch besser wissen kann. [Das Sichtbare kann nämlich noch wahrer gesehen werden, als du es augenblicklich sehen magst; schärfere Augen würden es noch genauer sehen. Du kannst es also nicht so sehen, wie es in Wahrheit sichtbar ist. Page 264
Dasselbe gilt für das Gehör und die übrigen Sinnesorgane]. Wenn nun alles, was gewußt werden kann, nicht in jenem Wissen gewußt wird, in dem es gewußt werden könnte, dann wird es nicht in Wahrheit gewußt, sondern auf andere Art und anderswo. Anders aber und auf andere Art und anderswo als dort, wo die Wahrheit selbst angetroffen wird, kann diese nicht erkannt werden. [Derjenige ist nun verrückt, der sich in irgendeiner Weise im Besitze der Wahrheit wähnt und diese andererseits nicht kennt]. Würde man nicht jenen Blinden für verrückt halten, der von sich behauptet, er kenne die Unterschiede in den Farben, wo er doch die Farbe selbst gar nicht kennt. Page 264
Heide: Wer also von den Menschen kann als wissend bezeichnet werden, wo doch nichts gewußt werden kann? Page 264
Christ: Derjenige kann als wissend bezeichnet werden, der sich selbst als nichtwissend weiß und der verehrt die Wahrheit, der weiß, daß man ohne sie nichts erfassen kann, was die Existenz, das Leben und die Einsicht betrifft. Page 264
Heide: Das ist es wahrscheinlich, was dich zur Verehrung veranlaßte, das Verlangen nämlich, in der Wahrheit zu sein? Page 264
Christ: Genauso ist es, wie du sagst. Ich verehre nämlich Gott, nicht jenen jedoch, den dein Heidentum in falscher Weise zu kennen glaubt und mit Namen nennt, sondern jenen Gott, der selbst eine unsagbare Wahrheit ist. Page 264
[Heide: Ich frage dich, Bruder, wenn du jenen Gott, der die Wahrheit ist, verehrst und wir nicht jenen Gott verehren wollen, der nicht der wahre Gott ist: Was unterscheidet uns von euch? Page 264
Christ: Es gibt vieles. Doch liegt der größte und wesentlichste Unterschied darin, daß wir ja die absolute Wahrheit selbst, die unvermischte, ewige und unaussprechliche verehren; ihr aber verehrt sie nicht um ihrer selbst willen, sondern so wie sie in ihren Werken gegenwärtig ist: also nicht die absolute Einheit, sondern eben die Einheit in der Zahl und Menge. Ihr irrt euch], weil die Wahrheit (die Gott ist) ja einem anderen nicht mitteilbar ist. Page 264
[Heide: Ich bitte dich, Bruder, mich dorthin zu führen, damit ich begreifen kann, wie du deinen Gott auffassest! Antworte mir, was weißt du über den Gott, den du anbetest?] Page 264
Christ: Ich weiß, daß alles das, was ich weiß, nicht Gott ist und daß alles, was ich in Begriffe fassen kann,
ihm nicht ähnlich ist, denn er übertrifft das alles. Page 264
Heide: Also ist Gott nichts? Page 264
Christ: Er ist nicht nichts, da selbst das Nichts als Namen für »Nichts« steht. Page 264
Heide: Wenn er nun nicht nichts ist, dann ist er ja etwas! Page 264
Christ: Nein, er ist nicht irgendetwas, denn das »Irgendetwas« unterscheidet sich von »Alles«, aber Gott ist genausowenig »Irgendetwas« wie er »Alles« ist. Page 264
Heide: Merkwürdiges behauptest du! Jener Gott, den du anbetest, sei nicht »nichts« und andererseits aber auch nicht »etwas«. Das kann kein Verstand begreifen. Page Break 265 Page 265
Christ: Gott steht über dem Nichts und Etwas, da ihm das Nichts selbst gehorcht, auf daß Etwas werde. Und es ist seine Allmacht, in der er alles, was ist und nicht ist, überragt, so daß ihm alles, was ist und nicht ist, gehorcht. Er macht es nämlich, daß das Nicht-Sein ins Sein und das Sein ins Nicht-Sein übergeht. Er ist daher nichts von diesen Dingen, die ihm unterstehen und denen seine Allmacht vorausgeht. Da nun alles von ihm herkommt, kann er weder als das »Eine« noch als das »Andere« bezeichnet werden. Page 265
Heide: Er kann also nicht genannt werden? Page 265
Christ: Klein ist, was genannt wird, seine Größe aber kann niemand begreifen, er bleibt daher unaussprechbar. Page 265
Heide: Er ist also unsagbar? Page 265
Christ: Er ist nicht unsagbar, sondern vielmehr über alles hinaus sagbar, denn er ist ja der Urgrund aller benennbaren Dinge, also der, der dem »Anderen« seinen Namen gibt. Wieso sollte er dann selbst ohne Namen sein? Page 265
Heide: Er ist also sagbar und unsagbar? Page 265
Christ: Auch das nicht. Denn Gott ist nicht die Wurzel des Widerspruchs, sondern vielmehr die Einfachheit vor allen Wurzeln. Von daher ist er weder aussprechbar noch unaussprechbar. Page 265
Heide: Was also willst du dann über ihn aussagen? Page 265
Christ: Er kann weder benannt noch nicht benannt werden, noch sowohl genannt als auch in einem nicht genannt werden, aber alles, was sich sagen läßt, sei es voneinander Differierendes oder einander Verbindendes, sei es durch Zustimmung oder Widerspruch, kommt ihm nicht zu; dies wegen seiner außerordentlichen Unendlichkeit, in der er der eine Ursprung ist, der alles formale Denken über ihn überschreitet. Page 265
[Heide: So kommt also Gott kein Sein zu? Page 265
Christ: Das sagst du richtig. Page 265
Heide: Er ist daher nichts.] Page 265
Christ: Er ist nicht nichts, noch ist er nicht, noch ist er und ist nicht in einem. Jedoch ist er die Quelle der Ursprünge des Seins und Nichtseins. Page 265
Heide: Ist Gott die Quelle der Ursprünge des Seins und Nichtseins? Page 265
Christ: Nein!
Page 265
Heide: Eben hast du das aber noch behauptet. Page 265
Christ: Ich habe wahr gesprochen, als ich so sprach und ich habe nichtsdestoweniger wahr gesprochen, als ich es verneinte, denn was auch immer ist an Ursprüngen des Seins und Nichtseins, Gott geht jenen voraus. Doch hat nicht etwa das Nichtsein seinen Ursprung im Nichtsein, sondern vielmehr im Sein. Das Nichtsein bedarf nämlich eines Ursprungs, damit es sei. Dieser ist auch der Ursprung des Nichtseins, weil es Nichtsein ohne ihn nicht geben kann. Page 265
Heide: Ist nicht Gott die Wahrheit? Page 265
Christ: Nein. Er geht aller Wahrheit voraus. Page 265
Heide: Ist er dann etwas anderes als die Wahrheit? Page 265
Christ: Nein. Die Andersheit kann ihm nicht zukommen, denn er ist vor allem, was wir als Wahrheit begreifen und was wir benennen und er ist darüber in Unendlichkeit erhaben. Page 265
Heide: Nennt ihr nicht Gott »Deus«? Page 265
Christ: Wir nennen ihn so! Page 265
Heide: Sagt ihr damit Wahres oder Unwahres? Page 265
Christ: Weder das eine von beiden, noch beides. Wir sagen nämlich nicht die Wahrheit, wenn wir behaupten, daß dies sein Name sei, noch irren wir andererseits, wenn wir das Gegenteil behaupten. Und wir sagen auch nicht Wahres und Falsches in einem aus, da ja seine Einfachheit allem Nennbaren und Unnennbaren vorausgeht. Page 265
Heide: Warum nennt ihr ihn »Deus«, da ihr ja seinen Namen nicht kennt? Page 265
Christ: Wegen seiner Nähe zur Vollkommenheit. Page 265
Heide: Erkläre das bitte! Page 265
Christ: »Deus« wird er genannt von theorô, dies bedeutet »ich sehe«. Gott ist nämlich in unserem Bereich wie das Sehen im Bereich der Farbe. Die Farbe nämlich wird nicht anders als durch das Sehen angetroffen und damit das Sehen die Farbe in beliebiger Weise berühren Page Break 266
kann, muß es selbst ohne Farbe sein. Im Bereich der Farbe also können wir das Sehen, weil es selbst ohne Farbe ist, nicht auffinden. Von daher ist also das Sehen eher nichts als etwas, denn der Bereich der Farbe berührt außerhalb seiner Grenzen kein Sein, er bekräftigt vielmehr, daß alles, was ist, in seinen Grenzen ist. Dort aber findet man das Sehen nicht vor. Das Sehen existiert also ohne Farben, daher ist es auch im Bereich der Farbe unnennbar, denn es entspricht ihm ja keine Farbbezeichnung. Das Sehen gibt jedoch andererseits jeder Farbe ihren Namen durch Unterscheidung, so gesehen hängt jede Bezeichnung im Bereich der Farbe von ihm ab. Aber dennoch wird dessen Name, von dem ja jeder Name abstammt, im Bereich der Farbe eher als nichts denn als etwas aufgefaßt. So also verhält sich Gott gleichsam zu allem wie das Sehen zum Sichtbaren. Page 266
Heide: Das, was du gesagt hast, gefällt mir und ich verstehe gut, daß im Bereich jeglicher Kreatur weder Gott noch sein Name in Erfahrung gebracht werden kann, und daß Gott daher eher jedem Begriff entgeht, als daß man von ihm etwas behaupten könnte. Denn er, der nicht die Eigenschaften des Kreatürlichen besitzt, kann im Bereich der Kreatur nicht aufgefunden werden. Denn im Bereich des Zusammengesetzten erfährt man nichts anderes als Zusammengesetztes. Alle Namen jedoch, die etwas bezeichnen, sind Zusammengesetztes. Ein solches besteht aber nun nicht von ihm selbst her, sondern hängt von jenem ab, das ihm vorausgeht. Und wenngleich der Bereich des Zusammengesetzten und alle zusammengesetzten Dinge durch ihn das sind, was sie eben sind, dann ist er selbst, der doch ein Nicht-Zusammengesetztes ist, in jenem Bereich unerkannt. In alle Ewigkeit sei dieser Gott, der vor den Augen der Weisen verborgen ist, gepriesen. Amen. [Ende des ersten Bandes] (Übersetzung von Anton Unterkircher
und Christian-Paul Berger). Page 266
/Hat die doppelte ... gelehrt/: Dieser Satz wurde von Hänsel mit schwarzer Tinte--der Brief ist sonst mit Bleistift geschrieben--oben auf der zweiten Seite des Briefes hinzugefügt. Page 266
/1401-1464/: Ebenfalls in schwarzer Tinte unter die Formulierung »gutes 15. Jh.« eingetragen. Page 266
Barmstein: Kleiner Barmstein, 851 m, Hausberg von Hallein. Page 266
Hochkönig: 2941 m, höchster Gipfel des Ewigen Schneeberges in den Salzburger Alpen. Page 266
Fischervilla: nicht ermittelt.
(27) 20.9.1920 Page 266
Brief. Page 266
Trattenbach: Wittgenstein hatte die ihm vom Landesschulrat zugewiesene Stelle in Maria Schutz am Semmering abgelehnt, weil ihm dort--wie Leopold Baumruck erzählte--zu wenig »ländliche Verhältnisse« waren (vgl. Kurt Wuchterl, Adolf Hübner: Ludwig Wittgenstein. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1979, S. 89f.) Paul Wittgenstein erwähnt in einem Brief vom 17.11.1920 an Ludwig Wittgenstein eine Stelle in Reichenau (am Semmering), die dieser ausgeschlagen hätte, um nicht als ein Mitglied der Familie Wittgenstein erkannt zu werden. Es gibt allerdings keine weiteren Belege für diesen Sachverhalt. Page 266
In Trattenbach im Feistritztal wohnte Wittgenstein zunächst in einem Nebengebäude des Gasthauses »Zum braunen Hirschen«, übersiedelte kurzzeitig zu seinem Lehrerkollegen Georg Berger und bewohnte später eine Dachkammer im Haus des Kaufmanns Scheibenbauer.
(28) 27.9.1920 Page 266
Brief (Zettel), auf der Rückseite befindet sich der Briefkopf der k. k. Staatsrealschule im X. Bezirk in Wien und eine auf den 10.1.1919 datierte Bestätigung (von Hänsels Hand), daß er an der dortigen Schule in Dienstverwendung stehe, samt Stempel und Unterschrift der Schule. Page 266
Gloggnitz: Nächstgelegene Bahnstation, ca. 20 km nordwestlich von Trattenbach. Page Break 267
(29) 29.9.1920 Page 267
Brief.
(30) 6.10.1920 Page 267
Brief. Ab »ins Gebirge ...« von fremder Hand in Kurrentschrift geschrieben. Page 267
Frl. Marie Salzer: Älteste Tochter von Helene Wittgenstein und Max Salzer: Geb. 6.3.1900; gest. 14.8.1948.
(31) 9.10.1920 Page 267
Brief. Page 267
Hebelausgabe: Um welche Ausgabe von Johann Peter Hebels Werken es sich handelte, konnte nicht ermittelt werden.
Page 267
Schoberkarten: Es handelt sich um geographische Karten, speziell für den Gebrauch an Volksschulen. Sie gehen auf den österreichischen Kartographen und Geographen Karl Schober zurück. Laut Auskunft von Frau Prof. Dr. Ingrid Kretschmer/Institut für Geographie an der Universität Wien, veröffentlichte Karl Schober im Jahre 1888 mehrblättrige (Schul-) Wandkarten von Niederösterreich und Oberösterreich, die noch bis in die Erste Republik hinein im Gebrauch waren (Maßstab: 1:150000).
(32) [vor dem 18.10.1920) Page 267
Brief. Page 267
Grimm-Märchen: Jakob und Wilhelm Grimm: 50 Kinder- und Hausmärchen gesammelt. Kleine Ausgabe. Mit 12 Bildern von Ludwig Richter. Leipzig: Reclam o.J. [1918] (Reclam's Universal-Bibliothek Nr. 3179-3180a). Wittgenstein las Grimms Märchen in einer Ausgabe von Paul Ernst (Kinder- und Hausmärchen. 3 Bde. München: Müller 1910) wahrscheinlich schon vor dem Ersten Weltkrieg. Ein Exemplar dieser Ausgabe findet sich in Russells Bibliothek, das höchstwahrscheinlich aus Wittgensteins Besitz stammt (vgl. McGuinness, S. 389). Page 267
Schatzkästlein: Johann Peter Hebel: Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Leipzig: Reclam o.J. [1919] (Reclam's Universal-Bibliothek Nr. 143-144a). Offenbar war die Lektüre von Hebels Schatzkästlein an einer Volksschule keine Selbstverständlichkeit, dies zeigt sich nicht zuletzt darin, daß Wittgensteins Lehrerkollege Georg Berger diesen Sachverhalt in einem amtlichen Bericht an den Landesschulrat Niederösterreich gesondert erwähnt (siehe dazu das Schreiben des Landesschulrates Niederösterreich an das Bundesministerium für Unterricht in Wien vom 15. Mai 1953, Österreichisches Staatsarchiv, Personaldaten Ludwig Wittgenstein, z.Zl. 33878-IV/18/53, Blatt 3). Seinem Onkel Paul sandte Wittgenstein ein Exemplar des Schatzkästleins, wie aus einem Brief Paul Wittgensteins vom 21.10.1920 an seinen Neffen hervorgeht. Wittgensteins Freundin Marguerite Respinger berichtet, daß Wittgenstein die einfachen Erzählungen von Hebel bewunderte. (Gespräch von Allan Janik mit Marguerite (Sjögren) de Chambrier am 19.8.1990). Als Wittgenstein während seiner Tätigkeit als Architekt beim Bau des Hauses seiner Schwester Margarete in der Kundmanngasse beschäftigt war und infolge einer Verletzung das Bett hüten mußte, las er Marguerite, Thomas Stonborough, Arvid und Talla Sjögren aus den Werken Hebels vor. (Vgl. Monk, S. 238f.) Page 267
Dein Lehmbild: nicht ermittelt. Page 267
Brief nach Klosterneuburg: Brief vom 30.8.1920 mit der Abschrift von Cusanus' Dialogus de deo abscondito. Page 267
Lyrik-Vorträgen: Von Donnerstag, den 23. September 1920, an hielt Hänsel im Kleinen Saal der Wiener Urania einen Kurs über die Deutsche Lyrik seit Goethe. Dieser Kurs behandelte in 6 Vorträgen Hölderlin, Novalis, Eichendorff, Lenau, Mörike, C. F. Meyer, Droste, Liliencron, Dehmel, Hofmannsthal, Rilke und Trakl (vgl. Verlautbarungen des Volksbildungshauses Page Break 268
Wiener Urania, Nr. 24, 18.9.1920, S. 4). Bei dem von Hänsel erwähnten Dehmel-Buch handelt es sich um Die Verwandlungen der Venus. Erotische Rhapsodie mit einer moralischen Ouvertüre (Privatdruck 1907). Page 268
/Dichter/: Über das Wort »Menschen« geschrieben. Page 268
Hochreit: des öfteren auch Hochreith geschrieben--Feriensitz der Wittgensteins im Mittelgebirge südlich von Wien. 1894 hatte Karl Wittgenstein dieses Gut, ein herabgewirtschaftetes, aber herrlich gelegenes Bauernanwesen, erworben. Der »Hochreiter« war der Hausname des vorherigen Besitzers, der das Gut wegen seiner Trunksucht verkaufen mußte. In der Nähe des Bauernhauses lag ein Bergübergang, der die Wasserscheide zwischen dem Traisental und den Bergen Gippel und Göller und dem Schwarzatal mit dem Schneeberg bildete (vgl. Familienerinnerungen, S. 81ff.). Nach dem Tode Karl Wittgensteins erbte Hermine die Hochreit. Page 268
Auf der Hochreit wurde ein beträchtlicher Teil von Wittgensteins Nachlaß aufbewahrt und nach seinem Tode entdeckt (Vgl. Ludwig Wittgenstein: Letters to Russell, Keynes and Moore. Edited by G. H. von Wright, assisted by B. F. McGuinness. Ithaca, New York: Cornell University Press 1974, S. 14).
(33) 18.10.1920 Page 268
Brief. Page 268
verkehrt schreibe: Offensichtlich war es Wittgenstein ein Problem, daß er bei der Beantwortung von Hänsels Fragen nicht die korrekte Reihenfolge eingehalten hatte.
(34) 21.10.1920 Page 268
Brief.
(35) 6.11.1920 Page 268
Brief (Zettel), Datum im Original links unten am Briefende. Auf der Rückseite befindet sich, vermutlich von Wittgensteins Hand. der mathematische Term: 1 = 1o(1 + 753t). Page 268
Konegen-Ausgabe: Johann Peter Hebel: Ernste und heitere Geschichten aus dem Schatzkästlein. Auswahl von Eugen Weller. Bilder von Magnus Zeller. Wien: Konegens Jugendschriftenverlag o.J. [1919] (Carl Konegen's Kinderbücher Nr. 58). Page 268
Frege: Es handelt sich um Freges Grundgesetze der Arithmetik (2 Bde., Bd. 1: Jena 1893, Bd. 2: Jena 1903). Aus einem Brief Wittgensteins an Paul Engelmann vom 31. Oktober 1920 geht hervor, daß sich Wittgenstein über diesen beide Bände von Freges Werk besorgen ließ (vgl. Briefe, S. 118).
(36) [um den 17.11.1920] Page 268
Brief, undatiert. Von Hänsel mit »1920« datiert. Page 268
wegen dieses unglückseligen Bekanntwerdens seiner Familie: Vgl. dazu die Briefe Paul Wittgensteins an seinen Bruder: »Bei der unglaublichen Bekanntheit unseres Namens, dessen einzige Träger in Österreich wir sind--dieser Umstand fällt besonders in die Wagschale [sic]--bei dem ungeheuren Bekanntenkreise unseres Vaters, Onkel Louis', Tante Clara's, den Gütern, die wir in ganz Österreich verstreut besitzen, den verschiedenen Wohltätigkeitsaktionen u.s.w. u.s.w., ist es ausgeschlossen, wirklich vollkommen ausgeschlossen, daß ein Mensch der unseren Namen trägt, und dem man die vornehme und feine Erziehung auf tausend Schritte ansieht, nicht als ein Mitglied unserer Familie erkannt werde.« (17.11.1920). »Daß das Bekanntwerden Deiner Abkunft und Familienzugehörigkeit unvermeidlich war, ja daß es sehr zu wundern ist, daß es nicht schon viel früher erfolgt ist, habe ich Dir schon geschrieben. [...] Nun ist der Abzess [sic], welchen Du nicht hast schneiden lassen wollen, von selbst aufgegangen, und wenn die ersten Schmerzen der Operation vorüber sein Page Break 269
werden, wird es Dir besser gehen, als früher. Denn--und das ist es eigentlich, was ich Dir heute schreiben wollte, das Gerede der ersten Tage wird bald aufhören, oder zum Mindesten anfangen aufzuhören: cela sèchera comme la rosée en soleil. Dann aber wird weniger über Dich getratscht werden, als früher: denn früher warst Du ihnen ein Rätsel, dessen Lösung sie auf alle mögliche Weise suchten: jetzt aber haben sie den Schlüssel zur Geheimschrift, wissen woran sie sind, und mit der Rätselhaftigkeit wird auch der Tratsch aufhören.« (20.11.1920) Vgl. auch einen ähnlich lautenden Brief Hermines an Ludwig vom 17.11.1920 (Abschrift im Brenner-Archiv).
(37) 30.11.1920 Page 269
Brief. Page 269
Kinderbücherei von Konegen: Carl Konegen's Kinderbücher. Hrsg. von Helene Scheu-Riesz und Eugenie Hoffmann. Wien: Konegens Jugendschriftenverlag: Dreißig deutsche Volkssagen. Aus der Sammlung der Gebrüder
Grimm. O.J. [1919] (Nr. 9). Eugenie Stein: Gullivers Reise nach Liliput. O.J. [1919] (Nr. 31). Page 269
Gottfried August Bürger: Des Freiherrn von Münchhausens wunderbare Reisen und Abenteuer. Bd. 1: Reisen zu Lande. O.J. [1919] (Nr. 12). Page 269
Johann Peter Hebel: Ernste und heitere Geschichten aus dem Schatzkästlein. Auswahl von Eugen Weller. O.J. [1919] (Nr. 58). Page 269
Wilhelm Hauff: Die Geschichte vom Kalif Storch. Die Geschichte vom kleinen Muck. 2 Märchen. O.J. [1919] (Nr. 44). Page 269
Lessing, Gellert und Hebel: Ein Büchlein Fabeln. O.J. [1919] (Nr. 29). Page 269
Leo Tolstoi: Zwei Legenden. Ausgew. und bearb. von Anna Delius. O.J. [1919] (Nr. 51). Page 269
&& Hebel: Da Wittgenstein nach »Gellert, &« die Zeile wechselte, setzte er dort noch einmal ein &. Page 269
Am 27ten: Am 27.11. fand in Wien ein Konzert mit Werken von Labor statt. Vgl. dazu Paul Wittgenstein an seinen Bruder, 17.11.1920: »Beiliegend sende ich Dir 2 Karten zu dem Labor-Abend. Vielleicht machst Du es schon Mama's und Minings wegen möglich zu kommen. Aufgeführt wird, wie Du glaube ich schon weißt: Die beiden Klarinetten Trios, die Kanons für Frauenstimmen und die neue Fantasie, ein vegetarianisches Diner von 4 Gängen.«
(38) 13.12.1920 Page 269
Brief.
(39) 24.1.1921 Page 269
Brief (Zettel). Page 269
Herr Sjögren: Arvid Sjögren: Geb. 17.4.1901 in Donawitz/Kreis Leoben; gest. 1.3.1970. Mechaniker und Kaufmann. Arvid war einer der Söhne von Mima Sjögren, mit dem Wittgenstein befreundet war und mehrere Reisen unternahm. Wittgenstein riet ihm, anstelle eines Studiums einen einfachen Beruf zu ergreifen und so wurde Arvid Mechaniker. Er heiratete später Clara Salzer, eine Tochter von Ludwigs Schwester Helene. Aus dieser Ehe stammen 5 Kinder: Anna, Andreas, Katharina, Gabriella und Cecilia.
(40) [nach dem 24.1.1921] Page 269
Brief, undatiert. Von Hänsel mit »Weihnachten 20« datiert. Page 269
Brief an Mining: Während Wittgenstein im Oktober 1920 noch nichts gegen eventuelle Besuche seiner Schwester hatte, so versuchte er gegen Ende November seine Kontakte zu seiner Familie zu reduzieren. Bestärkt durch Moritz Nähr, den Hausphotographen der Wittgensteins, war Hermine aber Mitte Jänner dennoch entschlossen, ihren Bruder in Trattenbach aufzusuchen. (Vgl. ihren Brief vom [16.1.1921], der als Abschrift im Brenner-Archiv Page Break 270
vorhanden ist). Darauf reagierte Wittgenstein am 24.1.[1921] mit den folgenden Zeilen: »Was Nähr vorgeschwätzt haben kann, das Dich zu einem Besuch bei mir reizte mag der Teufel wissen. Mit einem bißchen Verstand und Verständnis hätte er wissen müssen daß ich gar nicht disponiert war oder jetzt bin von Dir besucht zu werden! (Bitte zeige Nähr diesen Brief!) Solltest Du wirklich nicht gewußt haben daß es mir mit meinem Wunsch, Du möchtest mich vorläufig nicht besuchen ernst war?! (Wie Du kommst wäre natürlich ganz wurst da die Leute hier ohnedies wissen, daß meine Schwester keine Unterlehrerin sondern eine Millionärin ist).« (Abschrift im Brenner-Archiv).
(41) [Ende Jänner 1921 ?]
Page 270
Brief, undatiert.
(42) 1.2.1921 Page 270
Brief. Page 270
Was anderes: Das von Ludwig Hänsel angesprochene Würfelbeispiel kommt in der von ihm gegebenen Form bei Meinong nicht vor. Zwar benützt Meinong in den Hume-Studien I neben einer Kugel auch einen Würfel als Beispiel für seine Überlegungen zu Ähnlichkeiten, dies aber im Zusammenhang mit einer Kritik von Humes Abstraktionstheorie (siehe Alexius Meinong: Gesamtausgabe. Bd. 1. Hrsg. von Rudolf Haller und Rudolf Kindinger. Graz 1969, S. 3-76, hier S. 59). Die an dieser Stelle von Meinong erörterten Gedankengänge lassen sich nur sehr schwer mit der Frage Hänsels im vorliegenden Brief in Verbindung bringen, denn Hänsel spricht ja auch von Relationen. Gestalt, Größe eines Würfels treten als relationale Beziehungen auf. Hänsel spricht von den »...Glieder(n) der Relationen (die Punkte im Raume u.s.w. ...«, d.h. er sieht Strukturen als Relationen von Elementen eines Gegenstandes. Dies läßt darauf schließen, daß er sich mit den Hume-Studien II (= Gesamtausgabe Bd. 2. Graz 1971, S. 1-183) auseinandergesetzt hat. Meinong erörtert dort die Relationen im Zusammenhang mit einer Kritik an den Auffassungen John Lockes, David Humes, John Stuart Mills und Herbert Spencers. Auch die von Meinong entwickelte deskriptive Nomenklatur (A,B,...) findet sich vermehrt in den Hume-Studien II. In seinem Brief an Wittgenstein hat Hänsel dieselbe, allerdings in freier Abwandlung, benützt. Hänsel hat zudem zwei wichtige Problembereiche in seiner Frage an Wittgenstein angesprochen, die Meinong in den Hume-Studien II recht ausführlich abgehandelt hat: Zum einen die Frage nach der »Gleichheit« und zum anderen die Problematik der »Identitätsrelationen«. Offenbar bezieht er sich auf den von Meinong entwickelten Unterschied zwischen Gleichheitsrelation und Identitätsrelation. Dazu A. Meinong selbst (Abschnitt IV der Hume-Studien II): Page 270
»Vergleichung zweier Attribute kann, wie immer diese beschaffen sein mögen, nur auf zwei Ergebnisse führen: Gleichheit einerseits, Ungleichheit oder Verschiedenheit andererseits«. (GA Bd. 2, S. 73) Page 270
Und: »Zwei Komplexe können nur gleich heißen, wenn alle Bestandteile gleich sind«. (GA Bd. 2, S. 75) Page 270
Gleichheit wird, um Äquivokationen auszuschließen, streng von der Identität abgegrenzt: »Identität wird von etwas ausgesagt, sofern es zugleich zu verschiedenen anderen Dingen in Relation steht.« (GA Bd. 2, S. 131) Page 270
Als Beispiel führt Meinong folgenden Satz an: »der Besitzer dieses Gutes ist derselbe Mann, welcher die benachbarte Stadt im Parlamente vertritt.« (A.a.O.) Identität wird also von einem Dritten her definiert, das mit A und B in einer beliebigen Relation steht (oder in beliebigen Relationen). Hänsel sieht nun in seiner Briefstelle die »Gestalt« als einen Komplex von Relationen, der sozusagen das Bezugssystem darstellt. Page 270
Eine direkte Antwort Wittgensteins auf die von Hänsel gestellte Frage ist zur Zeit nicht bekannt. Doch gleichgültig, ob Hänsel im Augenblick der Abfassung seines Briefes an den Tractatus gedacht hat oder nicht, so enthält dieser doch--in systematischer Weise--die Wittgensteinsche Antwort auf diese Fragen. Es lassen sich klare Bezüge angeben: TLP, 2.0201 Page Break 271 Page 271
(Über Komplexe), 2.02331 (Über die »Attribution« von Dingen), 5.5423 (Wittgenstein verwendet an dieser Stelle ebenfalls einen Würfel als Beispiel). Page 271
Keine der beiden Hume-Studien befindet sich in Ludwig Hänsels nachgelassener Bibliothek. Was die Erwähnung Freges betrifft, so bezieht sich Hänsel mit großer Wahrscheinlichkeit auf dessen Unterscheidung von »Sinn« und »Bedeutung« eines Gegenstandes. Diese Unterscheidung läßt sich--jedoch nicht ohne Mühe--auf das Würfelbeispiel Hänsels anwenden. Page 271
Meinong: Alexius Meinong, Ritter von Handschuchsheim: Geb. 17.7.1853, Lemberg; gest. 27.11.1920, Graz. Philosoph. Von 1862-1870 am akademischen Gymnasium in Wien, seit 1870 Studium der Deutschen Philologie und Geschichte, abgeschlossen mit einer Dissertation über Arnold von Brescia. Im WS 1874/75 Beginn eines
juristisch-ökonomischen Studiums, er hörte u.a. Vorlesungen bei Carl Menger, Ende WS 1874/75 endgültige Wendung zur Philosophie, vertraut sich in dieser Sache Franz Brentano an. Abfassung einer Habilitationsschrift über David Hume: Hume-Studien I. 1878-1882 Privatdozent an der Universität Wien. 1882 Ernennung zum a.o. Professor der Philosophie in Graz, dort als Begründer der Grazer Schule bis zu seinem Tod. Während seiner Ausbildung zum Gymnasiallehrer besuchte Ludwig Hänsel Vorlesungen von Alexius Meinong. Werke u.a.: Über philosophische Wissenschaft und ihre Propädeutik, 1885; Psychologisch-ethische Untersuchungen zur Werttheorie, 1894; Untersuchungen zur Gegenstandstheorie (philosoph. Hauptwerk), 1904; Über Annahmen, 1910; Zum Erweise des allgemeinen Kausalgesetzes, 1918.
(43) 6.2.1921 Page 271
Brief. Nicht kollationierte Abschrift im Brenner-Archiv; das Original ist derzeit nicht auffindbar.
(44) [Februar 1921 ?] Page 271
Visitenkarte mit versalem Aufdruck des Namens. Auf der Rückseite von Hänsel mit »1921« datiert.
(45) 21.2.[1921] Page 271
Brief. Die Jahreszahl »1921« wurde von Hänsel hinzugefügt.
(46) 22.2.1921 Page 271
Postkarte, Page 271
Dein Telegramm: nicht ermittelt. Page 271
C.c.s.e.i.: Die Abkürzung konnte nicht entschlüsselt werden.
(47) 28.2.1921 Page 271
Brief mit Beilage. Page 271
Raach: Ortschaft zwischen Gloggnitz und Otterthal. Page 271
Polier aus Parlier: Vgl. F.[riedrich] K.[arl] L.[udwig] Weigand: Deutsches Wörterbuch. Fünfte Auflage in der neuesten für Deutschland, Österreich und die Schweiz gültigen amtlichen Rechtschreibung. Nach des Verfassers Tode vollständig neu bearbeitet von Karl von Bahder, Herman Hirt und Karl Kant. Hrsg. von Herman Hirt. 2 Bde. Gießen: Verlag von Alfred Töpelmann 1909-1910: »Políer, (bayr. auch) Palíer, m. (-s, Pl. -e): Obergeselle (bei Maurern, Zimmerleuten u.a.). Bei Goethe 34, 1, 196 Polirer. Aus palier (noch bayr.-tirol. palier, kärnt. Pállier, Pállierer) u. dies aus Parlier, 1471 parlier; um diese Zeit auch parlierer von parlieren (s.d.) ›reden‹.« Vgl. auch Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 22. Aufl. Berlin, New York: de Gruyter 1989: »Polier m. ›Vorarbeiter, Bauführer‹. Im Mittelhochdeutschen (mhd. parlier, parlieren ›Sprecher, Wortführer‹) gebildet zu mhd. parlieren ›sprechen‹«. Page Break 272 Page 272
Belsazer: Ballade von Heinrich Heine, richtiger Titel Belsazar: Stoff aus dem Alten Testament, Daniel 5. Page 272
Die wandelnde Glocke: Ballade von Goethe nach einem Volksmärchen.
(48) 2.3.[1921]
Page 272
Brief.
(49) 9.3.1921 Page 272
Brief.
(50) 10.3.1921 Page 272
Postkarte. Page 272
Karfreitag: 25.3. Page 272
optime fecisti: Die Anspielung auf Cato konnte nicht ermittelt werden.
(51) [April 1921 ?] Page 272
Brief, undatiert. Von Hänsel mit »1921« datiert. Page 272
Conzert meines Bruders: nicht ermittelt. Gemeint ist Paul Wittgenstein: Geb. 5.11.1887, Wien; gest. 3.3.1961, Manhasset (New York). Pianist. Im Ersten Weltkrieg rückte Paul als Reserve-Offizier an die russische Front ein. 1914 wurde er für eine besonders wichtige Meldung, die die Umzingelung durch die Russen verhinderte, mit dem M.V.K.III.Kl. mit den Schwertern ausgezeichnet. Im Zuge dieses Einsatzes verlor er seinen rechten Arm, was ihn aber nicht daran hinderte, nach einem Aufenthalt im Feldspital als russischer Gefangener, im Sommer 1917 wieder freiwillig an die kärntnerisch-italienische Front einzurücken. Später gab er Konzertvorstellungen und wurde als einarmiger Pianist über die Grenzen des Landes bekannt. Komponisten wie z.B. Franz Schmidt, Maurice Ravel, Richard Strauss, Josef Labor und Sergej Prokofieff schrieben für ihn Klavierwerke, wobei Ravels Klavierkonzert in d-Moll für die linke Hand (entstanden im Jahre 1930) wohl das bekannteste sein dürfte. Ravels Klavierkonzert für die linke Hand wurde mit Paul Wittgenstein am Klavier und den Wiener Symphonikern unter Robert Heger im Januar 1932 in Wien uraufgeführt. Das Klavierkonzert Nr. 4 (1931) von Sergej Prokofieff hingegen spielte Paul Wittgenstein nie. Er schrieb dem Komponisten: »Vielen Dank für das Konzert. Ich verstehe aber keine einzige Note davon und werde es deshalb auch nicht spielen.« Anlässlich des am 27.11.1920 veranstalteten Labor-Abends berichtetet die Wiener Zeitung am 18.1.1921: »Der tiefschürfende Musiker und bedeutende kontrapunktische Könner spricht aus allen Kompositionen von Josef Labor. Gar mancher seiner Einfälle ist schön erfunden, doch nie sehr langatmig, und landet nach dem ersten Aufschwung im Gewühl der Imitation (die Form, die zumal in der Gestalt des Kanons für Labor besonders charakteristisch ist). Wir hörten ein neues Trio für Klavier, Klarinette und Viola, bei dem die noble charakteristische Verwendung des Blasinstruments hervorgehoben werden muß, ferner eine Klavierphantasie in Fis-Moll für die linke Hand allein, von Paul Wittgenstein, für den sie geschrieben ist, meisterhaft bewältigt; die Kraft und Spielgewandheit des Einarmigen sind noch im steten Wachsen begriffen.«
(52) 29.4.1921 Page 272
Brief, Ort und Datum stehen im Original links unten am Briefende. Page 272
Hefte des »Brenner«: Von der 6. Folge des Brenner waren zu diesem Zeitpunkt 9 Hefte erschienen. Heft 9 erschien Anfang April 1921 und enthielt als einzigen Beitrag Carl Dallagos Aufsatz Augustinus, Pascal und Kierkegaard. Page Break 273
(53) [vor dem 2.5.1921] Page 273
Postkarte, undatiert; Poststempel unleserlich. Page 273
Rasumovskygasse: Offensichtlich hat Wittgenstein seine Wohnung bei Herrn Zimmermann in der Rasumofskygasse 24 im III. Bezirk auch noch während seiner Volksschullehrerzeit behalten. Offizielle Meldedaten liegen keine vor. Page 273
Parzival: Gemeint ist wahrscheinlich das Epos von Wolfram von Eschenbach. In welcher Ausgabe es Hänsel sandte, konnte nicht ermittelt werden. Page 273
Die Melodien zum grün. Kranz und zu schw. Walfisch: Die Texte zu diesen Liedern finden sich im Allgemeinen Deutschen Kommersbuch. Lahr: Schauenburg (115.-120. Aufl. 1920): »Im Krug zum Grünen Kranze« stammt von Wilhelm Müller, 1821; »Im Schwarzen Walfisch zu Askalon« von Josef Viktor von Scheffel, 1854. Vgl. dazu auch den Bericht von Wittgensteins Schülerin Aloisia Piribauer vom 24.1.75 (Wünsche, S. 113): »Wir lernten viele tiefsinnige Lieder, z.B. ›Zu Straßburg auf der Schanz da fing mein Trauern an‹, ›Auf den Bergen die Burgen‹, ›Im Krug zum grünen Kranze‹, ›Freiheit, die ich meine‹.« Page 273
Külpe: Oswald Külpe: Geb. 3.8.1862, Kandau bei Tukkum (Kurland); gest. 30.12.1915, München. Philosoph und Experimentalpsychologe. 1897 Abitur in Libau (Kurland), danach zwei Jahre Hauslehrer, seit 1881 Studium der Geschichte und Philologie in Leipzig, hörte aber auch Vorlesungen über Psychologie bei Wilhelm Wundt. Nach einem Semester wechselte Külpe nach Berlin über, schließlich studierte er von 1883 an zwei Jahre experimentelle Psychologie bei G.E. Müller in Göttingen. Im Jahre 1886 absolvierte er die Lehramtsprüfung aus Geschichte in Dorpat (= Tartù/Estland), danach Rückkehr nach Leipzig und 1887 Promotion bei Wilhelm Wundt mit der Dissertation Zur Theorie der sinnlichen Gefühle; 1888 Habilitation mit dem Thema: Die Lehre vom Willen in der neueren Philosophie, 1894 Berufung auf den Lehrstuhl für Philosophie und Ästhetik nach Würzburg. Dort Beginn der experimentellen Untersuchungen zur Denkpsychologie und 1896 Gründung eines experimentalpsychologischen Labors in Würzburg. Külpe begründete mit seinen Arbeiten eine neue Richtung in der Psychologie, und zwar die sogenannte Würzburger Schule der Denkpsychologie, die größten Einfluß auf die zeitgenössische Philosophie und Psychologie ausübte. Als Philosoph war Külpe Vertreter eines »kritischen Realismus«, der sich vor allem gegen neukantianische Formen des Idealismus richtete und Philosophie vom Hintergrund exakter Forschungen her betreiben wollte. 1909 wurde Külpe nach Bonn berufen, schließlich wurde er 1914 Nachfolger von Theodor Lipps auf dem Lehrstuhl für Philosophie in München, wo er bis zu seinem Tode blieb. Werke u.a.: Einleitung in die Philosophie, 1895 (7. Aufl. 1915); Die Philosophie der Gegenwart in Deutschland, 1902 (6. Aufl. 1914); Immanuel Kant, 1907 (3. Aufl. 1912); Über die moderne Psychologie des Denkens, 1912. Page 273
»Die Realisierung«: Oswald Külpe: Die Realisierung. Ein Beitrag zur Grundlegung der Realwissenschaften. 3 Bde. Leipzig: Hirzel 1912, 1920, 1923. Hänsel hat in seiner Postkarte zwei Stellen aus diesem Werk recht ungenau zitiert, beide aus der Einleitung zum ersten Band: »Die letzte Wurzel aller Objekte liegt in der Erfahrung. Aber freilich, sowohl die Idealals auch die Realwissenschaften bleiben nicht bei ihr stehen, sondern gehen nach verschiedenen Richtungen darüber hinaus. Dadurch erhalten wir drei Hauptarten von Objekten: die wirklichen, die idealen und die realen Objekte. Die erste Klasse umfaßt die Bewußtseinstatsachen, deren Daseinsart das Gegebensein oder Gegenwärtigsein ist. Die zweite Klasse umfaßt die durch Abstraktion, Kombination oder Modifikation entstandenen und der Erfahrung gegenüber verselbständigten, starr gewordenen, a priori gesetzten Gegenstände, deren Grundlage aber mehr oder weniger durchsichtig in den Wirklichkeiten des Bewußtseins zu finden ist. Ihre Daseinsart wollen wir in Ermangelung eines besonderen Namens als das ideale Dasein bezeichnen. Wir rechnen dabei zu den Idealwissenschaften nicht nur die Mathematik, sondern auch solche Disziplinen, wie die Ethik und Ästhetik, sofern sie sich mit einem reinen und in diesem Sinne idealen ethischen und ästhetischen Verhalten beschäftigen. Die dritte Klasse endlich umfaßt die Objekte, deren Setzung und Bestimmung uns zum Problem geworden ist. Auch sie werden nur auf Grund des ›Gegebenen‹ angenommen, mit dem sie jedoch in dauernder Abhängigkeitsbeziehung bleiben, Page Break 274
und können darum auch als a posteriori gesetzt bezeichnet werden. Ihre Daseinsart nennen wir die Existenz.« (Bd. 1, S. 13) Page 274
»Mit den wirklichen Objekten, mit dem Gegebenen, Vorgefundenen, mit den Bewußtseinstatsachen beschäftigt sich die deskriptive Psychologie, auch Phänomenologie genannt. Hier wird zwischen Phänomenalem und Realem nicht geschieden, während die erklärende Psychologie gerade darauf ausgeht, diesen Unterschied zu berücksichtigen und ein psychophysisch oder psychisch Reales herauszuarbeiten, und somit zu den Realwissenschaften gehört.« (S. 16f.)
Page 274
Külpes philosophische Theorien bezogen sich vor allem auf den Status des Denkens, er vertrat die Ansicht, daß das Denken intentional und unanschaulich sei und vor allem, daß es wegen seiner intentionalen Struktur strikt regelgeleitet sei. Gerade jenes Konzept--Hänsel spricht ja darüber--könnte Wittgenstein interessiert haben, so daß er Hänsel, der sich in der zeitgenössischen Philosophie weit besser auskannte als Wittgenstein, nach den wichtigsten Theorien Külpes fragte. Daß sich Wittgenstein--vor allem in den späteren Arbeiten und Beiträgen zur Psychologie--mit dem Denken vermehrt beschäftigte, könnte hier durchaus seine Wurzeln haben. Wie der Titel Realisierung ja besagt, sah Külpe den prozessualen Aspekt in der Erkenntnistheorie als ein Zentrum seiner Bemühungen an. Ähnlich Wittgenstein: Vgl. beispielsweise dazu einige Aphorismen Wittgensteins in den Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie (Werkausgabe Bd. 7), dort finden sich eine Reihe von Beispielen, die zeigen, daß auch Wittgenstein ein naturphilosophisches Verhältnis zum Thema »Denken« hatte. Wichtig ist vor allem jene Stelle auf S. 223, in der Wittgenstein die Alltagsbedeutung von »Denken« zur psychologischen Bedeutung in Kontrast setzt (siehe Aphorismen 18, 19, 20, 21). Page 274
Das hat Meinong besser verstanden: Auf die Frage, welche Werke Alexius Meinongs bezüglich der Einteilung der Gegenstände in Frage kommen könnten, führt Rudolf Haller in einem Brief an einen der Herausgeber folgende Werke Alexius Meinongs an: 1. Über Gegenstände höherer Ordnung und deren Verhältnis zur inneren Wahrnehmung. In: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 21 (1899), S. 182-272. 2. Über Gegenstandstheorie. In: Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, hrsg. von A. Meinong. Leipzig 1904, S. 1-50. 3. Über die Stellung der Gegenstandstheorie im System der Wissenschaften. In: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 129 und 130. (Der vierte Abschnitt dieser Abhandlung ist dem Problem der Apriorität gewidmet).
(54) 2.5.1921 Page 274
Brief, Notiz von Hänsels Hand: »1921«. Page 274
geschlaften: sic! Page 274
Pfingsten: Pfingstsonntag war am 15.5.
(55) [9.5.?1921] Page 274
Postkarte, Poststempel kaum lesbar, möglicherweise 9.V.21. Page 274
Dein Bild: nicht ermittelt. Page 274
/Möglichkeit/: über das Wort »Gefahr« geschrieben.
(56) [Ende Mai/Anfang Juni 1921 ?] Page 274
Brief, undatiert. Mit vorgedruckter Adresse. Von Hänsel mit »1921« datiert.
(57) 7.6.1921 Page 274
Brief. Page 274
Memoiren aus einem Totenhaus: Möglicherweise handelte es sich um die Ausgabe: Fjodor Dostojewski: Memoiren aus einem Totenhaus. Aus dem Russ. übers. von Hans Moser. Leipzig: Reclam o.J. [1919] (Reclams Universal-Bibliothek Nr. 2647-2649a). Page Break 275 Page 275
Volkserzählungen von Tolstoi: Möglicherweise in der Ausgabe: Leo Tolstoi: Volkserzählungen. Übers. und
hrsg. von Alexander Eliasberg. Berlin: Furche-Verlag o.J. [1920]. Wittgensteins Freund und Schüler Drury berichtet in seinen Bemerkungen zu einigen Gesprächen mit Wittgenstein, daß er auf Anraten Wittgensteins Die Brüder Karamasow und Schuld und Sühne von Dostojewski sowie die Volkserzählungen von Tolstoi gelesen hätte. Auf Drury's Äußerung, Dostojewski hätte ihm besser als Tolstoi gefallen, entgegnete Wittgenstein, daß er da andrer Meinung sei. Die Volkserzählungen würden immer lebendig bleiben, sie seien für die Völker geschrieben. Seine Lieblingsgeschichte daraus wäre die von den drei Greisen, die nur beten konnten: »Ihr seid drei, wir sind drei, habt Erbarmen mit uns.« (Vgl. Porträts und Gespräche, S. 129)
(58) 14.6.[1921] Page 275
Brief, Ort und Datum stehen im Original links unten am Briefende.
(59) 25.6.1921 Page 275
Brief.
(60) [vor dem 3.7.1921] Page 275
Postkarte, undatiert, Poststempel unleserlich. Page 275
Museen: Laut Bericht von Luise Hausmann besuchte Wittgenstein mit seinen Schülern in Wien sämtliche große Museen: das Technische, das Natur- und Kunsthistorische Museum und Schönbrunn. (Vgl. Nedo, S. 174)
(61) 5.7.1921 Page 275
Postkarte, das Datum steht im Original links unten am Briefende. Page 275
einen meiner Schüler: Karl Gruber: Geb. 9.6.1907, Trattenbach; gest. 26.9.1988, Wien. Lieblingsschüler Wittgensteins in Trattenbach. Wittgenstein gab ihm nach seinem Schulabgang ein Jahr lang Privatunterricht im Hause Scheibenbauer, meistens von ca. 16 Uhr bis 19.30 Uhr. Hänsel prüfte Gruber zeitweise in Latein. Von Wittgensteins Absicht, ihn in ein Gymnasium nach Wien zu schicken und ihn während dieser Zeit im Tagesschülerheim seiner Schwester Hermine unterzubringen, war Gruber jedoch weniger begeistert--er hätte sich als Empfänger von Wohltaten gefühlt und dies als Demütigung empfunden. Nach einem Jahr Privatunterricht bei Wittgenstein fühlte er sich von diesem »eingeengt« und erklärte, daß er nicht mehr weitermachen wolle. (Vgl. Wünsche, S. 150ff.) Gruber arbeitete später in einer Fabrik, doch in einem Brief an Wittgenstein vom 9.4.1924 schrieb er, daß es ihm dort nicht gefalle.
(62) 14.7.1921 Page 275
Brief. Page 275
St. Peter: Es handelt sich um die Erzabtei St. Peter (OSB) in Salzburg, die noch heute ein Internat führt. Hänsel hielt sich oft im Lesesaal der Bibliothek des Erzstiftes auf, wenn er in Salzburg auf Besuch war. Page 275
Feldkirch: Es handelt sich um das von Jesuiten geführte Gymnasium mit Internat »Stella Matutina«, das im Jahre 1978 aufgelöst wurde. Page 275
Calasanz: Joseph Calasanza (1556-1648) gründete 1597 in Rom die erste unentgeltliche Volksschule Europas und 1617 den Orden der Piaristen, die sich besonders der Jugenderziehung widmen. Page 275
Staatserziehungsanstalt ... Traiskirchen: Staatserziehungsanstalten (später Bundeserziehungsanstalten) waren besondere reformpädagogische Einrichtungen, die auf einen Erlaß des Unterrichtsministers Otto Glöckel (aus dem Jahre 1919) zurückgehen. Mit diesen
Page Break 276
Anstalten waren auch Schülerheime verbunden. Die Erhaltungs- und Erziehungskosten für unbemittelte Schüler trug der Staat nach dem Grade der Bedürftigkeit ganz oder teilweise. Page 276
Direktor Rommel: nicht ermittelt. Page 276
Schlögl: nicht ermittelt.
(63) [21.7.1921] Page 276
Postkarte, undatiert. Hänsel hat den Brief mit »Juli 21« datiert.
(64) 5.8.1921 Page 276
Brief. Am Textende wurde von anderer (Hänsels?) Hand Drobils Adresse »V, Wiedner Hptstr. 94« notiert.
(65) 23.8.1921 Page 276
Brief. Page 276
Skjölden: Richtig Skjolden. Nachdem Wittgenstein im September 1913 mit seinem Freund David Pinsent eine Reise nach Norwegen unternommen hatte, entschloß er sich im Oktober zu einem längeren Aufenthalt in diesem Land, um in der Einsamkeit über Fragen der Logik nachzudenken. Mitte Oktober ließ er sich in Skjolden, einer kleinen Ortschaft am Sogne-Fjord, nordöstlich von Bergen, nieder. Zunächst wohnte er in einem Gasthof, später dann im Hause des Postmeisters Hans Klingenberg. Neben der Familie Klingenberg (Hans, seine Frau Sofia und deren Tochter Kari) fand Wittgenstein noch mehrere Freunde unter den Einheimischen, wie Anna Rebni (1869-1970, eine Zeitlang Lehrerin in Oslo, ab 1921 wieder zurück in Skjolden, wo sie einen Bauernhof bewirtschaftete und ab 1925 auch die dortige Jugendherberge führte), Halvard Draegni, und den damals 13 Jahre alten Schüler Arne Bolstad. Bereits nach ca. einem Jahr beherrschte Wittgenstein die norwegische Sprache so gut, daß er in ihr mit seinen Freunden korrespondieren konnte. Am 26. März 1914 kam G. E. Moore für zwei Wochen nach Norwegen und Wittgenstein diktierte ihm einige Ergebnisse seiner Arbeit über Logik, die als Notes dictated to Moore veröffentlicht sind. Im Frühjahr 1914 begann Wittgenstein mit dem Bau einer Hütte, die er im Sommer 1921, anläßlich seiner nächsten Reise nach Norwegen mit Arvid Sjögren, zum ersten Mal bezog. (Vgl. Monk, S. 85 ff., S. 93 ff., und Nedo, S. 352f.) Page 276
H. Draegni: Halvard Johan Thomasson Draegni (1869-1950), Besitzer einer Saftpresserei in Skjolden. Von Draegni an Wittgenstein gibt es aus den Jahren 1914 bis 1921 11 Briefe, die im Brenner-Archiv aufbewahrt werden.
(66) [Ende September 1921] Page 276
Brief (Zettel), undatiert.
(67) 14.10.[1921] Page 276
Brief. Auf der Rückseite hat Wittgenstein die Vorbereitung für einen Schultag notiert: Page 276
»A). I. a) 1.
Page 276
2) Auf d. Karte 1:75000 ist eine Strecke 226 mm lang wie lang ist sie in Wirklichkeit
Page 276
3) 32.4 × 98 : 172 = 4) Probe Page 276
II. 3) I = (2d + 2s)·(2d + 2s)·(d + s) 4) auf d. einfachste Form. Page 276
1) a3·r + (s + t)·a3 Page 276
2) a = 22, r = 1533, s = 4577 t = 3281 Page Break 277 Page 277
B. Schreiben N, M, T, St, S, Page 277
C. Geschichte. E. Lesen Memoriren« Page 277
Das von Wittgenstein auf der Rückseite des Briefes notierte Rechenbeispiel II zeigt, daß er seinen Schülern viel abverlangte. Die Lösung dieser Term-Multiplikation: 4d3 + 12d2s + 12ds2 + 4s3 führt auf Terme dritten Grades; weiters setzt die Vereinfachung solcher Terme die Kenntnis allgemeiner algebraischer Gesetze (z.B. des Distributivgesetzes) voraus, und zwar unabhängig von der praktischen Rechenarbeit mit »konkreten« Zahlenwerten; auch die nächstfolgende Aufgabe, die zu großzahligen Ergebnissen führt, dürfte wohl über das durchschnittliche Niveau von Volksschulklassen weit hinausgehen. Page 277
Gleich in drei Berichten an den Landesschulrat von Niederösterreich wird auf Wittgensteins Vorliebe für die Algebra hingewiesen. So schreibt Norbert Rosner, Hauptschullehrer in Puchberg: »Als Lehrer arbeitete er mit einem Eifer, der nicht mehr zu überbieten war. Doch kümmerte er sich nicht um den Lehrplan, nicht um die Anordnungen seiner vorgesetzten Behörden. Er ging vielmehr seinen eigenen Weg, wollte neue Methoden des Unterrichts und der Erziehung finden. So glaubte er, daß es möglich wäre, schon in der Volksschule schwierige Aufgaben aus dem Gebiete der Algebra behandeln zu können. Herr Witgenstein [sic] hatte Erfolg. Die Kinder der 5. Volksschulklasse rechneten Aufgaben, die sonst nur in der 3. und 4. Realschulklasse gegeben wurden. Gelegentlich einer Hospitierstunde, zu der mich Herr Witgenstein einlud, konnte ich die kleinen Rechenkünstler bewundern.« (ÖStA, Wittgenstein, Personalakt 48459-IV/1853) Page 277
Wittgensteins Rechenbeispiel »mit den Buchstaben« fällt unter die sogenannten »allgemeinen« Rechentechniken (im Gegensatz zur Arbeit mit konkreten Zahlenangaben), d.h. es handelt sich um das Rechnen mit Variablen in abstrakten algebraischen Termen. Da diese Form der Mathematik mehr oder minder »unanschaulich« ist, wird auch heute noch in Volksschulen auf einen solchen »abstrakten« Einstieg in die Mathematik verzichtet. Daß vor allem die Eltern der Schüler damit offensichtlich Schwierigkeiten hatten, bezeugt ein Bericht des Ternitzer Lehrers W. Palma an den Bezirksschulrat Neunkirchen: »Sein Interesse für Mathematik fiel mir besonders auf. Bereits in der 4. und 5. Schulstufe versuchte er das allgemeine Rechnen. Dadurch hatte er oft grosse Schwierigkeiten mit den Eltern seiner Schüler, die diese Unterrichtsart nicht begriffen.« (A.a.O.) Interessant ist auch die Unterrichtsmethode, die Wittgenstein mit dieser Rechenart verband: Die Schüler sollten lernen, schwierige Terme zu vereinfachen, um dann in die Ergebnisse Zahlen einzusetzen und damit zu erkennen, daß hinter der »Rechen-Praxis« (d.h. also dem anschaulichen Teil der Aufgabe) ein wohlgeformtes theoretisches Grundgerüst steht. Diesen Übergang vom »Schweren« (also dem abstrakt-unanschaulichen Teil) zum »Leichteren« (dem einfachen Rechenhandwerk mit Zahlenwerten) erachtete Wittgenstein für besonders wichtig. Dies dokumentiert ein Bericht von Wittgensteins Lehrer-Kollegen Georg Berger: »Mit den älteren, besser begabten Schülern löste er auch algebraische Rechenaufgaben. Er meinte, daß manchmal auch der umgekehrte Weg, vom Schwereren zum Leichteren zum Ziele führe; und wer einmal das Allgemeine verstände, dem wäre dann das Besondere ein Leichtes.« (A.a.O.) Daß Wittgenstein die Frage nach der Anschaulichkeit bzw. Unanschaulichkeit in der Mathematik nicht allein als ein pädagogisches Problem ansah, sondern vielmehr auch als ein grundsätzlich philosophisches, bezeugt TLP 6.233. Dort heißt es: »Die Frage, ob man zur Lösung der mathematischen Probleme die Anschauung braucht, muß dahin beantwortet werden, daß eben die Sprache hier die nötige Anschauung liefert.« Diese Stelle im Tractatus zeigt auch die tieferen Hintergründe von Wittgensteins pädagogischem Konzept für den Rechenunterricht, so wie es uns sein Kollege Georg Berger überliefert hat: Offenbar waren für ihn Denkrichtigkeit und Sprachrichtigkeit ein und dasselbe. In der Mathematik wird nicht »ausprobiert«, sondern streng »gewußt«, wie es »geht«. Dazu auch TLP 6.2331: »Der Vorgang des Rechnens vermittelt eben diese Anschauung. Die Rechnung ist kein Experiment.« Man
probiert also beim Rechnen nicht einfach »alle Möglichkeiten« aus, sondern kann vom Hintergrund strenger algebraischer Strukturen her schnell und vor allem eindeutig zu Ergebnissen gelangen. Page 277
Daß Wittgensteins Unterricht »Früchte trug«, bestätigte Josef Handler, der Wirt des Gasthofs Page Break 278
Post von Kirchberg: In einem Gespräch mit den Herausgebern am 17.11.1992 betonte er, daß ihm stets die ungewöhnliche, von der herkömmlichen, in der Schule erlernten, abweichende Art zu rechnen aufgefallen wäre, die Stangl und Riegler, zwei ehemalige Schüler von Wittgenstein, angewandt hätten und daß diese die besten Rechner im Dorf gewesen wären. Page 278
Wallenstein: Die Ausgabe konnte nicht ermittelt werden. Page 278
Einübung im Christentum: Gemeint ist das von Sören Kierkegaard 1850 unter dem Pseudonym Anti-Climacus publizierte Werk Einübung in das Christentum (Im dänischen Original: Indovelse i Kristendommen). Bei der deutschen Ausgabe handelte es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um den 9. Band der Gesammelten Werke, übers. von H. Gottsched. Jena: Diederichs 1912. Daß Wittgenstein zu der Zeit auch andere Werke Kierkegaards gelesen hat, kann als sicher gelten. So schreiben Kurt Wuchterl/Adolf Hübner in ihrer Wittgenstein-Biographie: »Karl Gruber, einer seiner begabtesten Schüler, dem Wittgenstein gratis Privatunterricht zur Vorbereitung für den Besuch des Gymnasiums gab und den er sogar adoptieren wollte, erinnert sich, Bücher mit ›sonderbaren Titeln‹ gesehen zu haben. In einem der Titel kam das Wort ›Angst‹ vor, und man kann wohl annehmen, daß es sich dabei um Kierkegaards Werk ›Der Begriff Angst‹ gehandelt hat.« (Wuchterl/Hübner, S. 96). Page 278
Nach seinem Treffen mit Wittgenstein in Den Haag schrieb Russell an Lady Ottoline am 20.12.1919: »Aus seinem Buch hatte ich schon einen Anflug von Mystik herausgespürt, war aber doch erstaunt, als ich herausfand, daß er ganz zum Mystiker geworden ist. Er liest solche Leute wie Kierkegaard und Angelus Silesius und denkt ernsthaft darüber nach, Mönch zu werden.« (Vgl. McGuinness, S. 432). Page 278
dem Herrn Pfarrer: Es handelt sich um Alois Lucius Neururer: Geb. 1878, Pfunds/Tirol; gest. 27.1.1952, Rosenau/NÖ. Wurde 1904 zum Priester geweiht und am 17.11.1916 in die Erzdiözese Wien inkardiniert. 1916 Kooperator in Aspang, 1917 Lokalprovisor in St. Peter, ab 1.12.1917 in Trattenbach, wo er am 1.5.1918 zum Pfarrer ernannt wurde. Am 31.8.1936 trat er in den dauernden Ruhestand, übte aber ab 1.9.1936 eine Tätigkeit als Messeleser in Mitterbach aus. Vom 4.11.1937 bis zu seinem Tode lebte Neururer als Benefiziant in Schloß Rosenau bei Zwettl in Niederösterreich. (Vgl. dazu den Bericht des Diözesanarchivs Wien vom 25.3.1991). In Trattenbach schloß er mit Wittgenstein Freundschaft, die bis zu dessen Tode hielt. Page 278
»Er war ein strenger, aber sehr religiöser, weit vorausschauender, hochbegabter Mensch. So hat er im Jahre 1928 die Pfarrkirche in Trattenbach umgestaltet und einen Volksaltar errichtet und den Choralgesang eingeführt, was zur damaligen Zeit revolutionär war und folglich zu Spannungen und Differenzen kam. Ansonsten war er ein ausgesprochen guter Mensch, hat sich besonders für die Armen angenommen und hat oft das Letzte, was er besaß, für sie gegeben«. (Bericht vom Pfarramt Trattenbach vom 8.4.1991). Frau Elisabeth Brenner, die nach dem Krieg eine Zeitlang Haushälterin bei Pfarrer Neururer war, berichtete in einem Schreiben vom April 1991: »Herr Pfarrer Neururer hat viel für die Armen getan. Als damals die große Arbeitslosigkeit war, war die Not groß. Die Familienväter waren ausgesteuert und hatten nichts zum Essen u. Anziehen für ihre Kinder. Viele Kinder hatten keine Schuhe, der Winter war bei uns kalt und es gab meist viel Schnee. Herr Pfarrer ging zum Schuhmacher und bestellte Schuhe für Kinder. Er hat mit dem Schuhmacher vereinbart, er werde ihm Kinder schicken zum Maß nehmen. Wenn die Schuhe fertig waren, konnten sie die Kinder holen. Wer sie bezahlt hat, hat kaum jemand gewußt. Herr Pfarrer vereinbarte auch mit den Bauern ob er ihnen jemand schicken konnte um einen Laib Brot oder andere Lebensmittel oder er schickte ein armes Kind für den Sonntag zum Essen. Er selbst hat auch viel geholfen mit warmen Kleidern ohne Rücksicht wie die Familien zum Glauben standen, ob sie in die Kirche gingen oder nicht. Einer armen behinderten Familienmutter die sich selbst nicht recht helfen konnte, hat er jede Woche jemand geschickt zum Wäsche waschen die sie nicht bezahlen brauchte. Auch hat er Brautleute getraut, die sich das Heiraten nicht mehr leisten konnten, ohne einen Groschen zu verlangen. Das war dann auch eine große Freude für die Betreffenden. Im Winter ging Herr Pfarrer die oft sehr beschwerlichen, weiten Wege zu den Kranken und alten Leuten die im Winter nicht zur Kirche kommen konnten. Er hat nachgeschaut, wie es ihnen geht, er hat mit ihnen geplaudert und sie getröstet.
Page Break 279 Page 279
Auch die Kirche hat er würdevoll hergerichtet. Da der alte Hochaltar schon morsch war, hat er einen neuen errichten lassen. Da die Kirche der hl. Dreifaltigkeit geweiht ist, war auch die heiligste Dreifaltigkeit der Mittelpunkt in der Kirche. [...] Herr Pfarrer hat immer gesagt ›Für den Herrgott ist nichts schön genug und nichts gut genug‹. Es war immer seine Sorge dem lieben Gott das Beste und Schönste zu geben.«
(68) [Anfang November 1921 ?] Page 279
Brief, undatiert. Datierung aufgrund der Erwähnung Tagores. Der Brief kann aber auch später abgefaßt worden sein, etwa Anfang 1923. Page 279
Tagore: Es handelt sich dabei höchstwahrscheinlich um das Drama Der König der dunklen Kammer von Rabindranath Tagore. München: Kurt Wolff Verlag, Leipzig: Poeschel & Trepte 1921. In einem Brief an Engelmann vom 23. Oktober 1921 schrieb Wittgenstein hingegen, daß dieses Werk auf ihn keinen wirklich tiefen Eindruck gemacht habe. Es schien ihm, daß Tagore die darin enthaltene Weisheit zusammengelesen, aber nicht selbst »gefühlt« hätte. Es schien ihm nicht der Ton eines von der Wahrheit ergriffenen Menschen. (Briefe, S. 121) Später änderte er seine Meinung und bei seinen Treffen mit Schlick und weiteren Mitgliedern des Wiener Kreises in den Jahren 1927/1928 las er unter anderem aus Dichtungen Tagores vor. (Vgl. Wittgenstein und der Wiener Kreis, Werkausgabe Bd. 3, S. 15).
(69) 4.12.1921 Page 279
Postkarte. Page 279
Donnerstag: 8. Dezember, Fest Maria Empfängnis.
(70) 9.12.1921 Page 279
Postkarte. Page 279
Phil. Ges.: Philosophische Gesellschaft. Am 20.12.1921 hielt Univ.-Prof. Dr. A. E. Haas einen Vortrag über Das Problem des Urstoffes und die moderne Physik, am 21.1.1922 referierte Otto Neurath über Ernst Machs Geschichte der Optik und der Wissenschaftslehre, am 17.2.1922 stellte Dr. Josef Herz die Frage: Ist die Abfolge der philosophischen Systeme gesetzmäßig?
(71) [zw. dem 9. u. 23.12.1921] Page 279
Brief (Zettel), undatiert. Page 279
Volkslieder der Sammlung Göschen: Das deutsche Volkslied. Ausgew. und erl. von Julius Sahr. 3. Aufl. Berlin, Leipzig: De Gruyter 1912 (Sammlung Göschen Nr. 25)
(72) [23.12.1921] Page 279
Brief (Zettel), undatiert. Page 279
Birger: nicht ermittelt.
(73) [Anfang Jänner 1922] Page 279
Brief, undatiert. Page 279
Durch Russell erfahre ich: Vgl. Bertrand Russell an Wittgenstein, 24.12.1921 (Original im Brenner-Archiv): »Ostwald had already printed before I saw the proofs--I think it must be out by now--Ogden has done all the business, and is going ahead with getting your work published in English. The publication is all arranged for.« Page 279
»Annalen der Naturphilosophie«: Von Wilhelm Ostwald im Jahre 1901 begründete und auch von ihm herausgegebene Zeitschrift. Wittgensteins Logisch-Philosophische Page Break 280
Abhandlung erschien im letzten Band der Annalen zur Naturphilosophie, Bd. 14, Heft 34, 1921, S. 184-262.--Wilhelm Ostwald: Geb. 2.9.1853, Riga; gest. 4.4.1932, Großbothen bei Leipzig. Chemiker und Philosoph. Seit 1881 Professor der Chemie am Polytechnikum Riga, 1887-1906 Professor der physikalischen Chemie in Leipzig. 1888 Entdeckung des Ostwaldschen Verdünnungsgesetzes, 1909 Nobelpreis für Chemie. Hauptvertreter der »Energetik«, führte alles Sein und Geschehen auf Energie zurück, somit auch die Materie und den Geist, die für ihn nichts als Erscheinungsformen der Energie waren. Kulturelle Vervollkommnung beruht nach Ostwald darauf, daß die in der Natur vorhandene freie Energie mit immer geringerem Verlust in die Energieformen des Lebens und der Kultur transformiert wird. Ostwald vertrat einen philosophischen Monismus und versuchte, ähnlich wie Ernst Mach, naturwissenschaftliche Methoden in den Geisteswissenschaften anzuwenden. Seit 1900 regelmäßige Vorlesungen zu Themen der Naturphilosophie, 1889 Begründung der Schriftenreihe Klassiker der exakten Wissenschaften und von 1912 an Herausgeber von Das monistische Jahrhundert, dem er seine monistischen Sonntagspredigten beifügte. Werke u.a.: Die wissenschaftlichen Grundlagen der analytischen Chemie, 1894; Vorlesungen über Naturphilosophie, 1902; Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft, 1909; Die Philosophie der Werte, 1913; Der Farbenatlas, 1918; Die Harmonien der Farben, 1918; Die Farbenlehre (2 Bde.), 1918-1919; Die Harmonien der Formen, 1922. Page 280
beiliegenden Zeilen: nicht ermittelt.
(74) [vor dem 21.1.1922] Page 280
Brief, undatiert.
(75) [vor dem 21.1.1922 ?] Page 280
Brief, undatiert. Gleiches Briefpapier wie Nr. 74 und dieselbe violette Tinte, die nur auf diesen beiden Briefen verwendet wurde.
(76) 1.2.[1922] Page 280
Brief. Hänsel hat den Brief irrtümlich mit »21« datiert. Am 1.2.1921 hat Hänsel aber Brief Nr. 42 verfaßt. Da im Brief von Trattenbach die Rede ist, kann es sich also nur um das Jahr 1922 handeln. Page 280
Die Stiefel: Die Anspielung konnte nicht ermittelt werden. Page 280
Schulnachrichten: nicht ermittelt. Page 280
Liturgik u. den Homer: Um welche Ausgaben es sich dabei gehandelt hat, konnte nicht ermittelt werden.
(77) [3.2.1922] Page 280
Brief (Zettel), undatiert. Die Datierung stützt sich auf Hänsels Aussage in Nr. 76, er werde die Liturgik und den Homer am Freitag schicken.
(78) 16.2.1922
Page 280
Brief. Page 280
Philipp Reclam: Um welche Bücher es sich dabei handelte, konnte nicht ermittelt werden.
(79) [zwischen 25. u. 28.3.1922] Page 280
Brief, undatiert. Blaues Briefpapier, abgerissen. Page 280
Hälfte eines Briefes: nicht ermittelt. Page Break 281
das Manuskript: Vgl. dazu Ogden's Brief an Wittgenstein vom 20.3.1922, mit dem er Wittgenstein die englische Übersetzung mit Notizen und Vorschlägen von Russell schickt. In seinem 7 Seiten langen Brief stellt Ogden Wittgenstein Fragen zu Punkten, die den Übersetzern unklar waren. Auch bittet er Wittgenstein um eine gedruckte Fassung des deutschen Textes und fragt diesen um seine Meinung zu dem von Moore vorgeschlagenen Titel Tractatus Logico-Philosophicus. Am 28.3.1922 schreibt Wittgenstein an Ogden, daß er der erhaltenen Übersetzung entnehme, daß die dazu verwendete deutsche Vorlage voll fürchterlicher Fehler sein müßte, da der Sinn einiger Sätze in das genaue Gegenteil von dem, was er (Wittgenstein) meinte, verkehrt, der von anderen Sätzen überhaupt zerstört worden sei. Wittgenstein will nun erst abwarten, bis man ihm eine deutsche Fassung seines Manuskriptes aus Wien zusenden würde. Im übrigen hätte er selbst keine korrigierte Fassung seines Manuskriptes, da er die einzige korrigierte Fassung davon Russell gegeben hätte und nicht wüßte, was aus dieser geworden sei. Ob vielleicht Ostwald sie habe? Es wäre für die Publikation des deutschen Textes sehr wichtig, daß er diese korrigierte Fassung wieder bei sich hätte, da es darin um gewisse Feinheiten ging, die er damals korrigiert hätte, als die »Sache noch lebhaft in seinem Kopf« war. Um seinen Text für die englische Übersetzung zu korrigieren, genüge die ihm zur Verfügung stehende unkorrigierte Fassung, da in einer Übersetzung jene Feinheiten ohnehin verloren gingen. (Vgl. Ludwig Wittgenstein. Letters to C.K. Ogden, with Comments on the English Translation of the Tractatus Logico-Philosophicus. Edited with an Introduction by G. H. von Wright and an Appendix of Letters by Frank Plumpton Ramsey. Oxford: Basil Blackwell; London, Boston: Routledge & Kegan Paul 1973, S. 17ff.) In einem Brief vom 10.4.1922 schreibt Ogden an Wittgenstein, daß die Annalen nun erschienen wären, und zwar an dem Tag, als er Wittgensteins Brief vom 28.3. erhalten habe. Vgl. dazu auch einen Brief Wittgensteins an Engelmann mit dem Poststempel 5. August 1922, in dem er den Druck seines Werkes in Ostwalds Annalen als Raubdruck bezeichnet, der voller Fehler sei. Er weist darauf hin, daß in den nächsten Wochen seine Arbeit in London auf Deutsch und auf Englisch erscheinen würde. (Briefe, S. 123) Bevor es dazu kam, hatte Wittgenstein in einer ausführlichen Korrespondenz mit Ogden die englische Übersetzung überarbeitet und dann am 22. Juni sämtliche Veröffentlichungsrechte an den Verlag Kegan Paul in London übertragen. Im November erhielt Wittgenstein die ersten Autorenexemplare der deutsch-englischen Ausgabe der Logisch-Philosophischen Abhandlung mit dem von Moore vorgeschlagenen Titel Tractatus Logico-Philosophicus.
(80) 5.4.1922 Page 281
Brief. Page 281
die Sendung: Möglicherweise handelt es sich um die in Brief Nr. 78 von Wittgenstein bestellten Bücher bei Reclam.
(81) [vor dem 10.5.1922] Page 281
Brief, undatiert. Page 281
Tempski: Die Verlage Alfred Hölder, Friedrich Tempsky und A. Pichlers Witwe & Sohn schlossen sich 1922 zur Hölder-Pichler-Tempsky AG zusammen. Die konstituierende Versammlung der AG fand am 23. Mai 1922 statt. Page 281
Pennersdorfer: Ignaz Pennerstorfer: Lehrbuch der Geschichte für Bürgerschulen. 3 Teile. 8. Aufl. Wien: Manz 1908-1909.
(82) [vor dem 10.5.1922] Page 281
Brief, undatiert. Auf der Vorderseite unten von Hänsels Hand?: »Schulbücher Verlag à 198 K«; auf der Rückseite Rechnungen mit Bleistift, bei denen unklar ist, von wem sie stammen. Page 281
Krautmann: Ferdinand Krautmann: Darstellungen aus der Weltgeschichte für Bürgerschulen. Mit Hervorhebung der Kulturverhältnisse nach Meisterwerken der Geschichtsschreibung. 2 Teile. Wien: Schulbücher-Verlag 1910. Page Break 282
(83) 10.5.1922 Page 282
Brief. Page 282
in ihrem Verlagen: sic! Page 282
Linke: Von Karl Linke ist kein Geschichtsbuch für Bürgerschulen bekannt.--Karl Linke: Geb. 1.10.1884, Wien; gest. 2.11.1938, Wien. Pädagoge, Schulreformer, Schriftsteller und Komponist. Zunächst Volksschullehrer, 1919 vom Unterrichtsminister Otto Glöckel in die Reformabteilung des Unterrichtsministeriums berufen, wo er an der Neugestaltung der Lehrpläne mitarbeitete. 1922-1934 war er am Pädagogischen Institut der Stadt Wien, daneben auch im Volksbildungsamt und in der Lichtbildstelle des Unterrichtsministeriums tätig. Ab 1914 trat Linke nachdrücklich für eine Reform des Geschichtsunterrichts ein, und zwar sollte verstärkt die Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte miteinbezogen werden. Page 282
»Schulreform«: Pädagogische Monatsschrift. Schriftleitung: Karl Linke und V. Fadrus; erschien von 1922-1934. Page 282
auch unser Wiedersehen: sic!
(84) [nach dem 10.5.1922 ?] Page 282
Brief, undatiert. Gleiches Briefpapier wie Nr. 82; Nr. 84 und Nr. 82 liegen in Hänsels Nachlaß nebeneinander. Page 282
Bilderbücher: Von welchen Büchern und Bildern hier die Rede ist, konnte nicht ermittelt werden.
(85) 15.5.1922 Page 282
Brief. Page 282
die Beiden gut untergebracht sind: Anna und Maria Hänsel befandensich damals auf »Erholung« im Ausland, laut Auskunft von Prof. Hermann Hänsel in Schweden oder Holland. Es dürfte sich dabei um eine Nachkriegs-Unterstützungs-Aktion für Kinder gehandelt haben.
(86) 19.5.[1922] Page 282
Brief.
(87) [nach dem 26.5.1922] Page 282
Brief, undatiert.
(88) [7.6.1922]
Page 282
Postkarte. Page 282
»unwirsch«: Hänsel bezog alle seine Informationen aus dem Deutschen Wörterbuch von Friedrich Karl Ludwig Weigand. 5 Aufl., hrsg. von Herman Hirt. 2 Bde. Gießen: Verlag von Alfred Töpelmann 1909-1910. Page 282
Reigenvortrag: nicht ermittelt. Page 282
Schwaighofer: Anton Schwaighofer: Tabellen zur Bestimmung einheimischer Samenpflanzen und Gefäßporenpflanzen. Für Anfänger, insbesondere für den Gebrauch beim Unterricht zusammengestellt. 13. Aufl. Wien: A. Pichlers Witwe & Sohn 1909.
(89) 15.6.1922 Page 282
Brief. Page Break 283
(90) [vor dem 24.7.1922 ?] Page 283
Brief, undatiert. Möglicherweise handelt es sich um das Jahr 1922. Am 17.7.1922 schreibt Wittgenstein noch von Wien aus einen Brief an C. K. Ogden. Am 4.8.1922 schreibt er in einem weiteren Brief an Ogden, daß er gerade bei seinem Onkel in Hallein (bei Salzburg) sei. Aigen--damals noch ein eigener Ort--ist heute ein Stadtteil von Salzburg, wo Paul Wittgenstein ebenfalls ein Haus besaß.
(91) 21.9.1922 Page 283
Brief. Page 283
hier: Nach seiner Lehrtätigkeit in Trattenbach unterrichtete Wittgenstein für kurze Zeit (laut Adolf Hübner vom 16.-22.9.1922) in einer Hauptschule in Haßbach. Vgl. seinen Brief an Engelmann vom 14.9.1922 (Briefe, S. 125): »[...] weil ich vor ein paar Tagen in dem zukünftigen Ort meiner Lehrtätigkeit (Haßbach bei Neunkirchen, N. Ö.) war und dort von meiner neuen Umgebung (Lehrer, Pfarrer etc.) einen sehr unangenehmen Eindruck bekommen habe. Gott weiß, wie das werden wird!?!« Anschließend an seine Zeit in Haßbach arbeitete Wittgenstein aushilfsweise in Neunkirchen und kam dann nach Puchberg am Schneeberge. (Vgl. dazu Wittgensteins Zeugnis über seine Befähigung zum Volksschullehrer und Hübner in seinem Vorwort zum Wörterbuch für Volkschulen, S. VIII). Page 283
ça coute les yeux de la tête: richtig: ça coûte les yeux de la tête = teuer zu stehen kommen.
(92) [nach dem 10.10.1922] Page 283
Postkarte, Poststempel bis auf »Puchberg« unleserlich. In Brief Nr. 93 vom 13.10.1922 ist von »Übersiedlungen« die Rede. Also dürfte damals die Übersiedlung nach Puchberg bereits erfolgt sein. Außerdem war Wittgenstein laut Aussage von Hermine Wittgenstein am 8.10. in Wien, wo er auch den »Riesenlaib« von Frau Hänsel mitbekommen haben dürfte. Der von Wittgenstein angesprochene Dienstag könnte also der 10.10.1922 gewesen sein. Page 283
Krummböck: nicht ermittelt. Page 283
Cafetier Zwinz: Über diesen Aufenthalt Wittgensteins im Hause Zwinz berichtete der 1893 geborene Sohn des Cafetiers Zwinz, Herr Emmerich Zwinz, in einem Brief vom 12.8.1991 an die Herausgeber: »Als Wittgenstein bei uns wohnte, es kann durchaus Herbst 1922 gewesen sein, führte mein Vater den Betrieb. Schriftliche Aufzeichnungen wie bestätigte Quittungen oder Eintragungen in einem Gästebuch sind keine vorhanden. Ich erinnere mich noch gut an eine Episode. Als ich Herrn Wittgenstein bei seiner Einquartierung in sein Zimmer führte, öffnete er noch in meinem Beisein seinen Koffer--etwas überrascht, doch nicht bestürzt meinte er: ›Ein Schuh--ein
Stiefel‹. Ich verließ den Raum und dachte mir: ›Ein sonderbarer Kauz, dieser Lehrer.‹« Page 283
In Puchberg wechselte Wittgenstein mehrmals seine Wohnungen. Nach einer kurzen Zeit bei Zwinz wohnte er zuerst bei einer Frau Ehrbar, später bei Familie Rendl. (Vgl. den Bericht des Lehrerkollegen Rosner, zit. nach Nedo, S. 190).
(93) 13.10.1922 Page 283
Brief.
(94) [25.10.1922] Page 283
Postkarte, Poststempel von Puchberg am Schneeberge, die Jahreszahl auf dem Poststempel ist unleserlich, wurde aber aus dem Inhalt (»Prüfung«) als sicher erschlossen. Page 283
meine Prüfung: Am 6.11.1922 legte Wittgenstein die Lehrbefähigungsprüfung für allgemeine Volksschulen ab. Page Break 284
(95) 29.11.1922 Page 284
Brief. Page 284
an dem Buch: Es handelt sich um die deutsch-englische Ausgabe des Tractatus: Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico-Philosophicus. With an Introduction by Bertrand Russell. London: Routledge & Kegan Paul 1922.
(96) [28.1.1923] Page 284
Postkarte, Poststempel schwer lesbar.
(97) [vor dem 17.2.1923] Page 284
Postkarte, Poststempel von Puchberg am Schneeberge, Datum bis auf das Jahr unleserlich. Page 284
das bewußte Bild: nicht ermittelt.
(98) [19.2.1923] Page 284
Postkarte.
(99) [vor dem 8.3.1923] Page 284
Brief, undatiert. Page 284
einzigen Menschen: Rudolf Koder. Vgl. Ludwig Wittgenstein an Hermine Wittgenstein, 8.3.1923: »Koder kommt wahrscheinlich nicht weg; wenigstens nicht in diesem Jahr, da der Abbau verschoben ist.« (Vgl. das Faksimile in Nedo, S. 178).--Rudolf Julius Koder: Geb. 12.4.1902, Wien; gest. 13.11.1977, Wien. Lehrer. Wittgenstein und Koder lernten sich während ihrer Lehrerzeit in Puchberg kennen; ihre Freundschaft erwuchs vor allem aus dem gemeinsamen Interesse für Musik. Koder erzählte Allan Janik, daß Wittgenstein eines Nachmittags in sein Zimmer kam, wo er Klavier spielte, und schweigend zuhörte. Am darauffolgenden Tag erschien er mit seiner Klarinette, setzte sich zu Koder und begleitete ihn am Klavier. Fast täglich musizierten dann die beiden und
Wittgenstein spielte mit größter Hingabe, wobei er darauf achtete, daß der Ton seiner Klarinette so rein wie möglich war. Wenn ihm das nicht gelang, so übte er mit Koder immer wieder dieselbe Stelle. Wittgenstein liebte vor allem Mozart, Schubert, Bruckner, Brahms und Labor. Sein Lieblingsstück war laut Aussage Koders das Kaiserquartett von Haydn. Auf der Klarinette spielte er Passagen aus bearbeiteten Klarinettenquintetten von Brahms und Mozart sowie Klarinetten-Parte aus Klarinetten-Sonaten von Brahms und Labor. (Mündlicher Bericht von Koder an Allan Janik im Jahre 1969; vgl. auch den Bericht von Koder Erinnerungen an L. Wittgenstein, 10.4.1975 in Wünsche, S. 111f. und Nedo, S. 181).
(100) [um den 8.3.1923] Page 284
Brief, undatiert.
(101) [17.4.1923] Page 284
Postkarte. Das auf der Postkarte angeführte Datum »Sonntag d 7.« bezieht sich allerdings auf das Jahr 1922, wo der 7. Mai ein Sonntag ist. Vielleicht hatte Wittgenstein irrtümlich einen Kalender aus dem Vorjahr eingesehen? Page 284
Bruder im Konzert: Nicht ermittelt.
(102) [26.4.1923] Page 284
Postkarte. Die Datumsangabe »Samstag d. 29. April« trifft allerdings für das Jahr 1922 zu. Page Break 285
Auch der 6. und der 13. Mai beziehen sich auf das Jahr 1922, da beide auf einen Samstag fallen. Wegen Beschädigung ist die Absenderangabe nur teilweise lesbar, ebenso ist die Ausführung nach »bestimmt[«] wegen Beschädigung nicht mehr eindeutig lesbar. Der Zusatz »Besten Gruß von Koder« stammt von Koders Hand.
(103) 27.5.1923 Page 285
Brief. Page 285
meine Schülerin: nicht ermittelt. Page 285
Fuchs: Oskar Fuchs: Geb. 8.4.1909, Gloggnitz; gest. 2.11.1964, Trattenbach. Schuhmachermeister. Fuchs gehörte zu Wittgensteins besten Schülern in Trattenbach (vgl. den Bericht von Luise Hausmann, in Nedo, S. 184). Die Briefe von Fuchs an Wittgenstein sind offensichtlich verlorengegangen.
(104) 7.6.1923 Page 285
Brief, Ort und Datum stehen im Original links unten am Briefende.
(105) [vor dem 30.6.1923] Page 285
Brief, undatiert. Die Datierung stützt sich auf die Angaben in Nr. 106. Demnach hat der Engelmann-Besuch am Samstag, den 30.6., stattgefunden. Page 285
Engelmann: Paul Engelmann: Geb. Juni 1891, Olmütz; gest. 5.2.1965, Tel Aviv. Architekt und Philosoph. Studierte Architektur bei Adolf Loos in Wien und lernte auch Karl Kraus persönlich kennen; er war ein Jahr lang freiwilliger Privatsekretär von Karl Kraus. 1934 emigrierte Engelmann nach Tel Aviv, wo er als Möbelzeichner arbeitete. Bekannt wurde Engelmann vor allem durch seine posthum veröffentlichten Erinnerungen an Ludwig Wittgenstein. Er war u.a. auch Herausgeber der Werke von Joseph Markus und Gustav Steinschneider. Viele Werke von Engelmann selbst sind noch unveröffentlicht, u.a. Orpheus und Eurydike, Psychologie graphisch dargestellt,
Die urproduzierende Großstadt und eine von ihm zusammengestellte Lyrikanthologie. Werke u.a.: in: Gedanken, 1944; in: Im Nebel, 1945; Adolf Loos, 1946; Dem Andenken an Karl Kraus, 1949. In der Fackel Nr. 317/318 vom 28.2.1911 publizierte Paul Engelmann ein Gedicht auf das Haus am Michaelerplatz, in dem er dieses »als erstes Zeichen einer neuen Zeit« bezeichnete. Am 15.5.1911 las Kraus u.v.a. auch Engelmanns Gedicht Das Adolf Loos-Haus. Wittgenstein lernte Engelmann im Herbst 1916 kennen, als er sich während einer militärischen Ausbildung an der Artillerie-Offiziersschule in Olmütz aufhielt. Adolf Loos hatte ihn beauftragt, an Engelmann Grüße auszurichten, der wegen eines längerdauernden Krankenaufenthaltes seinen Besuch in der Bauschule bei Loos unterbrechen mußte. Bald entwickelte sich zwischen Wittgenstein und Engelmann eine tiefe Freundschaft. Während Wittgensteins Aufenthalt in Olmütz kam es zu allabendlichen Zusammentreffen im Hause Engelmann, an denen auch Paul Engelmanns Mutter Ernestine sowie mehrere seiner Freunde teilnahmen: u.a. der Jusstudent Heinrich Groag, der Musikstudent Fritz Zweig und dessen Cousin, der spätere Dramatiker Max Zweig. (Vgl. Engelmann, S. 44f.) In seinen Lebenserinnerungen schreibt Max Zweig: »Paul Engelmann war ein mit vielen Talenten begabter Mensch; ich möchte fast sagen: mit zu vielen. Unter allen diesen war das für Architektur das einzige, in welchem er eine gründliche Ausbildung erfuhr und welches ihm ermöglichte, sein Leben zu fristen. [...] In seiner Jugend schrieb er schöne Gedichte, auch ein Schauspiel in Versen: ›Orpheus und Eurydike‹, welches geglückte lyrische Teile, aber kein dramatisches Leben besaß. Das Dichten gab er später auf. Zweifellos eignete ihm eine angeborene philosophische Begabung. In seinen späteren Lebensjahren trat er in Tel Aviv einem philosophischen Verein bei, welcher an jedem Sabbat-Vormittag zusammenkam. Ein anderer Teilnehmer dieser Kurse erzählte mir, daß Pauls Beiträge zu den Diskussionen und dessen Vorträge immer interessant und originell, aber seltsam subjektiv waren. [...] Pauls Innenleben leuchtete von makelloser Reinheit. Er war eine Persönlichkeit von lauterster Integrität. [...] In seinem Beruf Page Break 286
bewies er die größte Gewissenhaftigkeit und Verläßlichkeit.« (Max Zweig: Lebenserinnerungen. Gerlingen 1987, S. 175f.) Page 286
das fragliche Gedicht: nicht ermittelt.
(106) 9.7.1923 Page 286
Brief. Page 286
Wahlzettel: Es dürfte sich dabei um die Wahlzettel für die Nationalratswahlen am 20. Oktober 1923 gehandelt haben. Page 286
Kraus: Karl Kraus: Geb. 28.4.1874, Jičin/Böhmen; gest. 12.6.1936, Wien. Schriftsteller, Herausgeber der Fackel (1899-1936). Schon vor dem Ersten Weltkrieg war Wittgenstein ein Bewunderer von Karl Kraus, dessen Schriften er sehr schätzte. Während seines ersten Aufenthaltes in Norwegen von Oktober 1913 bis Juni 1914 ließ er sich Die Fackel nachschicken. (Vgl. Engelmann, S. 102). Durch Kraus' Äußerung über den Brenner in der Fackel, Nr. 368/369, 5.2.1913, S. 32 (»Daß die einzige ehrliche Revue Österreichs in Innsbruck erscheint, sollte man, wenn schon nicht in Österreich, so doch in Deutschland wissen, dessen einzige ehrliche Revue gleichfalls in Innsbruck erscheint.«), kam es zu Wittgensteins Spende an den Herausgeber des Brenner, Ludwig von Ficker. Page 286
Loos: Adolf Loos: Geb. 10.12.1870, Brünn; gest. 23.8.1933, Kalksburg bei Wien. Architekt. Die Bekanntschaft von Wittgenstein mit Loos kam während Fickers Besuch bei Wittgenstein am 23. und 24. Juli 1914 in Wien zustande (vgl. Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1909-1914. Salzburg: Otto Müller 1986, S. 375). Nachdem Ficker Wittgenstein seine Vorschläge zur Verteilung der Spende unterbreitet hatte, machte er ihn am 24.7. mit Adolf Loos bekannt: »Wir trafen uns im Café Imperial, wo es zwischen ihm und dem schwerhörigen Erbauer des damals noch heftig umstrittenen Hauses am Michaelerplatz zu einer wohl etwas mühselig, doch sachlich ungemein anregend geführten Aussprache über Fragen der modernen Baukunst kam, für die sich Wittgenstein zu interessieren schien.« (Ludwig Ficker: Rilke und der unbekannte Freund. In: Der Brenner, 18. Folge, 1954, S. 237). Später hatte Wittgenstein allerdings von Loos einen unangenehmen Eindruck. So schrieb er am 2.9.1919 an Engelmann: »Vor ein paar Tagen besuchte ich Loos. Ich war entsetzt und angeekelt. Er ist bis zur Unmöglichkeit verschmockt! Er gab mir eine Broschüre über ein geplantes ›Kunstamt‹, wo er über die Sünde wider den Heiligen Geist spricht. Da hört sich alles auf! Ich kam in sehr gedrückter Stimmung zu ihm und das hatte mir gerade noch gefehlt.« (Briefe, S. 92). Allerdings widmete Adolf Loos Wittgenstein noch im September 1924 sein Buch Ins Leere gesprochen mit folgenden Zeilen: »Für Ludwig Wittgenstein dankbar und freundschaftlichst, dankbar für seine Anregungen,
freundschaftlichst in der Hoffnung das er dieses Gefühl erwiedert.« (Faksimile in Nedo, S. 204) Page 286
Nähr: Moritz Nähr, Photograph. »Hausphotograph« der Familie Wittgenstein. Wurde vor allem von Wittgensteins Tante Clara gefördert. Von Nähr stammen eine Reihe der Familienphotos sowie Photos des Hauses in der Kundmanngasse und verschiedene Porträts von Ludwig Wittgenstein. Auf der Hochreit befinden sich heute noch mehrere Familienalben mit Photos von Nähr.
(107) 13.7.1923 Page 286
Brief. Page 286
Liedertafel: Liedertafel ist ein Ausdruck für Gesangsverein.
(108) [24.7.1923] Page 286
Kartenbrief (= auseinanderfaltbare Postkarte, die auf zwei Seiten beschrieben werden kann). Page 286
Datum des Poststempels schwer lesbar. Oberalm liegt in der Nähe von Puch bei Hallein in Salzburg. Page 286
Gieshamgut: Richtig Gishamgut, einer der Meierhöfe des Benediktinerstiftes St. Peter Page Break 287
in Salzburg. Der damalige Kämmerer Pater Bruno Spitzl war ein Schulfreund Ludwig Hänsels aus der Zeit am Gymnasium Borromäum in Salzburg. In den Jahren 1922 bis 1927 verbrachten die Hänsels regelmäßig die Schulferien in Gisham, später dann in Pabenschwandt bei Plainfeld, Post Hof (bis ca. 1934).
(109) [4.8.1923] Page 287
Postkarte, auf deren Vorderseite das Photo von Wittgenstein mit seinen Schülern in Puchberg abgebildet ist. (Siehe die Reproduktion in Nedo, S. 176).
(110)23.8.23. Page 287
Brief.
(111) [Oktober 1923] Page 287
Brief, undatiert. Page 287
Ramsay: Frank Plumpton Ramsey: Geb. 22.2.1903, Cambridge; gest. 19.1.1930, Cambridge. Logiker und Mathematiker, der im Anschluß an Russells und an Whiteheads Principia mathematica, und beeinflußt von Wittgensteins Analyse der Tautologien, eine Grundlegung der Mathematik auf der Basis der Logistik durchzuführen versuchte, wobei er unter anderem zwischen syntaktischen und semantischen Antinomien unterschied. Ramsey leistete einen wichtigen Beitrag zum logischen Entscheidungsproblem und beschäftigte sich auch mit Fragen der Nationalökonomie. Er war an der englischen Übersetzung von Wittgensteins Tractatus wesentlich beteiligt. Damals noch Student im Trinity College, besuchte er im September 1923 Wittgenstein für ca. 2 Wochen in Puchberg. Er las mit diesem täglich den Tractatus und Wittgenstein nahm Änderungen an der englischen Übersetzung vor, die in der 2. Auflage von 1933 berücksichtigt wurden. Im Oktober schrieb Ramsey eine Rezension über den Tractatus in der philosophischen Zeitschrift Mind. Page 287
Labor: Josef Labor: Geb. 29.6.1842, Horowitz (Böhmen); gest. 26.4.1924, Wien. Komponist, erblindete früh, wurde im Wiener Blindeninstitut und am Wiener Konservatorium ausgebildet. Bei seinem ersten Auftreten im Jahre 1863 als Pianist fand er allgemeine Anerkennung und wurde in Hannover zum Königlichen Kammerpianisten ernannt. Von 1866 an bildete er sich in Wien auch im Orgelspiel aus und begann 1879 als Orgelvirtuose aufzutreten.
Bald genoß er den Ruf des besten Organisten in Österreich. Werke u.a.: Violinkonzert, Konzertstück H-moll für Klavier und Orchester, Kammermusik mit Klavier, Vokalkompositionen und Klavierstücke. Unter seinen Schülern sind R. Braun, J. Bittner und A. Schönberg zu nennen. (Vgl. Hugo Riemann: Musik-Lexikon. Mainz: B. Schott's Söhne 1961) Page 287
Labor-Bund: Vgl. einen Bericht der Wiener Zeitung vom 5.5.1923: »Um die durch die gegenwärtigen Zeitverhältnisse erschwerte Wirksamkeit des Orgelvirtuosen und Tonkünstlers Josef Labor zu erleichtern, insbesondere die Drucklegung zahlreicher unveröffentlichter Tondichtungen zu ermöglichen, hat sich ein Labor-Bund gebildet. Die gründende Hauptversammlung fand Donnerstag, den 26. v. M., im Sitzungssaale des Amtshauses im 7. Bezirke statt.«--Die Veranstaltung des Labor-Bundes konnte nicht ermittelt werden. Page 287
ertötend wirken: vgl. dazu Paul Wittgenstein in einem Brief an Ludwig Wittgenstein vom 8.10.1920 (Abschrift im Brenner-Archiv): »Dein Urteil über die Introduktion der Phantasie: ›Echt Labor, aber etwas mager‹, unterschreibe ich wörtlich. Labor braucht wohl für seine Stücke den Reiz der Klangverschiedenheit und Vielstimmigkeit, den eben nur mehrere Instrumente ermöglichen.«
(112) 20.10.1923 Page 287
Brief. Page 287
Stoppel: österr. Flaschenverschluß, Korkstöpsel. Page Break 288
(113) [vor dem 12.11.1923 ?] Page 288
Brief. Gleiches Papier wie Nr. 115, beide Briefe liegen im Hänsel-Nachlaß nebeneinander. Page 288
Konzert: nicht ermittelt. Bei diesem Konzert könnte es zur persönlichen Bekanntschaft Hänsels mit Paul Wittgenstein gekommen sein.
(114) 12.11.1923 Page 288
Brief mit vorgedruckter Adresse.
(115) [vordem 1.12.1923] Page 288
Brief, undatiert. Wenn Nr. 115 und Nr. 116, wie angenommen, zusammengehören, dann muß dieser Brief jedenfalls vor Samstag, den 1.12., abgefaßt worden sein.
(116) [vor dem 7.12.1923] Page 288
Kartenbrief. Poststempel von Puchberg am Schneeberge, Datum unleserlich. Einlaufstempel von Wien vom 7.XII.23. Die Karte dürfte also am 5. oder 6.12. verfaßt worden sein. (Nr. 119 wurde beispielsweise am 14.1. verfaßt, am 15.1. in Puchberg und Wien abgestempelt; Nr. 101 am 17.4. in Puchberg und am 18.4. in Wien abgestempelt).
(117) [nach dem 7.12.1923] Page 288
Brief, undatiert.
(118) [vor Weihnachten 1923 ?] Page 288
Brief, undatiert. Liegt im Nachlaß Hänsels im Kuvert 1923/24.
Page 288
1923 hat sich auch die Ernährungslage in Wien langsam gebessert.
(119) 14.1.1924 Page 288
Kartenbrief. Auf der Rückseite Rechennotizen von Wittgensteins (?) Hand. Page 288
Die Bahn: Anfang Jänner 1924 gab es in ganz Österreich starke Schneefälle, die in manchen Regionen den Verkehr völlig lahmlegten. Page 288
Schlittenfahrt: Offenbar ist Wittgenstein mit einem Pferdeschlitten nach Puchberg gefahren.
(120) [nach dem 14.1.1924] Page 288
Brief, undatiert. Auf der Rückseite findet sich ein von Wittgenstein erstellter Stundenplan für Oktober 1923, der allerdings durchgestrichen ist und Wittgensteins Vermerk »Das gilt nicht!« trägt. Page 288
Freitag und Bärens: Vermutlich hat Wittgenstein damit den--auch heute noch existierenden-österreichischen Kartenverlag Freytag-Berndt in Wien gemeint.
(121) [nach dem 14.1.1924 ?] Page 288
Brief, undatiert. Die Datierung stützt sich auf Wittgensteins Äußerung in Nr. 120.
(122) [um den 10.2.1924] Page 288
Brief, undatiert. Die Datierung stützt sich auf Wittgensteins Brief an Oskar Fuchs vom 10.2.1924. Page Break 289 Page 289
Schüler Fuchs: Vgl. Ludwig Wittgenstein an Oskar Fuchs vom 10.2.1924: »Es ist sehr gut und freut mich sehr, daß Du Geschichte und Naturgeschichte lesen willst. Zur Geschichte brauchtest Du aber einen Atlas, sonst weißt Du ja nicht, wo die Länder und Städte sind, von denen Du liest. Hast Du einen Atlas? Oder wenigstens eine Karte von Europa? Mit dem ›Gedichtbuch‹ hat es die Schwierigkeit, daß ich nicht recht weiß, was für Gedichte Du gerne liest. Und Schund will ich Dir keinen schicken, auch wenn er Dir vielleicht gefiele. Ich werde Dir die Gedichte von Mörike schicken; einige von ihnen haben wir in der Schule gelernt, den ›Feuerreiter‹, den ›Zauberleuchtturm‹, etc.. Sie sind herrlich, hoffentlich machen sie Dir Freude. [...] Du schreibst mir, daß meine Schüler so gute Rechtschreiber sind; und Du Halunk schreibst ›grüßen‹ mit Doppel-s und ›Wahrheit‹ ohne h. Wart'!! Aber laß Dich das ja nicht abhalten, mir oft zu schreiben. Jeder Brief von Dir freut mich herzlich und ein gelegentlicher Patzer macht gar nichts. [...] Wenn Du etwas Neues von einem meiner Schüler erfährst, so schreib' es mir, bitte; es interessiert mich immer sehr.« (Vgl. Faksimile des Briefes in Nedo, S. 184f.) Page 289
Scholze-Schmeil: Otto Schmeil: Leitfaden der Zoologie. Für die oberen Klassen der Mittelschulen u. verw. Lehranstalten bearbeitet von Eduard Scholz. 3. Aufl. Graz: Leykam, Pädagogische Abteilung 1923.
(123) [Mitte/Ende Februar 1924] Page 289
Brief, undatiert. Page 289
Mörike: Es gab damals bereits eine Vielzahl von Mörike-Ausgaben, u.a. eine bei Reclam: Eduard Mörike: Gedichte. Hrsg. und mit einer Einleitung versehen von E. von Sallwürk. Leipzig: Reclam [1919] (Reclam's Universal-Bibliothek Nr. 4769-4770a).--In einem Brief an Engelmann vom 31.3.1917 bat Wittgenstein seinen Freund, ihm den 2. Band der Gedichte Goethes und die Gedichte Mörikes als »Gegengift« für zwei Bücher von Albert
Ehrenstein zu senden, die er erhalten hatte und die offenbar sein Mißfallen erregt hatten. (Briefe, S. 77) Mörikes Novelle Mozart auf der Reise nach Prag hätte im besonderen »Wittgensteins Entzücken« erregt, schreibt Engelmann. Er hätte daraus »geradezu erschauernd« die Stellen zitiert, wo musikalische Wirkungen in Worten wiedergegeben sind: »Wie von entlegenen Sternenkreisen fallen die Töne aus silbernen Posaunen, eiskalt, Mark und Seele durchschneidend, herunter durch die blaue Nacht.« (Vgl. Engelmann, S. 65). Page 289
bitte: Nachträglich hat Wittgenstein das dreimal vorkommende Wort bitte jeweils mit 1, 2 und 3 numeriert. Page 289
Wiesenberger: Franz Wiesenberger: Lesebuch für österr. allg. Volksschulen. 2 Teile, 3. Aufl. Wien: Schulbücher-Verlag 1913-1914. Page 289
Mayer: Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Bd. 1, 2: Die ältesten geschichtl. Völker und Kulturen bis zum 16. Jh. 3. Aufl. Stuttgart: Cotta'sche Buchhandlung Nachf. 1913.
(124) [Ende März 1924] Page 289
Brief, undatiert. Am 24.3.1924 schrieb Ramsey an Keynes, daß er Wittgenstein am Vortag in Puchberg besucht hätte (vgl. Briefe, S. 137). Page 289
Mr. Ramsay, der ihn Sonntag besuchte: 1924 weilte Ramsey von März bis Oktober in Österreich. Für seine Reise gab er mehrere Gründe an: »Und wenn ich in Wien wohne, so kann ich Deutsch lernen und Sie oft besuchen (außer wenn Sie etwas dagegen haben) und meine Arbeit mit Ihnen diskutieren, was mir sehr helfen würde. Ich bin auch sehr niedergeschlagen, habe wenig gearbeitet und Symptome, die den von Freud beschriebenen so stark ähneln, daß ich wahrscheinlich versuchen werde, mich psychoanalysieren zu lassen, und dazu wäre ein Aufenthalt in Wien sehr bequem.« (Ramsey an Wittgenstein, 20.2.1924, Briefe, S. 132f.) Während seines Aufenthaltes in Wien besuchte Ramsey Wittgenstein mehrere Male in Puchberg und später auch in Otterthal. Page Break 290
(125) [nach dem 26.4.1924] Page 290
Brief, undatiert. Die Datierung stützt sich auf den Todestag von Josef Labor am 26.4.1924.
(126) [nach dem 26.4. 1924] Page 290
Brief, undatiert. Page 290
die Mutter Ihres Schülers: nicht ermittelt. Page 290
sein Vermögen unter seine Geschwister verteilt: während des Krieges ging in Wittgenstein eine tiefgreifende Wandlung vor, die durch die Lektüre von Tolstois Kurze Darlegung des Evangelium noch verstärkt wurde. Als er aus seiner Kriegsgefangenschaft heimkehrte, war sein erster Schritt, sich seines Vermögens zu entledigen. Er teilte es unter seine Geschwister auf; ausgenommen blieb seine Schwester Margarete, die damals im Verhältnis zu den anderen noch sehr vermögend war. Obwohl seine Familie mit diesem Entschluß nicht einverstanden war--insbesondere sein Onkel Paul--ließ er sich nicht davon abbringen und versicherte sich bei seinem Notar immer wieder, ob wohl nicht eine Summe Geld irgendwo für ihn von seinen Geschwistern angelegt worden wäre. (Vgl. Familienerinnerungen, S. 109f.) Seinem Neffen John Stonborough erklärte Wittgenstein, daß Reichtum für ihn eine schwere Belastung wäre: »Wenn du auf einen Berg gehst, Ji, nimmst du dann einen schweren Rucksack mit?« fragte er diesen und antwortete auf dessen Verneinung: »Siehst du, und Geld zu haben ist für mich wie ein schwerer Rucksack, eine große Belastung.« (Mitteilung von John Stonborough an Ilse Somavilla, 13.11.1992)
(127) 20.5.1924 Page 290
Postkarte. Page 290
Obenim Hotel: Am Schneeberg gibt es das Berghaus Hochschneeberg (1796 m hoch gelegen, 1898 von jenem Panhans erbaut, der auch das »Hotel Panhans« am Semmering baute), die Haltestelle Baumgarten (1400 m Seehöhe, 1897 erbaut), das Damböckhaus (1810 m Seehöhe, 1873 erbaut), das Kaiserin Elisabeth Kircherl (1796 m Seehöhe, 1901 erbaut) und die Fischerhütte (2061 m Seehöhe, 1885 erbaut).
(128) [20.6.1924] Page 290
Postkarte, von Hänsel nachträglich mit »20.6.24« datiert. Im Adreßteil hat Wittgenstein (?) »O. T. K. Wien Becherstr. N. Ö.« hinzugefügt. Wie man aus den Durchstreichungen ersieht, wollte Hänsel ursprünglich mit dem Morgenzug um 1/2 10 Uhr kommen. Aufgrund der Änderung der Ankunftszeit hat Hänsel die folgenden zwei Sätze gestrichen: »Da werde ich Dich kaum zu sehen bekommen. Vielleicht aber am nächsten Tag abends vor der Abfahrt (7h 30).« Page 290
Baumgartnerhaus: Eine Art Schutzhütte am Schneeberg in 1400 m Seehöhe, die 1839 erbaut, jedoch 1981 abgerissen wurde.
(129) [Anfang August 1924] Page 290
Brief, undatiert. Page 290
Psychologie: Um welche Beschäftigung Wittgensteins mit der Psychologie es sich hier handelt, konnte nicht ermittelt werden. Der einzige Hinweis auf eine Beschäftigung Wittgensteins mit Psychologischem in den frühen Zwanzigerjahren findet sich in Brief Nr. 25 vom 10.8.[1920]. Was mit »Biographie« gemeint ist, konnte ebenfalls nicht genau ermittelt werden. Bisher sind nur zwei Stellen bekannt, aus denen Wittgensteins Absicht, eine Autobiographie zu verfassen, hervorgeht. So notierte er am 28.12.1929: »Etwas in mir spricht dafür meine Biographie zu schreiben und zwar möchte ich mein Leben einmal klar ausbreiten um es klar vor mir zu haben und auch für andere. Nicht so sehr um darüber Gericht zu halten, als um jedenfalls Klarheit und Wahrheit zu schaffen.« (MS 108). In MS 110 finden wir folgende Eintragung: Page Break 291
»In meiner Autobiographie müßte ich trachten, mein Leben ganz wahrheitsgetreu darzustellen und zu verstehen. So darf meine unheldenhafte Natur nicht als ein bedauerliches Accidens erscheinen, sondern eben als eine wesentliche Eigenschaft (nicht eine Tugend).« (Zit. nach Nedo, S. 393). Page 291
zu meinem Onkel: Es handelt sich um Wittgensteins Onkel Paul: Geb. 18.12.1842, Leipzig; gest. 7.11.1928, Wien. Dr. jur., Maler, verheiratet mit Justine, geb. Hochstetter. Hermine Wittgenstein beschreibt ihren Onkel als eine »Künstlernatur« und einen »Romantiker«, der »innerlich und äußerlich« vornehm war, und »liebenswert trotz mancher großer Sonderbarkeiten«. Er zeigte schon als Kind Talent zum Porträtieren. Das Malen war für ihn ein Bedürfnis, aber das Ergebnis befriedigte ihn nicht völlig, und er übte seine Kunst im Verborgenen aus. Paul Wittgenstein pflegte enge Kontakte mit vielen Künstlern: seine Bewunderung gehörte zuerst der Künstlervereinigung »Secession«, und später dem von der »Secession« sich abspaltenden Kreis um Klimt und um die »Wiener Werkstätte«. »Wenn mein Onkel Paul aber bewunderte, geschah das leidenschaftlich und fast kritiklos; eine mittlere Linie lag ihm nicht, und ich erinnere mich kaum, ihn anders als heftig entzückt oder schroff ablehnend gesehen zu haben, auch wenn es sich nicht gerade um Kunst handelte.« Im Alter von fast 80 Jahren fuhr Paul Wittgenstein noch einmal nach Venedig, um dort mit der »leidenschaftlichen Begeisterung seiner Jugend Skizzen nach seinen Lieblingsbildern in der Galerie der Akademie zu malen«. Er traf die letztwillige Verfügung, diese sich ins Grab mitgeben zu lassen, »zusammen mit einigen reizvollen Dingen, Antiquitäten, die er gesammelt hatte und an denen sein Herz hing.« (Vgl. Familienerinnerungen, S. 188-191). Paul Wittgenstein lebte die meiste Zeit in der Nähe von Hallein, wo Wittgenstein im Juli 1918 die endgültige Fassung der Logisch-Philosophischen Abhandlung fertigstellte. Paul hatte Ludwig, »während dieser an seinem ersten philosophischen Buch schrieb, die schönste Gastfreundschaft, die kongenialste Atmosphäre geboten, und das wurde vom Empfänger dankbar genossen. Dass aber Ludwig dann nach der Volksschullehrerepisode nicht wieder zur Philosophie zurückkehrte, sondern an dem Haus für Margarete baute, das konnte mein Onkel nicht begreifen und nicht verzeihen. Vielleicht spielte da auch seine Bewunderung für den Architekten Hofmann [sic!] mit hinein, und er empfand es als eine Anmassung Ludwigs, sich als Laie mit Architektur zu befassen, kurz, ohne das fragliche Haus je gesehen zu haben, erkaltete er in seiner Freundschaft und diese zerriss.« (Familienerinnerungen, S. 190).
Page 291
Schüler zur Aufnahmeprüfung: Es handelt sich mit großer Wahrscheinlichkeit um Ern(e)st Geiger: Geb. 3.11.1912, Puchberg; gest. 13.11.1970, Wien. Apotheker. Ernst Geiger besuchte im Schuljahr 1923/1924 die 5. Klasse der Volksschule in Puchberg mit Wittgenstein als Klassenlehrer (Abschlußzeugnis im Besitz von Geigers Tochter Susanne Bahr). Geiger besuchte nach der Volksschule eine Mittelschule in Wien (Bundesrealgymnasium Wien III) und maturierte dort im Jahre 1932. Schon früher hatte Wittgenstein--oft ohne Erfolg--versucht, begabte Schüler aus den Dörfern ans Gymnasium zu bringen (z.B. Karl Gruber, Emmerich Koderhold). Page 291
geometrische Satz aus dem Spinoza: Es handelt sich um das »Scholium« (= wissenschaftliche Anmerkung zu einem Hauptsatz) zum Lehrsatz VIII im zweiten Teil von Baruch de Spinozas Ethik (orig. in lat. Sprache: Ethica. Ordine geometrico demonstrata erschienen). Der zweite Teil der Ethik trägt in deutscher Übersetzung den Titel: Über den Ursprung und die Natur der Affekte. Page 291
Es ist bekannt, daß Wittgensteins Hauptwerk Logisch-Philosophische Abhandlung auf die Anregung von G. E. Moore hin Tractatus Logico-Philosophicus genannt wurde, und zwar in Anlehnung an Spinozas Tractatus theologico-politicus. Auf die Tatsache, daß die frühen Arbeiten Wittgensteins Spinozistisches enthalten könnten, hat bereits Georg Henrik von Wright in seinem Werk Wittgenstein (siehe S. 42) hingewiesen. Daß Wittgenstein und Hänsel schon intensiver über Spinoza diskutiert haben, zeigt die Tatsache, daß es sich hier um ein sehr spezielles und schwieriges Problem handelt. Ist schon der Lehrsatz VIII recht schwer zu verstehen, so erst sein Scholium. Im folgenden sollen Lehrsatz und sein Scholium in dt. Übersetzung und ungekürzt wiedergegeben werden: Page 291
Lehrsatz VIII: Page Break 292
»Die Ideen nicht existierender Einzeldinge, oder auch der Modi müssen so von der unendlichen Idee Gottes her begriffen werden wie die formalen Wesenheiten bzw. Modi, die in den Attributen Gottes enthalten sind.« (Übers. nach der Werkausgabe in 4 Bdn., hrsg. von Konrad Blumenstock, hier: Bd. 2, S. 170ff.) Page 292
Übersetzung des Scholiums: Page 292
»Wenn jemand zur besseren Erläuterung dieser Sache ein Beispiel haben möchte, so kann ich leider keines geben, das die Sache, von der ich hier spreche und die einzig in ihrer Art ist, wirklich angemessen zur Darstellung bringt. Trotzdem jedoch will ich versuchen, sie, so gut es eben geht, zu illustrieren. Ist nicht der Kreis von solcher Beschaffenheit, daß die rechten Winkel unter den Segmentbögen aller geraden Linien, die sich miteinander schneiden, gleich sind? Daher gibt es in einem Kreis unendlich viele einander gleichende rechte Winkel. Trotzdem kann von jedem von ihnen nur dann ausgesagt werden, er existiere, wenn der Kreis selbst existiert. Auch die Existenz der Idee irgendeines dieser Winkel kann nur dann ausgesagt werden, wenn sie in der Idee des Kreises inbegriffen ist. Nehmen wir nun an, daß aus der unendlich großen Zahl solcher möglichen Winkel zwei, nämlich E und D, existieren. Zweifellos werden nun nicht nur die Ideen dieser beiden existieren, und zwar in Hinsicht darauf, daß sie nur in der Idee des Kreises inbegriffen sind, sondern auch dahingehend, daß sie ja die Existenz jener beiden rechten Winkel einschließen. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich von den übrigen Ideen der anderen rechten Winkel.« Page 292
Die Briefstelle zeigt nun, daß Wittgenstein dieses Beispiel Spinozas in streng geometrischer Hinsicht interpretiert (entgegen den Absichten, die Spinoza verfolgt). Offenbar haben Hänsel und Wittgenstein also nur über den geometrischen Gehalt der Zeichnung diskutiert; diese These wird durch Hänsels Handexemplar der Ethik erhärtet: In der nachgelassenen Bibliothek Ludwig Hänsels finden sich drei Ausgaben von Spinozas Ethik, zwei deutschsprachige sind miteinander völlig identisch, die dritte enthält nur den lateinischen Originaltext und stammt aus dem 19. Jahrhundert: Baruch Spinoza: Ethica. Ordine Geometrico demonstrata. Hrsg. von Carolus Riedel. Lipsine: sumptibus Hermanni Hartung 1843. Page 292
Die beiden deutschsprachigen Ausgaben waren: Baruch Spinoza: Ethik. Übers. von B. Auerbach, hrsg. von A. Buchenau. Berlin: Deutsche Bibliothek o.J. Page 292
Ausgabe 1 gehörte Hänsel und ist mit zahlreichen handschriftlichen Notizen versehen, Ausgabe 2--obwohl ebenfalls in der nachgelassenen Bibliothek Hänsels--stammt laut einer handschriftlichen Eintragung Hänsels »Aus Ludwig Wittgensteins Nachlaß«. Sie ist ohne irgendwelche handschriftliche Vermerke. Ausgabe 2 trägt im Inneren
des Buchdeckels einen kleinen Streifen mit der Aufschrift: Rudolf Grabner, Akademische Buchhandlung, Anichstr. 8; Wittgenstein hat dieses Buch offenbar Anfang August 1922 (anläßlich seines Treffens mit Bertrand Russell) in Innsbruck gekauft. Die Parallelität der beiden Texte legt nahe, daß Hänsel und Wittgenstein ihren Diskussionen zu Spinoza die gleiche Textedition zugrundelegen wollten. In Hänsels Handexemplar befinden sich an der Stelle des Scholiums zum Lehrsatz VIII einige hs. Notizen, u.a. nimmt Hänsel auf den 35. Lehrsatz der Elemente des Euklid Bezug, was darauf hindeutet, daß für ihn in erster Linie die geometrische Interpretation des Kreisbeispiels interessant gewesen ist; diese findet sich nun auch in Wittgensteins Brief. Hänsel hat der Zeichnung Spinozas den besagten Lehrsatz des Euklid eingefügt. Page 292
Wittgenstein sieht in der Zeichnung Spinozas nur einen geometrischen Beweis und läßt die metaphysische Argumentation Spinozas außer acht: Dieser wollte mit seiner Zeichnung zum Ausdruck bringen, daß sich die Struktur der beiden Geraden in der hier vorliegenden Form nur durch die übergeordnete Existenz des Kreises, der sie ja determiniert, verstehen läßt und daß sie damit von dieser notwendig abhängt. Diese Abhängigkeit ist exemplarisch für das Verhältnis Einzelding/Gott, so wie es Spinoza im Lehrsatz VIII des zweiten Teils der Ethik dargelegt hat.
(130) 6.9.1924 Page 292
Brief. Page 292
Otterthal: Von Herbst 1924 bis April 1926 arbeitete Wittgenstein in Otterthal im Bezirk Page Break 293
Neunkirchen als Volksschullehrer. Am 19.12.1924 wurde er vom Landesschulrat für Niederösterreich zum definitiven Volksschullehrer an der öffentl. allg. Volksschule in Otterthal ernannt. Vgl. das Verordnungsblatt des Landesschulrats für Niederösterreich vom 19.12.1924 sowie den Brief vom Oberlehrer Josef Putré vom 19.12.1924 an Wittgenstein. (Brief im Nachlaß Ludwig Hänsels)
(131) [Anfang September 1924] Page 293
Brief.
(132) [Mitte September 1924] Page 293
Brief, undatiert, mit vorgedrucktem Briefkopf der Schulleitung Otterthal. Handschriftliche Zusätze Hänsels: »Nicht da« als Randnotiz zu »zwei Deckenkappen«, »6 St. Wandtafeln« am Ende des Brieftextes. Darunter in anderer Handschrift (Wittgenstein?) »starkes Papier«. Page 293
Marie von Stockert: Marie Salzer war mit Fritz von Stockert verheiratet, mit dem sie vier Töchter und drei Söhne hatte. Wittgenstein mochte »Mariechen« besonders gern. Sie nannte ihren ersten Sohn (geb. 29.5.1925) Ludwig. Page 293
Schreibebuch: Verschollen, möglicherweise seine Notizen zur Biographie. Page 293
»Träumereien an Französischen Kaminen: Eine Ausgabe von Volkmann-Leander beim Schulbücher-Verlag konnte nicht nachgewiesen werden. Die Träumereien an französischen Kaminen waren 1871 bei Breitkopf und Härtel in Leipzig erschienen und erlebten zahlreiche Neuauflagen. Page 293
«Landwirtschaftslehre»: Welche Ausgabe damit gemeint ist, konnte nicht sicher ermittelt werden. Vielleicht Das Lehrbuch der Landwirtschaftslehre für Lehrerbildungsanstalten von Adolf Ostermayer, das 1913 in Wien bei Tempsky in einer zweiteiligen Ausgabe erschienen war.
(133) [Anfang Oktober 1924] Page 293
Brief, undatiert.
(134) [Anfang Oktober 1924] Page 293
Brief, undatiert.
(135) [vor dem 15.10.1924] Page 293
Brief, undatiert. Page 293
Wörterbuch für Volksschulen: Ludwig Wittgenstein: Wörterbuch für Volksschulen. Mit dem Erlasse des Bundesministeriums für Unterricht vom 12. Oktober 1925, Z.15444/9, zum Unterrichtsgebrauch an allgemeinen Volksschulen und an Bürgerschulen allgemein zugelassen. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky 1926. Page 293
In der Zusammenarbeit mit seinen Schülern in der ländlichen Umgebung kam Wittgenstein die Idee, ein eigens für Landkinder konzipiertes Wörterbuch herauszugeben. Er legte dabei Wert auf den alltäglichen Sprachgebrauch der österreichischen Volksschüler, und zwar möglichst ohne Fremdwörter und auch ohne jene Wörter, die nur in Deutschland gebräuchlich und somit den österreichischen Kindern nicht geläufig sind. Wittgenstein erhoffte sich dadurch eine Verbesserung der Rechtschreibung, wofür seiner Meinung nach die damals an österreichischen Schulen verwendeten Wörterbücher des Schulbücher-Verlages nicht geeignet waren. Er befand die große Ausgabe eines Wörterbuches dieses Verlags als zu umfangreich und zu teuer für die Landbevölkerung und außerdem mit Wörtern und Fremdwörtern versehen, die die Kinder nie gebrauchen könnten. Page Break 294 Page 294
In Puchberg begann er mit der Anlegung einer Wörtersammlung. Er schrieb Wörter, alphabetisch geordnet, an die Tafel und ließ diese von den Kindern abschreiben. Wittgensteins Wörterbuch enthält etwa 3000 Wörter, einschließlich der schwierigen Abwandlungen und Wortformen. Stellen, wo Schüler Gefahr laufen, Rechtschreibfehler zu machen, hob er durch Fettschrift hervor. Page 294
Der Verlagsvertrag datiert vom 2.11.1925; in ihm sind Wittgenstein von jedem verkauften Stück 10 Prozent des Verleger-Verkaufspreises, sowie 10 Freiexemplare von der ersten, 5 Freiexemplare von jeder folgenden Auflage zugesichert worden. (Vgl. Adolf Hübner in der Einführung zu seiner Ausgabe des Wörterbuches und Ludwig Wittgenstein in seinem Geleitwort zum Wörterbuch für Volksschulen vom 22.4.1925 in: Wörterbuch für Volksschulen, S. V-XII, hier XII, bzw. XXV-XXX).
(136) 15.10.1924 Page 294
Kartenbrief. Page 294
den jungen Russen: nicht ermittelt.
(137) [Ende Oktober 1924] Page 294
Brief, undatiert. Zur Datierung: Wittgenstein wurde am 19.10. von Koder besucht, deshalb schickt Wittgenstein auch Grüße von Koder. Wittgensteins Vorhaben, Hänsel schon «Freitag abends» aufzusuchen, scheint nur dann plausibel, wenn damit der Freitag vor Allerheiligen, also der 31.10., gemeint ist.
(138) [vor dem 30.11.1924] Page 294
Brief, undatiert. Page 294
Tempsky: Am 13.11.1924 teilte der Verlag Hölder-Pichler-Tempsky Wittgenstein mit, daß er bereit wäre, sein Werk erscheinen zu lassen. In diesem Brief ist von einem «Rechtschreibbuch des täglichen Lebens für Landschulen» die Rede. (Brief im Nachlaß Ludwig Hänsels).
Page 294
Klarinette: In seiner Jugend hatte Wittgenstein nie ein Instrument gespielt, doch seit seiner Tätigkeit als Volksschullehrer spielte er Klarinette. Laut Bericht seiner Schwester Hermine entwickelte sich erst dadurch sein starkes musikalisches Gefühl. Sein Instrument trug er in einen alten Strumpf gewickelt mit sich herum. (Vgl. Familienerinnerungen, S. 117). Sein Lehrerkollege Georg Berger erzählte, daß ihm Wittgenstein seine Violine, eine gewöhnliche Schulgeige, überließ und sich statt einer Bezahlung dafür von ihm ein uraltes Notenbuch seines Vaters mit alten, handgeschriebenen Klarinettenländlern erbat. (Vgl. den Bericht des ehemaligen Schulleiters von Trattenbach, Georg Berger, vom 20.3.1953 an den Landesschulrat für Niederösterreich). Wittgensteins Schüler Karl Gruber berichtete, daß Wittgenstein erst, nachdem er dem Oberlehrer Berger seine Violine übergeben hatte, das Klarinettenspiel erlernte. (Vgl. den Bericht von Karl Gruber in Wünsche, S. 112).
(139) 30.11.1924 Page 294
Postkarte. Page 294
Paul Seidl: Näheres zur Identität von Paul Seidl und seiner Familie konnte nicht ermittelt werden.
(140) [zwischen 30.11. u. 6.12.1924 ?] Page 294
Brief mit vorgedrucktem Briefkopf der Schulleitung Otterthal. Der Brief muß aus dem Jahre 1924 sein, da in ihm noch von Kronen gesprochen wird, während die Schillingwährung erst am 1.1.1925 gesetzlich eingeführt wurde. Möglicherweise ist in diesem Brief aber von Hänsels Page Break 295
Besuch vom 6.12. die Rede. Der Brief kann allerdings auch im November abgefaßt sein. Page 295
beiliegenden Verzeichnis: Verschollen.
(141) 10.1.1925 Page 295
Postkarte. Page 295
Prof. Schlick: Moritz Schlick: Geb. 14.4.1882, Berlin; gest. 22.6.1936, Wien. Ab 1900 Studium der Mathematik, Physik, Chemie und Philosophie in Berlin, Heidelberg und Lausanne; 1904 Promotion in Berlin bei Max Planck mit der Dissertation Über die Reflexion des Lichtes in einer inhomogenen Schicht. 1910 habilitierte sich Schlick mit einer Arbeit über Das Wesen der Wahrheit in der modernen Logik an der Universität Rostock, wo er bis 1921 als Privatdozent lehrte. 1921 wurde er an die Universität in Kiel berufen, 1922 auf den Wiener Lehrstuhl für Philosophie der induktiven Wissenschaften. Von Carnap und Wittgenstein beeinflußt, arbeitete Schlick hauptsächlich über das Wahrheitsproblem, über Erkenntnislehre sowie über den apriorischen Charakter der Logik und der Mathematik; Schlick selbst untersuchte die Begriffe Raum, Zeit, Materie, Kausalität, Wahrscheinlichkeit, Organisches, Wertung, Hedonismus, freier Wille, ethisches Motiv. Werke u.a.: Lebensweisheit, 1908; Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik, 1917; Allgemeine Erkenntnislehre, 1918 (2. vermehrte Aufl. 1925); Fragen der Ethik, 1930; Gesammelte Aufsätze 1926-1936, 1938. Page 295
Am 25. Dezember 1924 schrieb Moritz Schlick an Ludwig Wittgenstein: »Als Bewunderer Ihres tractatus logico-philosophicus hatte ich schon lange die Absicht, mit Ihnen in Verbindung zu treten. Die Last meines Amts--und sonstige Verpflichtungen ist Schuld daran, daß die Ausführung meiner Absicht immer wieder zurückgeschoben wurde, obgleich seit meiner Berufung nach Wien bereits fünf Semester verflossen sind. Im Philosophischen Institut pflege ich jedes Wintersemester regelmäßig Zusammenkünfte von Kollegen und begabten Studenten abzuhalten, die sich für die Grundlagen der Logik und Mathematik interessieren, und in diesem Kreis ist Ihr Name oft erwähnt worden, besonders seit mein Kollege, der Mathematiker Prof. Reidemeister über Ihre Arbeit einen referierenden Vortrag hielt, der auf uns alle einen großen Eindruck machte.« (Wittgenstein und der Wiener Kreis, Werkausgabe Bd. 3, S. 13). In diesem Brief bat Schlick Wittgenstein nun um weitere Exemplare des Tractatus, da der Diskussionsrunde nur ein der Universitätsbibliothek gehörendes Exemplar zur Verfügung stand und äußerte den Wunsch, Wittgenstein persönlich kennenzulernen. Wittgenstein antwortete auf dieses Schreiben
Schlicks am 7. Januar 1925 und erklärte diesem, daß er selbst kein Exemplar des Tractatus Logico-Philosophicus zur Verfügung hätte, und daß er deswegen einen Bekannten (eben Ludwig Hänsel) bitten werde, Schlick eines seiner Exemplare zu überreichen. Schlick antwortete am 14.1.1925, Wittgenstein solle sich nicht mehr weiter bemühen, er werde sich über den Buchhandel die englische Ausgabe verschaffen. Es ist aber doch zu einer Kontaktnahme Hänsels mit Schlick gekommen. Dies ist durch eine Postkarte Schlicks an Hänsel vom 25.1.1925 bezeugt: »Sehr geehrter Herr Dr, für die freundliche Übersendung der Wittgensteinschen Abhandlung in den Annalen der Naturphilosophie sage ich Ihnen meinen verbindlichsten Dank. Ich hoffe, daß Sie das Exemplar entbehren können und bleibe mit vorzüglichster Hochachtung Ihr sehr ergebener M. Schlick.« (Die Briefe Wittgensteins an Schlick befinden sich im Reichsarchiv für die Provinz Nordholland in Haarlem; die Bezugnahme--auch in späteren Kommentarstellen--erfolgt mit Genehmigung von Henk L. Mulder, Amsterdam; die Briefe von Schlick an Wittgenstein liegen im Nachlaß Ludwig Hänsels). Page 295
Brian McGuinness schreibt: »Inzwischen wurde der Tractatus in Wien ein Gegenstand lebhaften Interesses. 1922 hatte der Mathematiker Hans Hahn darüber ein Seminar gehalten und die Professoren Moritz Schlick (Philosophie) und Kurt Reidemeister (Mathematik), beide 1922 nach Wien berufen, waren tief davon beeindruckt.« (Werkausgabe Bd. 3, S. 13) Auf die Frage der Herausgeber, ob Hans Hahn im Wintersemester 1922/23 ein Seminar über Wittgensteins Tractatus gehalten hätte, antwortete Hahns damaliger Assistent Leopold Vietoris (geb. 1891), daß er dies mit Sicherheit ausschließen könne; auch findet sich kein diesbezüglicher Hinweis im Vorlesungsverzeichnis der Universität Wien. In seinem Nachruf auf Kurt Reidemeister merkt Leopold Vietoris allerdings an: »Er beteiligte sich auch eifrig an M. Page Break 296
SCHLICKS Kolloquium über Wittgensteins ›Tractatus logico-philosophicus‹ und an den Diskussionen des ›Wiener Kreises‹ [...].« (Leopold Vietoris: Kurt Reidemeister. Ein Nachruf (mit Schriftenverzeichnis). Wien 1973).--Zur persönlichen Bekanntschaft Schlicks mit Wittgenstein kam es erst 1927. Als Wittgenstein mit dem Bau des Hauses für seine Schwester Margarete Stonborough beschäftigt war, sandte Schlick Wittgenstein eine seiner Schriften und schlug ein Zusammentreffen mit ein oder zwei anderen Personen vor, um logische Probleme zu besprechen. Daraufhin schrieb Frau Stonborough am 19.2.1927 an Schlick: »Er bittet mich nun, Ihnen mit seinen Grüßen und wärmsten Entschuldigungen zu sagen, daß er glaubt immer noch nicht im Stande zu sein, sich neben seiner jetzigen, ihn ganz und gar in Anspruch nehmenden Arbeit auf die logischen Probleme conzentrieren zu können. Auf keinen Fall möchte er mit mehreren Personen konferieren. Mit Ihnen, verehrter Herr Professor, allein diese Dinge zu besprechen, hielte er für möglich. Dabei würde es sich, wie er meint, zeigen, ob er momentan überhaupt fähig ist Ihnen in dieser Angelegenheit von Nutzen zu sein.« In der Folge arrangierte Frau Stonborough ein Essen für Schlick und Wittgenstein, worüber Frau Schlick sich folgendermaßen äußerte: »Die Einladung von Frau Stonborough brachte große Freude und Erwartung mit sich, und diesmal wurden M.'s Hoffnungen nicht vereitelt. Wiederum konnte ich (wie bei der Gelegenheit des fehlgeschlagenen Besuchs in Otterthal) mit Interesse die ehrerbietige Haltung des Pilgers beobachten. Er kehrte in einem hingerissenen Zustand zurück, sprach wenig und ich fühlte, daß ich keine Fragen stellen dürfte.« (Werkausgabe, Bd. 3, S. 14) Page 296
Abend der philos. Gesellschaft: Am Donnerstag, den 15. Jänner 1925, hielt Eugenie Bormann in der Philosophischen Gesellschaft einen Vortrag über Die kategorischen Schlüsse aus einer und aus zwei Prämissen.
(142) [Ende Jänner 1925 ?] Page 296
Brief, undatiert. Da in diesem Brief bereits in Schillingen gerechnet wird, kann es sich nur um einen Brief aus der Otterthaler Zeit handeln. Aufgrund der Erwähnung von Weihnachten muß er also Anfang 1925 oder Anfang 1926 verfaßt worden sein. Page 296
Heft einer Zeitschrift: Nicht ermittelt.
(143) 6.2.1925 Page 296
Brief. Page 296
Meine Schwester Helene: Helene Salzer, geb. Wittgenstein: Geb. 23.8.1879, Wien; gest. 1956, Wien. Von der Familie Lenka genannt. Am 23.5.1899 heiratete Helene Dr. Max Salzer (geb. 3.3.1868, Wien; gest. 28.4.1941, Wien),
dieser Ehe entstammen 4 Kinder: Felix, Fritz, Marie (Mariechen) von Stockert (vgl. Brief Nr. 132) und Clara. Helene betätigte sich während des Krieges karitativ durch namhafte Spenden und Veranstaltungen verschiedenster Art. Außerdem gründete sie aus eigenen Mitteln eine Nähstube, in der von Kriegsbeginn an zehn bedürftige Frauen Wäsche für Kriegsspitäler nähten. Helene war sehr musikalisch. Sie spielte Klavier und besaß angeblich eine schöne Stimme. Bei den von ihr organisierten musikalischen Veranstaltungen wirkte sie als Sängerin in einem Vokalquartett mit. Ludwig Wittgenstein fühlte sich in Helenes Gesellschaft sehr wohl, vor allem schätzte er es, mit ihr so herrlich »blödeln« zu können, was für ihn so wichtig war wie ein »Vitamin«. (Vgl. dazu seine Briefe an Helene vom 20.2.1948 und vom 15.3.1948 in Nedo, S. 327). Noch am 15.3.1951 schrieb er an sie: »Ich habe in der letzten Zeit oft an Dich gedacht, mit dem Wunsche, ich könnte wieder einmal mit Dir blödeln. Ich bin ein Jahrhundert zu früh auf die Welt gekommen, denn dann, in 100 Jahren, wird man ohne große Kosten Wien von Cambridge anrufen und ein Stündchen am Apparat blödeln können.« (Zit. nach Nedo, S. 345). Page 296
Paul Seidl: Von Paul Seidl an Wittgenstein sind keine Briefe bekannt. Page Break 297
(144) [zwischen dem 6. u. 11.2.1925] Page 297
Postkarte, Poststempel unleserlich.
(145) 11.[2.] 1925 Page 297
Brief, von Hänsel irrtümlich mit 11.3.25. datiert. Page 297
Pawel: Paul Seidl
(146) 16.3.1925 Page 297
Kartenbrief. Page 297
Konzert: nicht ermittelt.
(147) [Mai 1925] Page 297
Brief, undatiert. Am 31.5.1925 war Pfingstsonntag. Page 297
den Caesar: Um welches Werk von Cäsar es sich handelte, konnte nicht ermittelt werden. Page 297
die Buschbriefe: Wilhelm Busch an Maria Anderson. 70 Briefe. Rostock: J. Volckmann Nachf. 1908. Wittgenstein schätzte Wilhelm Busch sehr und bezeichnete dessen Werk Eduards Traum in einem Gespräch mit Koder als sehr »tief« (Mitteilung von Rudolf Koder an Allan Janik in einem Gespräch im Jahre 1969). Engelmann berichtete, daß Wittgenstein häufig die folgende Stelle aus Eduards Traum zitierte: »[...] und, Spaß beiseit, meine Freunde, nur wer ein Herz hat, kann so recht fühlen und sagen, und zwar von Herzen, daß er nichts taugt. Das Weitere findet sich.« (Vgl. Engelmann, S. 95).
(148) [vor dem 20.6.1925] Page 297
Brief, undatiert. Auf dem Briefpapier der Schulleitung Otterthal, allerdings nur ein abgerissenes Stück ohne Briefkopf. Page 297
Bongsche Ausgabe: Hebels Werke in 4 Teilen. Hrsg., mit Einleitungen, alemannischem Wörterbuch und Anmerkungen versehen von Adolf Sütterlin. Berlin, Leipzig: Bong & Co. 1911. Teil 3 und 4 enthalten Hebels Erzählungen und volkstümliche Aufsätze. Teil 4 enthält außerdem 74 Seiten Anmerkungen des Herausgebers zu allen 4 Teilen.
Page 297
Ausgabe bei Reichmann: Eine Hebel-Ausgabe bei Reichmann konnte nicht nachgewiesen werden.
(149) [vor dem 20.6.1925] Page 297
Brief, undatiert. Auf dem Briefpapier der Schulleitung Otterthal, allerdings nur ein abgerissenes Stück ohne Briefkopf.
(150) [Juli/August 1925 ?] Page 297
Ansichtskarte der Serie »Deutsche Heimatbilder«: Göll-Gipfel (2522) mit dem Hüttenstempel: Purtschellerhaus a. b. Göll 1771 m. Sekt. Sonneberg, D. Oe. A.V. Der Poststempel ist unleserlich. Unter die schwer lesbare Unterschrift »Kurt Ullmann« wurde in runder Klammer in deutlicherer Schrift der Name »Ullmann« hinzugefügt. Der Hohe Göll liegt an der salzburgisch-deutschen Grenze; auf der deutschen Seite liegt Berchtesgaden. Page 297
Ullmann: nicht ermittelt. Page Break 298
(151) [vor dem 16.8.1925] Page 298
Brief, undatiert. Page 298
nach England: Im Sommer 1925 unternahm Wittgenstein eine Reise nach England, die er eigentlich schon für 1924 geplant hatte. Wie aus einem Brief an Keynes hervorgeht, kam er am 18.8. in Newhaven an. Er besuchte W. Eccles in Manchester, John Maynard Keynes in Sussex und traf sich mit Freunden in Cambridge. (Vgl. Briefe, S. 151f.)
(152) 19.9.1925 Page 298
Brief auf vorgedrucktem Briefkopf der Schulleitung Otterthal. Die Geschäftszahl stammt von Wittgenstein.
(153) 23.9.1925 Page 298
Brief auf vorgedrucktem Briefkopf der Schulleitung Otterthal. Page 298
Lehrer Sturm: Näheres nicht ermittelt.
(154) [vor dem 23.12.1925] Page 298
Brief, undatiert. Die Datierung stützt sich auf Schlicks Vortrag vom 4.12.1925. Page 298
Oberlehrers Weiß: Franz Weiß: Lebensdaten nicht ermittelt. Im Niederösterreichischen Lehrerbuch 1926 findet sich in der Liste der damals in Otterthal tätigen Lehrer--gemeinsam mit dem Namen des Lehrers Wittgenstein--der Name des Oberlehrers Franz Weiß. (Vgl. Niederösterreichisches Lehrerbuch 1926. Herausgegeben vom Landes-Aktions-Ausschuß der niederösterr. Lehrerschaft. Elfte Ausgabe. Zusammengestellt vom Buchausschuß. Verlag des L.A.A. der niederösterreichischen Lehrerschaft. Wien. S. 106). Page 298
Prof. Schlick: Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte Hänsel von Moritz Schlicks Vortrag Begriff und Möglichkeit der Metaphysik berichtet, den dieser am 4. Dezember 1925 in der Philosophischen Gesellschaft gehalten hatte. Von dem genannten Vortrag konnte keine Publikation nachgewiesen werden. 1926 veröffentlichte Schlick in den Kantz-Studien (Bd. 31, S. 146158) einen Aufsatz mit dem Titel Erleben, Erkennen, Metaphysik, in dem er zu der Schlußfolgerung kommt: »Metaphysik ist also unmöglich, weil sie Widersprechendes verlangt. Strebte
der Metaphysiker nur nach Erleben, so wäre sein Verlangen erfüllbar, nämlich durch Dichtung und Kunst und durch das Leben selber, welche durch ihre Erregungen den Reichtum der Bewußtseinsinhalte, des Immanenten vermehren. Indem er aber durchaus das Transzendente erleben will, verwechselt er Leben und Erkennen und jagt, durch doppelten Widerspruch benebelt, leeren Schatten nach. Nur ein Tröstliches ist dabei: daß nämlich auch die metaphysischen Systeme selbst Mittel zur Bereicherung des Innenlebens sein können, auch sie regen ja Erlebnisse an und vermehren dadurch die Mannigfaltigkeit des Immanenten, des Gegebenen. Sie vermögen gewisse Befriedigungen zu gewähren, weil sie wirklich etwas von dem geben können, was der Metaphysiker sucht, nämlich Erleben. Freilich ist es nicht, wie er glaubt, ein Erlebnis des Transzendenten. Wir sehen, in welchem präzisen Sinne die oft geäußerte Meinung richtig ist, daß metaphysische Philosopheme Begriffs-Dichtungen seien: sie spielen im Kulturganzen in der Tat eine ähnliche Rolle wie die Dichtung, sie dienen der Bereicherung des Lebens, nicht der Erkenntnis. Sie sind als Kunstwerke, nicht als Wahrheiten zu werten. Die Systeme der Metaphysiker enthalten manchmal Wissenschaft, manchmal Poesie, aber sie enthalten niemals Metaphysik.« (A.a.O, S. 158) Page 298
Franz Blei: Geb. 18.1.1871, Wien; gest. 10.7.1942, Westbury/Long Island. Lebte in Wien, München, Berlin. Emigrierte 1933 nach Mallorca, 1941 nach den USA. Betätigte sich als Literaturkritiker, Essayist und Übersetzer (u.a. André Gide). Zwischen 1906 und 1919 Herausgeber von mehreren literarischen oder bibliophilen Zeitschriften. Werke u.a.: Die Puderquaste. Ein Damenbrevier. Aus den Papieren des Prinzen Hippolyt, 1908; Das Lesebuch der Marquise, 1917; Das große Bestiarium der modernen Literatur, 1920; Der bestrafte Page Break 299
Wollüstling. Eine Arabeske, 1921; Leben und Traum der Frauen, 1921; Das Gymnasium der Wollust, 1922; Lehrbücher der Liebe, 4 Bde., 1923. In Bleis nachgelassener Bibliothek in Lissabon, in der sich eine große Zahl philosophischer Werke befinden, liegt Wittgensteins Tractatus in keiner Ausgabe vor. Auch über den Verbleib von Bleis Brief (oder Briefen?) an Wittgenstein ist nichts bekannt. Im Blei-Nachlaß, der auf mehrere Archive verstreut ist, befindet sich laut Auskunft von Murray Hall kein Antwortschreiben Wittgensteins.
(155) [vor dem 19.3.1926] Page 299
Brief, undatiert. Page 299
Kommunion: An vielen österreichischen Schulen war es (und ist es auch heute noch mitunter) üblich, an Freitagen die Schüler an der Messe (mit Kommunion) teilnehmen zu lassen. Diese »religiöse Übung« wurde im allgemeinen am ersten Freitag des Monats durchgeführt, insbesondere in der Zeit vor Ostern als »vorösterliche Kommunion«. (Auskunft von Frau Prof. Herlinde Pissarek-Hudelist/Institut für Katechetik und Liturgiewissenschaft an der Universität Innsbruck).
(156) [vor dem 19.3.1926 ?] Page 299
Brief, undatiert. Wenn Nr. 155 und Nr. 156 hintereinander verfaßt worden wären, dann könnte man diesen Brief auf den 16.3.1926 datieren. Allerdings besteht die Möglichkeit, daß Nr. 156 früher, etwa im Jahre 1925, geschrieben worden ist. Page 299
Zeitungsausschnitt: nicht ermittelt.
(157) [vor dem 19.3.1926] Page 299
Brief, undatiert.
(158) [vor dem 19.3.1926] Page 299
Brief, undatiert.
(159) [8.-12.4.1926] Page 299
Brief. Mit anderer Tinte--vermutlich von Hänsel--auf »8.-12.IV« datiert. Page 299
Schwester Stonborough: Margarete Stonborough, geb. Wittgenstein: Geb. 19.9.1882, Wien; gest. 27.9.1958, Wien. 1905 Heirat mit dem Amerikaner Jerome Stonborough (Geb. 7.12.1873, New York; gest. 15.6.1938, Wien. Dr. der Chemie), mit dem sie zwei Söhne hatte. Margarete war ihrem Bruder Ludwig in vieler Hinsicht sehr ähnlich: sie war wißbegierig, allem Neuem aufgeschlossen, las Ibsen, Schopenhauer und Weininger, in späteren Jahren vor allem Kierkegaard. Sie interessierte sich für Sozialwissenschaften, Pädagogik und Psychologie und setzte sich intensiv mit Freuds Psychoanalyse auseinander. (Vgl. Wuchterl/ Hübner, S. 30 und McGuinness, S. 62f.) Margarete war eine energische Persönlichkeit, die voller Ideen steckte und die Gabe besaß, einfachste Dinge in interessante und besondere umzugestalten. Darüberhinaus war Margarete zeitlebens sozial sehr engagiert. So war sie maßgeblich an der Quäker-Kinderhilfsaktion beteiligt, die in der Schweiz vom späteren amerikanischen Präsidenten Hoover ausging, um nach Kriegsende während der Lebensmittelblockade hungernden Kindern in Österreich Kondensmilch zukommen zu lassen. Später fuhr sie auf Präsident Hoovers Bitte hin nach Amerika und sprach dort in verschiedenen Städten für Österreich und seine Lebensmittelversorgung. Nach dem Kriege unterstützte Margarete gemeinsam mit ihrem Gatten die Akademie der Wissenschaften und die Universität Wien; sie ermöglichten es der Akademie, ihre Publikationen fortzusetzen und subventionierten die Forschungen der Universität. In der Zeit des Nationalsozialismus half Margarete vielen Leuten, aus Österreich zu emigrieren und erklärte sich bereit, für diese zu bürgen, falls sie dem Page Break 300
amerikanischen Staat zur Last fallen würden. Sie war es auch, die gemeinsam mit Prinzessin Marie Bonaparte von Griechenland Sigmund Freud zur Flucht verhalf. In Gmunden finanzierte Margarete ein Kinderkrankenhaus, in dem vor allem an Tuberkulose Erkrankte untergebracht wurden. Alle ihre karitativen und großzügigen Tätigkeiten hielt sie jedoch--wie ihr Vater geheim und trat wie er niemals einem Komitee bei. In den Familienerinnerungen (S. 122-126) schreibt Hermine: »Schon in ihrer Jugend war ihr Zimmer die verkörperte Auflehnung gegen alles Hergebrachte und das Gegenteil eines Jungmädchenzimmers, wie es das meinige lange Zeit war. Gott weiß, woher sie alle die interessanten Gegenstände nahm, mit denen sie es schmückte. Sie strotzte von Ideen und vor allem konnte sie was sie wollte und wusste was sie wollte. [...] In ihrer Jugend und auch als junge Frau interessierte sie alles ziemlich wahllos und alles musste probiert werden; sie arbeitete als junge Frau eine Zeit lang in einem chemischen Laboratorium bei Professor Emil Fischer in Zürich, betrieb später mathematische Studien und vielleicht noch manches andere [...]. Nach und nach trat aber etwas Bestimmtes in den Vordergrund, worauf sich ihr Interesse konzentrierte: die menschliche Seele. Alles, womit sie sich dann befasste, ob es nun die weiblichen Insassen eines Jugendgefängnisses waren, mit denen sie sich längere Zeit abgab, oder psychiatrische Fälle, die sie intensiv beschäftigten, alles brachte ihr neue Ideen zu, die sich zum Schluss in ihrer Menschenkenntnis, ihrem Menschenverständnis und ihrer Menschenbeeinflussung auswirkten. Die Erziehung, Besserung, Hebung des Einzelnen, das Aufklären und Aufdecken von gut und böse, recht und unrecht war ihr Hauptberuf geworden, und sie selbst wurde für eine Menge Menschen der leuchtende Mittelpunkt, ja wirklich eine Art Leuchtturm und Wegweiser. [...] Ihr Selbstvertrauen und ihr Optimismus waren unerschütterlich, und diese Art der Einstellung hob Margarete über schwere Augenblicke hinweg und gab ihr immer wieder neuen Auftrieb; durch ihre optimistische Einstellung wirkte sie auch so erfreulich ermutigend und befeuernd auf Andere.« Page 300
privat untergebracht werden könnte: Vom 3.10.1924 bis zum 20.5.1926 war Ernst Geiger bei Frau Hofrätin Lecher in der Cottagegasse 30 gemeldet, anschließend wohnte er bis zum 26.6.1926 bei Frau Hermine Kristof in der Kutschkergasse 36/3/11. Im Herbst 1926 übersiedelte er in die Rüdengasse 7-9/1. Vom 5.12.1929 bis zum 17.7.1933 wohnte er in der Geologengasse 6/3/7 und vom 7.10.1933 bis zum 31.7.1935 in der Salesianergasse 8/4/29. (Vgl. die Meldeunterlagen vom Magistrat der Stadt Wien, Wiener Stadt- und Landesarchiv) Page 300
schwere Kämpfe: Wittgenstein hatte in Otterthal große Probleme mit seinen Schülern und deren Eltern. Im April 1926 kam es dann zu einem Zwischenfall mit einem Schüler namens Joseph Haidbauer, der nach mehreren Ohrfeigen Wittgensteins ohnmächtig zusammenbrach. Bei einem anschließenden Dienstaufsichtsverfahren der Schulbehörde stellte sich heraus, daß der Bub an Leukämie litt und aus diesem Grunde des öfteren in Ohnmacht fiel. Wittgenstein wurde von jeder Schuld freigesprochen, doch er bat trotzdem um seine Entlassung, die ihm am 28.4. vom Landesschulrat für Niederösterreich gewährt wurde. (Vgl. Wünsche, S. 276)
(160) [April 1926] Page 300
Brief, undatiert. Mit vorgedruckter Adresse.
(161) 26.8.1926 Page 300
Brief. Page 300
Arbeit am Haus: betrifft den Bau des Hauses für Margarete Stonborough in der Kundmanngasse in Wien. Der Architekt Paul Engelmann, der schon vorher das Familienhaus der Wittgensteins in Neuwaldegg renoviert und für den Bruder Paul mehrere Räume im Stadtpalais eingerichtet hatte, wurde von Margarete Stonborough-Wittgenstein mit der Planung des Hauses beauftragt. Engelmann zeichnete im Frühjahr 1926 eine Reihe von Entwürfen, für die Wittgenstein großes Interesse zeigte. Er gab seinem Freund immer wieder neue Anregungen und Ratschläge und schließlich--nachdem er aus dem Schuldienst freiwillig ausgeschieden war--wurde er von seiner Schwester als Architekt beigezogen. Im November genehmigte der Page Break 301
Magistrat die von Engelmann und Wittgenstein gemeinsam unterfertigten Pläne, und Wittgenstein übernahm von da an die Bauüberwachung und die gesamte Detailplanung. (Vgl. Haus Wittgenstein. Eine Dokumentation. Text von Otto Kapfinger. Wien: Kulturabteilung der Botschaft der Volksrepublik Bulgarien 1984). Page 301
die Sache: Offensichtlich haben sich der »Fall Haidbauer« und das damit verbundene Gerichtsverfahren bis zur endgültigen Klärung hinausgezogen.
(162) 26.12.1926 Page 301
Brief. Page 301
in dem Buche: nicht ermittelt. Page 301
das Heim: Wittgenstein war nicht nur häufiger Gast bei der Familie Hänsel, er war dort vom 18.7.1925 bis 11.10.1927 sogar polizeilich gemeldet.
(163) 2.3.1927 Page 301
Brief. Page 301
John Stonborough: Geb. 11.6.1912, Wien, doch als amerikanischer Staatsbürger. Zweiter Sohn von Margarete und Jerome Stonborough. Nach dem Besuch der Browning School in New York war John Stonborough fünf Jahre am Theresianum in Wien, danach ca. eineinhalb Jahre im Internat in Salem und schließlich zwei Jahre am Reformgymnasium in Wien, wo er 1930 maturierte. Studium der Wirtschaft in Wien, Freiburg i. Breisgau und an der Columbia University in New York. Anschließend arbeitete er sechs Jahre in der amerikanischen Regierung unter Präsident Roosevelt; wurde zu einem der Commissioner of Conciliation im Department of Labor bestellt. Er gab seine Stellung auf und wurde Volontär bei der Kanadischen Armee. Avancierte zum Offizier, später zum Major. Wurde Intelligence Officer der Second Canadian Infantry Division und machte den Feldzug Caen-Oldenburg mit. Anschließend war John Stonborough an der geordneten Auflösung von SS-Lagern beteiligt: z.B. brachte er im Konzentrationslager Esterwegen den Verhungernden Hilfe. Er war auch Senior Intelligence Officer der Canadian War Crimes Prosecution. Aufgrund seiner guten Deutschkenntnisse war er ein wichtiger Berater. Später hielt er für das Foreign Office in London Vorträge vor deutschen kriegsgefangenen Generälen. 1942 Heirat mit Miss Veronica Morrison-Bell von Highgreen, Northumberland. 3 Kinder: Jerome, Margaret und John. Page 301
1974 schrieben John und Veronica Stonborough Entgegnungen auf W. W. Bartleys Buch Wittgenstein, die in der Zeitschrift The Human World, Nr. 14, Februar 1974, veröffentlicht wurden. Page 301
ZALEM: richtig Salem: Schule mit Internat am Bodensee. Ehemalige Zisterzienserabtei, die 1803 säkularisiert wurde und 1903 in den Besitz von Prinz Max von Baden gelangte. Dieser hatte die Idee, Schloß Salem in eine Schule umzugestalten und führte diesen Entschluß zusammen mit seinem Privatsekretär Dr. Hahn und einem Geheimrat Schmiedle durch. Er hatte dabei die alte »Klosteridee« vor Augen, d.h. er wollte eine Gemeinschaft von Schülern
aller Schichten (Kinder von Bürgern, Bauern, Förstern usw.), damit sein Sohn, Prinz Berchtold von Baden, das Leben besser kennenlernen sollte. Page 301
Jochelchen: Hans Joachim von Zastrow: Geb. 15.10.1911, Hirschberg, Schlesien; gest. 16.10.1976, San Francisco. Jochen von Zastrow war einer der beiden Ziehsöhne von Margarete Stonborough, die diese im Jahre 1924, als deren Mutter Irmgard von Zastrow an Tuberkulose starb, zu sich nahm. Jochen wurde später Staatsoffizier in der amerikanischen Armee, wo er aufgrund besonderer Tapferkeit im Feld zum Offizier »geschlagen« wurde, was eine seltene militärische Auszeichnung bedeutet. Nach seiner Heirat mit Marianne Gräfin von Zedtwitz-Liebenstein am 20.1.1951 mußte er die amerikanische Armee verlassen und ging nach Afrika, wo er eine Kaffeeplantage erwarb. Später lebte er in den USA. Page 301
Wulli jr: Wulli, der Sealyham Terrier der Stonboroughs, hatte Junge, von denen John Stonborough eines Hänsel schenken wollte. Page 301
Ji: Kurzname für John Stonborough. Page Break 302
(164) 26.3.[1927] Page 302
Brief. Mit vorgedruckter Adresse und Telephonnummer. Page 302
Firmung: Hermine Wittgenstein führte Anna und Maria Hänsel am 11.6.1927 im Dom zu St. Stephan in Wien zur Firmung.
(165) 11.5.1927 Page 302
Brief, das Datum steht im Original links unten am Briefende. Page 302
höchst unangenehm hier: John Stonborough fühlte sich in der strengen »preußischen« Atmosphäre von Salem nicht wohl und litt sehr an Heimweh. Als er noch im Theresianum in Wien war, hatte Hänsel ihm und Jochen von Zastrow Nachhilfeunterricht in Französisch und Mathematik erteilt. Auch war er Thomas Stonborough bei seiner Dissertation behilflich.
(166) 30.5.1927 Page 302
Brief. Page 302
Hahn: Prof. Dr. Kurt Hahn, Privatsekretär von Prinz Max von Baden, war an der Gründung von der Schule in Salem maßgeblich beteiligt und dann deren Direktor. Hahn war vom englischen Schulsystem begeistert und wollte Salem in der Art wie Harrow führen. Er war sehr streng, doch laut Auskunft von John Stonborough konnte man von ihm einiges Nützliche für das Leben lernen, so z.B. niemals aufzugeben, sondern alles zu versuchen, um seine Ziele zu erreichen. Page 302
Gmunden: Stadt in Oberösterreich am Traunsee, wo Margarete Stonborough im Jahre 1911 die Villa Toscana gekauft und umgebaut hatte, die Ludwig Wittgenstein für sie entdeckt hatte. Da Margarete bereits 1917 in die Schweiz übersiedelte, hielt sie sich mit ihrer Familie vor allem im Sommer in Gmunden auf und traf sich dort mit ihren Geschwistern und Freunden. Auch Ludwig Hänsel war oft Gast in ihrem Hause, vor allem, wenn Ludwig Wittgenstein sich dort aufhielt. Heute dient die Villa Toscana als Kongreßzentrum, doch ein weiteres, auf demselben Grundstück am See gelegenes Wohnhaus, befindet sich noch im Besitz von John Stonborough, der dort die meiste Zeit des Jahres verbringt. Page 302
Hrätzky: strengster Professor am Obergymnasium im Theresianum, der Griechisch lehrte und für den die Worte von John Stonborough »Kalt aber hart nur Bravo für ihre Arbeit« gelten sollten.
(167) [Mai/Juni 1927] Page 302
Brief, undatiert; mit vorgedruckter Adresse und Telephonnummer.
(168) [vor dem 11.6.1927] Page 302
Brief, undatiert; mit vorgedruckter Adresse und Telephonnummer. Page 302
Oper: Am 11.6.1927 wurde in der Oper Verdis Maskenball gespielt.
(169) [Frühjahr 1927 ?] Page 302
Brief, undatiert; mit vorgedruckter Adresse und Telephonnummer. Gleiches Briefpapier wie Nr. 164, 167 und 168, das offensichtlich nur von März bis Juni 1927 verwendet wurde.
(170) 17.6.1927 Page 302
Brief. Page 302
Clara Wittgenstein: Geb. 9.4.1850, Leipzig; gest. 29.5.1935, Laxenburg. Clara Wittgenstein Page Break 303
blieb unverheiratet und verbrachte Frühling und Herbst in Laxenburg. Sie stand Karl Wittgenstein und seinen Kindern besonders nahe. In den Familienerinnerungen (S. 219-230) schreibt Hermine von ihrem »intensiven Sorgen für Andere in materieller, geistiger, charakterlicher Beziehung«. Als hervorstechende Eigenschaften im Wesen ihrer Tante nennt sie deren »Tiefe«, »Ernst« und »Selbstzucht«. »Sie machte sich mehr Gedanken über die Bedürfnisse der Andern als diese selbst [...]. Ihre Güte deckte sich nicht mit dem allgemeinen Wort ›gütig‹ sein, sie bestand vor allem in dem leidenschaftlichen Wunsch, dem Nebenmenschen in der richtigen Weise zu helfen. [...] Schon als Kind war es ihre Freude, für Untergebene oder für Arme zu sorgen. ›Sie wusste sehr gut, was in den Kästen ihrer Schützlinge war und noch besser, was darin fehlte!‹ sagte ihre alte pensionierte Hausnäherin. [...] Es ging ihr dabei aber nicht nur um das leibliche Wohl, sondern es lag ihr der ganze Mensch am Herzen.« »›Die liebe Clara übt mit mehr oder weniger Erfolg das edle Werk der Menschenerziehung!‹« sagte ihr Schwager Brücke halb im Scherz. Clara Wittgenstein wurde wegen ihrer Hilfsbereitschaft und Sorge für Andere von der Bevölkerung in Laxenburg hochgeschätzt. Nach ihrem Tod nahm der nationalsozialistische Bürgermeister von Laxenburg die Gefahr auf sich, »ihr als der Wohltäterin des ganzen Orts Blumen und einen dankbaren Nachruf aufs Grab zu legen.« Page 303
Laxenburg: in Laxenburg besaßen die Wittgensteins ein »ehemaliges Kaunitzsches Schloß«, das vorwiegend von Clara Wittgenstein und ihrem Bruder Paul bewohnt wurde. Während des Ersten Weltkrieges lud Tante Clara in Laxenburg rekonvaleszente Soldaten wöchentlich zu einer Jause ein. (Vgl. Familienerinnerungen, S. 227) Ein Flügel des Schlosses, in dem seinerzeit sächsische Offiziere untergebracht waren, wurde im Jahre 1872 einem Major von Bruckner als Dienstwohnung zugewiesen, während der übrige größere Teil des Schlosses von den Wittgensteins bewohnt wurde. Die jüngere Schwester der Majorin war Leopoldine Kallmus, die spätere Frau Karl Wittgensteins. Ihr Klavierspiel brachte sie mit diesem zusammen, der »mit Freude und Temperament die Geige spielte.« (Vgl. Familienerinnerungen, S. 46f.)
(171) [Anfang September 1927 ?] Page 303
Brief, undatiert. Page 303
Aufenthat im Kloster: Laut Auskunft von Hermann Hänsel hielt sich Ludwig Hänsel einige Male während der Schulferien für ca. 14 Tage als Gast in einem belgischen oder französischen Kloster auf.
(172) 8.9.1927
Page 303
Kartenbrief. Page 303
Haus in der Parkstraße: richtig Parkgasse, wo Wittgenstein mit dem Bau des Hauses für seine Schwester beschäftigt war, das auf einem von Parkgasse, Kundmanngasse und Geusaugasse begrenzten Grundstück entstand.
(173) [Herbst 1927) Page 303
Brief, undatiert. Im Schuljahr 1927/28 besuchte Ernst Geiger die »IV. Classe Gymnasium«.
(174) [vor Weihnachten 1927 ?] Page 303
Brief, undatiert.
(175) [1927/28 ?] Page 303
Brief, undatiert. Nr. 175 bis Nr. 178 lassen keine genaue Datierung zu. Sie stammen wahrscheinlich alle--Nr. 176 sicher--aus der Zeit des Hausbaus in der Kundmanngasse. Page Break 304
(176) [1927/28 ?] Page 304
Brief, undatiert. Page 304
Fräulein Baumayer: Marie Baumayer: Geb. 12.7.1851; gest. 23.1.1931, Wien. Klavierlehrerin und Konzert-Pianistin, Privatschülerin von Clara Schumann, W. Mayer-Rémy, J. Eppstein, K. Evers, Klavierlehrerin am Wiener Konservatorium, seit 1926 Professorin. Marie Baumayer war eine geschätzte Kammermusikerin, die sich vor allem als Wegbereiterin der Werke Johannes Brahms' bekannt machte. Sie war mit Wittgensteins Tante Clara eng befreundet. Page 304
Baumeister: Friedl. Näheres nicht ermittelt (vgl. das Photo in Nedo, S. 208)
(177) [1927/28 ?] Page 304
Brief, undatiert. Page 304
mit Dir fühle: Der Anlaß dieses Briefes konnte nicht ermittelt werden.
(178) [1927/28 ?] Page 304
Brief, undatiert. Nr. 177 und Nr. 178 liegen im Nachlaß Hänsels im Kuvert Herbst 1927-1929. Page 304
traurige Zeiten: bezieht sich vermutlich auf das gleiche Ereignis wie Nr. 177.
(179) [Herbst 1928] Page 304
Brief, undatiert.
(180) [Herbst 1928 ?] Page 304
Brief, undatiert; mit vorgedruckter Adresse.
Page 304
Radio-Vortrag: nicht ermittelt. Page 304
Cousine Pauli: Hedwig Pauli war eine Tochter von Josefine Oser geb. Wittgenstein. Ihre Mutter, eine Schwester von Karl Wittgenstein, war mit Joh. Nep. Oser verheiratet, der Professor an der technischen Hochschule in Wien und dort eine Zeitlang Rektor war. Josefine besaß eine sehr schöne Stimme, von der Brahms und der Liedersänger Stockhausen begeistert waren. (Vgl. Familienerinnerungen, S. 34).
(181) [nach dem 18.1.1929] Page 304
Brief, undatiert. Page 304
Cambridge: Wittgenstein hatte bereits im Herbst 1928 die Absicht, nach Cambridge zu fahren, doch wegen einer Erkältung kam es erst im Jänner 1929 dazu. Wie aus einem Brief von Keynes an seine Frau hervorgeht, traf Wittgenstein am 18.1.1929 in Cambridge ein. Obwohl er ursprünglich die Absicht gehabt hatte, nur für ca. 14 Tage zu bleiben, wurde daraus ein »dauernder« Aufenthalt. Anfangs verbrachte er ca. 14 Tage bei Frank Plumpton und Lettice Ramsey in der Mortimer Road Nr. 4, und wohnte dann bei Mrs. Dobbs. (Vgl. Keynes an seine Frau in einem Brief vom 25.2.1929, zit. nach Nedo, S. 225) Page 304
Neururer: Briefe von Neururer an Wittgenstein sind derzeit nicht zugänglich. In seinen Erinnerungen an Wittgenstein schreibt Drury, daß dieser ihm--vermutlich im Jahre 1949--folgendes erzählt habe: »Ich habe einen Brief bekommen von einem alten Freund aus Österreich, einem Priester. In dem Brief steht, er hoffe, daß meine Arbeit gut vorangeht, so Gott wolle. Ja, weiter wünsche ich mir gar nichts als: so Gott wolle. Bach schrieb aufs Titelblatt seines Orgelbüchleins: ›Dem höchsten Gott allein zu Ehren, dem Nächsten, draus sich zu belehren.‹ Das hätte ich gern über mein eigenes Werk gesagt.« (Vgl. Porträts und Gespräche, S. 231). Vgl. dazu auch Wittgensteins Vorwort zu den Philosophischen Bemerkungen, Werkausgabe Bd. 2, S. 7: »Ich möchte sagen ›dieses Buch sei zur Ehre Gottes geschrieben‹, aber das wäre Page Break 305
heute eine Schurkerei, d.h. es würde nicht richtig verstanden werden. Es heißt, es ist in gutem Willen geschrieben und soweit es nicht mit gutem Willen, also aus Eitelkeit etc., geschrieben, soweit möchte der Verfasser es verurteilt wissen. Er kann es nicht weiter von diesen Ingredienzen reinigen, als er selbst davon rein ist.«
(182) [Februar 1929] Page 305
Brief, undatiert.
(183) [vor dem 20.3.1929] Page 305
Brief, undatiert. Page 305
die Bücher: nicht ermittelt.
(184) [nach dem 14.4.1929 ?] Page 305
Brief, undatiert. Die Datierung stützt sich auf Brief Nr. 181, in dem Wittgenstein schreibt, daß er bis ca. 14. April in Wien sein werde, doch könnte der Brief auch in einem anderen Jahr verfaßt worden sein. Page 305
Trinity College: Am 19. Juni 1929 erhielt Wittgenstein durch Vermittlung von Moore, Russell und Ramsey ein Stipendium des Trinity Colleges zur Fortsetzung seiner Forschungsarbeiten. (Vgl. Nedo, S. 355) Am 5.12.1930 wurde er vom Council des Trinity Colleges für fünf Jahre zum Research Fellow gewählt. Er bezog die selben Räume im Whewells Court im Trinity College, die er schon vor dem Krieg als Student bewohnt hatte. Nach Auslaufen des Research Fellowships teilte er mit seinem Freund Francis Skinner eine Wohnung über einem Gemüseladen in der East Road. Als er im Jahre 1939 zum Professor für Philosophie ernannt wurde und in der Nachfolge G. E. Moores den Lehrstuhl in Cambridge erhielt, bezog er wieder seine alten Räume im Whewells Court, Trinity College. (Vgl.
Nedo, S. 359).
(185) [Frühjahr/Sommer 1929 ?] Page 305
Brief, undatiert. Gleiches Briefpapier wie Nr. 184; beide Briefe liegen im Nachlaß Hänsel nebeneinander, allerdings im Kuvert 1935/36. Page 305
Pierre Larousse: Grand dictionnaire universel du XIXe siècle (15 Bände, 1864-76; 2 Ergänzungsbände, 1878 u. 1890). In einem Brief an seinen Freund Gilbert Pattisson, datiert mit [Nov-Dec 1933], zitiert Wittgenstein Bemerkungen über »Gold« ebenfalls aus dem Dictionnaire Larousse und in einem weiteren Brief Bemerkungen über »Gold« aus der Encyclopedia Britannica. (Vgl. Wittgenstein Papers, die sich im Trinity College befinden: Correspondence, 402). Page 305
»Pendaison«: »Erhängen«: Der Tod durch Erhängen kann bei jeder Körperstellung eintreten. Er erfolgt durch Ersticken, durch Blutandrang oder Zerquetschung und Verletzung des Rückenmarks, infolge der Verrenkung der ersten Halswirbel. (Übersetzung von Ilse Somavilla)
(186) [vordem 15.7.1929] Page 305
Brief, undatiert. Es ist möglich, daß sich Hänsel zu dieser Zeit in einem französischen Kloster aufhielt (vgl. auch den Kommentar zu Nr. 171).
(187) [vordem 15.7.1929] Page 305
Brief, undatiert. Page 305
Frostlake Cottage: Im Jahre 1929 verbrachte Wittgenstein den ersten Teil der Sommerferien im Hause von Maurice Dobb und seiner Frau in Cambridge, Frostlake Cottage, 305 Page Break 306
Malting House. Maurice Dobb war neben Piero Sraffa, Nicholas Bachtin und George Thomson einer der marxistischen Freunde Wittgensteins. Gemeinsam mit David Heyden-Guest und John Cornford gründete Dobb die »Cambridge Communist Cell«, zu der viele führende Intellektuelle Cambridges, darunter auch junge Mitglieder der sogenannten »Apostles«, gehörten. (Vgl. Monk, S. 343, 347f.)
(188) [vor dem 29.8.1929 ?] Page 306
Brief, undatiert. In den nächsten Jahren ist Wittgenstein nie so früh nach England zurückgefahren und da hier Pabenschwand zum ersten Mal erwähnt wird, dürfte es sich um das Jahr 1929 handeln. Page 306
Pabenschwand: bei Plainfeld, Post Hof. Neben Gisham ein weiterer Meierhof des Benediktinerstiftes St. Peter in Salzburg. Dort verbrachte Hänsel mit seiner Familie nach 1927 bis ca. 1934 die Schulferien.
(189) [nach dem 23.11.1929] Page 306
Brief, undatiert. Antwort auf den unveröffentlichten Brief Hänsels an Wittgenstein vom 23. 11. 1929. Page 306
beide Parteien: Nach den Wahlen von 1927 setzte sich die österreichische Regierung unter Bundeskanzler Ignaz Seipel aus Vertretern der christlich-sozialen Partei, den Großdeutschen und dem Landbund zusammen, die Sozialdemokraten waren in der Opposition. Mit schwarz werden die Christlich-Sozialen bezeichnet, die Roten sind die Sozialdemokraten, mit den Grünen ist der Landbund gemeint. Der Landbund hat aber mit den heutigen »Grünen« nichts zu tun. Der »Landbund für Österreich« war 1922 aus dem Zusammenschluß der »Deutsch-österreichischen Bauernpartei« und dem innerhalb der Großdeutschen Volkspartei bestehenden »Bund deutsch-österreichischer Bauern« hervorgegangen. Der »Landbund« sah sich als ständische Partei, wollte das
gesamte Landvolk vom Besitzenden über die ländlichen Gewerbetreibenden zum einfachen Landarbeiter vertreten, seine Einstellung war national und antisemitisch. Page 306
in dem das Laue von dem Warmen entfernter ist als das Kalte: vgl. dazu Die Offenbarung des Johannes 3, 15-16: »Ich kenne deine Werke. Du bist weder kalt noch heiß. Wärest du doch kalt oder heiß! Weil du aber lau bist, weder heiß noch kalt, will ich dich aus meinem Mund ausspeien.« Page 306
/bürgerliche/: Über das Wort »weltliche« geschrieben.
(190) [vor Weihnachten 1929 ?] Page 306
Brief, undatiert. Da Hänsel mit »Director« betitelt wird, kann der Brief erst vor Weihnachten 1929--oder später--abgefaßt worden sein, da Hänsel erst im Herbst 1929 zum Direktor ernannt wurde.
(191) 14.[12.1929] Page 306
Brief. 1929 war der 14. Dezember ein Samstag.
(192) 16.4.1930 Page 306
Brief.
(193) [vor dem Sommer 1930 ?] Page 306
Brief, undatiert. Der Brief muß entweder vor den Sommerferien 1930 oder 1931 geschrieben worden sein, da Hänsel im Herbst 1929 Direktor wurde und Geiger vor dem Sommer 1932 seine Reifeprüfung ablegte. Page Break 307
(194) [Sommer 1930 ?] Page 307
Brief, undatiert. Da Wittgenstein Anfang der Dreißigerjahre regelmäßig den Sommer in Österreich verbrachte, könnte dieser Brief auch in den Jahren 1931-1934 verfaßt worden sein. Page 307
Skitzen: sic!
(195) [vor dem 9.11.1930 ?] Page 307
Brief, undatiert. Die Datierung stützt sich auf die Nationalratswahlen am 9. 11. 1930, auf die sich der Inhalt des Briefes beziehen könnte.
(196) [Anfang Dezember 1930 ?] Page 307
Brief, undatiert. Wittgenstein schrieb in einem Brief an Moritz Schlick vom 27.11.1930, er hoffe, in 10-14 Tagen in Wien zu sein (Wiener-Kreis-Archiv, Haarlem). Page 307
Einladung für den gestrigen Abend: nicht ermittelt. Page 307
Tommy: Thomas Stonborough: Geb. 9.1.1906, Berlin; gest. 14.2.1986, Wien. Ältester Sohn von Margarete und Jerome Stonborough. Studierte Psychologie bei Charlotte Bühler. Thomas Stonborough war stiller Teilhaber der Bank Shields & Co. in der Wall Street in New York und eine Zeitlang Assistent an der Columbia University. Page 307
Frau Radnitzky: Adelheid Radnitzky, geb. Mandlik: Geb. 18.11.1861, Wien; gest. 22.9.1932, Mödling.
Pianistin, die mit den Wittgensteins befreundet war. Page 307
Ihr Bruder: nicht ermittelt.
(197) [Anfang 1931 ?] Page 307
Brief, undatiert. Dieser Brief wurde sicher vor dem Sommer 1932--als Geiger maturierte verfaßt, da Hermine Geld für die Nachhilfestunden von Geiger geschickt hat. Page 307
mit Ludwig in Trattenbach: Auch in den Dreißigerjahren hielt Wittgenstein den Kontakt zu manchen Schülern und Freunden seiner Lehrerzeit aufrecht und besuchte diese mehrmals. Wünsche berichtet z.B. von Besuchen Wittgensteins in den Jahren 1931 bis 1938. 1933 besuchte er die alte Trahtbäuerin und um 1937 kam er, um sich bei mehreren Schülern für sein zeitweise grobes Verhalten zu entschuldigen. (Vgl. Wünsche, S. 281ff.)
(198) 27.1.1931 Page 307
Brief.
(199) [um den 22.3.1931] Page 307
Brief, undatiert. Die Datierung stützt sich auf einen Brief von Wittgenstein an Moritz Schlick, Poststempel 9.3.1931 (Wiener-Kreis-Archiv, Haarlem), in dem er seine Ankunft in Wien für den 15.3. ankündigt, und auf die Bemerkung Hermine Wittgensteins, daß Wittgenstein seit einer Woche in Wien sei.
(200) [Ende März 1931] Page 307
Brief, undatiert mit vorgedrucktem Briefkopf. Datierung aufgrund eines Briefes von Wittgenstein an Moritz Schlick (Poststempel: 20.3.1931), in dem Wittgenstein von einem Gallensteinanfall schreibt und daß er in der Kundmanngasse bei seiner Schwester Margarete Stonborough sei (Wiener-Kreis-Archiv, Haarlem). Page Break 308
(201) [vor dem 20.4.1931] Page 308
Brief, undatiert. Ostern war 1931 am 20.4.
(202) [Herbst 1931 ?] Page 308
Brief, undatiert.
(203) [vor dem 26.6.1932] Page 308
Brief, undatiert. Page 308
guten Ausgang der Prüfung: bezieht sich auf Geigers Matura im Jahre 1932.
(204) [Sommer/Herbst 1932] Page 308
Brief, undatiert. Auf der Rückseite von Blatt 1 findet sich ein mit »Ferienabsichten« betitelter Aufsatz einer Schülerin namens Grete Frischauf. Page 308
Geiger: Nachdem Ernst Geiger die Reifeprüfung am Bundesrealgymnasium, Wien III, absolviert hatte,
besuchte er an der Handelsakademie der Wiener Kaufmannschaft (in der Akademiestraße 12, Wien I), den einjährigen Abiturientenkurs (einen einjährigen Fachkurs für Mittelschulmaturanten), den er im Juni 1933 erfolgreich abschloß. (Vgl. dazu sein Zeugnis vom 30.6.1933).
(205) 24.9.[1932] Page 308
Brief. Page 308
Stockert-Kinder: Es handelt sich um die Kinder von Marie geb. Salzer und Fritz von Stockert: Johanna (geb. am 9.5.1924), Ludwig (geb. am 29.5.1925), Franz (geb. am 11.7.1926), Paul (geb. am 28.12.1927), Marianne (geb. am 28.12.1927), Elisabeth (geb. am 29.9.1930). Page 308
Frau Prof. Radnitzky: Frau Radnitzky starb am 22.9.1932 in Mödling. Page 308
Wedigo Zastrow: Geb. 11.9.1910, Hirschberg, Schlesien; gest. 18.9.1944, Wohlau, Schlesien. Wedigo war neben Jochen von Zastrow der zweite der Ziehsöhne von Margarete Stonborough. Wedigo blieb in Europa und führte landwirtschaftliche Betriebe. Er kam im Krieg auf deutscher Seite um. Page 308
Motorrad-Unfall: Wedigo Zastrow hatte laut Auskunft von John Stonborough eine große Liebe für Motorräder und in der Folge mehrere Motorradunfälle, u.a. einen in der Schweiz und einen in Holland im Jahre 1932. Wittgenstein, der Wedigo besonders zugetan war, besuchte ihn im Krankenhaus in Holland und verbrachte zwei Wochen als Krankenpfleger an seinem Bett. Er war vom Einsatz und der trotz schlafloser Nächte stets heiteren und freundlichen Art der holländischen Krankenschwestern tief beeindruckt, vor allem aber von ihrem Glauben, von dem sie erfüllt waren. (Vgl. den Bericht von O. K. Bouwsma in: Wittgenstein. Conversations 1949-1951. Edited, with an introduction by J. L. Craft and Ronald E. Hustwit. Indianapolis: Hackett Publishing Company 1986, S. 48)
(206) 15.6.1933 Page 308
Brief, das Datum steht im Original links unten am Briefende. Page 308
Greifeneder: Vermutlich ein »Schützlingsfall« von Margarete Stonborough, die sich um Insassen eines Jugendgefängnisses kümmerte. (Mitteilung von John Stonborough an Ilse Somavilla, 14.11.1992). Page Break 309
(207) [Juni 1933] Page 309
Brief. Der 2. Juli 1933 fällt auf einen Sonntag. Page 309
zu einem sehr schönen Konzert: nicht ermittelt. Page 309
das Metronom: Um das Halten des Taktes beim Klavierspielen zu verbessern, wurde Hermann ein Metronom geliehen.
(208) 23.11.1933 Page 309
Brief.
(209) 2.1.1934 Page 309
Brief, das Datum steht im Original links unten am Briefende.
(210) 31.3.1934
Page 309
Postkarte.
(211) 30.6.1934 Page 309
Brief, mit vorgedruckter Adresse.
(212) [Anfang Sommer 1934 ?] Page 309
Brief, undatiert. Die im Brief genannte Geldsumme läßt darauf schließen, daß dieser Brief nach Nr. 208 abgefaßt worden ist. In diesem Brief hat Hermine den Erziehungsbeitrag auf 40 S gekürzt.
(213) [1934 ?] Page 309
Brief. Den einzigen Hinweis für die Datierung liefert das Kuvert 1933/34, in dem dieser Brief im Nachlaß Hänsel abgelegt ist. Page 309
Castle: Wahrscheinlich die Ausgabe: Ferdinand Raimund: Sämtliche Werke. Mit einer Einf. und Anm. hrsg. von Eduard Castle. Leipzig: Hesse & Becker 1903 (2. Aufl. 1923); wohl kaum die historisch-kritische Säkularausgabe von F. Bruckner und E. Castle. 6 Bde. Wien: Schroll 1924-1934.--Welche Ausgabe Hermine geschickt hat, konnte nicht ermittelt werden. In Hänsels Bibliothek befindet sich keine Raimund-Ausgabe. Page 309
Salzburgerin: Laut Auskunft von Hermann Hänsel handelt es sich dabei vermutlich um ein von Maria Hänsel gefertigtes Aquarell.
(214) [nach dem 29.5.1935] Page 309
Brief, undatiert. Page 309
Russland: Mehrmals in seinem Leben erwog Wittgenstein den Gedanken, nach Rußland zu reisen und sich dort niederzulassen. In einem Brief an Paul Engelmann vom 22.9.1922 schrieb er: »Was wir damals von einer eventuellen Flucht nach Rußland sprachen, das spukt noch immer in meinem Kopf herum« (vgl. Briefe, S. 125). In einem Brief an Keynes vom 30.6.1935 schrieb er von seinem Entschluß, im September als Tourist nach Rußland zu fahren und sich dort umzuschauen, ob er eine für ihn passende Arbeitsstelle finden könnte (vgl. Briefe, S. 189). Er bat Keynes, ein Empfehlungsschreiben an den Botschafter Maiski (von 1932-1943 Botschafter der Sowjetunion in Großbritannien) zu richten. Falls er keine Arbeitserlaubnis erhalten würde, hätte er die Absicht, nach England zurückzukehren und dort Medizin zu studieren, um sich dann später in Rußland als Arzt niederzulassen. In einem weiteren Brief an Keynes vom 6.7.1935 schrieb Wittgenstein: »Ich bin sicher, daß Du meine Gründe für den Page Break 310
Wunsch, nach Rußland zu gehen, zum Teil verstehst, und ich gebe zu, daß es teilweise schlechte und sogar kindische Gründe sind, aber es stimmt auch, daß hinter all dem tiefe und sogar gute Gründe stehen.« (Vgl. Briefe, S. 191f.) Am 10.7.1935 richtete Keynes an Maiski ein Empfehlungsschreiben und nach einem, laut Wittgenstein gut verlaufenen Gespräch mit dem Botschafter, besuchte er im September 1935 die Sowjetunion. Am 12.9. war er in Leningrad, später reiste er nach Moskau, wo er Sophia Janowskaja, Professorin für mathematische Logik, kennenlernte, mit der ihn später eine längerdauernde Freundschaft verband. Es ist wohl auf ihren Einfluß zurückzuführen, daß ihm ein Lehrstuhl an der Universität Kasan und später eine Dozentur an der Universität Moskau angeboten wurde. Es wurde Wittgenstein bald klar, daß er als Lehrer in der Sowjetunion willkommen war, nicht aber als Arbeiter in einer Kolchose. (Vgl. Monk, S. 350ff.) Nach einem Aufenthalt von ca. 14 Tagen war er am 1.10. wieder zurück in Cambridge. Über die Gründe, sich doch nicht in Rußland niederzulassen, ist wenig bekannt. Gilbert Pattisson berichtet in seinen Erinnerungen an Ludwig Wittgenstein: »Die Reise war ein Experiment, und er sprach nicht viel darüber. Ich hatte den Eindruck, daß er enttäuscht war. Er hatte politische Bedenken. Außerdem empfand er das Leben in Rußland so, als ob man den Rest seines Lebens in irgendeiner Armee der Welt verbringen würde, und das sei für gebildete Leute ziemlich schwer [...]. Politisch gesehen, war er aber sehr darauf bedacht, weder mit anti- noch mit prokommunistischen Gruppen in Verbindung gebracht zu werden.« (Vgl. Gilbert Pattisson:
Erinnerungen an Ludwig Wittgenstein. In: Wittgenstein. Eine Ausstellung in der Wiener Secession. Wien 1989, S. 123). Nachdem Wittgenstein von ca. Mitte August 1936 an ungefähr ein Jahr lang in Norwegen verbracht hatte, schien ihn der Gedanke an einen Rußlandaufenthalt noch immer zu beschäftigen, wie aus einem Brief vom 21.6.1937 an Paul Engelmann ersichtlich ist: »Ich bin jetzt auf kurze Zeit in England; fahre vielleicht nach Rußland.« (Vgl. Briefe, S. 206). Page 310
Tante Clara: Clara Wittgenstein war am 29.5.1935 in Laxenburg gestorben.
(215) 15.6.1935 Page 310
Brief. Page 310
das Musset-sche Gedicht: Page 310
Ein verlorener Abend Letzten Abend im Théatre Francais bin ich fast allein geblieben; Dem Autor war kein großer Erfolg beschieden, Es war ja nur Molière; übrigens wissen wir, Daß jener große Tölpel, welcher eines Tags Alceste erfand Nichts von der hehren Kunst verstand, Dem Geist zu schmeicheln Und uns eine gut »durchbratene« Lösung des Konflikts zu reichen. Gott sei Dank--änderten unsere Autoren die Methode, Lieber haben wir Dramen nach neuer Mode, Wo die Intrige zur Girlande aufgerollt und verflochten, Sich dreht wie ein Bilderrätsel um eine Pappflöte. Page 310
(Übersetzung von Isabella Berger) Page 310
Vgl. Alfred de Musset: Poésies complètes. Texte établi et annoté par Maurice Allem. Paris: Gallimard 1957, Poésies nouvelles, S. 389ff.--Alfred de Musset: Geb. 11.12.1810, Paris; gest. 2.5.1857, ebenda. Bedeutender Vertreter der französischen Romantik.
(216) 20.9.1935 Page 310
Brief. Page Break 311
(217) 7.5.1936 Page 311
Brief. Page 311
Schließung meines Heimes: Gemeint ist die Tagesheimstätte in Grinzing. 1936 versuchte Hermine, größere Räumlichkeiten zu bekommen und übersiedelte nach Meidling in eine aufgelassene städtische Schule. Diese Räume wurden dann--am 17. März 1938--von der Hitler-Jugend angefordert. (Vgl. Familienerinnerungen, S. 149).
(218) [Frühjahr 1936] Page 311
Brief, undatiert. Page 311
Frau Scholz: Mitarbeiterin von Hermine Wittgenstein in deren Tagesheimstätte. Auf der Suche nach einer ihr gemäßen Tätigkeit wurde Hermine im Jahre 1919 an Frau Baronin Leitner verwiesen, die Vorsteherin eines Vereins einer Anzahl von Tagesheimstätten war; in diesen wurden Kinder, deren Väter im Krieg gefallen und deren Mütter
berufstätig waren, nach der Schule betreut. Frau Scholz, damals noch Frl. Mildner, war die fähigste Angestellte von Frau Baronin Leitner und hielt eine Gruppe großer, zum Teil schwer erziehbarer Buben, in größter Disziplin. Hermine hospitierte eine Zeitlang bei ihr, und als sie später eine eigene Tagesheimstätte gründete, meldete sich Frau Scholz bei ihr als Mitarbeiterin. (Vgl. Familienerinnerungen, S. 135ff.) Page 311
Direktor Penz: nicht ermittelt.
(219) [Juni 1936] Page 311
Brief, undatiert. Page 311
Übersendung des Buches: Vermutlich handelte es sich dabei um Hänsels Broschüre Über Vaterländische Erziehung. Wien, Leipzig: Deutscher Verlag für Jugend und Volk 1935 (Schriften des Pädagogischen Institutes der Stadt Wien, Heft 6). Im Vorwort heißt es, daß mit dem Vortrag für das Jahr 1935 am Pädagogischen Institut der Stadt Wien das Seminar zur »Pädagogisch-didaktischen Ausbildung der Probelehrer an Mittelschulen« eröffnet wurde. Page 311
mit einem Freund: Es handelt sich dabei mit größter Wahrscheinlichkeit um Gilbert Pattisson, mit dem Wittgenstein im Juli 1936 für ca. zwei Wochen in die Bretagne reiste, bevor er nach Norwegen aufbrach.
(220) [nach dem 22.6.1936] Page 311
Brief, undatiert. Page 311
Norwegen: Am 13.8.1936 brach Wittgenstein von Cambridge nach Norwegen auf und kam am 18.8. in Skjolden an. Er ließ sich ab dem 27.8. in seiner Hütte nieder und arbeitete an einer deutschen Fassung des sogenannten Brown Book. Nachdem er dies jedoch aufgegeben hatte, begann er an der ersten Fassung der Philosophischen Untersuchungen zu arbeiten. Am 8.12. fuhr er nach Wien und Anfang Januar 1937 nach Cambridge, Ende Januar wieder zurück nach Skjolden. Abgesehen von einer weiteren Unterbrechung im Mai bis Anfang August (in Wien und Cambridge) blieb er bis Mitte Dezember 1937 in Norwegen und kehrte dann zu seiner Familie nach Wien zurück. (Vgl. Nedo, S. 358). Page 311
Schlick: Am 22.6.1936 wurde Schlick auf dem Universitätsgelände in Wien von einem seiner ehemaligen Studenten, dem dreiundreißigjährigen Doktor der Philosophie, Hans Nelbök, erschossen. Nelbök hatte bei seinem Opfer dissertiert; in seiner Monographie zum Wiener Kreis schreibt Manfred Geier folgendes über den Prozeß: »Nelböck wird des Mordes angeklagt und vor Gericht gestellt. Er gilt als geistig zurechnungsfähig. Im Prozeß (24.-26. Mai 1937) rechtfertigt er seine Tat nicht zuletzt weltanschaulich. Schlicks empiristische Kritik des transzendenten Wissens habe jede metaphysische Idee als sinnlos verworfen, dadurch habe er seine ›religiösen Überzeugungen und überhaupt jeden Halt verloren‹. Zudem hätte Schlick Page Break 312
nur ›die Lust als Quelle des Handelns‹ empfohlen, seine Liebe verdorben und ihn aufs gemeinste besudelt. Das Gericht verurteilt ihn zu zehnjähriger Haft.« (Manfred Geier: Der Wiener Kreis mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992 (rororo Monographie 208), S. 8). Unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtergreifung wurde Hans Nelbök, nach nur zweijähriger Haft, wieder auf freien Fuß gesetzt.
(221) [August/September 1936 ?] Page 312
Brief, undatiert. Page 312
Ludwig in Paris getroffen: Dieses Treffen könnte während Wittgensteins Aufenthalt in Frankreich im Juli 1936 stattgefunden haben.
(222) [Herbst 1936]
Page 312
Brief, undatiert. Page 312
alte Wohnung: bezieht sich auf Hänsels Wohnung in der Kriehubergasse 25 im V. Wiener Bezirk, in der er vom 25.9.1913 bis zum 30.10.1936 wohnte. Vom 2.11.1936 bis zum 4.11.1938 wohnte er in der Boerhavegasse 15 im III. Bezirk und ab 4.11.1938 in der Alseggerstraße 38 (Meldeauskunft des Magistrats der Stadt Wien).
(223) [Herbst 1936] Page 312
Brief, undatiert.
(224) 8.10.1936 Page 312
Brief. Page 312
das Studium: Ernst Geiger studierte ab dem WS 1933/34 Pharmazie in Wien, im WS 1937/38 in Innsbruck.
(225) 7.11.1936 Page 312
Brief. Page 312
feige Lüge: In dieser Zeit legte Wittgenstein gegenüber mehreren seiner Freunde ein Geständnis ab, doch allem Anschein nach war Hänsel der erste, dem er darüber schrieb. Dieser Brief vom 7.11.1936 ist auch das bisher einzige aufgefundene Dokument im Zusammenhang mit Wittgensteins Geständnissen, alle anderen Schreiben darüber sind entweder verloren gegangen oder der Forschung vorenthalten worden. Bekannt sind lediglich zwei Briefe an Moore, aus denen hervorgeht, daß Wittgenstein ein Geständnis ablegen wollte. So schrieb er im November 1936 von Norwegen aus an Moore, daß er die Absicht hätte, um den 30. Dezember für ca. eine Woche nach Cambridge zu kommen und mit ihm dabei über »Dinge« zu sprechen, über die er nicht schreiben könne. Durch eine Grippe wurde er jedoch daran gehindert und so kam es erst Mitte/Ende Jänner zu einem Gespräch mit Moore. (Vgl. Briefe, S. 201ff.) Drury, der sich in seiner Angabe des Jahres 1931 offensichtlich geirrt hat, zog es vor, über den Inhalt des Geständnisses zu schweigen; er sagte lediglich, daß es sich dabei nicht um jenes »sexuelle Verhalten« handelte, das man Wittgenstein zuzuschreiben versuchte. (Vgl. Porträts und Gespräche, S. 171). Page 312
Von Engelmann existiert eine Reaktion auf Wittgensteins Geständnis in einem mit 4.6.1937 datierten Brief. (Vgl. Briefe, S. 204ff.) Page 312
Fania Pascal berichtet, daß Wittgenstein im Anschluß an seinen Besuch bei Moore auch ihr sein »Geständnis« ablegte. Laut Fania Pascal hätte Wittgenstein aber nie etwas Falsches über seine rassische Herkunft gesagt und es könnte nur auf eine bewußte oder unbewußte Unterlassung seinerseits zurückgeführt werden, wenn man ihn für etwas anderes hielt als was er wirklich war. Sie hätte nie jemanden getroffen, der weniger imstande war zu lügen als er. (Vgl. Porträts und Gespräche, S. 67). Page Break 313 Page 313
Rush Rhees schreibt, er habe noch nie gehört, daß jemand behauptet habe, Wittgenstein hätte seine Herkunft vor ihm verheimlichen wollen. (Porträts und Gespräche, S. 241). Page 313
Vgl. Wittgensteins Eintragung: »Eine Beichte muß ein Teil des neuen Lebens sein.« (Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe Bd. 8, S. 475).
(226) 15.Nov.36. Page 313
Brief. Page 313
Sigrid Undset: Geb. 20.5.1882, Kalundborg (Seeland, Dänemark); gest. 10.6.1949, Lillehammer. Norwegische Schriftstellerin. Begann mit Gegenwartsromanen und -novellen, schrieb dann großangelegte, an den altisländischen Sagas orientierte Romane aus der norwegischen Vergangenheit. 1924 trat sie zum Katholizismus über. Als Hauptwerk gilt Kristin Lavranstochter (1920-22). 1928 erhielt Sigrid Undset den Nobelpreis für Literatur. Page 313
Olav Andunssohn: Roman von Sigrid Undset, entstanden 1925-27. Olav gewinnt nach 10 Jahren Kriegsdienst endlich die von ihm früh verführte Ingunn zur Frau, die aber von einem andern Mann schwanger ist. Olav ermordet diesen Mann; die Schuld liegt ihm zeitlebens auf der Seele, während seine Frau an ihrem Schuldgefühl gegen den Gatten dahinsiecht, der das Kind des Anderen als eigenes aufgenommen hat. Als nach dem Tod von Ingunn ihr Sohn gegen Olav das Beil erhebt, beichtet dieser seinen Mord. Vom Schlag gelähmt, hört er noch, was seine Kinder von ihm denken; sie spüren seine Größe. Der Sohn geht zur Sühne ins Kloster. Page 313
umgezogen: am 2.11.1936 war Hänsel mit seiner Familie in die Boerhavegasse 15 im III. Bezirk, Wien, umgezogen. (Vgl. Brief Nr. 222).
(227) 22.11.[1936] Page 313
Brief.
(228) 26.11.36. Page 313
Brief
(229) [30.11.1936] Page 313
Brief, von Hänsel mit »30.11.36« datiert.
(230) 8.12.1936 Page 313
Brief.
(231) [vor dem 11.12.1936] Page 313
Brief, undatiert. Wittgenstein reiste am 8.12.1936 von Skjolden nach Wien (vgl. Nedo, S. 358). Wie im Telegramm an Hermine angekündigt, wollte er am Freitagabend, also am 11.12., ankommen.
(232) [9.2.1937] Page 313
Brief, von Hänsel mit »9.2.37.« datiert. Page 313
»Das Relative u. d. Absolute«: In: Österreichische Rundschau 2, Heft 10, 1936, S. 451-460. Page 313
Vaterländische Erziehung: Wien, Leipzig: Deutscher Verlag für Jugend und Volk 1935 (Schriften des Pädagogischen Institutes der Stadt Wien, Heft 6): Darin schreibt Hänsel u.a.: »Es gibt ein Recht und es gibt eine Pflicht der Gesinnungsbildung--verbunden freilich Page Break 314
mit der schweren Verantwortung dafür, daß es die rechte Gesinnung sei, zu der man die Jugend führen will. Es gibt auch ein Recht und eine Pflicht der vaterländischen Erziehung, der Erziehung zur rechten, unverbogenen Liebe zum Vaterland, zur rechten Treue, zur rechten Einordnung in den staatlichen Verband. In den tatsächlichen, wirklich bestehenden Staat, nicht in einen erträumten, nicht bestehenden, vielleicht nicht möglichen Staat.« (S. 9) Die Aufgabe des Lehrers besteht also darin, »das richtige politische Denken in den jungen Menschen zu erziehen« und ihnen zu erklären, »welche Schwierigkeiten und Spannungen wirklich bestehen (und welche nicht) zwischen den
Begriffen Volk und Staat und Stand und Klasse, welche Schwierigkeiten und Spannungen zwischen den Menschen wirklich bestehen um dieser Begriffe willen.« (S. 16) Wichtiger als alle Belehrung ist aber die eigene Haltung des Lehrers. »Er kann nicht vaterländische Gesinnung wecken oder bilden, wenn er sie selbst nicht hat, so wie der nicht Moral predigen kann, der sie nicht in sich hat, so wie man ein Wissen nicht vermitteln kann, das man sich nicht selbst erworben hat.« (S. 17) Aber vaterländische Gesinnung genügt nicht, der Lehrer muß die »geistige und sittliche Verfassung haben, die dazu befähigt«. (S. 18) Dazu braucht er die entsprechende religiöse Bildung, denn es ist zu bedenken, »welche Verantwortung man nicht nur für seine eigene Person, sondern auch für die Jugend auf sich nimmt, wenn man sich in religösen Dingen nicht die nötige Klarheit erworben hat« (S. 18) »Der Lehrer, der zur rechten vaterländischen Gesinnung erziehen soll, braucht Selbstzucht. Er muß über den politischen Sturm und Drang schon einigermaßen hinaus sein, er braucht Besonnenheit und Männlichkeit. Besonnenheit: er muß real denken und urteilen können, er darf keinen der Kreise übersehen, überspringen, die für das Kind wie für die Gesellschaft Bedeutung haben. Und Männlichkeit der Gesinnung, d.h. Unabhängigkeit von den Schlagworten der Zeit, Festigkeit des Urteils, Tapferkeit der Rede, dort wo die Umgebung seine vaterländische Gesinnung verfemt hat, aber auch dann, wenn er gegen Mängel im eigenen Staat glaubt auftreten zu müssen, eine Männlichkeit freilich, hinter der nicht Feindschaft, sondern Liebe, gerechte Liebe für den Staat steht.« (S. 19)
(233) 10.3.[1937] Page 314
Brief. Page 314
Prof. Moore: George Edward Moore: Geb. 4.11.1873, London; gest. 24.10.1958, Cambridge. 1925-1939 Professor in Cambridge, 1940-1944 Gastprofessor in den USA. Herausgeber der philosophischen Zeitschrift Mind. Bekannt wurde Moore u.a. durch seine Abhandlung Refutation of Idealism (in Mind, 1903). Im Zusammenhang mit dieser Arbeit gilt er als einer der Begründer des englischen Neurealismus. Anlaß zum Philosophieren sind für ihn nicht die Probleme der Welt oder die der Wissenschaften, sondern das, was andere über diese gesagt haben. Moores Maßstab der Kritik war der »Common sense«, die Summe der Überzeugungen, die die Menschen im Alltagsleben schon immer für wahr angesehen haben. Werke u.a.: Principia Ethica, 1903; Ethics, 1912, Commonplace Book of G. E. M., 1912-1953; Philos. Studies, 1922; A Defence of Common sense, 1924. Page 314
Zu Wittgensteins Äußerungen über Moore vgl. auch seinen Brief vom 18.2.49 an Norman Malcolm: »There is also a certain innocence about Moore; he is, e.g., completely unvain. As to it's being to his credit to be childlike,--I can't understand that; unless it's also to a child's credit. [...] I like & greatly respect Moore, but that's all. He doesn't warm my heart (or very little), because what warms my heart most is human kindness, & Moore--just like a child--is not kind. He is kindly & he can be charming to those he likes & he has great depth.« (Norman Malcolm: Ludwig Wittgenstein. A Memoir. With a Biographical Sketch by G. H. von Wright. Oxford, New York: Oxford University Press 1984, S. 116) Page 314
Kraus: In späteren Jahren scheint sich Wittgenstein von Kraus in mancher Hinsicht distanziert zu haben; er fand ihn langweilig, da es ihm seiner Meinung nach an Humor mangelte. (Mitteilung von Rudolf Koder an Allan Janik im Jahre 1969). Laut einer Mitteilung von Heinrich Groag an Brian McGuinness soll Wittgenstein--nach dem Krieg--im Beisein mehrerer Freunde zu Kraus gesagt haben: »Freilich, Sie mit Ihrer widerwärtigen Eitelkeit, können dergleichen ja nicht verstehen.« (Vgl. McGuinness, S. 435) Page Break 315 Page 315
Mareile soll fleißig u. anständig zeichnen: Maria Hänsel fertigte gerne Aquarelle und Bleistiftzeichnungen, und zwar fast ausschließlich von Blumen und anderen Pflanzen, an. Sie erhielt eine Zeitlang von Hermine Wittgenstein einen Mal- und Zeichenunterricht und schenkte dieser wie auch Ludwig Wittgenstein (meistens zu Weihnachten) kleinformatige Aquarelle. (Mitteilung von Hermann Hänsel).
(234) 14.4.[1937] Page 315
Brief. Page 315
nur mehr Fahnen zeichnet: Die Anspielung konnte nicht ermittelt werden.
(235) 30.4.1937 Page 315
Brief, das Datum steht im Original links unten am Briefende.
(236) [nach dem 12.10.1937] Page 315
Brief, am Rand von Hänsel mit »1937« datiert. Page 315
Hermann: Hermann Hänsel besuchte Wittgenstein mit seinem Fahrrad vom 10.10. bis zum 12.10.1937. Vgl. dazu Wittgensteins Notizen vom 10.10., 11.10. und 12.10.1937 in MS 119.
(237) 20.12.1937 p>Brief. Links oben hat Hänsel Geigers damalige Adresse notiert: »Innrain 50 / Innsbruck«.
(238) 22.2.[1938] Page 315
Brief, im Briefkopf befindet sich die Adresse von Drurys Wohnung in Dublin. Wittgenstein wohnte dort seit dem 8.2.1938. (Vgl. Monk, S. 388). Page 315
wie es jetzt in Wien steht: Am 12.2.1938 suchte Österreichs Bundeskanzler Kurt Schuschnigg Hitler in Berchtesgaden auf. Er wurde von Hitler massiv unter Druck gesetzt, mußte verhaftete Nationalsozialisten auf freien Fuß setzen und nationalsozialistische Minister in seine Regierung aufnehmen. In der Folge kam es zu großen politischen Unruhen, besonders in Wien agitierten die Nationalsozialisten nunmehr verstärkt für den Anschluß an Deutschland. Am 11.3.1938 marschierte Hitler in Österreich ein. Da Wittgensteins Verwandte jüdischer Abstammung waren, befanden sie sich in großer Gefahr, wenn auch Wittgenstein aufgrund der ihnen in Österreich gezollten großen Achtung das Gegenteil erhoffte. Page 315
Irrenhaus: Während seines Aufenthaltes in Irland wohnte Wittgenstein in der Wohnung seines Freundes Drury in Dublin, der zu dieser Zeit im Stadtkrankenhaus von Dublin arbeitete. Da sich Wittgenstein für Drurys Arbeit sehr interessierte, verschaffte dieser ihm die Gelegenheit, zwei- bis dreimal wöchentlich im St. Patrick Hospital Geisteskranke zu besuchen und sich mit ihnen zu unterhalten. (Vgl. Porträts und Gespräche, S. 194-196). Page 315
Bereits im Jahre 1935 hatte Wittgenstein mit dem Gedanken gespielt, Medizin zu studieren (Vgl. seinen Brief vom 30.6.[1935] an Keynes, in Briefe, S. 189) und Psychiater zu werden. So berichtet Drury aus seinen Gesprächen mit Wittgenstein aus dem Jahre 1936: »Es kam ein weiterer Brief von Wittgenstein, in dem er vorschlug, daß wir gemeinsam als Psychiater praktizieren könnten, falls er wirklich Mediziner würde. Er hätte das Gefühl, für diesen Zweig der Medizin besonders begabt zu sein. (Vgl. Porträts und Gespräche, S. 191). Page 315
von Geiger: Da Ernst Geiger vom 20. April 1938 bis zum 15. Juli 1938 bereits als Mitarbeiter in der Apotheke von Andreas Gagel in Langendiebach bei Hanau tätig war, ist anzunehmen, daß er sein Studium, wie im Brief Nr. 237 angekündigt, im Jänner 1938 abschloß. Page Break 316
(239) 15.3.1938 Page 316
Brief.
(240) [1938 ?] Page 316
Brief, undatiert.
Page 316
Kriegsdekoration: Auf Vorschlag ihres Bruders Paul fertigte Hermine nach der Machtübernahme der Deutschen am 13.3.1938 in Österreich eine Zusammenstellung aller besonderen Leistungen ihrer Familienangehörigen an, um damit eine »arische Behandlung« zu erwirken. Margarete und Paul fuhren mit diesem Schreiben nach Berlin und drangen bis zu hoher Stelle vor. (Vgl. Familienerinnerungen, S. 156f.) In diesem Zusammenhang scheint Hermines Frage nach der Kriegsdekoration ihres Bruders Ludwig zu stehen; in dessen Biographie werden jedenfalls seine Stellung als Artillerieoffizier und seine Auszeichnung mit der Silbernen Tapferkeitsmedaille angegeben.
(241) [nach Ostern 1938 ?] Page 316
Brief, undatiert. Page 316
Grossnichte Stockert: Entweder Johanna (geb. 1924) oder Marianne (geb. 1927) Stockert. Page 316
als Direktor gegönnt: Vom 1.8.1936 bis zum 13.3.1938 war Hänsel Direktor der Bundeserziehungsanstalt für Mädchen, Wien III, Boerhavegasse 25. Vom 14.3.1938 bis zum 10.9.1939 wurde er »aus politischen Gründen« des Amts enthoben. Es ist möglich, daß sich Hermines Brief darauf bezieht. Page 316
in Cambridge Vorlesungen hält: nachdem Wittgensteins Research Fellowship mit Ende des Studienjahres 1935/36 ausgelaufen war, hielt er nach seiner Rückkehr aus Norwegen im Jänner 1938 im Lent Term in Cambridge ein Seminar über Philosophie und philosophische Begründung der Mathematik, das er im Easter Term fortsetzte. Vgl. dazu Nedo, S. 358, und Wittgensteins Brief an Keynes vom 18.3.1938, in dem er unter anderem schreibt: »Was die Stelle in Cambridge angeht, so erinnerst Du Dich vielleicht, daß ich 5 Jahre lang ›assistant faculty lecturer‹ gewesen bin, und daß die Vorschriften es nicht gestatten, diese Stelle länger als 5 Jahre innezuhaben. Als meine 5 Jahre abgelaufen waren, erlaubte mir die Fakultät, weiter wie zuvor Vorlesungen zu halten, und man hat mich auch wie früher bezahlt. Nun werde ich mich um diese Stelle bewerben, da keine andere frei ist.« (Briefe, S. 208). Page 316
Prof. Sraffa: Piero Sraffa: Geb. 5.8.1898, Turin; gest. 3.9.1993, Cambridge. Italienischer Ökonom. Ab 1916 studierte Sraffa Ökonomie an der Universität Turin, seine Magisterarbeit zum Thema Inflation in Italien schrieb er bei Luigi Einaudi, dem späteren Staatspräsidenten Italiens. 1919 lernte Sraffa in Turin Antonio Gramsci, einen der Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, kennen, der wie er der sozialistischen Studentengruppe angehörte. Als Gramsci 1926 von den Faschisten verhaftet und 1928 zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, unterstützte Sraffa ihn großzügig und setzte sich vor der internationalen Öffentlichkeit für ihn ein. Er war mit Gramsci bis zu dessen Tod im Jahre 1937 eng befreundet. Von 1921 bis 1922 studierte Sraffa an der London School of Economics und lernte bei einem Besuch in Cambridge John Maynard Keynes kennen, auf dessen Anregung er im Manchester Guardian einen Beitrag über die Lage des Bankensystems im Italien der Nachkriegszeit schrieb. Sraffa deckte darin die finanziellen Machenschaften der den Faschisten nahestehenden Banken auf und so löste die Publikation in italienischer Sprache bei Benito Mussolini heftige Angriffe gegen Sraffa aus. 1923 wurde Sraffa Dozent an der Universität Perugia, Anfang 1926 erhielt er einen Lehrstuhl für Politische Ökonomie an der Universität Cagliari in Sardinien. 1927 erhielt er einen Ruf nach Cambridge für Politische Ökonomie. Von Keynes ermuntert, begann Sraffa um 1930 an der Gesamtausgabe von The Works and Correspondence of David Ricardo (11 Bände, 1951-1973) zu arbeiten. In einer Gruppe von Cambridger Ökonomen, dem sogenannten »Circle«, in dem neben Sraffa und Keynes u.a. Joan und Austin Robinson, Richard Kahn Page Break 317
und James Meade verkehrten, war er an der Ausarbeitung der Grundgedanken der General Theory mitbeteiligt. Werke u.a.: Sulle relazioni fra costo e quantità prodotta (Über die Beziehungen zwischen Kosten und produzierter Menge), 1925; The Laws of Returns under Competitive Conditions (Die Ertragsgesetze unter Wettbewerbsbedingungen), 1926; Production of Commodities by Means of Commodities. Prelude to a Critique of Economic Theory, 1960. Dieses Buch gilt als eines der einflußreichsten Werke der Kritik der ökonomischen Theorie. Maurice Dobb hat seiner Rezension den Titel An Epoch-Making Book gegeben (vgl. auch die dt. Ausgabe: Piero Sraffa: Warenproduktion mittels Waren. Einleitung zu einer Kritik der ökonomischen Theorie. Nachworte von Bertram Schefold. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976). 1929 lernte Wittgenstein in Cambridge Sraffa kennen, der für die Entwicklung seiner Philosophie eine bedeutende Rolle spielen sollte. Sraffa gelang es, in seinen Diskussionen Wittgenstein dazu zu führen, seine Gedanken neu zu überlegen und aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Mehreren Freunden gegenüber soll Wittgenstein bemerkt haben, daß er sich nach einem Gespräch mit Sraffa wie ein
Baum fühlte, der all seiner Äste beraubt wurde. (Vgl. Monk, S. 261 und Nedo, S. 356). Zu Rush Rhees soll er gesagt haben, daß Sraffa ihn dahingehend beeinflußt hätte, philosophische Probleme aus anthropologischer Sicht zu betrachten. (Vgl. Monk, S. 261) In seinem Vorwort zu den Philosophischen Untersuchungen schrieb Wittgenstein: »Seit ich nämlich vor 16 Jahren mich wieder mit Philosophie zu beschäftigen begann, mußte ich schwere Irrtümer in dem erkennen, was ich in jenem ersten Buche niedergelegt hatte. Diese Irrtümer einzusehen, hat mir--in einem Maße, das ich kaum selbst zu beurteilen vermag--die Kritik geholfen, die meine Ideen durch Frank Ramsey erfahren haben, mit welchem ich sie während der zwei letzten Jahre seines Lebens in zahllosen Gesprächen erörtert habe.--Mehr noch als dieser--stets kraftvollen und sichern--Kritik verdanke ich derjenigen, die ein Lehrer dieser Universität, Herr P. Sraffa durch viele Jahre unablässig an meinen Gedanken geübt hat. Diesem Ansporn verdanke ich die folgereichsten Ideen dieser Schrift.« Page 317
Da Sraffa um den 18.3.1938 von England nach Italien reiste (vgl. dazu einen Brief Wittgensteins vom 18.3.1938 an Keynes in Briefe, S. 206), ist es nicht auszuschließen, daß er auf dieser Reise in Wien Hermine Wittgenstein einen Besuch abstattete.
(242) 7.5.1938 Page 317
Brief. Am Briefanfang hat Hänsel die Adresse von Neururer notiert: »Pfarrer i. R. Alois Neururer in Schloß Rosenau b. Zwettl«. Im Briefkopf befindet sich die Adresse von Wittgensteins Wohnung in Cambridge, die er mit Francis Skinner teilte. (Vgl. Brief Nr. 184). Page 317
Mitterbach bei Mariazell: Nachdem Pfarrer Neururer am 31.8.1936 in den dauernden Ruhestand getreten war, betätigte er sich vom 1.9.1936 bis zum 3.11.1937 als Messeleser in Mitterbach bei Zwettl. Page 317
Rosenburg: Richtig: Rosenau bei Zwettl, wo Neururer ab 4.11.1937 Benefiziant war und wo er am 27.1.1952 verstarb.
(243) 31.5.1938 Page 317
Brief. Page 317
Gesundheit meiner Schwester Gretl: 1938 engagierte sich Margarete Stonborough für viele Leute, die aus Österreich ausreisen wollten. Sie erklärte sich bereit, für diese zu bürgen, falls sie dem amerikanischen Staat zur Last fallen würden. Zudem machte ihr ihr Sohn Thomas Stonborough wegen seiner ersten Scheidung im Jahre 1936 Sorgen, und ihr Gatte Jerome Stonborough war an einem Krebsleiden erkrankt und litt unter schweren Depressionen (er nahm sich am 15.6.1938 das Leben). Aufgrund dieser mehrfachen Belastungen war Margaretes Gesundheit stark angegriffen, da sie seit der schweren Geburt ihres zweiten Sohnes John an einer chronischen Herzschwäche litt. Page Break 318
(244) 10.9.1938 Page 318
Brief. Page 318
Photographie: Nicht ermittelt. Vgl. Fania Pascals Bericht über Wittgensteins akribische Art zu photographieren in Porträts und Gespräche, S. 57: »Francis erzählte mir, daß Wittgenstein Stunden darauf verwandte, von seinen kleinen Fotografien winzige Stückchen abzuschneiden, ehe er mit dem dann irgendwie erzielten Gleichgewicht zufrieden war. Als er mir meine Abzüge schenkte, waren sie in der Tat sehr viel kleiner, als sie ursprünglich gewesen waren; eines der Bildchen war jetzt kaum größer als zwei Zentimeter im Quadrat«.
(245) 14.12.1938 Page 318
Brief.
(246) [1938 ?] Page 318
Brief, undatiert. Page 318
Wohngäste: nicht ermittelt.
(247) [vor dem 25.12.1938] Page 318
Brief, undatiert. Page 318
Ihr Heim: Am 4.11.1938 war Hänsel in die Alseggerstraße Nr. 38 im XVIII. Bezirk umgezogen. Page 318
Erledgigung Ihres Gesuches: Gesuch um Wiederaufnahme in den Schuldienst. Page 318
Diese erfolgte erst am 10.9.1939.
(248) 28.12.38. Page 318
Brief. Page 318
Radstädter Tauern: Teil der Niederen Tauern in Österreich, im Weißeck. 2712 m hoch. Page 318
Schladminger Bergen: Schladminger Tauern: Gebirgsgruppe in den Ostalpen, Österreich. Teil der Niederen Tauern, bis 2863 m hoch.
(249) 29.12.1938 Page 318
Brief. Page 318
das Buch: nicht ermittelt.
(250) 31.12.1938 Page 318
Brief.
(251) 4.1.1939 Page 318
Brief.
(252) 9.1.1939 Page 318
Brief. Page 318
meine Pläne: Wahrscheinlich ist damit Pauls Absicht, die amerikanische Staatsbürgerschaft zu bekommen und in den USA eine berufliche Tätigkeit auszuüben, gemeint. Page 318
Aufenthaltes in Washington: John Stonborough hatte ein Essen im Metropolitan Page Break 319
Club in Washington arrangiert, zu dem Paul Wittgenstein, der Anwalt S. Scrivener und der Anwalt und Freund John Stonboroughs, Gérard T. Reilly--damals oberster Rechtsberater des Arbeitsministeriums im Immigration Department--geladen waren. Ziel des Essens war es, für Paul Wittgenstein die amerikanische Staatsbürgerschaft zu erlangen. (Mitteilung von John Stonborough an Ilse Somavilla am 14.11.1992).
Page 319
Karban: Othmar Karban, einer der besten Freunde von John Stonborough, der mit ihm das Reformgymnasium in Wien VIII, Lange Gasse, besucht hatte. Die beiden maturierten im gleichen Jahr, Karban ging dann ins Hotelgewerbe. Er wurde zuerst »food-checker« in den USA und erwarb dort später ein eigenes Restaurant. Heute lebt Karban in Maine.
(253) [Frühjahr 1939] Page 319
Brief, undatiert. Page 319
die Sache: Als die Gefahr der Judenverfolgung in Österreich immer größer wurde, drängte Paul, daß seine Schwestern ins Ausland flüchten sollten, womit diese jedoch nicht einverstanden waren, zumal sie nicht befürchteten, daß ihrer angesehenen Familie etwas passieren könnte. Anfang September 1938 kam Margarete, die amerikanische Staatsbürgerin war, in großer Angst um ihre Geschwister auf die Hochreit, da sie im Ausland vom bevorstehenden Krieg und von den Judenverfolgungen gehört hatte. In ihrer Suche nach Möglichkeiten zu helfen, erfuhr sie von einem jüdischen Anwalt in Wien, daß man für Geld die jugoslawische Staatsbürgerschaft kaufen und so mit einem fremden, aber nicht falschen Paß ein- und ausreisen könne. Es wäre wichtig, diese Pässe »in der Tischlade« zu haben, um jederzeit ausreisen zu können. Obwohl Hermine Bedenken hatte, willigte sie schließlich ein, und Arvid Sjögren fuhr nach Jugoslawien, um die Pässe zu holen. Dort stellte sich heraus, daß die Pässe von einer Paßfälscherwerkstätte ausgestellt wurden und willkürlich geänderte Daten enthielten. Als Hermine dann nach München fuhr, um für sich und ihre Schwestern Visa für die Schweiz zu besorgen, entdeckte sie, daß die Pässe nicht unterschrieben waren und kehrte unverrichteter Dinge wieder zurück. Im Oktober erfuhr Arvid, daß die Paßfälscherwerkstätte aufgeflogen war und die Namen der Leute, die beliefert wurden, bekannt geworden waren. Margarete, Hermine und Arvid wurden verhaftet und einen Tag später auch Helene. Während ihrer Inhaftierung erreichten Clara Sjögren, Felix Salzer und Direktor Groller, daß Hermine und Arvid nach fünf Tagen gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt wurden, Margarete einen Tag später. Im Frühjahr 1939 kam es dann zu einer öffentlichen Gerichtsverhandlung gegen Margarete, Hermine und Arvid, die mit einem Freispruch endete. (Vgl. Familienerinnerungen, S. 155-175) Page 319
Zeitung: Der Zeitungsbericht konnte nicht ermittelt werden.
(254) [13.3.1939] Page 319
Osterglückwunschkarte, Datum des Poststempels bis auf 1939 sehr schwer lesbar. Page 319
wider Erwarten, gut gegangen: Diese Äußerung könnte sich auf den guten Ausgang des Prozesses in Wien beziehen. Es ist aber eher anzunehmen, daß Wittgenstein auf seine eigene Situation anspielt: er hatte sich darum bemüht, eine Stelle an der Universität Cambridge zu bekommen und die britische Staatsbürgerschaft zu erlangen. (Vgl. seinen Brief an Keynes vom 18.3.1938 in Briefe, S. 206ff.) Am 11.2.1939 wurde Wittgenstein zum Professor für Philosophie in der Nachfolge G. E. Moores gewählt. Am 14.4.1939 erhielt er die britische Staatsbürgerschaft und am 2.6.1939 seinen britischen Paß. (Vgl. Monk, S. 414f.)
(255) 14.8.[1939] Page 319
Brief. Page 319
vor seinem Amtsantritt: Mit Beginn des akademischen Jahres 1939, am 1.10.1939, übernahm Wittgenstein den Lehrstuhl für Philosophie in Cambridge. Page Break 320 Page 320
die Tage in America: Nachdem Wittgenstein am 2. Juni seinen englischen Reisepaß erhalten hatte, war es ihm wieder möglich, nach Österreich zu reisen und seine Familie nach einem längeren Zeitraum wiederzusehen. Er bemühte sich, für seine Geschwister Abstammungsbescheide zu erhalten, um sie vor den Judenverfolgungen zu
schützen: im Anschluß an seinen Besuch in Wien fuhr er am 5. Juli nach Berlin und am 12. Juli über England nach New York, wo er mit den zuständigen Regierungsstellen bzw. den Direktoren der Familienholding Vermögensverhandlungen führte. Schließlich stellte die Reichsstelle für Sippenforschung neue Abstammungsbescheide aus, in denen der Großvater Hermann Christian Wittgenstein (geb. am 12.9.1802 in Korbach) zum »deutschblütigen Vorfahren« erklärt wurde. (Vgl. das Schreiben vom Leiter der Reichsstelle für Sippenforschung vom 12.1.1940, Faksimile in Nedo, S. 303). Page 320
Direktor Groller: Vermögensverwalter und Ratgeber der Familie Wittgenstein, mit dem Wittgenstein nach Berlin und Amerika reiste. Page 320
mein Schwager: es handelt sich um Dr. Max Salzer: Geb. 3.3.1868, Wien; gest. 28.4.1941, Wien. Sektionschef im Bundesministerium für Finanzen. 1938 war Max Salzer schwer erkrankt und wurde von seiner Frau und Hermine auf der Hochreit und später in Gmunden gepflegt. Max Salzer war ein leidenschaftlicher Jäger. (Mitteilung von John Stonborough an Ilse Somavilla, 14.11.1992) Page 320
die Tagung: nicht ermittelt.
(256) 26.8.1939 Page 320
Brief.
(257) 3.1.1940 Page 320
Brief, Kuvert mit folgender Adresse: »Herrn Professor Dr. Ludwig Hänsel Alseggerstraße 38 Wien XVIII«; das Datum steht im Original links unten am Briefende. Page 320
D. F. Strauß: Welches Werk von Strauß an Hänsel geschickt wurde, konnte nicht ermittelt werden.--David Friedrich Strauß: Geb. 27.1.1808, Ludwigsburg; gest. 8.2.1874, Ludwigsburg. Philosoph und Theologe. Strauß gab in seinem Hauptwerk Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet (2 Bde., 1835/36) zwar nicht die Geschichtlichkeit Jesu, aber die der Evangelienberichte preis, die er als unbewußte Mythenbildung in den urchristlichen Gemeinden erklärte. Er verlor daraufhin seinen Lehrstuhl in Tübingen und wurde als Gymnasialprofessor nach Ludwigsburg versetzt. 1848 war er als Liberaler in der württembergischen Kammer und trat später für Bismarck ein. Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung (2 Bde., 1840/41) enthält eine scharfe Kritik der einzelnen Dogmen. In seinem letzten Werk Der alte und der neue Glaube (1872) setzte D. F. Strauß der christlichen Weltanschauung eine evolutionistische entgegen. Weitere Werke u.a.: Ulrich von Hutten, 2 Bde., 1858; Voltaire, 1870. Page 320
Hans: Hans Wittgenstein (1877-1902) sollte nach dem Willen des Vaters dessen Geschäft fortführen und wurde deshalb frühzeitig in verschiedene Betriebe nach Böhmen, Deutschland und England geschickt, um die notwendige technische und kaufmännische Sachkenntnis zu erwerben. Sein Interesse galt aber der Musik: er war musikalisch hochbegabt, spielte schon mit neun Jahren Geige in der Peterskirche, spielte daneben ausgezeichnet Orgel und Klavier. Hans Wittgenstein flüchtete nach Amerika, wo er als Musiker leben wollte. Im Alter von 26 Jahren verschwand er in der Chesapeake Bay von einem Schiff und wurde seitdem nie mehr gesehen. In der Familie Wittgenstein wurde sein Tod als Selbstmord gedeutet. (Vgl. Familienerinnerungen, S. 98-102). Page 320
Kurt: Kurt Wittgenstein (1878-1918) erschien Hermine »harmlos heiter veranlagt« und beugte sich auch dem Willen seines Vaters, der ihn zum Direktor einer Firma machte. Er beging am Ende des Ersten Weltkriegs Selbstmord, als ihm seine Männer den Gehorsam verweigerten. (Vgl. Familienerinnerungen, S. 102f.) Page Break 321
(258) 13.8.1940 Page 321
Brief. Links unten von Wittgensteins Hand (?) die Zahlen »3219 5211«, rechts unten der Stempel (versal): »Sendet Antwort an meinen vollen Namen per Adresse Postfach 506. Lissabon.« Wittgenstein verfaßte diesen Brief
wohl in Cambridge und legte sich wegen des Krieges in Lissabon eine Postfachadresse an. Portugal war im Zweiten Weltkrieg neutral.
(259) 4.9.1940 Page 321
Brief. Page 321
Koders Verlobung: Tag der Verlobung Koders nicht bekannt, doch fand seine Eheschließung mit Elisabeth Reder am 27.9.1941 statt.
(260) 23.11.1940 Page 321
Brief. Page 321
kleine Gertrud: Gertrud Krenn, erstes Kind von Anna Krenn-Hänsel.
(261) 4.3.47. Page 321
Brief. Page 321
von Schweden: Arvid Sjögren wohnte mit seiner Familie ab November 1944 in Schweden. Page 321
in Hamburg: Ende Februar 1947 herrschte in ganz Nordeuropa eine Kältewelle. In Hamburg erfroren ca. 300 Menschen. Über 20.000 Hamburger wurden wegen Kohlediebstahls verhaftet; diese sahen dies nicht als Verbrechen an, da so viele Menschen erfroren waren. Page 321
England wurde von einer Brennstoffkrise heimgesucht: Anfang Februar kam es zu Stromabschaltungen wegen Kohlemangel, was eine Wirtschaftskrise mit Arbeitslosigkeit zur Folge hatte. (Vgl. Innsbrucker Nachrichten vom 28.2.1947) Page 321
Aufsatz: laut Auskunft von John Stonborough ist er nicht mehr im Besitz dieses Aufsatzes noch kann er sich an dessen Inhalt genauer erinnern. (Mitteilung in einem Brief vom 18.8.1994 an Ilse Somavilla)
(262) 11.4.1950 Page 321
Brief. Im Briefkopf steht die Adresse der Familie von Wright in Cambridge, wo Wittgenstein ein eigenes Zwei-Zimmer-Appartement bewohnte, die Mahlzeiten aber gemeinsam mit der Familie von Wright einnahm. Page 321
dem Arzt: Dr. Edward Bevan. Maurice Drury hatte den Arzt im Krieg kennengelernt und ihn Wittgenstein empfohlen. Page 321
Hermann: Hermann Hänsel hielt sich in den Jahren 1949/1950 aufgrund eines Stipendiums des British Council in Cambridge auf. Seine Dissertation Die entwicklungsphysiologische Wirkung der Kälte bei Wintergerste (Hordeum vulgare hib.). Versuche zu einer entwicklungsphysiologischen Sortencharakteristik wurde infolge des österr. Doktorats als Master of Arts registriert und dem Trinity College zugeteilt. Hermann Hänsel betrieb dort genetische Forschungen für seine Habilitation, die aus 2 Veröffentlichungen in der Zeitschrift Der Züchter, (Berlin, Springer Verlag) bestand: a) Vergleich der Konstanz verschiedener Blütezeit-Maße im Langtag in Hinblick auf Sortencharakteristik und Erbversuch bei Pisum sativum. b) Versuche zur Vererbung der Nodienzahl-Blütezeit-Relation im langen Tag bei Erbsensorten (Pisum sativum sub species arvense.) Beitrag zur Analyse korrelierter, quantitativer Merkmale im Erbversuch. Page Break 322 Page 322
französische Chrestomathie: nicht ermittelt. Eine Chrestomatie ist eine Sammlung ausgewählter Texte aus
den Werken bekannter Autoren.
(263) 29.5.1950 Page 322
Brief. Die Adresse im Briefkopf ist die von Miss Anscombes Haus in Oxford, wo Wittgenstein ab 25.4.1950 ein Zimmer im 2. Stock bewohnte. (Vgl. Monk, S. 567). Page 322
Familie meines Nachfolgers: Georg Henrik von Wright: Geb. 14.6.1916, Helsinki; lebt in Helsinki. Ab 1934 Studium der Philosophie, Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Helsinki, 1939 in Cambridge, wo er bei G. E. Moore und Ludwig Wittgenstein hörte. 1941 Studienabschluß und Heirat mit Maria Elisabeth von Troil (zwei Kinder). 1943-1946 Dozent, 1946-1961 Prof. für Philosophie in Helsinki, 1948-1951 gleichzeitig auch Prof. in Cambridge, 1966-1977 Prof. an der Cornell University, 1968-1977 Rektor an der Akademie in Abo. Prägte den Begriff Deontische Logik. Zahlreiche Ehrendoktorate und internationale Auszeichnungen, u.a. den Forschungspreis der Alexander von Humboldt-Stiftung und die Goldmedaille der Schwedischen Akademie der Wissenschaften. Werke u.a.: A Treatise on Induction and Probability, 1951; The Varieties of Goodness, 1963; Norm and Action, 1963; An Essay in Deontic Logic, 1968; Explanation and Understanding, 1971; Freedom and Determination, 1980; Wittgenstein, 1982; Intellectual Autobiography in The Philosophy of Georg Henrik von Wright, 1989. Page 322
Miss Anscombe: Gertrude Elizabeth Margaret Anscombe: Geb. 1919. Studium am St. Hugh's College in Oxford und am Newnham College in Cambridge, 1941-44 Research studentships in Oxford und Cambridge. 1946-1964 Research fellowships am Somerville College in Oxford, 1964-1970 Fellow am Somerville College, 1970-1986 Professorin für Philosophie an der Universität Cambridge. 1941 Heirat mit Peter Thomas Geach, mit dem sie sieben Kinder hat. Zahlreiche Ehrendoktorate und Auszeichnungen, u.a. das Ehrenkreuz Pro Litteris et Artibus (Österreich) und den Forschungspreis der Alexander von Humboldt-Stiftung (1983). Werke u.a.: Intention, 1957; An Introduction to Wittgenstein's Tractatus, 1959; Three Philosophers (mit Peter Geach), 1961; Collected Papers: 1. Parmenides to Wittgenstein, 2. Metaphysics and the Philosophy of Mind, 3. Ethics, Religion and Politics, 1981. Anscombe ist Übersetzerin und Mitherausgeberin von Wittgensteins posthumen Schriften. Page 322
Anscombe kam im Jahre 1942 nach Cambridge, wo sie Wittgensteins Vorlesungen besuchte. Als Wittgenstein im Jahre 1944 seine Lehrtätigkeit wieder aufnahm, zählte sie zu seinen eifrigsten Studenten. Sie empfand seine »therapeutische Methode« als eine enorme Befreiung, die wie Medizin gegen ihre philosophische Konfusion wirkte, wo theoretische Methoden versagt hatten. »For years«, schreibt sie, »I would spend time, in cafés, for example, staring at objects saying to myself: ›I see a packet. But what do I really see? How can I say that I see here anything more than a yellow expanse?‹ [...] I always hated phenomenalism and felt trapped by it. I couldn't see my way out of it but I didn't believe it. It was no good pointing to difficulties about it, things which Russell found wrong with it, for example. The strength, the central nerve of it remained alive and raged achingly. It was only in Wittgenstein's classes in 1944 that I saw the nerve being extracted, the central thought ›I have got this, and I define ›yellow‹ (say) as this‹ being effectively attacked.« (Anscombe, Metaphysics and the Philosophy of Mind, pp. VII-IX, zit. nach Monk, S. 497). (»Jahrelang«, schreibt sie, »ging ich oft in Cafés, starrte Dinge an und sagte mir: ›Ich sehe eine Schachtel. Aber was sehe ich wirklich? Wie kann ich sagen, daß ich mehr sehe als einen gelben Fleck?‹ [...] Ich habe die Phänomenologie immer gehaßt und fühlte mich von ihr gefangen. Ich sah keinen Ausweg, glaubte aber nicht an sie. Es half auch nicht, wenn man mich auf ihre Mängel hinwies, etwa auf jene Aspekte, die Russell an ihr kritisierte. Ihre Stärke, ihr Lebensnerv wurde dadurch nicht getroffen. Erst als ich 1944 an Wittgensteins Seminaren teilnahm, wurde dieser Nerv gezogen. Dabei geriet der zentrale Gedanke: ›Ich sehe das und definiere (z.B.) ›gelb‹ so‹ erstmals ins Wanken.«) (Vgl. Ray Monk: Das Handwerk des Genies. Aus dem Englischen übertragen von Hans Günter Holl und Eberhard Rathgeb. Stuttgart: Klett-Cotta 1992, S. 527) Als Anscombe 1946/47 wieder in Oxford war, kam sie weiterhin wöchentlich nach Cambridge, Page Break 323
um, gemeinsam mit dem Studenten W. A. Hijab, an einem Privatissimum Wittgensteins über Fragen der Religionsphilosophie teilzunehmen. Ende des Jahres gehörte sie zu den engsten Freunden Wittgensteins und bildete eine Ausnahme, da er ansonsten eine Abneigung gegen intellektuelle Frauen, vor allem gegen Philosophinnen hegte. Er nannte sie liebevoll »old man« und erklärte sie zum »Mann ehrenhalber«. (Vgl. Monk, S. 497f.) Anscombe freundete sich auch mit der Familie Hänsel an, die sie im Mai 1950 in Wien besuchte.
(264) 23.6.1950
Page 323
Brief. Page 323
mit einem Freund: Es handelt sich um Ben Richards, den Wittgenstein im Jahre 1946 in Cambridge kennengelernt hatte, als dieser dort Medizin studierte. Es entwickelte sich eine tiefe Freundschaft und Wittgenstein reiste mit ihm im Herbst 1950 nach Norwegen, wo sie bis zum 13.11. blieben (Vgl. Monk, S. 520, 574 und Nedo, S. 361).
(265) 26.8.1950 Page 323
Brief.
(266) 1.12.1950 Page 323
Brief.
(267) [vor dem 25.12.1950] Page 323
Weihnachtsglückwunschkarte mit den vorgedruckten Glückwünschen: »Just a Greeting / In the old, old way, / Just a wish for / Happiness today. Page 323
With every Good Wish / for / Your Happiness at Christmas / and / right through the New Year.« Page 323
nicht aus Gesundheitsrücksichten: Wittgenstein hatte bereits eine Fahrkarte für eine Schiffahrt Newcastle--Bergen für den 30. Dezember gebucht. Anna Rebni, in deren Haus er den Winter über hätte wohnen sollen, konnte ihn aber dann doch nicht bei sich aufnehmen. So schob Wittgenstein seine geplante Reise nach Norwegen vorläufig hinaus, hoffte aber immer noch, für später einen geeigneten Platz bei Freunden in Skjolden zu finden. (Vgl. Wittgensteins Brief an Malcolm vom 2.1.1951 in Malcolm, S. 130)
(268) 12.1.1951 Page 323
Brief.
(269) 26.1.1951 Page 323
Brief.
(270) 1.2.1951 Page 323
Brief. Page 323
zweiten Band Hamann: Johann Georg Hamann: Sämtliche Werke. 6 Bände. Historisch-kritische Ausgabe von Josef Nadler. II. Band. Schriften über Philosophie/Philologie/Kritik. 1758-1763. Wien: Thomas-Morus-Presse im Verlag Herder 1950.--Johann Georg Hamann (1730-1788) war Verfasser von theologischen, philosophischen, philologischen und ästhetischen Schriften. War mit Kant, Herder und Lavater befreundet. Als Gegner der Aufklärung hob er überall das Irrationale, Doppelsinnige, die sinnliche Seite des konkreten Lebens hervor. Werke u.a.: Sokratische Denkwürdigkeiten, 1759; Kreuzzüge des Philologen, Page Break 324
1762; Leser und Kunstrichter, 1762; Schriftsteller und Kunstrichter, 1762; Neue Apologie des Buchstaben h, 1773; Zweifel und Einfälle, 1776; Golgatha und Scheblimini, 1784. Drury berichtet, daß Wittgenstein ihm folgendes erzählt habe: »Ich habe neulich etwas von einem deutschen Schriftsteller gelesen, einem Zeitgenossen Kants--Hamann heißt er--, und der schreibt in bezug auf die Darstellung des Sündenfalls in der Genesis, wie sehr es
doch Gott ähnlich sehe zu warten, bis der Tag kühl geworden ist, ehe er Adam seine Verfehlung vorhält. Nun, ich würde es um keinen Preis wagen zu behaupten, etwas ›sähe Gott ähnlich‹. Ich würde nicht beanspruchen zu wissen, wie Gott handeln soll.« (Vgl. Porträts und Gespräche, S. 154f.) Page 324
Hofrat: Der Titel Hofrat wurde Ludwig Hänsel mit Entschließung des Bundespräsidenten am 28.12.1950 verliehen. Page 324
bei meinem herrlichen Arzt: Ab dem 8.2.1951 holten Dr. Bevan und seine Frau Wittgenstein zu sich in ihr Haus »Storey's End« in Cambridge, wo dieser bis zu seinem Tode am 29. April 1951 wohnte.--Am 6.5.1951 schrieb Ludwig Hänsel an Ludwig von Ficker (Brief im Brenner-Archiv): »Vor einigen Tagen bekam ich die telegraphische Nachricht, daß Ludwig Wittgenstein gestorben ist (am 29. April). Ein großer Verlust auch für mich.--Er hat von seiner Krankheit (Krebs) seit gut einem Jahr gewußt, auch von ihrer voraussichtlichen Dauer.« Page 324
Hermanns Heirat: Am 17.1.1951 heiratete Hermann Hänsel Dr. Ingrid Hacker: Geb. 26.7.1924, Steyr. Studium der Kunstgeschichte und Archäologie, 1951 Dr.phil. Beschäftigung mit byzantinischer Kunst, kunsthistorische Führungen in Wien, u.a. für Schüler aus Österreich unter dem Motto »Österreichs Jugend lernt die Bundeshauptstadt kennen«. Zusammenarbeit mit Dr. Friedrich Hansen-Löve. Aus der Ehe mit Hermann Hänsel gingen vier Kinder hervor: Bernhard (geb. 1951), Georg (geb. 1952), Arno (geb. 1954) und Agnes (geb. 1963). Page Break 325
B) ÜBERSICHTEN Der rechte Ton. Gedanken zur Freundschaft Ludwig Hänsel--Ludwig Wittgenstein von Ilse Somavilla Page 325
Was Wittgensteins Beziehungen zu Freunden eigentlich ausmachte, kann nicht leicht nachgewiesen werden. In den bisher erschienenen Biographien über Ludwig Wittgenstein wurden vor allem seine persönlichen Kontakte zur angelsächsischen Welt hervorgehoben, während seine österreichischen Freunde wie Ludwig Hänsel oder Rudolf Koder eher an der Peripherie rangieren--sieht man von Paul Engelmann ab, der durch seine posthum veröffentlichten Erinnerungen an Wittgenstein†1 eine Ausnahme bildet. Page 325
Aus dem vorliegenden Briefwechsel wird ersichtlich, wie tief Wittgensteins Freundschaft mit Hänsel reichte. Wie wichtig sie für Wittgenstein gewesen sein muß, ist daran zu erkennen, daß sie von der Zeit seiner Kriegsgefangenschaft im Jahre 1919 bis zu seinem Tode im Jahre 1951 währte. Page 325
Auch in philosophischer Hinsicht ist der Briefwechsel bedeutsam. Nicht nur, daß sich Wittgensteins Art zu denken in den Dokumenten unverkennbar spiegelt, es werden darin auch philosophische Probleme diskutiert. Hänsel erscheint dabei in menschlichen wie auch in philosophischen Fragen als ein Freund und Berater, auf dessen Meinung Wittgenstein Wert legte. Nicht nur von gegenseitigem Verständnis und von menschlicher Wärme und Herzlichkeit war diese Freundschaft getragen; es gab eine Vielzahl von Interessen auf den Gebieten der Literatur, Kunst, Psychologie und Philosophie, die sie miteinander teilten und ausführlich diskutierten. Page 325
Hänsel war ein ungewöhnlich belesener Mann, er schätzte vor allem Pascal, Augustinus, Kierkegaard und Goethe und verfaßte dazu zahlreiche Aufsätze. Seine speziellen Arbeitsgebiete waren moderne Fragen des Christentums und der Kirche, Wertphilosophie, Erkenntnistheorie, sowie grundsätzliche Fragen der Erziehung und Bildung. Hänsel galt als konservativ: ähnlich wie Wittgenstein war er, was Literatur, Kunst, Musik und überhaupt das »moderne Leben« anbelangt, der »Tradition« zugetan. Für Wittgenstein verkörperte Hänsel einerseits altösterreichische Tradition, andererseits kritische Auseinandersetzung mit der damaligen geistigen und kulturellen Situation. Karl Kraus, Otto Weininger, Adolf Loos standen beiden mit ihrem Beispiel besonders vor Augen. Die sozio-kulturelle Komponente, die erst durch die Veröffentlichung von Allan Janiks und Stephen Toulmins Wittgenstein's Vienna†2 eine eingehende Betrachtung fand, kann als ein weiterer wichtiger Faktor im Hinblick auf Wittgensteins Freundschaft mit Hänsel gesehen werden. Hänsel,
Page Break 326
Wittgensteins »österreichischer Freund«, war neben einigen seiner Geschwister und Rudolf Koder der Garant für seine lebenslänglich starken inneren Bande zu seiner Heimat einschließlich ihrer Tradition und Kultur. * Page 326
So sehr sich Hänsel auch durch Wissen und Bildung auszeichnete, so waren es doch vor allem andere Qualitäten, die Wittgenstein beeindruckten: seine Güte, seine Herzlichkeit. Darauf sprach Wittgenstein an: »what warms my heart most is human kindness.«†3 Viele, die Hänsel kannten, sprechen heute noch von seiner Ausstrahlung, seinem »inneren Licht«, und von seiner Bescheidenheit. Es lag Hänsel fern, auf andere Eindruck zu machen. Wenn er vortrug, war seine innerste Überzeugung zu verspüren; es war ihm zu glauben, daß er für seine Ideale lebte. Page 326
Er war somit wohl ein Lehrer im Sinne Wittgensteins. Diesem mußte sich etwas vermitteln, wenn Hänsel mit ihm sprach oder an ihn schrieb, und mehr als das explizit Formulierte war es wohl dessen Haltung, die Wittgenstein als ein »Sich-Zeigendes« dauerhaft ansprach. Page 326
Hänsel fand sozusagen den richtigen »Ton«, sei es in seiner Art zu sprechen, in seinem--ähnlich dem Wittgensteins--vorsichtigen Umgang mit der Sprache, dem sparsamen Gebrauch des Worts, oder in seiner Art zu leben, die durchgängig von ethischer Entscheidung bestimmt war. Page 326
Hänsel war ein religiöser Mensch, aber nicht in dogmatischer Starre befangen. Er versuchte, eine Religiosität zu leben, die sich weniger in Worten und mehr in Taten ausdrückte. Dies versetzte ihn mehrfach in die Lage, Wittgenstein die nötige seelische Unterstützung und Stärke zu geben, die dieser--zumal in der Zeit seiner Volksschullehrertätigkeit--dringend brauchte. Wenn auch Wittgenstein sein Leben lang gegen immer wiederkehrende seelische Anfechtungen, gegen bis an Selbstmordgedanken grenzende Verzweiflung anzukämpfen hatte, so waren die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg für ihn gewiß besonders schwer. Page 326
In der Grenzsituation des Kriegserlebnisses--als sich Wittgenstein fast täglich dem Tode gegenübersah--mag er den »Chiffren der Transzendenz« (Jaspers) näher gewesen sein bzw. deren Sprache wahrgenommen haben. Wie seine Tagebuchaufzeichnungen aus jener Zeit beweisen, beschäftigte er sich mehr denn je mit Fragen über Gott und den Sinn des Lebens. Wie durch einen Zufall hatte er zu Beginn des Krieges auf einer Dienstreise nach der galizischen Stadt Tarnow in einem kleinen Buchgeschäft Tolstois Schrift Kurze Darlegung des Evangeliums entdeckt, die ihn tief beeindruckte und wohl eine entscheidende Rolle bei seinem Entschluß gespielt hat, auf Vermögen und Reichtum zu verzichten und ein neues Leben als einfacher Volksschullehrer auf dem Lande zu beginnen. Page 326
Über Wittgensteins »Revolution des Herzens« in Verbindung mit dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie und mit der Krise bürgerlicher Lebensformen ist bisher nicht allzuviel Verbindliches gesagt worden. Auch wenn diese »Revolution« mit Enttäuschung über die ländliche Bevölkerung endete, und deren Unfähigkeit, ihn zu verstehen, ihn noch tiefer vereinsamen ließ, war es doch eine exemplarische »Revolution«. Sie ließ ihn ebenso in Einsamkeit zurück wie das Unverständnis, auf das er mit seinem philosophischen Werk stieß. Page Break 327 Page 327
In dieser schweren Zeit war es in erster Linie Hänsel, der Wittgenstein den nötigen Halt gab und ihn davor bewahrte, völlig zu verzweifeln, sich aufzugeben. Mit Ferdinand Ebner, auch mit Martin Buber, könnte man sagen, er war für ihn das »dialogische Du«, das ihn aus seiner »Ich-Einsamkeit« wenigstens vorübergehend befreite. Es gibt kein menschliches Leid, das nicht durch das rechte Wort gebannt werden könnte, und es gibt in allem Unglück dieses Lebens keinen anderen wirklichen Trost, als der vom rechten Wort kommt.†4 Page 327
Wenn sich auch Hänsel damals selbst in einer schwierigen Situation befand, so scheint er über eine größere innere Stabilität verfügt zu haben als Wittgenstein und war dadurch in der Lage, ihm emotionale Unterstützung zu gewähren. Wenn er einmal selbst versucht war, »ins Klagen« zu geraten, so fürchtete er sogleich, seinem Freund
nicht helfen zu können, da dessen Not dort anfange, wohin er vor »kleiner Nöte gar nicht zu schauen komme.«†5 Page 327
Aus allen überlieferten Zeugnissen von Hänsels Wirken tritt uns ein hart arbeitender Mensch entgegen, der--als Lehrer und Familienvater, aber auch in vielgestaltiger Öffentlichkeitsarbeit--konsequente Pflichterfüllung anstrebte. Da er dadurch in den Augen Wittgensteins in »Übereinstimmung mit seinem Gewissen« und in »Übereinstimmung mit der Welt«†6 zu leben schien, hätte er zumindest zu Zeiten das »gute« und »glückliche Leben« geführt, von dem Wittgenstein in seinen Tagebüchern schreibt. * Page 327
Es gibt keine direkten Belege für Gespräche über religiöse Fragen zwischen Wittgenstein und Hänsel. Aus dem Briefwechsel geht jedoch hervor, daß das Religiöse in ihrer Beziehung einen hohen Stellenwert besaß, vielleicht gerade weil darüber nicht theoretisiert wurde. Das Religiöse, der Glaube, ist für Wittgenstein--ähnlich wie für Blaise Pascal--so sehr eine Sache des Herzens, daß es keiner vielen Worte bedarf. Es gehört in das Gebiet des Unaussprechbaren und verweigert sich der Auslegung durch Vernunft und Verstand, so unerläßlich diese in der Wissenschaft sind. Wenn ich aber wirklich erlöst werden soll,--so brauche ich Gewißheit--nicht Weisheit, Träume, Spekulation--und diese Gewißheit ist der Glaube. Und der Glaube ist Glaube an das, was mein Herz, meine Seele braucht, nicht mein spekulierender Verstand. Denn meine Seele, mit ihren Leidenschaften, gleichsam mit ihrem Fleisch und Blut, muß erlöst werden, nicht mein abstrakter Geist. Man kann vielleicht sagen: Nur die Liebe kann die Auferstehung glauben. Oder: Es ist die Liebe, was die Auferstehung glaubt.†7 Page 327
Mit manchen anderen Freunden und Gesprächspartnern verbanden Wittgenstein vor allem intellektuelle Fragen; »Fragen des Herzens« kamen dabei anscheinend weniger zur Sprache. Wittgenstein aber ging es um beides--um Fragen des Verstandes bzw. Kopfes sowie um Fragen des Herzens, wobei ihm gerade diese am meisten bedeuteten Page Break 328
--Probleme des Ethischen, des Religiösen und des Ästhetischen. Seine intensive Auseinandersetzung mit Logik wie auch mit Sprache entsprang einem ethischen Impuls. Weiningers Worte »Logik und Ethik aber sind im Grunde ein und dasselbe--Pflicht gegen sich selbst« treffen auf Wittgenstein besonders zu. Es scheint, als hätte Wittgenstein in seiner akribischen Darstellung der Welt mit Hilfe der Logik einen Weg gesucht, sein Inneres in geordnete Bahnen zu bringen, Richtlinien zu finden angesichts der ihn unablässig verwirrenden Komplexität seiner Gefühlsregungen und den daraus resultierenden inneren Konflikten. In Hänsel hatte Wittgenstein einen Freund gefunden, mit dem er beide Aspekte--den Aspekt des Verstandes und den des Herzens--ohne viele Worte--»besprechen« konnte. Hänsel war ein Mensch, dem diese unterschiedlichen Pole, was seine Persönlichkeit betraf, weniger Schwierigkeiten zu bereiten schienen, da sie sich in seinem Wesen harmonischer vereint fanden. Page 328
Während Hänsel Kraft und Ruhe offenbar aus seinem Glauben schöpfte, blieb Wittgenstein zeitlebens unruhig--leidenschaftlich auf der Suche. Hänsel versuchte nicht, seine Gläubigkeit dem Freund aufzudrängen, doch in seiner unaufdringlichen Art mag er dem anderen deutlich gemacht haben, was ihm Halt und Stärkung geben könnte und was er im Innersten ersehnte. Dazu benötigte er nicht viele Worte, es war vielmehr sein Beispiel, das er Wittgenstein vorlebte. Wie sehr er es verstand, für seinen Freund den »rechten Ton« zu finden, zeigt die unpathetische Art, in der er ihn in seinem Brief vom 3. November 1919 bittet, das Vaterunser zu beten. Wenn wir uns die Worte Wittgensteins vergegenwärtigen, die er einige Jahre zuvor--am 11. Juni 1916--in sein Tagebuch eingetragen hatte--»Das Gebet ist der Gedanke an den Sinn des Lebens«†8--, so verstehen wir besser, was Hänsels Brief mit der stillen Aufforderung für ihn bedeutet haben kann--insbesondere zu jener Zeit, da ihm nicht nur sein Leben, sondern das Leben allgemein sinnlos erschien. Page 328
Aus einer Reihe weiterer Tagebuchaufzeichnungen Wittgensteins geht hervor, daß er das Streben nach einem glücklichen Leben für äußerst wichtig hielt. Doch sah er dies nicht im Sinne eines bequemen, genußreichen Lebenswandels, sondern vielmehr im Verzicht, in der Entsagung sogenannter irdischer Freuden. »Wie kann der Mensch überhaupt glücklich sein, da er doch die Not dieser Welt nicht abwehren kann?« fragt er am 13.8.1916. Eben durch das Leben der Erkenntnis. Das gute Gewissen ist das Glück, welches das Leben der Erkenntnis gewährt. Das Leben der Erkenntnis ist das Leben, welches glücklich ist, der Not der Welt zum Trotz. Nur das Leben ist glücklich, welches auf die Annehmlichkeiten der Welt
verzichten kann. Ihm sind die Annehmlichkeiten der Welt nur so viele Gnaden des Schicksals.†9 Page 328
Zu Drury soll er, als sie über Kierkegaard sprachen, gesagt haben: Sie dürfen allerdings nicht vergessen, daß ich nicht den gleichen Glauben habe wie Kierkegaard, doch dessen bin ich gewiß, daß wir nicht hier sind, um es uns gutgehen zu lassen.†10 Page 328
Ein Vergleich mit dem Diktum des jungen Georg Trakl »Nur dem, der das Glück Page Break 329
verachtet, wird Erkenntnis« liegt ebenso nahe wie ein Vergleich mit Schopenhauer, der in ähnlicher Weise die einzigen »glückseligen Augenblicke« in jenen Stunden sah, in denen unser Intellekt bzw. Geist Oberhand über alle kleinlichen, triebhaften Wünsche und Neigungen gewinnt und wir als »reines Subjekt des Erkennens« uns über Weltlichkeit und damit über alles Leid erheben. Page 329
Wittgensteins gesamte Schriften reflektieren seine Suche nach dem »Geist«, dem »Licht«, der »Wahrheit«, und sind von entsprechenden Selbstanklagen begleitet, wenn sein »Fleisch« stärker war als der »Geist« in ihm und er sich »unanständig« und im Dunkeln fühlte.--Demgegenüber erschien Hänsels Leben »klarer«, »geordneter«, »heller«--zumindest hatte er die Gabe, seine Tage so zu gestalten, daß er nicht, wie sein Freund, unzählige Male am Rande der Verzweiflung zu kämpfen hatte, nur eine Handbreit vom Abgrund entfernt. In solchen Situationen stand Hänsel Wittgenstein zur Seite, ohne ihm Ratschläge aufzudrängen, sondern er beließ ihn, wie er war: schwierig, sensibel, zu Temperamentsausbrüchen neigend. Rügte er, lobte er, dann nur ironisch: »Bene loquasti!« Page 329
Daß die Briefe nur Bruchstücke dessen liefern, was sich in dieser Freundschaft tatsächlich »ereignet« hat, bestätigen die Briefe Nr. 75, Nr. 152 und Nr. 270, in denen Wittgenstein den Wunsch äußert, mit Hänsel über Dinge zu sprechen, die sich nicht schreiben ließen. Wenn man weiters Wittgensteins Bewußtsein von der Grenze des Sagbaren bedenkt, so kann man vermuten, daß das Wesentliche in seiner Freundschaft mit Hänsel ungesagt geblieben ist. Um noch einmal mit Ferdinand Ebner zu sprechen, fanden Hänsel und Wittgenstein deshalb das »rechte Wort« füreinander, weil es durch das Schweigen hindurchgegangen war.†11 * Page 329
Hänsel war aber auch ein wertvoller Gesprächspartner in verschiedensten Bereichen der Literatur, der Kunst und auch der Philosophie. Page 329
Er hatte zum Teil dieselben philosophischen und literarischen »Bezugspersonen« wie Wittgenstein. Es ist zwar nicht bekannt, ob Wittgenstein all jene Autoren gelesen hat, die Hänsel nahestanden, doch in seinen Schriften finden sich wiederholt Stellen, die eine Affinität zu jenen Dichtern und Denkern aufweisen, mit denen sich Hänsel intensiv auseinandersetzte: Pascal, Augustinus, Kant, Kierkegaard, Goethe, Karl Kraus und andere. Hänsel besaß die Gabe, philosophische Probleme nicht einseitig wissenschaftsorientiert zu betrachten, sondern offener, zuweilen förmlich »dichterisch«. Gerade das machte ihn als philosophischen Gesprächspartner für Wittgenstein zum idealen »dialogischen Du«, das dieser ernster nahm als manche andere. Bereits während der Zeit ihrer gemeinsamen Kriegsgefangenschaft bei Cassino hatten die beiden miteinander den Tractatus gelesen und besprochen. Daß Hänsel von Wittgensteins Schrift in ihrer zugrundeliegenden ethischen Aussage mehr verstanden zu haben scheint als z.B. Russell oder Frege--um nur zwei zu nennen--, beweist sein Brief vom 30.8.1920, in dem er Wittgenstein eine Abschrift von Nicolaus Cusanus' Dialogus de deo abscondito schickte. Hänsel gibt keine Erklärungen oder Gründe an, weshalb er es tat, sondern--Geste einer »schweigenden Hermeneutik«--er unterstreicht die bedeutsamen Stellen des Dialogs, die den wesentlichen Gedanken des Tractatus auf verblüffende Weise nahekommen. Page Break 330 Page 330
Hänsel erweist sich demnach als einer, der nicht nur für Wittgensteins persönliche Probleme Verständnis aufbrachte, sondern der auch dessen philosophische Denkweise nachzuvollziehen imstande war. Das ist bei Wittgenstein entscheidend, da man bei ihm Persönlichkeit und Philosophie nicht trennen kann. Wittgenstein lebte seine Philosophie oder war zumindest sein Leben lang verzweifelt bemüht, das von ihm Gedachte in jeder seiner Handlungen zu realisieren. Page 330
Im Gegensatz zu Schopenhauer, bei dem zwischen Leben und Werk eine nicht übersehbare Diskrepanz bestand, war Wittgenstein mit bis an Selbstaufgabe grenzenden Anstrengungen bemüht, Philosophie nicht als Theorie zu verkünden, sondern als »Tätigkeit«, als Handlung zu vollziehen. Page 330
Daß es ihm dabei vor allem um ethische Probleme ging, bezeugen seine an Hänsel gerichteten Briefe. Von 1919 bis 1951 liefern diese deutliche Beweise dafür, daß Wittgensteins philosophisches Anliegen in erster Linie ethisch begründet war. Dies drückte sich in seinem Leben aus--sein ganzes Denken, Sprechen und Handeln war an strengsten ethischen Richtlinien orientiert, so wie diese wiederum für seine Philosophie der Logik und der Sprache bestimmend waren. Wittgenstein, den Philosophen und Wittgenstein, den Menschen, zu trennen, hieße, weder dem einen noch dem anderen gerecht zu werden, hieße ferner, seine Philosophie nicht in ihrem vollen Ausmaß begreifen. Dies war Hänsel bewußt. Page 330
Es scheint nicht ausgeschlossen, daß Hänsel seinen Anteil an Wittgensteins innerer Entwicklung hatte--indem er ihm aus dem Zustand existentieller Not und Isolation zu einem Sich-Öffnen gegenüber Anderen verhalf. Damit hätte er aber--wenn auch nur indirekt, und neben Wittgensteins Erfahrungen als Volksschullehrer und dem späteren Einfluß Piero Sraffas--eine gewisse Rolle in der Entwicklung seiner Philosophie gespielt, sofern diese sich in ähnlicher Weise von solipsistischen Tendenzen im Tractatus zu einer pragmatischen Position in den späteren Schriften bewegte. Sprache wird nicht mehr abstrakt-isoliert, sondern im Kontext menschlicher Lebensformen untersucht. Page 330
In den Briefen Wittgensteins an Hänsel ist ein solcher Entwicklungsverlauf jedenfalls feststellbar: spürt man aus den Briefen der Volksschullehrerzeit tiefe Verzweiflung und damit einhergehend Beschäftigung mit sich selbst, und wird Wittgensteins Abhängigkeit von Hänsel als moralischer Stütze deutlich, so scheint seine Haltung in den späteren Briefen ruhiger, gelassener, die Beziehung zu seinem Freund »ausgewogener«. Wittgenstein nimmt Anteil an Hänsels Problemen und versucht jetzt seinerseits, Trost zu spenden--der eher monologische Charakter der früheren Briefe weicht einem dialogischen Entgegenkommen. Der Wortsinn enthüllt sich zunehmend als »etwas Bewegliches, im Geist Bewegtes und den Geist Bewegendes.«†12 Page 330
Trotz des gegenseitigen Verständnisses und des ähnlich hohen ethischen Anspruchs, der kompromißlosen Verfolgung ihrer Pflichten waren Wittgenstein und Hänsel aber auch die großen Unterschiede bewußt, die zwischen ihnen bestanden. Wie Hänsel Wittgenstein in seiner ganzen Persönlichkeit und in jeder seiner »Phasen« akzeptierte und nicht auf ihn »verbessernd« einzuwirken versuchte, so erwartete sich Wittgenstein von seinem Freund nicht ähnlich große Leistungen in der Philosophie, wie er selbst sie erbrachte. Page 330
Nur was das »Herz« anbelangt, so bat Wittgenstein Hänsel, diesem niemals etwas Page Break 331
von seinem Verstand vormachen zu lassen, sondern darauf zu achten, daß es fest und ruhig bleibe, wie sehr der Kopf sich auch drehen würde. Die Tendenz des »Kopfes« zu steten Veränderungen dürfe das Herz nicht berühren; dieses solle in seinem Grund standhaft und unwandelbar bleiben. Abermals eine klare Scheidung, und dabei eine hohe Bewertung des Herzens gegenüber der »Kälte und Berechnung des Verstandes«--ähnlich der Unterscheidung Pascals, der, trotz aller Beschäftigung mit der Mathematik, schließlich dem Herzen den Vorrang gab und auf die »Vernunft und Ordnung des Herzens« (»logique du coeur«) zu sprechen kam. Oder, um wieder Schopenhauer zu zitieren, der auf dem Gebiete der Naturwissenschaften ebenfalls bewandert war und den Intellekt über alles pries und doch das Herz über alles andere stellte: Denn wie Fackeln und Feuerwerk vor der Sonne blaß und unscheinbar werden, so wird Geist, ja Genie, und ebenfalls die Schönheit, überstrahlt und verdunkelt von der Güte des Herzens.†13 Page 331
In einem Brief über Hänsels heranwachsenden Sohn Hermann ging es Wittgenstein gleichermaßen um die Kraft des Herzens, die Stellung zu Gott und zur Religion, vor der sich erzieherische Regel erübrige. Während Wittgenstein mehreren seiner Freunde Ratschläge bezüglich ihrer künftigen Lebensbahn erteilte, unterließ er es bei Hänsels Sohn, belehrend einzugreifen. Sein Respekt für Hänsels Umgang mit jungen Menschen dürfte dafür ebenso maßgeblich gewesen sein wie seine ethische Grundeinstellung: Moral und Religion sind nicht aussprechbar und Wittgensteins Rat, Gott und die Religion ernst zu nehmen heißt ja in seinem Sinne, in diesem Bereich schweigend zu agieren. Es gibt keine Theorie der Ethik, keine allgemeingültigen Regeln für Gut oder Böse. Was für den einen gut ist, mag für den anderen ohne Wert bzw. schlecht sein. Jeder müsse daher selbst den rechten Weg für sich finden,
und Wittgenstein wußte, daß Hermann, von dem er sehr viel hielt, dies auch schaffen würde. Daß dieser Weg ein anderer sein könnte als der, den sich seine Eltern vorstellten, hatte Wittgenstein an sich selbst erfahren. Er wie auch seine Brüder hatten offenbar unter ihrem starken, erfolgreichen Vater gelitten, da sie spürten, dessen Erwartungen in beruflicher Hinsicht nicht erfüllen zu können. Ludwig scheint jedenfalls daran getragen zu haben. Noch in späten Jahren notierte er auf einem Rezeptformular seines Cambridger Arztes Dr. Bevan--in Abänderung eines Zitats aus Goethes Herrmann und Dorothea, III. Thalia, Die Bürger--folgende Zeilen: Denn wir können die Kinder nach unserem Willen nicht lenken; So wie Gott sie uns gab, so muß man sie haben und lieben.†14 Page 331
Hermann Hänsel fand seinen Weg und seine Aufgabe. Nach anfänglichem Studium der Fächer Deutsch und Französisch--wie sein Vater--erkannte er, daß es ihm keine Freude bereitete, an die Literatur wissenschaftlich heranzugehen und er entschloß sich zum Studium der Landwirtschaft an der Hochschule für Bodenkultur. Laut Aussagen von Hermann Hänsel, und wie aus dem vorhin erwähnten Brief hervorgeht, sah Wittgenstein von jeder Form einer Beratung ab, doch vielleicht genügte für Hermann dessen große Ausstrahlung, daß er--wenn auch unbewußt--eine Page Break 332
ähnliche Denkweise entwickelte--er, der ebenso wie Wittgenstein Gedichte liebte und auch schrieb--, deren »Zerlegung« aber wie jener ablehnte. Oder daß Wittgenstein, auch ohne den Versuch einer direkten Beeinflussung, allein durch seinen »Ton« ihm Wesentliches vermittelte--wie auch der Ton des Briefes an Ludwig Hänsel das in sich enthielt, was Ratschläge und Belehrungen nicht vermögen. * Page 332
Abgesehen von Fragen des Herzens--und damit Fragen der Religion--gab es in philosophischer Hinsicht gewisse Punkte, wo Wittgenstein empfindlich reagierte und es nicht unterlassen konnte, mit der an ihm bekannten Härte in scharfer und schonungsloser Kritik seinen Freund zu korrigieren. Dies war dann der Fall, wenn es um absolute Wahrhaftigkeit, um intellektuelle Redlichkeit, den Kampf gegen die eigene Eitelkeit und um das Erkennen der eigenen Grenzen ging: hatte Wittgenstein den Eindruck. Hänsel wäre seiner ihm eigenen, stillen und zurückhaltenden Art nicht treu geblieben und hätte sich mit seiner Sprache in Phrasen verloren, machte er ihn auf mögliche Gefahren in vehementer Weise aufmerksam. Vor allem warf er Hänsel fehlenden Ernst und Oberflächlichkeit des Denkens vor. Auch bei anderen Freunden, die sich mit Philosophie beschäftigten, verhielt sich Wittgenstein sehr kritisch. Insbesondere bei Lehrern der Philosophie hegte er Bedenken, wie er dies auch Norman Malcolm zu verstehen gab, da er befürchtete, dieser könnte als akademischer Philosoph zwangsläufig zum »Schwindler« werden.†15 Page 332
Doch so sehr Wittgenstein Hänsel auch kritisiert, seine Briefe enden immer wieder damit, daß er der seinem Freund angelasteten Fehler sich selbst in noch stärkerer Form bezichtigt. Er gesteht Hänsel, »unzählige Male« »unanständig« gewesen zu sein seinen Studenten Sicherheit vorgetäuscht zu haben, die er im Grunde nicht besaß. Page 332
Vielleicht erklärt sich daraus, weshalb Wittgenstein nach seinen Vorlesungen Abscheu und Ekel vor sich selbst empfunden haben soll, so daß er im nächsten Kino Ausgleich suchte. Allein die Tatsache, daß er Philosophie lehrte, muß in ihm Selbstvorwürfe erzeugt haben, da er, als ein ausdrücklicher Gegner des akademischen Dozierens, Philosophie als Tätigkeit und nicht als Theorie bzw. Lehre gesehen haben wollte. Page 332
Ähnlich mag es ihm in der Zeit seiner Volksschullehrertätigkeit ergangen sein, als er sich--unsicher und zerrissen, wie er war--nicht in der Wahrheit und deshalb ungeeignet fühlte, als Lehrer und Vorbild aufzutreten. Das Bewußtsein der eigenen Unzulänglichkeit mag, neben dem Gefühl des Versagens†16, einer der Gründe für seine zuweilen unausgeglichene Haltung gegenüber seinen Schülern gewesen sein. Ein wirklich guter Lehrer zu sein--wie er es ja auch in seinem Brief vom 10.3.[1937] an Hänsel formuliert hat--, wäre nur durch eigene innere Wahrheit möglich. Aufgrund seiner damaligen inneren Zweifel entbehrte er jener inneren Sicherheit†17, die für ihn als eines der drei Hauptmerkmale der Ethik aber unerläßlich gewesen wäre, um »wahr« zu sein und Wahrheit auszustrahlen. Wie konnte er den Kindern gegenüber glaubhaft wirken und ihnen Sicherheit und Wahrheit vermitteln, wenn er sich selbst so schwach und elend fühlte? Page 332
Fehlte ihm die innere Sicherheit, so besaß er umso mehr die Fähigkeit zum Staunen, die er ausstrahlte und mit den Kindern teilte; sie war es auch, die er durch seine
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mitreißende Begeisterungsfähigkeit und lebendige Gestaltung des Unterrichts in erster Linie förderte. Er öffnete sozusagen die Augen seiner Schüler, führte sie dazu, das Besondere im scheinbar Alltäglichen zu entdecken--das, was den Erwachsenen im allgemeinen so selbstverständlich ist, daß sie es nicht mehr wahrnehmen. Die Fähigkeit zum Staunen, die für Wittgenstein ein weiteres Merkmal der Ethik darstellt--sofern über diese überhaupt etwas gesagt werden kann--führt weiter zu einer ethischen Betrachtung der Welt, zu einem gesteigerten Bewußtsein und einem inneren Wachsein. Page 333
Wittgenstein war gewiß mit großem Eifer und Einsatz bemüht, ein »guter Lehrer« zu sein, und hielt einen für die damalige Zeit ungewöhnlichen Unterricht; dennoch versagte er hin und wieder im direkten pädagogischen Umgang mit den Schülern. Jahre später fühlte er sich deswegen noch schuldig und kehrte in die Dörfer seiner Lehrerzeit zurück, um sich persönlich bei ehemaligen Schülern für sein Verhalten zu entschuldigen. * Page 333
Als Folge seines ständigen Gefühls des Versagens und der Schlechtigkeit war Wittgensteins Leben von unablässigen Selbstvorwürfen überschattet, in denen er mit sich selbst auf schärfste Weise ins Gericht ging und sich wegen Kleinigkeiten als »unanständig« oder »schäbig« bezeichnete. Der innere Kampf gegen seine Unzulänglichkeit--in seinen Augen Sündhaftigkeit--führte schließlich zu seinen bereits bekannten »Geständnissen«, die er im Jahre 1937 vor mehreren seiner Freunde wie Maurice O'C. Drury, Francis Skinner, G. E. Moore, Fania Pascal, Rowland Hutt sowie Paul Engelmann--teils mündlich, teils schriftlich--ablegte†18. Wie der vorliegende Briefwechsel zeigt, war Hänsel offensichtlich der erste, dem Wittgenstein in drei Briefen vom November 1936--seine »Vergehen« beichtete, die eigentlich nur in Versäumnissen bestanden. Page 333
Mit seinen Geständnissen wollte Wittgenstein vor allem mit sich selbst »ins Reine kommen«, um Klarheit, »Transparenz« in sein Leben--und damit auch in seine Philosophie--zu bringen. Dazu mußte er alle Unklarheiten und Dunkelheiten beseitigen, die auf seiner Seele lasteten. Page 333
In seiner Sehnsucht nach innerer Wandlung war die Beichte für ihn ein unerläßlicher Schritt, um mit seinem alten Leben, seinem alten Ich, abzuschließen und ein »neuer Mensch« zu werden. Eine Beichte muß ein Teil des neuen Lebens sein.†19 Page 333
Auch in seinen philosophischen Gedankengängen war Wittgenstein auf dem Wege steter Neuerung--er wurde nie müde, die Probleme immer wieder aus neuer Sicht zu betrachten und an sie anders heranzugehen, um zu größtmöglicher Klarheit zu gelangen. Wie Waismann berichtete, hatte er die Gabe, die Dinge immer wieder wie zum ersten Mal zu sehen, der Eingebung des Augenblicks zu folgen und das niederzureißen, was er vorher entworfen hatte.†20 Page 333
Wenn man Wittgensteins philosophische Manuskripte liest, wird deutlich, wie er in seinen Gedankengängen nie zur Ruhe kam--wie er fortlaufend Wörter, Sätze und Page Break 334
ganze Passagen änderte, anders, neu formulierte--ein unaufhörlicher Prozeß, ein Ringen um den richtigen, den wahren Ausdruck--eine Suche; auch hier nach dem »erlösenden« Wort†21. Der Philosoph trachtet das erlösende Wort zu finden, das ist das Wort, das uns endlich erlaubt, das zu fassen, was bis dahin, ungreifbar, unser Bewußtsein belastet hat.†22 Page 334
Wittgenstein wußte um die Schwierigkeit, Probleme der Philosophie und Probleme des Lebens zu lösen, und so strebte er nach deren »Auflösung«. Dies war nur möglich, indem er alle ihn quälenden Gedanken beseitigte, wie er dies bezüglich seiner Selbstvorwürfe ob seiner Sündhaftigkeit durch seinen radikalen Akt der Beichte versucht hatte. Die »Auflösung«, das »Verschwinden«†23 der Probleme durch eine Handlung, eine Entscheidung schien ihm ein Weg, um Frieden in seine Gedanken zu bringen: Friede in den Gedanken. Das ist das ersehnte Ziel dessen, der philosophiert.†24 Page 334
Wittgensteins Streben nach »Klarheit«, nach »Durchsichtigkeit« in philosophischen und persönlichen Problemen, sein Streben nach Integrität, Anständigkeit und Aufrichtigkeit in jeder Hinsicht geht aus den Briefen an Hänsel wiederholt hervor--oft freilich verborgen in einem literarischen, ja poetischen Stil. In einer an Bildern und Gleichnissen reichen, an Worten jedoch sparsamen Sprache, die stellenweise an die Bibel erinnert und sich auch teilweise daran anlehnt, kommen Wittgensteins philosophische Gedanken unverwechselbar zum Ausdruck. Anstatt abstrakte Theorien aufzustellen, entwirft er fiktive Beispiele, die aus dem Leben, aus der »unmittelbaren Anschauung« geschöpft sind. Wittgensteins Einstellung zur Philosophie: Ich glaube meine Stellung zur Philosophie dadurch zusammengefaßt zu haben, indem ich sagte: Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten.†25 O, warum ist mir zumute, als schrieb ich ein Gedicht, wenn ich Philosophie schreibe? Es ist hier, wie wenn hier ein Kleines wäre, was eine herrliche Bedeutung hat. Wie ein Blatt, oder eine Blume.†26 Page 334
Wie wichtig die Literatur für Wittgenstein war und welcher Stellenwert ihr für das Verständnis seiner Philosophie zukommt, ist bisher in der Wittgenstein-Rezeption nur in Ausnahmen beachtet worden. Dabei waren Literatur und Kunst--als zum Gebiet des »Unaussprechlichen« gehörend--für ihn von grundlegender Bedeutung und höher als Leistungen der Wissenschaften einzuschätzen; vor allem im Hinblick auf seine philosophische Denkweise waren sie den wissenschaftlichen Methoden vorzuziehen. Ähnlich Schopenhauer, der die Künste und die Philosophie auf eine Ebene stellte und nur von diesen--und nicht von den Wissenschaften--die richtige Antwort auf unsere dringendsten Fragen erwartete, bemerkte Wittgenstein: Page Break 335
Die Menschen heute glauben, die Wissenschaftler seien da, sie zu belehren, die Dichter und Musiker etc., sie zu erfreuen. Daß diese sie etwas zu lehren haben; kommt ihnen nicht in den Sinn.†27 Page 335
Wie schon früh seine Äußerungen zu Trakls und Uhlands Gedichten†28 zeigen, kam es Wittgenstein auf den »Ton« des Dichters an, der ihn anzusprechen und das Innerste in ihm zu berühren vermochte, ein Ton, den nur Menschen von innerer Wahrheit und Größe besitzen. Page 335
Wittgenstein verwendet häufig das Wort »Ton«--es war dies das ihn zutiefst Bewegende und nicht in Worten Auszudrückende. Wie eine unverwechselbare Körperhaltung oder ein Gestus kann der Ton eines Autors als Ausdruck seiner Persönlichkeit und seiner künstlerischen Schaffensweise gesehen werden. Allgemeiner, was jedem Menschen innewohnt, ihm eigen ist, was sich in seiner Sprache, in seiner Haltung »zeigt«. Bei Wittgenstein kann »Ton« für das Unaussprechbare gelten wie der Ton in der Musik, der nicht aus Worten besteht und auch nicht mit Worten beschrieben werden kann. Page 335
Es ist bekannt, daß die Musik Wittgenstein alles bedeutete, daß er jedoch außerstande war, ihre Wirkung auf ihn zu beschreiben. Es sei ihm unmöglich, sagte er einmal zu Drury, in seinem Buch auch nur ein einziges Wort zu sagen über alles das, was die Musik für ihn in seinem Leben bedeutet habe: »Wie kann ich dann darauf hoffen, daß man mich versteht?«†29 Page 335
Das Gefühl des Nichtverstandenwerdens bzw. der Unfähigkeit, sich verständlich zu machen†30--das Bewußtsein der Unmöglichkeit vollkommener Kommunikation quälte Wittgenstein sein Leben lang. Wenn es ihm auch in manchen Bereichen und bis zu einem gewissen Grad gelang, sich mitzuteilen, in jenen Bereichen, die für ihn wesentlich waren, blieb es ihm unmöglich. Bei ethischen, religiösen und ästhetischen Fragen, wo jede Beschreibung oder auch nur der Versuch einer verbalen Wiedergabe scheitern mußte--wo Worte nur zerstören konnten, war Wittgenstein sich der Grenzen der Sprache schmerzhaft bewußt. Allenfalls war es der Ton, den er spürte, doch der ist ja unaussprechbar, so daß der letzte Satz des Tractatus: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen« seine Gültigkeit für ihn nie verlor. Page 335
Hänsel war die Unantastbarkeit letzter Dinge ebenso bewußt wie seinem Freund. Seine Fähigkeit bestand darin, diesem--im rechten Ton und auf unberedte Art mitzuteilen, daß er dieselbe Achtung vor dem Unaussprechlichen empfand. Page 335
In Anlehnung an Wittgensteins Brief an Ludwig von Ficker von 1919, wo es heißt, daß der wesentliche Teil seines Buches nicht geschrieben sei†31, könnte man von seiner Freundschaft mit Hänsel sagen, daß die wesentliche Seite ihrer Verbindung in einem »schweigenden Einverständnis« beruhte. Page Break 336 Page Break 337 Page Break 338 Page Break 339
Wittgensteins Kritik an Hänsels Aufsatz Wertgefühl und Wert von Christian Paul Berger
1. Facetten einer Freundschaft Page 339
Ludwig Hänsel hat seinen Aufsatz Wertgefühl und Wert†1 im April 1949 veröffentlicht und wohl unmittelbar danach Wittgenstein, der sich Ostern 1949 nachweislich in Wien befand, einen Sonderdruck überlassen.†2 Wittgensteins und Hänsels Freundschaft währte damals bereits 30 Jahre: In dieser Zeit ist von Wittgenstein so manches grobe Wort über Denkansätze Hänsels gefallen: Betrachten wir z.B. nur die folgenden Zeilen im Brief Nr. 232, vermutlich vom 9. 2. 1937, in denen er sich sehr kritisch über einen Aufsatz Hänsels, Das Relative und das Absolute†3, äußerte: Du schreibst im ersten Aufsatz: »Der Hinweis auf Widersprüche ist immer wieder das stärkste Argument in der Hand des flachen & bequemen Geistes gegen alles ›Absolute‹«. »Und auch für«, schrieb ich hinein. Aber das beweist natürlich nichts gegen oder für das Absolute, & es heißt nur, daß, solang der Geist flach & bequem ist, er nicht für oder gegen das Absolute argumentieren soll. Und Freund! wenn der flache & bequeme Geist nicht aus Deinem Aufsatz spricht, so weiß ich nicht, wo diese Worte anzuwenden sind! Welch ein Gemengsel von ganz ungenügend Verdautem & Durchdachtem! Page 339
Das sind harte und scheinbar wenig freundschaftliche Worte, die auf den ersten Blick den Eindruck erwecken könnten, Wittgenstein habe es nicht gut mit Hänsel gemeint, doch zeigt die lebenslange Dauer dieser Freundschaft, daß sie von solchen--also von rein intellektuellen--Interessensgegensätzen in ihrer Tiefe kaum je wirklich berührt wurde. Page 339
Die Gegensätze zu Hänsels philosophischen Auffassungen bzw. die eher negative Einstellung Wittgensteins zu dessen damaligem modus philosophandi liegen u.a. in zwei wesentlichen Charaktereigenschaften Wittgensteins begründet, die er zeitlebens beibehielt: zum einen in seiner rigorosen Offenheit, die eine harte Tonart Anderen gegenüber für durchaus angemessen hielt. Man spricht in dieser Hinsicht zuweilen von seiner »Brutalität«. Und zum anderen ist sie in der Tatsache begründet, daß er in einem »wirklichen« Denker stets nur den »Eigendenker« gelten ließ; dessen Denkweise mußte sich strikt an den Tatsachen orientieren, um vor seiner überaus harten--aber auch tief ehrlichen--Kritik bestehen zu können. Dies bedeutet aber nicht, daß Wittgenstein etwa ein »wilder oder gar primitiver Denker« gewesen sei, sondern betont nur seine fundamentale Neigung zu eigenständigem Denken, die sich nur sehr eingeschränkt mit akademischen Traditionen in Verbindung bringen läßt; dies zeigt sich ganz besonders in der Art, wie sich Wittgenstein--u.a. auch auf Veranlassung Hänsels--mit Denkern wie z. B. Augustinus oder Kierkegaard auseinandersetzte. Um dieses Beispiel noch zu vertiefen, sei darauf hingewiesen, daß Page Break 340
sich in Wittgensteins lebenslanger Auseinandersetzung mit Augustinus, so weit wir sie aus dem bisher veröffentlichten Nachlaß kennen, niemals auch nur ein theologischer Argumentationsgang finden läßt, der sich auf die zeitgenössische akademische Augustinus-Diskussion beziehen ließe. In diesem Denkprozeß blieb Wittgenstein mit sich allein; trotzdem ist sein Zugang zu Augustinus, so wie wir ihn z.B. von den Philosophischen Untersuchungen her kennen, äußerst originell. Page 340
Was Hänsel betrifft, so hat Wittgenstein schon sehr früh erkannt, daß sein Freund eher ein Philologe bzw. ein Propädeutiker sei, der sich seiner Auffassung nach tatsächlich mehr mit der klaren und sauberen Beschreibung von
»Traditionen« als mit der Erforschung von »wissenschaftlichen« Tatsachen beschäftigen sollte, weil es eben seiner Wesensart besser entspräche: Ich denke, Du bist Philologe!--Und in philologischen Fragen habe ich dich immer vorsichtig, bescheiden & gründlich gefunden. Es würde Dir nicht einfallen, mit anderthalb Gedanken & einer unverdauten Belesenheit über Philologie Vorträge zu halten. (Und Du würdest nicht ohne Geringschätzung über den reden, der es täte.) Page 340
Und was müßte man denn, Deiner Meinung nach, besitzen um über das »Relative & Absolute« reden zu können?--Doch wohl tiefe, schwer errungene, Gedanken, oder großes Wissen, oder vielleicht beides. Oder ist das ein Gegenstand über den man mit Nutzen plaudern kann?†4 Page 340
Dies sollte jedoch nicht in der Hinsicht mißverstanden werden, daß Wittgenstein Hänsels philosophische Bemühungen grundsätzlich geringgeschätzt hätte, sondern bedeutet vielmehr, daß er bei ihm keine »Grenzüberschreitungen« dulden wollte, in deren Zuge Hänsel sein eigentliches denkerisches Können überschätzte und das zu vernachlässigen begann, was sein ihm naturgemäßes Metier war: Nun glaube nicht, daß ich Dein Denken über diese Dinge geringschätze! Weit entfernt! ich schätze es hoch. Aber nur solange Du dir Deiner Grenzen bewußt bleibst. Sonst wird es von etwas Schönem zu etwas Verächtlichem. Denke! & denke für den Hausgebrauch!†5 Page 340
Im Grunde hatte Wittgenstein mit dieser seiner Einsicht, so hart dies auch zunächst für Hänsel gewesen sein mochte, recht. Freilich irritiert der angriffslustige, ausfahrende Ton der meisten Randbemerkungen zu Wertgefühl und Wert auch noch den heutigen Leser. Schließlich hat ihm ja Hänsel diese für ihn so wichtige philosophische Arbeit vertrauensvoll zum Lesen überlassen und einen derartigen harten und zuweilen auch recht schulmeisterlichen Ton wohl kaum erwartet: Man muß ja dazu noch bedenken, daß Hänsel damals bereits ein angesehener Erwachsenenbildner und Gymnasialprofessor war, der sich am Höhepunkt seiner intellektuellen und beruflichen Karriere befand. Doch Zurückhaltung in der Kritik üben, das wiederum konnte Wittgenstein nicht, dazu war sein denkerischer Einsatz zu leidenschaftlich um das bemüht, was er zeitlebens Klarheit nannte†6. Trotzdem wird dem aufmerksamen Leser des Briefwechsels der fast unbegreiflich milde Ton, den Wittgenstein seit geraumer Zeit dem Freund gegenüber angeschlagen hatte, nicht entgangen sein: er Page Break 341
steht zu den Randbemerkungen Wittgensteins in Wertgefühl und Wert in einem seltsamen Kontrast. Page 341
Irgendwelche Reaktionen Hänsels auf Wittgensteins harte Kritik im Falle von Das Relative und das Absolute sind uns nicht bekannt. Zur Verdeutlichung von Hänsels Intentionen sei aber der Hinweis gestattet, daß sich die genannte Arbeit durchaus »gut liest«, wenn man sie nur als einen propädeutischen Versuch begreift, die gerade aktuellen Strömungen in der damaligen Philosophie in ein gedankliches und zeitkritisches Gerüst zu bringen. Diese Art der propädeutischen Ausrichtung eines philosophischen Textes war aber wiederum für Wittgenstein unerträglich, er sprach in seinem Brief unwillig von »Escapaden«†7. Page 341
Wir kennen nun aber direkte Reaktionen Hänsels auf Wittgensteins zum Teil überaus kritische Randglossen im Aufsatz Wertgefühl und Wert: Er hat den Sonderdruck mit den Notizen Wittgensteins sorgfältig aufbewahrt und ihn mit der Aufschrift: »Mit Wittgensteins Kritik« versehen; weiters lesen wir in seinem ca. zwei Jahre später verfaßten Nachruf auf Wittgenstein: Es gehörte zu ihm, daß er, obwohl körperlich sehr sensitiv und anfällig für Krankheiten, in der frugalsten Weise lebte (zumal als Lehrer); daß er, obwohl seelisch sehr erregbar und labil, sich wieder in edelster Form zu fassen wußte: seine Geduld, seine Milde, gerade in den letzten Jahren, hatten etwas Ergreifendes.--Und ebenso gehörte zu ihm die Treue zu seinen Freunden (er war selbst ein herrlicher Freund, auch in seiner Strenge) [...] Page 341
Diese Zeilen lassen also darauf schließen, daß ihm Wittgensteins Kritik, so negativ sie auch letztlich ausgefallen ist, sehr wichtig war--nicht zuletzt weil er wußte, daß sie einen aufrichtig gemeinten
Freundschaftsdienst zum Ausdruck bringt. Page 341
In größerem Zusammenhang gesehen, treffen wir hier aber auch auf eine recht interessante »philosophiegeschichtliche« Konstellation: Hänsel verstand sich in den späten Vierzigerjahren im wesentlichen bereits als ein Phänomenologe der Schule Max Schelers†8 und sah seinen Aufsatz Wertgefühl und Wert als einen eigenständigen und vor allem auch kritischen Beitrag im Umfeld zu Schelers Wertphilosophie. Wittgenstein mißfielen aber durchwegs die eigenständigen Argumentationen Hänsels, die sich im wesentlichen im Rahmen einer phänomenologischen Anthropologie bewegten, so wie wir sie vom frühen Scheler her kennen; er hätte es lieber gesehen, wenn ihm Hänsel bis zuletzt einen konsistenten propädeutischen Zugang zu diesen Ansätzen geliefert hätte, die ja auf den ersten Blick ganz und gar zu dem im Widerspruch stehen, was Wittgenstein zu diesen Fragen (eben zur Wertphilosophie) zeitlebens dachte. Page 341
Doch Hänsels Eigeninteresse stand dem seinen ganz offensichtlich im Wege. Trotzdem zeigt Wittgensteins Reaktion sein Interesse an einigen in Wertgefühl und Wert aufgeworfenen Fragen†9. Dies zeigt sich auch in der grundsätzlichen Einstellung Wittgensteins zu diesem in vielerlei Hinsicht propädeutischen Aufsatz Hänsels. Seine Kritiken in Form von Randglossen und Anzeichnungen betreffen ja zumeist nur stilistische und gedankliche Ungenauigkeiten Hänsels, nicht aber dessen zentralen Gedankengang, solange er sich im Umfeld eines propädeutischen Erkenntnisinteresses Page Break 342
hielt. An zwei Stellen nur kritisiert Wittgenstein für ihn eindeutige »Grenzüberschreitungen«†10, mehrere Stellen erregten aber ganz offensichtlich auch sein tieferes Interesse†11. Page 342
Wieder las er diesen Aufsatz Hänsels ganz unter denselben Voraussetzungen wie ca. 12 Jahre zuvor Das Relative und das Absolute. Er ging davon aus, daß ihm Hänsel hier eine Arbeit vorgelegt hat, in der die wesentlichen Ansätze im Bereich der Wertphilosophie des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts zusammenfassend kommentiert werden sollten. Im Grunde war das wohl tatsächlich Hänsels wichtigstes Anliegen, das er in der Folge auch souverän meisterte; im Resümee seines Aufsatzes finden sich allerdings dann wieder eigene wertphilosophische Schlußfolgerungen, die Wittgenstein derart mißfielen, daß er am Rande »Behalts bei Dir«†12 notierte. Page 342
Was einen weiteren wichtigen Grundtenor von Hänsels Arbeit betrifft, nämlich ihre philosophiegeschichtliche Ausrichtung, so wurde diese von Wittgenstein allerdings grundsätzlich positiv gewürdigt; in diesem Zusammenhang treffen wir auf das folgende bemerkenswerte Gleichnis: Auch ein Museum braucht einen Kurator, der weiß, was wohin zu stellen ist, nicht Dreck & Wertvolles durcheinander in alle Schränke stellt.†13 Page 342
Der Kurator war für Wittgenstein in diesem Falle Hänsel, seine eigene Aufgabe sah er allerdings darin, die »Ordnung« der Museumsschränke zu überprüfen und, wie nicht anders zu erwarten, fand er einige Unordnung in den »Schränken« des Hänselschen »Gedankenmuseums«. Page 342
Diesmal war der Ton allerdings wesentlich zurückhaltender als noch in seinem Brief vom Jahre 1937. Trotzdem hat Wittgenstein die Gedankengänge Hänsels in gewohnter Offenheit kritisiert und es dabei in einem Falle sogar verstanden, sich in Sachen der Denkrichtigkeit--rein fiktiv allerdings--auf den Standpunkt Max Schelers zu begeben, um von dort aus eine argumentative Ungenauigkeit Hänsels, die tatsächlich besteht, kritisch anzumerken.†14 Page 342
Bevor wir ausgewählte Randglossen kommentieren wollen, ist es aber notwendig, in einem kurzen Abriß die wesentlichen Gedankengänge Wittgensteins hinsichtlich der Wertphilosophie im weitesten Sinne des Wortes zu skizzieren. Da wir von ihm zu keiner Zeit positive Äußerungen zur Wertphilosophie überliefert haben, läßt sich der systematische Bestand seiner diesbezüglichen Denkweisen eher unter dem Terminus Verdikte zur Wertphilosophie zusammenfassen.
2. Wittgensteins drei Verdikte zur Wertphilosophie Page 342
Wittgenstein hat sich zeitlebens mit Ethik und in diesem Zusammenhang auch mit Werten
auseinandergesetzt und ist, was ihre philosophische bzw. wissenschaftliche Erfassung betrifft, stets zu einem grundsätzlich negativen Ergebnis gekommen, das sich, kurz gesagt, so formulieren läßt: Page Break 343 Page 343
Eine positive Wertphilosophie, die auf Fakten aufbauend, sinnvoll über Werte spricht, kann es nicht geben. Alle diesbezüglichen Äußerungen sind Gleichnisse: sie entziehen sich daher stets der wissenschaftlich erfaßbaren Faktizität! Page 343
An der grundsätzlichen Gültigkeit dieser zentralen Denkfigur Wittgensteins hat sich bis zu seinem Tode nichts Wesentliches geändert. Page 343
Folgt man diesen beiden Thesen, dann kann man mit Fug und Recht von Verdikten zur Wertphilosophie sprechen. Folgende Texte sind nun geeignet, uns diese Verdikte zur Wertphilosophie zu veranschaulichen: Page 343
1. Tractatus, 6.41. 2. Ein Gespräch, von Friedrich Waismann unter dem Titel Wert wiedergegeben (Werkausgabe Bd. 3, S. 116ff.) 3. Eine Stelle im Vortrag über Ethik. Wichtig ist im weiteren auch der Hinweis, daß die Thesen, die sich aus diesen drei Texten zusammenfassend ableiten lassen, für das gesamte philosophische Oeuvre Wittgensteins gelten dürften. Page 343
Dies bedeutet auch, daß wir hier auf eine der wenigen fundamentalen Strukturkonstanzen in Wittgensteins Denken treffen. Sie macht im weiteren erkennbar, daß sich seine frühen Denkansätze zur Ethik nahtlos mit später zu diesem Thema geäußerten Gedanken verknüpfen lassen. Page 343
Für das tiefere Verständnis der Randnotizen zu Hänsels Aufsatz ist dies sehr wichtig, denn immerhin treffen wir hier ja auf sehr späte, mehr oder minder direkte Äußerungen Wittgensteins zur Frage nach den Werten, die zugleich eine Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Denkweisen zu diesem Fragenkomplex zum Ausdruck bringen. Page 343
Hänsels Aufsatz sollte daher als ein »philosophischer Filter« verstanden werden, durch den Wittgenstein mit den phänomenologischen Ansätzen zur Wert-Ethik in Berührung gekommen ist. Page 343
Wittgenstein hat allerdings nur äußerst knappe Anmerkungen bzw. Hinweise an den Rand von Hänsels Aufsatz angebracht. Häufig beziehen sich diese aber allein auf den Text und nicht etwa auf die darin abgehandelten Referenzen zur Philosophie der Werte. Page 343
Daß sich nun Wittgenstein überhaupt mit Hänsels Aufsatz beschäftigt hat, kann daher als ein Argument gegen die weitverbreitete Ansicht genommen werden, er hätte sich niemals für affirmative Formen der Wertphilosophie interessiert. Der Sinn der Welt muß außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles wie es ist und geschieht alles wie es geschieht; es gibt in ihr keinen Wert--und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert. Page 343
Wenn es einen Wert gibt, der Wert hat, so muß er außerhalb alles Geschehens Page Break 344
und So-Seins liegen. Denn alles Geschehen und So-Sein ist zufällig. Was es nicht-zufällig macht, kann nicht in der Welt liegen; denn sonst wäre dies wieder zufällig. Page 344
Es muß außerhalb dieser Welt liegen.†15 Page 344
Schon im Tractatus stellt Wittgenstein also dezidiert fest, daß sich aus Tatsachenkomplexen keine essentiellen Überlegungen zu Werten ableiten lassen. Hinsichtlich einer wissenschaftlichen bzw. einer
philosophischen Betrachtung bleibt das Faktum daher neutral, was auch bedeutet: wertlos (vgl. die Wendung: »[...] so hätte er keinen Wert«.)†16. Die Tatsachen sind ohne jeden transzendenten Bezug gleichsam in einem »Sprachkäfig«†17 gefangen. Dieser ist jedoch nicht gänzlich dicht, sondern zeigt Stellen der Transparenz, die sich allerdings nur im Zusammenhang mit bildhaften Gleichnissen umschreiben lassen. Page 344
Daher kann es auch keine Sätze der Ethik geben. Dies ist das erste Verdikt, aus ihm folgt sinngemäß das zweite, nämlich, daß es keine wissenschaftlichen Theorien über Werte geben kann. Was ich beschreiben kann, ist, daß vorgezogen wird: Nehmen Sie an, ich hätte durch Erfahrung gefunden, daß Sie immer von zwei Bildern dasjenige vorziehen, das mehr grün enthält, das eine grünliche Tönung enthält, etc. Dann habe ich nur das beschrieben, aber nicht, daß dieses Bild wertvoller ist. Page 344
Was ist das Wertvolle an einer Beethovensonate? Die Folge der Töne? Nein, sie ist ja nur eine Folge unter vielen. Ja, ich behaupte sogar: Auch die Gefühle Beethovens, die er beim Komponieren der Sonate hatte, waren nicht wertvoller als irgendwelche andere Gefühle. Ebensowenig ist die Tatsache des Vorgezogenwerdens an sich etwas Wertvolles. Page 344
Ist der Wert ein bestimmter Geisteszustand? Oder eine Form, die an irgendwelchen Bewußtseinsdaten haftet? Ich würde antworten: Was immer man mir sagen mag, ich würde es ablehnen, und zwar nicht darum, weil die Erklärung falsch ist, sondern weil sie eine Erklärung ist. Page 344
Wenn man mir irgendetwas sagt, was eine Theorie ist, so würde ich sagen: Nein, nein! Das interessiert mich nicht. Auch wenn die Theorie wahr wäre, würde sie mich nicht interessieren--sie würde nie das sein, was ich suche. Das Ethische kann man nicht lehren. [...] Page 344
Für mich hat die Theorie keinen Wert. Eine Theorie gibt mir nichts.†18 Page 344
Wittgenstein geht in seinen gegenüber Waismann geäußerten Überlegungen von den Gegenständen aus, so wie wir sie tatsächlich in der Welt vorfinden und stellt dezidiert fest, daß die Tatsache, daß ich einem Gegenstand einen anderen vorziehe, selbst nur eine gegenständliche Beziehung darstellt, die ich z.B. durch »teilnehmende Beobachtung« einer Handlung induktiv aus den vorhandenen Beobachtungstatsachen (= Observablen) auf der Basis von Wert-Hypothesen erschließen kann. Auf der Basis dieser Schlußfolgerung entsteht aber selbst keine Wertbeziehung: die Tatsache nämlich, daß ich beobachte, daß jemand einer Sache eine andere vorzieht, Page Break 345
kann niemals die ursächliche »Erklärung« für sein Handeln sein, das schließlich zeigt, daß das Vorgezogene für ihn ganz offensichtlich »wertvoll« ist, sondern zeigt--ganz und gar wertfrei--lediglich ein Ergebnis seiner Handlung an. Page 345
Während im Tractatus zunächst nur von den Tatsachenbeziehungen selbst die Rede war, wird in diesem Gespräch nunmehr eine Schlußform kritisiert, ja destruiert, die von Tatsachenkomplexen ihren Ausgang nimmt und auf »ethische« Resultate in Form von Wertbeziehungen schließen will. Wittgenstein stellt nämlich fest, daß Werte nicht die Ergebnisse irgendwelcher theoretischer Behauptungen im weitesten Sinne des Wortes sein können, folglich kann es auch keine wissenschaftliche Wertlehre auf der Basis induktiver Schlüsse geben, aus der als Ergebnisse absolute Werte hervorgehen. Page 345
Im Vorfeld zu dieser wichtigen Behauptung hat er allerdings die Möglichkeit†19 einer »deskriptiven Wertethik« nicht grundsätzlich in Abrede gestellt, denn es ist, folgt man seiner dort geäußerten Ansicht, andererseits durchaus legitim, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie jene Sprachspiele aussehen, in denen einem X ein Y vorgezogen wird. Doch sollte man dieses Paradigma--er ordnet es der Soziologie zu keinesfalls mit einer wissenschaftlichen Ethik verwechseln, die es ja der vorher geäußerten Gründe wegen für ihn gar nicht geben kann. Page 345
In diesem Punkt trifft sich Wittgenstein ganz und gar mit den epistemologischen Auffassungen Max Schelers zu einer Methodologie der Werte-Beschreibung in Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik.†20 Page 345
Scheler begreift die formale Ethik, so wie wir sie von Kant her kennen, im wesentlichen als eine Ethik der
kategorischen Schlüsse, die daher letztlich stets an der tatsächlichen ethischen Praxis scheitern muß, da ja die Ethik, jetzt im gegenständlichen, d.h. praktisch verstandenen Sinne, nicht der »Inhalt« von Schlußfiguren sein kann, sondern so etwas wie einen völlig autonomen Bereich der Wirklichkeit darstellt. Als solcher ist sie daher nicht gänzlich deckungsgleich mit den Ordnungen innerhalb der soziologisch wie psychologisch erfaßbaren Tatsachenwelten, wo sie jedoch stets wirksam wird. Page 345
In Hänsels Aufsatz Wertgefühl und Wert wird dieser wichtige Grundgedanke Schelers nicht genügend präzise herausgearbeitet, so daß die diesbezüglichen Argumentationen Hänsels den Eindruck erwecken können, Scheler hätte eine affirmative Wertethik konzipiert. Zahlreiche Stellen des frühen Hauptwerks zeigen jedoch, daß Scheler vornehmlich an der phänomenologischen Beschreibung†21 und nicht etwa an der theoretischen Erklärung der Wertordnungen (so wie es Wittgenstein bei Schlick kritisiert hat) interessiert war. Page 345
Doch gibt es auch grundsätzliche Differenzen zur Wittgensteinschen Auffassung, auf die hier nicht eingegangen werden kann†22. Page 345
Nun zum dritten Verdikt: Nun möchte ich Sie überzeugen, daß sich ein bestimmter charakteristischer Mißbrauch der Sprache durch alle ethischen und religiösen Ausdrucksformen hindurchzieht. Alle diese Ausdrucksweisen scheinen auf den ersten Blick bloß Gleichnisse zu sein. [...] Bei allen religiösen Begriffen hat es den Anschein, als würden sie in diesem Sinne als Gleichnisse oder Allegorien verwendet. Denn wenn wir von Gott sagen, er sehe alles, und wenn wir vor Page Break 346
ihm niederknien und ihn anbeten, scheinen alle unsere Begriffe und Handlungen zu einer umfassenden und komplizierten Allegorie zu gehören, die ihn wie einen Menschen darstellt, der große Macht besitzt und dessen Gnade wir zu erringen trachten [...] In der ethischen und religiösen Sprache verwenden wir also, wie es scheint, ständig Gleichnisse. Doch ein Gleichnis muß ein Gleichnis für etwas sein. Und wenn ich eine Tatsache mit Hilfe eines Gleichnisses beschreiben kann, muß ich ebenfalls imstande sein, das Gleichnis wegzulassen und die Fakten ohne es zu beschreiben.†23 Man könnte nun das dritte Verdikt, kurz gesagt, so formulieren: Verwechsle nicht ein Gleichnis mit einer Beschreibung und erkenne auch, daß es im Falle der Ethik keine wissenschaftlichen Zusammenhänge zwischen Beschreibungen und Gleichnissen gibt. Page 346
Das für den Philosophen Unbefriedigende an der Ethik ist ja gerade die Tatsache, daß sie mit »ihren« Gleichnissen völlig übereinstimmt und dadurch nur in diesen transparent werden kann. Die Ethik führt uns also zum Gleichnis vom »Sprachkäfig«†24: und das ist das einzig brauchbare Ergebnis, das der Philosoph aus der Beschäftigung mit ihr erlangen kann. Gleichwohl drückt sich im praktischen Leben ein Bedürfnis aus, gerade das wissenschaftlich zu begründen, woran man sich halten soll. Wittgenstein hält dies, wie schon erörtert, für unmöglich. Diese grundlegende Ambivalenz kann also niemals einseitig »aufgelöst« werden: alle diesbezüglichen Versuche hielt Wittgenstein für unanständig (so auch G. E. Moores intuitionistische Ethik, ganz zu schweigen von der sogenannten »wissenschaftlichen« Ethik Schlicks!†25) und trifft sich auf diese Weise wiederum mit den Grundgedanken von Schelers personaler Wertethik. Allerdings fordert Scheler ein wissenschaftliches Eingehen auf dieses Paradox†26, das ja für ihn gerade so eine Tatsache ist wie etwa das Auftreten von »Wertverhalten« selbst. Page 346
Daß man Ethik »predigen« kann, indem man Tatsachen »allegorisiert«, zeigt ja tatsächlich einen möglichen Zugang zu dieser Welt, der auch wissenschaftlich--und zwar u.a. sprachpragmatisch als Sprechakt--erfaßt werden kann. Wittgenstein allerdings duldete keine derartigen »Meta-Ebenen«. Das dritte Verdikt ist daher implizit auch eine Aufforderung zur Praxis, die wiederum nur mit den Tatsachen, so wie sie vorliegen, verfahren muß, ohne daß von den Handelnden irgendwelche theoretischen Begründungen (z.B. in Gestalt von Ideologien) vorausgesetzt werden dürfen. Page 346
Man kann daher sinngemäß Wittgensteins lebenslange Freundschaft mit Hänsel, so wie sie im edierten Briefwechsel sichtbar wird, durchaus als eine solche Praxis erkennen.
3. Bemerkungen zu Hänsels Aufsatz Wertgefühl und Wert Page 346
Lassen wir am Beginn unserer Bemerkungen zu Wertgefühl und Wert Hänsel selbst sprechen, er umreißt seine Intentionen folgendermaßen: Die Wertphilosophie ist zu einer Art Abschluß gekommen. Es ist an der Zeit, ihre wahren Ergebnisse festzustellen, und auch schon, sie festzuhalten. Page 346
Sie hat etwas Neues gesehen, wenn sich auch zeigen läßt, daß Wert und Page Break 347
Werterlebnis im geistigen Leben des Menschen (sie gehören zu seinem Wesen) ihre Bedeutung hatten in der Geschichte der Philosophie seit der Antike, insbesondere im Bereiche der Ethik und Aesthetik. Das Werterlebnis war aber diese Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch etwas Selbstverständliches, Wert war nicht Gegenstand, sondern Voraussetzung der Tugend- und Güterlehren, in der Analyse der praktischen Vernunft und der Idee der Pflicht. Sehr deutlich zeigt sich das gerade bei Kant. Das Wort »Wert« (»absoluter ... relativer ... innerer ... sittlicher Wert« u.a.) kommt bei ihm oft genug vor, steht aber außerhalb des Systems seiner konstruktiven Begriffe.--Wertphilosophie als solche kam erst zustande, als man den Wert selbst zum Gegenstand der Betrachtung machte und im Werterlebnis, zum[al] im Akt des Wertens, ein eigenes Phänomen erkannte, eine Bedingung für Phänomene, die vorher als letzte gegolten haben.†27 Page 347
Hänsel argumentiert hier zunächst einmal in einer Weise, die an Diltheys hermeneutisches Konzept von der Einfühlung in einen Traditionszusammenhang erinnern läßt: von daher wird seine Basis-Argumentation auch in mehrere parallel verlaufende Gedankengänge aufgegliedert. Page 347
Er geht in seinen Überlegungen von einer Tradition aus, die die Werte als solche genommen hat und in ihnen Güter im weitesten Sinne des Wortes gesehen hat. In diesem Zusammenhang stellte sich die Frage, ob hinter den Werten noch etwas Fundamentaleres steht, noch nicht. Page 347
In den Augen fast aller scholastischen Philosophen sind Werte vielmehr subjektive bzw. objektive Merkmale von Gegenständen und stehen als solche völlig autonom neben diesen (z.B. in der Art der mittelalterlichen Güter-Ternare). Hier wird also zunächst die aristotelisch-scholastische Tradition angesprochen, deren Wirkung sich, folgt man Hänsels Auffassung in Wertgefühl und Wert, nur bis zu Kants Kritik der praktischen Vernunft erstreckt haben soll. Page 347
Kant begründet nun im weiteren eine Wertethik, die auf subjektive Haltungen aufbaut: z.B. auf die Pflicht. Nunmehr stehen also Relationen im Zentrum der ethischen Betrachtung: der Wert drückt in Art eines Imperativs eine Beziehung eines ethischen Subjektes zu seinem Wertgegenstand aus, die als solche auch objektiv zugänglich ist und daher stets einen normativen Charakter trägt. Dies hängt aufs engste mit der Behauptung Kants zusammen, daß Ethik immer im Rahmen von anschaulichen Apperzeptionen für uns wirksam wird, die uns die Sittlichkeit praktisch zu Bewußtsein bringen (vgl. in diesem Zusammenhang den Kantischen Begriff des Interesses). Page 347
Diese formalistischen Theorien wurden nun in der Folge--in einer dritten Etappe sozusagen--erneut fragwürdig, insoferne man seit Dilthey die enge Beziehung zwischen Werten und Gefühlen erkannte: man begann im Zusammenhang mit den Werten von Wert-Phänomenen zu sprechen. Page 347
Hänsel nimmt diese drei wichtigen Wert-Begriffe zum Anlaß, um die wichtigsten philosophischen Ansätze des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts einer weitgefaßten Struktur-Analyse zu unterziehen†28. Er sieht in den einzelnen Strömungen jeweils Schulen einer Wert-Philosophie, die nicht allein ein philosophisches, sondern vielmehr auch ein normativ-wissenschaftliches Erkenntnisinteresse verfolgten. Page Break 348 Page 348
Die Wertphilosophie hat also seiner Auffassung nach drei Problembereiche zu diskutieren: Page 348
1) Werte als Güter. 2) Werte als Haltungen. 3) Werte als Phänomene. Einem jeden dieser Problembereiche werden jeweils Schulen zugeordnet, die ihrerseits die »globalen« Paradigmen der Wertphilosophie noch weiter differenzieren und spezialisieren. Page 348
Dem ersten Problembereich in unserer Aufzählung werden z.B. die Gegenstandstheorie von Hänsels philosophischem Lehrer Alexius von Meinong, weiters die neuthomistischen und neu-aristotelischen Wertlehren (z.B. eines Nikolai Hartmann†29), dem zweiten Bereich sinngemäß die neukantianischen und im weitesten Sinne des Wortes »neu-idealistischen« Schulen zugeordnet, die u.a. stets von einem »Sein-Sollen« ausgehen, das sich nur von einem Wert-Subjekt her wissenschaftlich erfassen läßt. Der dritte Problembereich wird schließlich mit der Phänomenologie†30 (z.B. des frühen Max Scheler) in Verbindung gebracht. Hänsel selbst vertritt in Wertgefühl und Wert Theorien, die mit dem dritten Problembereich in engstem Zusammenhang stehen, wobei er aber durchaus auch eigenständige Denkweisen in die Diskussion einbringt†31. Page 348
Er ist in seiner Arbeit stets bemüht, Problembereich 1 mit Problembereich 3 zu versöhnen. Die Ansätze der Neukantianer und Psychologisten (z.B. eines Franz Brentano†32) werden dagegen zumeist einer impliziten Kritik unterzogen, die darauf hinaus will, derartige Ansätze grundsätzlich als widersprüchlich aufzuweisen.†33 Sowohl transzendentale als auch psychologistische Begründungsmodelle werden von Hänsel im Zusammenhang mit der Wertlehre strikt abgelehnt, da sie ihm zu subjektorientiert schienen. Page 348
Hänsel bezog sich aus diesen Gründen viel lieber auf Theorien der Wertrepräsentation als auf solche, die die Wertbegründung ins Zentrum der Betrachtung stellen, um eine Synthese von Problembereich 1 mit Problembereich 3 zur Darstellung zu bringen. Ganz im Sinne der Meinongschen Gegenstandstheorie und unter Verwendung des äußerst weitgefaßten Gegenstandsbegriffes der frühen Phänomenologie versucht er daher ein objektives Wertefundament†34 zu skizzieren, daß von einem erlebenden Subjekt gleichsam umgesetzt und damit auch verwirklicht wird. Allerdings will er nicht die »erzeugende Leistung« des Subjektes im Zentrum sehen, sondern er begreift das Subjekt in diesem sehr spezifischen Zusammenhang als die repräsentative Grundlage eines erlebten Werte-Vollzugs schlechthin (im Sinne von: Der Mensch erzeugt die Wertgefühle nicht, er hat sie!†35). In diesem Sinne muß auch die Zusammenfassung verstanden werden, die Hänsel am Schluß seiner Arbeit gibt und die Wittgenstein mit der überaus harten Bemerkung kommentierte: Wenn das Philosophie ist, dann sollten die Menschen ein für allemal auf sie verzichten.†36 Page 348
Wittgensteins Kritik wird aber erst dann verständlich, wenn man sein Augenmerk Page Break 349
weniger auf den Inhalt als vielmehr auf das an dieser Stelle zum Ausdruck gebrachte Erkenntnis-Interesse Hänsels richtet: Der Mensch ist ein Wesen, das Wertgefühle hat, das in Wertgefühlen lebt, das aus Wertgefühlen entscheidet. Diese Erkenntnis, auch in dieser psychologisch-anthropologischen Fassung, die manchen Erwartungen, die sich an die Wertphilosophie knüpften, nicht entspricht, wäre, selbst wenn sie als das einzige Ergebnis der wertphilosophischen Bewegung übrig bliebe, der großen Mühe wert.†37 Besonders die Worte Ergebnis und Bewegung†38 haben offensichtlich Wittgensteins Unwillen erweckt. Bezieht man sich auf die Verdikte 2 und 3 zur Wertlehre, so wie wir sie im Vorhergehenden erörtert haben, dann wird ja klar, warum er so empfindlich reagieren mußte: Hier liegen ja ganz offensichtliche Grenzüberschreitungen vor. Page 349
Hänsel erweckt in seiner Zusammenfassung quasi den Eindruck, es gäbe also dort in einer »psychologisch anthropologischen Fassung« verwertbare Ergebnisse, wo nach Wittgensteins Auffassung schlechthin keine wissenschaftlichen Resultate möglich sind. Dies bedeutet folglich, daß es auch keine von Menschen getragene Bewegung geben kann, die an das von Hänsel Gesagte anknüpfen könnte.
4. Beispiele Page 349
Abschließend sollen noch zwei Beispiele diskutiert werden, die uns zeigen, auf welche Weise Wittgenstein Hänsels Gedankengänge in Wertgefühl und Wert kritisierte. Page 349
Im Hintergrund stehen weiterhin die bereits erörterten Verdikte zur Wertphilosophie, sie ermöglichen ein tieferes Verständnis der Wittgensteinschen Notate: Im wesentlichen gibt es sechs Typen von Notaten, die wir in Hänsels Sonderdruck vorfinden können : Einmal die Setzung von seitlichen, vertikalen Wellenlinien (kurz : seitliche Wellung)†39, sie kennzeichnet zumeist stilistische Mängel, und zwar jeweils bezogen auf den betreffenden Absatz und stammt aus dem offiziellen Korrekturschlüssel an österreichischen Schulen, der auch noch heute gültig ist. Die Unterstreichung eines Wortes im Text in Form einer Wellenlinie (kurz: Unterwellung)†40 hebt dagegen einen »individuellen« Stil-Fehler hervor; auch sie ist Bestandteil des Korrektur-Schlüssels an österreichischen Schulen. Weiters bringt Wittgenstein einige äußerst knappe Randglossen†41 an, und schließlich treffen wir noch auf Text-Streichungen†42 und auf die seitliche Setzung von Rufzeichen†43, die zum Ausdruck bringen soll, das er sich für die gekennzeichnete Stelle interessierte. Seitlich gesetzte Fragezeichen†44 kennzeichnen dagegen Verständnisschwierigkeiten (in drei Fällen†45 werden die betroffenen Stellen auch durch gewellte bzw. durch einfache Unterstreichungen hervorgehoben). Page Break 350
Beispiel 1: Folgende Zeilen Hänsels hat Wittgenstein mit einem »??« versehen und dazu bemerkt: »Wie verschwommen«: Die neue Art von Gegenständen, die »Werte«, wurden von Lotze, Windelband, Rickert (auch von Hessen) neben die Gegenstände der Logik und Mathematik, neben die »gültigen« (evidenten) Sätze gestellt (d.h. aber eigentlich neben die Sätze von Grundrelationen, die durch die Begriffe gegeben sind, darunter insbesondere von den Mengen- und Größenverhältnissen). Ihre Seinsweise sollte das »Gelten« sein, das »Anerkennung-Fordern«.†46 Page 350
Der Begriff der »Geltung«, so wie wir ihn von Rudolf Hermann Lotze her kennen, besagt, daß Sinnstrukturen, unter denen uns ein Gegenstand gegeben ist, nicht selbst Gegenstände sind, sondern lediglich »dafür sorgen«, daß uns dieser Gegenstand X formal »präsentiert« werden kann. Wittgenstein hat deutlich erkannt, daß Hänsel hier eine von den Neukantianern gesetzte Grenze zwischen einem Wert und seiner Geltung im gegenständlichen Bereich--in für ihn verwirrender Weise--angesprochen hat. Schon in seiner Tractatus-Zeit wurde ihm klar, daß er diese neukantianische Grenzsetzung ohnehin nicht hätte akzeptieren können†47; nun kam ihm dieses schwierige Problem wieder vor Augen und er fand es bei Hänsel in eine einigermaßen unübersichtliche These eingebaut. Schließlich wurde ihm bei der Lektüre dieser Stelle in Hänsels Aufsatz auch wieder bewußt, was er sich ca. 20 Jahre zuvor in seinem Gespräch Wert†48 schon so eindringlich gefragt hatte: Ist der Wert ein bestimmter Geisteszustand? Oder eine Form, die an irgendwelchen Bewußtseinsdaten haftet?†49 Schon damals war er zum Ergebnis gekommen, daß Werte keine »Formen« sein können, die Gegenstände in irgendwelche Relationen (z.B. Größen- bzw. Mengenverhältnisse) »einbringen« und von daher »gelten«, als würden sie an den Gegenständen in geheimnisvoller Weise haften. Page 350
Im übrigen, und das zeigen einige Referenz-Stellen im Tractatus ganz deutlich, lehnte er den von Hänsel hier vorgetragenen Relations-Begriff†50 schon in seinem Frühwerk kategorisch ab. Von Relationen als »Wertbeziehungen« im Sinne des Hänselschen Zitates kann daher bei Wittgenstein keine Rede sein. Vielmehr sind für Wittgenstein solche Eigenschaften von den Gegenständen nicht zu trennen, ja sie begründen sie gerade: Wir können in gewissem Sinne von formalen Eigenschaften der Gegenstände und Sachverhalte bzw. von Eigenschaften der Struktur der Tatsachen reden, und in demselben Sinne von formalen Relationen und Relationen von Strukturen. Page 350
(Statt Eigenschaft der Struktur sage ich auch »interne Eigenschaft«; statt Relation der Strukturen »interne Relation«. Page 350
Ich führe diese Ausdrücke ein, um den Grund der bei den Philosophen sehr Page Break 351
verbreiteten Verwechslung zwischen den internen Relationen und den eigentlichen (externen) Relationen zu zeigen.) Das Bestehen solcher interner Eigenschaften und Relationen kann aber nicht durch Sätze behauptet werden, sondern es zeigt sich in den Sätzen, welche jene Sachverhalte darstellen und von jenen Gegenständen handeln.†51 Beispiel 2: In dem nun folgenden Textabschnitt Hänsels hat Wittgenstein das Wort »Intentionalität« unterwellt und seitlich am Rand ein »?« notiert: Durch das Gefühl selbst wird nicht wieder etwas erfaßt oder festgestellt oder konstatiert, etwas, das dann der »Wert« wäre. Die »Intentionalität« des Fühlens ist eben nicht dieselbe wie die des Erkennens, Vorstellens, Denkens.†52 Wittgenstein wollte durch seine Kennzeichnung darauf hinweisen, daß Hänsel den Terminus »Intentionalität« sehr undeutlich und vor allem nicht, wie er meint, im Sinne der Phänomenologen gebraucht. Page 351 Obwohl sich die meisten Phänomenologen hinsichtlich der Erweiterung des Intentionalitätsbegriffs auf die verschiedenen, im praktischen Leben vorkommenden Gefühlsbereiche einig waren, verstanden sie diese Erweiterung nicht als eine Gleichsetzung: Gefühl = Akt = Intentionalität (Deutlich sieht man dies im Zusammenhang mit Heideggers Konzept der »Stimmung« in Sein und Zeit. Hier würde die Annahme einer Akt-Struktur zu absurden Konsequenzen führen. Trotzdem können selbst die diffusesten Stimmungen immer nur von einem genau eingrenzbaren Denkakt her als solche beschrieben werden. Von einem Stimmungs-Akt, analog zu Hänsels »Gefühlsakt«, kann daher nicht die Rede sein). Page 351
Im übrigen wird diese unzulässige Gleichsetzung Hänsels von Wittgenstein auch später noch einmal kritisiert: Der Wertakt selbst ist im Kern nicht ein Denkakt oder eine Wahrnehmung, keine »Erfahrung« und keine »Intuition«, sondern ein Gefühlsakt [...]†53 Page 351
Die Phänomenologen sahen hier nämlich einen Parallelismus der Art, daß kein Gedanke beschrieben werden kann, ohne daß man das ihn begleitende Gefühl mitberücksichtigt und umgekehrt. Von einem Akt selbst kann allerdings nur beim Denken die Rede sein (vgl. Husserls Konzept der cogitatio). Beschreibt man nun also ein Gefühl, so trifft man zunächst einmal auf seine gedanklichen, Wittgenstein würde sagen: auf seine sprachlichen Eigenschaften. Das Gefühl selbst ist nur eine bestimmte, genau eingrenzbare Akt-Struktur des begleitenden Denkakts und nicht etwa der Denkakt selbst (Man spricht von einem Noema, der Denkakt dagegen wird als Noesis bezeichnet). Analog dazu muß man beim späten Wittgenstein zwischen dem Sprachspiel und den Spielregeln, unter denen es gewöhnlich verläuft, unterscheiden. Page Break 352 Page 352
Es ist nun also nicht zufällig, daß Wittgenstein hier eine kritische Anmerkung in Hänsels Text setzt: Auch er begreift die Rolle des Gefühls so ähnlich wie die Phänomenologen, von einem Struktur-Parallelismus her. Freilich sah er--anders als die meisten Phänomenologen--in der spezifischen (d.h. »intentionalen«) Bedeutung des Wortes Fühlen ein Sprachspiel über einen augenblicklichen Bewußtseinsinhalt, dessen Bedeutung ( = Intentionalität) sich nur in Sätzen zeigen kann, die mit eben solchen philosophischen Sprachspielen in einem direkten Zusammenhang stehen.†54 Die Bedeutung ist daher keine selbständige Eigenschaft eines Gegenstandes, sondern verweist vielmehr auf seinen Gebrauch in bezug auf ein Subjekt, das ihn tatsächlich benützt. Eben dieser Verweis wurde von fast allen Phänomenologen als »Intentionalität« bezeichnet. Page Break 353 Page Break 354
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Hänsels pädagogischer Eros. Erinnerung an den Philosophieprofessor von Allan Janik Page 355
Wenn Hänsels Anteil an der gewaltigen Aufgabe, das intellektuelle Leben nach der Zerstörung durch die Christlich-Soziale Diktatur, das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg, wiederherzustellen, bescheiden scheint, so ist dies nicht auf einen Mangel an Engagement seinerseits zurückzuführen. Page 355
Sieht man sich die Liste der Organisationen an, denen er angehörte, gewinnt man vielmehr den Eindruck, daß es kaum einen Club oder eine Gesellschaft von Humanisten, Pädagogen, Philosophen, Literaten oder katholischen Intellektuellen gab, wo er nicht Mitglied war. Seine Aktivitäten in Zusammenhang mit der Wiener Katholischen Akademie, die bei der Wiederherstellung des geistigen Lebens in Österreich eine bedeutsame Rolle spielte, sind im besonderen zu erwähnen†1. Tatsächlich gibt es für Hänsels intellektuelle Haltung keinen treffenderen Ausdruck als den des christlichen Humanismus. Page 355
Als Gymnasialdirektor und Lehrer der Philosophie führte ihn sein Interesse an philosophischer Ausbildung in der Nachkriegszeit dazu, eine Teilzeitbeschäftigung als Lehrbeauftragter an der Wiener Universität anzunehmen: er lehrte Philosophische Pädagogik für zukünftige Mittelschullehrer. Daneben führte er eine kleine, aber lebhafte philosophische Diskussionsgruppe, die sich privat, außerhalb der Universität, traf. Mehrere Teilnehmer dieser Gruppe wurden später bekannte Akademiker und Staatsbeamte der Zweiten Republik. Page 355
Das folgende Bild Hänsels ist aus Interviews mit seinen ehemaligen »Studenten« entstanden. Deshalb ist diese Skizze weniger ein Versuch, Hänsels Tätigkeiten aufzuzeichnen, als vielmehr ein Bericht über die Wirkung, die er auf die jungen Menschen ausübte, mit denen er in den späten Dreißigerjahren bis zu seinem Tode im Jahre 1959 in Verbindung stand†2. Um sich Hänsels Bedeutung als Philosophieprofessor in der Nachkriegszeit vor Augen zu führen, sollte man etwas über den Stand der Philosophie im Wien jener Zeit wissen. Rudolf Haller hat in eindringlicher Weise die Wiener Philosophie der Nachkriegsjahre, vom Standpunkt der großen, anti-idealistischen österreichischen Tradition eines Ernst Mach und eines Franz Brentano aus betrachtet, als »eine Katastrophe« beschrieben†3. Losgelöst von dem analytisch und naturwissenschaftlich orientierten Wiener Kreis, der sich seit der Jahrhundertwende entwickelt hatte und das geistige Leben in der angelsächsischen Welt zu dominieren begann, hielt die Österreichische Philosophie, die von den sieben Jahren des Nationalsozialismus praktisch unberührt geblieben war, an ihren Wurzeln vor dem Krieg fest--einer eigenartigen Mischung aus Deutschem Idealismus, scholastischem Gedankengut und Existentialismus. Eigentlich war sie nicht viel mehr als eine historisierte Scholastik, die dem Existentialismus nahe stand und die beanspruchte, die Idee der »philosophia perennis« gegen materialistische, destruktiv trennende Kräfte des »Reduktionismus« zu verteidigen--gegen die des Marxismus und des Positivismus. Page Break 356 Page 356
Für jemanden wie Ludwig Hänsel, der unter Alexius von Meinong in Graz, einer Hochburg der österreichischen philosophischen Tradition, studiert hatte, kann man die damalige Situation in Wien bestenfalls als bedauernswert bezeichnen. Die Beschäftigung der Wiener mit der Metaphysik auf Kosten der Wissenschaften, der Vorzug, der dem Deutschen Idealismus vor dem Realismus, und dem Denken vor der Sprache gegeben wurde--all dies war der an der englischen Philosophie orientierten Österreichischen Tradition völlig fremd†4. Page 356
Hänsel war natürlich nicht der einzige, dem der zurückgebliebene Stand der österreichischen Philosophie Sorgen bereitete: um in das philosophische Leben Wiens »frischen Wind« zu bringen, sorgte ein Österreichisches College--bekannt für seine Bemühungen, durch seine Alpbach-Seminare†5 das geistige Leben Österreichs wieder zu beleben--für offene finanzielle Unterstützung von zwei philosophischen Arbeitskreisen in Wien. Einer davon war der damals in Wien fehlenden positivistischen Philosophie, einer der ebenso vernachlässigten klassischen Metaphysik und Erkenntnistheorie gewidmet. Page 356
Die erste Gruppe, der das philosophische »enfant terrible« der Wiener Nachkriegszeit, Paul Feyerabend, und
die spätere Dichterin Ingeborg Bachmann, angehörten, bildete sich um Victor Kraft, dem einzigen Mitglied des Wiener Kreises, der eine Karriere in der Nachkriegszeit verfolgte (wenn auch von geringer Auswirkung aufgrund der damals stark ausgeprägten anti-positivistischen Atmosphäre in Wien). Die zweite Gruppe bildete sich um Ludwig Hänsel. Seine Tätigkeiten verliefen dabei gleichzeitig mit seinen Tätigkeiten als Philosophieprofessor am Gymnasium, als pädagogischer Lehrer von Philosophielehrern und als geistiger Erzieher von Friedrich Hansen-Löve, einem der begabtesten jungen Intellektuellen Wiens, der später durch seine Beiträge in literarischen und philosophischen Diskussionen in der Zeitschrift Wort und Wahrheit wie auch durch seine Beiträge im Österreichischen Fernsehen eine wichtige Rolle im geistigen Leben der Zweiten Republik spielen sollte. Page 356
Obwohl Hänsel den verschiedensten Organisationen angehörte, war er doch von Anfang an ein »einsamer Wolf« in den philosophischen Kreisen Wiens; er fand keine gleichgesinnten Freunde unter den Wiener Philosophen, da keiner von ihnen eine ähnliche Position wie er vertrat. Der Grund dafür lag einerseits in seiner persönlichen philosophischen Position, andererseits in der damaligen Situation der Wiener Philosophie. Hänsels philosophisches Interesse galt insbesondere einer Pascalschen Vision der endlichen--und deshalb fehlbaren--menschlichen Natur, die mit einer unendlichen Wirklichkeit konfrontiert ist, die nur teilweise mit dem menschlichen Verstand erfaßt werden kann. Deshalb war Hänsels Form des Perspektivismus, sein Aspektivismus, wie er seine Position getreu seiner Grazer Herkunft nannte, im Grunde weder skeptisch noch relativistisch, sondern realistisch, ohne dabei irgendeiner Form von lähmendem Monismus verfallen zu sein. Hänsel war sofort bereit zu zeigen, daß diese Form von Perspektivismus durchwegs wissenschaftlich sei, ebenso wie in der modernen Physik von uns erwartet wird, das Licht unter beiden Aspekten, dem Aspekt der Wellen und dem der Quanten†6, zu betrachten. Page 356
In seiner Rezeption der zeitgenössischen Philosophie schätzte Hänsel demnach so unterschiedliche Denker wie seinen Mentor Alexius von Meinong, den religiösen Existentialisten Ferdinand Ebner, den Historiker Dilthey und seinen genialen Page Break 357
Freund Ludwig Wittgenstein. Dabei behauptete er aber nicht, daß diese Denker »alle dasselbe sagten«, oder daß deren Ansichten Teile eines einzigen kohärenten Systems sein könnten--so wie es die Verfechter der »philosophia perennis« taten. Tatsächlich waren keine Denker weiter voneinander entfernt als der gläubige Pascal und der heidnische Naturalist Goethe†7, denen Hänsel besonders zugetan war. Dies war eben Hänsels Art, sich mit der Pluralität zwingend sich widersprechender Positionen auseinanderzusetzen. Jede Position drückte einen Aspekt der Wirklichkeit aus, der erkannt werden mußte, wenn auch die Ansatzpunkte grundverschieden waren. Es ist nicht verwunderlich, daß das Denken des Nicolaus Cusanus, der in der Philosophie die Entdeckung letzter Wahrheiten in einem Zusammentreffen von Gegensätzen sah, das Zentrum von Hänsels christlichem Humanismus bildete. Tatsächlich stellte sich Cusanus' Position für Hänsel als eine völlig moderne dar (und nicht als eine mittelalterliche, wie sie oft gesehen wird), weil in ihr die Betonung auf intellektueller Spannung liegt. Page 357
Als christlicher Humanist war Hänsel jedoch kaum ein »Elfenbeinturm-Philosoph«. Seine Ansichten waren konkreter Art und wirkten sich auf seine Pädagogik aus. Da wir bestenfalls nur teilweise Einblick in die Wirklichkeit haben, sollten wir verpflichtet werden, unser Verständnis der uns zugänglichen Aspekte der Wirklichkeit in systematischer Weise zu verfolgen. Demnach sah Hänsel seine Aufgabe als Lehrer der Philosophie darin, in einer Art sokratischer Hebamme seine Schüler dazu zu ermutigen, ihre eigenen Gedanken, d.h. jene Aspekte der Wirklichkeit vorzubringen, die ihnen am klarsten waren. Gleichzeitig aber legte er ihnen die strengsten Maßstäbe an, wenn er auch nicht versuchte, ihnen seine Meinung aufzudrängen. Es ging ihm nicht so sehr darum, was seine Schüler dachten, als vielmehr darum, deren Spekulationen strengen Richtlinien zu unterwerfen. So war er deren philosophischen Ansätzen gegenüber sehr offen, so lange diese diszipliniert waren--strenge Disziplin war ein Hauptanliegen in Hänsels Begriff von Pädagogik. Aus diesem Grund verwarf er jede Art von Kinderpsychologie und »progressiver Erziehung«, selbst wenn es dabei darum ging, an körperlicher Züchtigung weiterhin festzuhalten. In gewisser Weise könnte man Hänsels Vorstellung von Erziehung mit Sir Karl Poppers Ansicht vergleichen, derzufolge Wissen auf der Grundlage von oft höchst ausgefallenen Annahmen erwächst, deren Wert auf der Grundlage von strengen Widerlegungsversuchen geprüft wird. Solche Prinzipien in fruchtbarer Weise anzuwenden, erforderte natürlich viel Geduld und Bescheidenheit auf seiten Hänsels. Diese Charaktereigenschaften waren es auch, die auf seine Schüler die größte Wirkung hinterließen. Ein Einzelfall stehe hier für mehrere andere: Page 357
Hänsels Karriere als Mentor für Studenten begann 1937, als er anläßlich eines Neuland-Treffens†8 die Bekanntschaft von Friedrich Hansen-Löve machte, eines hochbegabten, sehr frustrierten, jungen Mannes, der Kierkegaard-Forscher werden wollte. Da Hansen-Löve ein sehr eigenständiger Denker war, der ohne zu zögern
feststehende Meinungen angriff, war er bald bei den damals zwei bekanntesten Philosophen der Wiener Universität, Leo Gabriel und Erich Heintel, als »persona non grata« bekannt. Halbdänischer Herkunft und zweisprachig aufgewachsen, war es ganz natürlich, daß sich Hansen-Löve vom Denken Kierkegaards angezogen fühlte, der unter den jungen Intellektuellen Wiens der Philosoph war, zumal im damaligen Europa existentielle Fragen in zunehmendem Maße auf der Tagesordnung standen. Page Break 358
Hänsel, der von Hansen-Löves Hang zu kühnen Gedanken beeindruckt war, lud den gesprächsfreudigen jungen Mann bei sich zu Hause zum Essen ein, um mit ihm über verschiedenste Ideen zu diskutieren. Diese Zusammenkünfte fanden monatlich bis zum Ende des Krieges statt. Hansen-Löve hatte endlich einen Mentor gefunden und Hänsel einen Protegé, mit dem er seine Liebe zum Wissen teilen konnte. In den ausgedehnten, aber doch strukturierten monatlichen Treffen fand Hansen-Löve die intellektuelle Offenheit und Strenge, die er an der Universität vermißte. Eine besondere Freude war es für ihn, Zugang zu Hänsels einzigartiger, bis an mehrere tausend Bände reichende Sammlung von Werken über Theologie, Literatur und Philosophie zu haben--zumal Hänsel im Ausleihen von Büchern im allgemeinen nicht großzügig war. Dies sollte für ihn nach dem Anschluß wegen der Zensur der Nazis von unschätzbarer Wichtigkeit werden. Besonders viel bedeuteten Hänsel die Werke Pascals, die von Dostojewski, weiters die katholische Zeitschrift Hochland, deren Herausgeber, Karl Muth, Hänsel seinen geistigen Erzieher†9 nennt, und vor allem die Werke Kierkegaards, die Hänsel in den Übersetzungen von Theodor Haecker und Christoph Schrempf besaß. Gegen Ende des Krieges waren Hansen-Löves Kenntnisse über Kierkegaard derart umfassend, daß er eine gemeinsame Übersetzung mit Haecker ins Auge faßte, die aber letztlich an Haeckers Tod im April 1945 scheiterte. Page 358
In seinen Diskussionen mit Hansen-Löve erwähnte Hänsel häufig seinen Mentor Meinong und den Augustinus der Confessiones, seit jeher Vorbild der christlichen Humanisten. Fragen über das Wesen des katholischen Glaubens wurden folglich besonders häufig diskutiert. Dabei erwies sich Hänsel stets als einer, dem es darum ging, seinen Glauben zu vertiefen, doch ohne sich dabei im geringsten an den »Progressivismus« des »renouveau catholique« anzuschließen, der sich damals über Europa verbreitete. Doch auch der klerikale Konservatismus der sogenannten Austro-Faschisten übte keinerlei Anziehung auf ihn aus. Page 358
Nach dem Krieg begann Hansen-Löve seine Karriere als Journalist. In seiner neuen Stellung fand er keine Zeit mehr, die Gespräche mit Hänsel fortzusetzen, die sein Denken so entscheidend geprägt hatten. Page 358
Es bleibt ungewiß, inwieweit die Zusammenkünfte mit Hansen-Löve für Hänsels Begegnungen mit Philosophiestudenten an der Universität nach dem Krieg »vorbereitend« waren, doch eines ist sicher, nämlich daß Hänsel und Hansen-Löve sich gegenseitig gleichermaßen schätzten. Page 358
Seltsamerweise kann sich keiner der Teilnehmer der Seminare, die Hänsel unter der Schirmherrschaft des »Österreichischen Colleges« der »Wiener Collegegemeinschaft« organisierte, daran erinnern, wann diese Treffen begannen oder wann sie aufhörten. Die Gründe dafür mögen zum einen darin liegen, daß die Mitglieder der Gruppe ständig wechselten, zum anderen darin, daß es sich dabei nicht um einen offiziellen Kurs an der Universität handelte†10. Wie im Falle Hansen-Löve, waren Hänsels Aktivitäten im Rahmen der österreichischen Collegegemeinschaft ein Versuch, das auszugleichen, was von der akademischen Philosophie Wiens auf die eine oder andere Weise vernachlässigt wurde. In diesem Sinne las und diskutierte er mit seinen Studenten die empirische Erkenntnistheorie John Lockes, um ihnen mit einer soliden Grundausbildung zu einem Verständnis der Probleme und Positionen von analytischen Philosophen und Phänomenologen zu verhelfen. Diese Tatsache ist aus Page Break 359
zweierlei Gründen interessant: erstens, weil analytische Philosophen und Phänomenologen sich damals im allgemeinen als bittere Feinde betrachteten; zweitens, weil Hänsels Interesse für die englische Philosophie charakteristisch für das philosophische Erbe ist, das er in Graz von Meinong†11 erhalten hatte. Diese zwei Gründe hängen zusammen, da Meinongs Werk auf beide Traditionen von Einfluß war. Wir bekommen dabei auch einen flüchtigen Einblick in Hänsels Vorstellung von philosophischer Tiefe, die sich darin äußerte, stets den Hintergrund, aus dem sich eine philosophische Position entwickelt hat, zu untersuchen. In diesem Zusammenhang sollte erwähnt werden, daß Hänsel versuchte, Wittgensteins Tractatus in seiner Gruppe zu diskutieren, dabei jedoch feststellte, daß den Teilnehmern der nötige Hintergrund an analytischer Philosophie fehlte, um Wittgensteins Gedanken zu folgen. Page 359
Franz Brentano, Meinong, Descartes, Hegel†12, Kant und Thomas von Aquin waren einige weitere Denker,
die in der Gruppe diskutiert wurden. Hänsel interessierte sich insbesondere für Meinongs Werttheorie, nach der Werte kognitiv und deshalb objektiv interpretiert werden. Es sei erwähnt, daß in Kants Erkenntnistheorie Hänsel am meisten die Antinomien interessierten, die entstehen, wenn Philosophen danach streben, einen systematischen, vollständigen Bericht über das Wesen der Wirklichkeit zu geben. Dies ist nämlich der Punkt, wo Kant Pascal†13--den Hänsel so verehrte--am nächsten kommt. Von Thomas von Aquin las Hänsel die questiones disputate de veritatae, die Schrift, die unter Thomas' Werken einer Abhandlung über Erkenntnistheorie am nächsten kommt. Diese Schrift ist weiters wegen ihrer Ähnlichkeiten wie auch Unterschiede zu Lockes Empirismus erwähnenswert, d.h. sie vertritt eine realistische Erkenntnistheorie, ohne jedoch die Erkenntnis auf bloße Sinnesdaten zu reduzieren, wie Locke es versuchte. Page 359
Hänsels Studenten, von denen heute viele Philosophieprofessoren sind, betonen Hänsels besondere Qualitäten als Lehrer. Die aufgeschlossene, aber disziplinierte Art und Weise, in der er seine Studenten mit den großen Denkern der Vergangenheit bekannt machte, gab ihnen die Möglichkeit zur intellektuellen Selbstentdeckung. Alle seine Schüler betrachten ihre Begegnung mit Hänsel rückblickend als einen ausgesprochen wertvollen Teil ihrer geistigen Erziehung. Entsprechend den Werten des christlichen Humanismus, sah Hänsel seine Aufgabe als Lehrer darin, den Charakter im humanistischen Sinne zu formen--durch eine strukturierte Auseinandersetzung mit den Klassikern der Philosophie. Was er ihnen vermittelte, war aber nicht so sehr etwas, woran sie sich halten konnten, als vielmehr die Kraft, für sich selbst und ihre Meinung gerade zu stehen. Page 359
Man braucht nur einen flüchtigen Blick in den ersten Aufsatz von Begegnungen und Auseinandersetzungen--Blaise Pascal--zu werfen, um zu erkennen, daß sein Autor in allererster Linie ein Lehrer und weniger ein Philosoph war. Der Aufsatz ist mehr expositorisch als analytisch aufgebaut; er besteht aus fünf Teilen, die wiederum unterteilt sind--Das Phänomen Pascal, Der Mensch Pascal, Der Denker Pascal, Verantwortung für Pascal und Der betende Betrachter Pascal. Der erfahrene Leser erkennt hinter dem Aufbau des Aufsatzes sofort den Humanisten--der biographische Teil kommt vor dem philosophischen--und Pädagogen Hänsel. Ein Philosoph in der Art eines Wittgenstein oder, in diesem Falle auch Heidegger, würde sich in der Mitte auf eine These stürzen, um darin enthaltene wichtige Erkenntnisse Page Break 360
auszusprechen oder Behauptungen und Ansichten in Frage zu stellen. Er würde weniger an der Person des Autors interessiert sein, es sei denn, persönliche Erfahrungen des Denkers oder die ihn umgebende historische Situation wären auf die These von Einfluß gewesen. Anders Hänsel. Ganz der erfahrene Lehrer, führt er auf genaueste Weise aus, warum Pascal interessant sei. Dann schreibt er über dessen Herkunft und Entwicklung und schließlich stellt er die Hauptgedanken Pascals ausführlich dar. In der Folge erörtert er das Verhältnis zwischen Humanismus und Religion im Denken Pascals und zum Schluß unterstreicht er die philosophische Bedeutung der Religiosität Pascals. Hänsels Aufsatz ist klar, informativ und überzeugend, doch es bleibt eher ein Aufsatz über Pascal als eine Auseinandersetzung mit der Pascalschen Philosophie. Kurz gesagt, es ist ein Aufsatz, den Pascal selbst nie geschrieben haben könnte. Trotzdem regt uns Hänsel mit seinem Aufsatz zum Nachdenken darüber an, warum wir Pascal heutzutage ernst nehmen sollten. Page 360
Es wäre unklug, die Unterscheidung zwischen einem Philosophen und einem philosophischen Pädagogen zu weit zu treiben. Doch gäbe es viel darüber zu sagen, weshalb Hänsel im Gegensatz zu seinem mehr analytisch orientierten Freund Wittgenstein ein Pädagoge blieb. Dies soll jedoch keineswegs eine Herabsetzung Hänsels bedeuten, sondern vielmehr eine Betonung jener Qualitäten, die seine Studenten an ihm am meisten schätzten. So wie Wittgenstein nach einer Klarheit strebte, durch die ein so tiefes Verständnis erreicht werden sollte, daß wir keinerlei Wunsch mehr verspüren, philosophische Fragen zu stellen, so strebte Hänsel nach einer Klarheit der Darstellung, die seine Leser dazu führen sollte, sich mit Pascal auseinanderzusetzen und so weit zu kommen, um dessen Herausforderung an herkömmlichem Wissen zu begreifen. Hänsel erzeugte keine Revolution in der Philosophie wie Wittgenstein, aber er wies einer kleinen Gruppe von Wiener Philosophiestudenten den Weg zum eigenständigen Denken und war ihnen ein Vorbild an intellektueller Redlichkeit, an dem sie sich selbst messen konnten. Daß Hänsels intellektuelle Integrität für alle seine Studenten ein Vorbild blieb, von dem sie heute noch in Verehrung sprechen, beweist seinen Erfolg. Aus dem Englischen von Ilse Somavilla Page Break 361 Page Break 362
Ludwig Hänsels Beziehungen zum Brenner von Walter Methlagl Page 362
Den Zeitgenossen Ludwig Hänsel allein auf seine Freundschaft mit Wittgenstein und sein gutes Verhältnis zu dessen Familie zu fixieren, ergäbe ein einseitiges Bild--von Hänsel und von Wittgenstein. Aufgeschlossensein nach zugleich vielen Seiten gehört zu Hänsels Charakterbild. Wieviel er mit dem Brenner und mit dessen Herausgeber, Ludwig von Ficker, sowie mit dessen Mitarbeitern und mit gemeinsamen Bezugsfiguren zu tun hatte, macht staunen. Page 362
Da ist das Foto†1, »ein Gruß aus der Zeit um 1900/1901: In der zweiten Reihe sitzt als dritter von links--mit sehr lustigem Gesicht über einem Bierkrügel--der kleine Georg Trakl; und als dritter von rechts der kleine Hänsel.«†2 Im Gymnasium in Salzburg haben die beiden sechs Jahre lang dieselbe Klasse besucht. Ein vielleicht frappantes Detail, das allerdings sein Beiläufiges verliert, erfährt man, daß Hänsel der erste war, der versucht hat, Georg Trakls Dichtung nach dem frühen Tod des Dichters insgesamt einer systematischen Analyse zu unterwerfen. Äußerungen von Freunden hat es zu Persönlichkeit und Werk damals ja schon einige gegeben, wenngleich sie weltkriegsbedingt kaum zugänglich waren. Einzig eine Untersuchung von Oskar Walzel über das lyrische Ich in Trakls Werk lag noch vor Hänsels Versuch.†3 Erwin Mahrholdt, der erste wissenschaftliche Monograph Trakls, hatte damals seine Arbeit noch nicht begonnen. Er führte schließlich das aus, was Hänsel offenbar schon 1920 als Desiderat erkannt hatte, als er an der Wiener Urania unter dem Titel Deutsche Lyrik seit Goethe sechs Vorträge hielt, von denen der letzte Georg Trakl gewidmet war, wobei auffällt, daß alle anderen: Hölderlin, Novalis, Eichendorff, Lenau, Mörike, C. F. Meyer, Droste, Liliencron, Dehmel, Hofmannsthal, Rilke in irgendeiner Schaffensphase zum deutschsprachigen »Einzugsgebiet« der Traklschen Lyrik gehörten.--Der erste Impuls zu dieser näheren Befassung war--abgesehen von ökonomischen Nötigungen--bestimmt volksbildnerisch getragen, und ebenfalls aus pädagogischem Antrieb versuchte Hänsel im Schuljahr 1922/23, Schülern der 6. und 7. Klasse der Realschule Wien X in einem Vortrag Trakl nahezubringen, »eine schwierige Sache, aber nicht durchaus unsinnig«, weil Realschüler »für Lyrik überhaupt wenig zu haben«, dafür aber auch »lyrisch weniger verdorben« seien.†4 Ein bißchen klingt hier Wittgensteins Denken in Reduktionen durch, auch wenn er folgendes schreibt: Die Dunkelheit gehört mit zum Eigentümlichen dieser Dichtung. Ich meine, daß wenige mit solcher Reinheit, so sehr ohne nachträgliches gedankliches Einspinnen, das, was in ihnen aufgestiegen ist, haben schauen und sagen können, wie er. Und dieses Individuelle muß unerklärbar bleiben.†5 Page Break 363
Oder wenn er weiter schreibt: In seiner Dichtung sind Hieroglyphen zu Buchstaben geworden, diese müssen aber dem Leser wieder als Hieroglyphen bewußt werden, wenn ihm der Sinn der Dichtung, so gut es geht, aufleuchten soll.†6 Page 363
Dies alles steht zu Wittgensteins Äußerungen über die Nicht-Verstehbarkeit von Trakls Lyrik und von Lyrik überhaupt†7 in einem unverkennbaren Nahverhältnis. Freilich hat Wittgenstein sich auf seine lapidaren Äußerungen beschränkt, während Hänsel--darin liegt Eigenständigkeit, hatte er doch gerade damals regelmäßig und intensiv Umgang mit Wittgenstein--den Diskurs über Lyrik fortsetzte: Auch der Leser, der nicht aus Fürwitz zu der Dichtung greift, wird um eine Hilfe da, einen Wink dort froh sein. Ist der Kommentar mit Ehrfurcht und mit der nötigen Einsicht zusammengestellt, so hat es keine Gefahr [...].†8 Page 363
Er hielt Trakls Dichtung--so wie ausdrücklich die von Dante--auf der Ebene der Motive für kommentierbar und plädierte dafür, »für die Dichtungen Trakls schon jetzt zusammenzutragen, was für deren Deutung von Wert ist. Es leben jetzt noch die Menschen, die Worte von ihm wissen und die die Bedeutung mancher Symbole kennen dürften, die sonst schwer zu erraten ist [...].«†9 Er wollte damit ganz und gar nicht Trakls Lyrik zu einem auflösbaren Rätsel und ihre Lektüre zur »Pedanterie« degradieren:
Ich bin allerdings schon jetzt überzeugt, daß auch die gutwilligsten Beiträge von Trakls Freunden nicht alle Dunkelheiten lichten werden. Das muß auch nicht sein.†10 Page 363
Ficker ging denn auch auf seine Wünsche willig ein, und wir erkennen Hänsel als einen frühen Promotor der Erinnerung an Georg Trakl, die Ficker mit allen damals erreichbaren Zeugnissen der Freunde 1926 im Brenner-Verlag herausgab. Vorerst gab er Hänsel einige Auskünfte zum besseren Verständnis der Gedichte An den Knaben Elis und Abendländisches Lied. Diesem ist der erste engagierte Interpretationsversuch Ludwig Hänsels gewidmet, der alle auch heute noch relevanten Deutungsvarianten der vielumstrittenen Schlußverse berücksichtigt. Aber strahlend heben die silbernen Lider die Liebenden: Ein Geschlecht. Weihrauch strömt von rosigen Kissen und der süße Gesang der Auferstandenen.†11 Page 363
Bei Motivanalyse, Kommentierungsfragen, allgemein ästhetischen Reflexionen ist es nicht geblieben, auch die Textgenese als Interpretationshilfe hat Hänsel damals schon in ihrer Bedeutung vorausgesehen: Die Varianten seiner Dichtungen [...] würden sicher an sich sehr viel zum Verständnis seiner Dichtungen (und seiner Dichtungsart) beitragen, Page Break 364
besonders jene breiteren Entwürfe, von denen nur die komprimierte Form zum Druck gelangt ist.†12 Page 364
Damit ist das Feld der künftigen wissenschaftlichen Befassung mit Trakl in weiten Teilen abgesteckt.--Seine Auseinandersetzung mit dieser Lyrik ging auf Fickers Aufruf Für Georg Trakls Grab im Brenner vom Herbst 1922†13 zurück. Hänsel kam ihm mit einer Sammlung an seiner Schule nach. Ging es doch um das ferne Grab des einstigen Schulkameraden. Aus dem Spendennachweis†14 geht hervor, daß mit 240.000 Kronen die Schule im Spitzenfeld der österreichischen Beiträger lag, übertroffen von ganz wenigen anderen, etwa Karl Kraus, der aus dem Ertrag eines Nestroy-Zyklus 300.000 Kronen überwies. Page 364
Seit dem Wiedererscheinen im Oktober 1919 bezog Hänsel den Brenner regelmäßig, und nach eigenem Bekenntnis war er von dessen Geist in seiner Jugend »ergriffen, erschüttert, gestärkt« worden.†15 Zum Teil las er ihn gemeinsam mit Wittgenstein, ob dieser die Hefte nun direkt von Ficker zugesandt oder von Hänsel geliehen erhielt.†16 Die Diskussion in der Zeitschrift bewegt sich damals leitmotivisch um Gestalten, die teilweise schon seit ihrer gemeinsamen Kriegsgefangenschaft in den Gesprächen Hänsels und Wittgensteins zentral waren. Augustinus, Pascal, Kierkegaard, lautet etwa der Titel eines Essays von Carl Dallago vom April 1921†17, in dem vorausgegangene Diskussionen resümiert sind. Vor allem durch die Erstübersetzungen aus dem Werk Sören Kierkegaards dürften die beiden sich angesprochen gefühlt haben, und daß zwischen ihnen Dostojewskis Brief an Gradowsky vom Jahre 1880 erörtert wurde, den Ficker unter dem Titel Über persönliche Vervollkommnung im religiösen Geiste im Herbst 1919 auszugsweise abdruckte†18, läßt erkennen, daß Wittgenstein mit seiner »Russophilie« keineswegs allein dastand, sondern eine Vorliebe teilte, der ein Teil der jungen Intelligenz von der Vorkriegszeit her noch huldigte. Trakl war ihr glühend erlegen gewesen, im Brenner hatte sie eine bevorzugte Verbreitungsstätte. Im genannten Brief widersetzt sich Dostojewski der Übernahme bürgerlicher Ideale und gesellschaftlicher Einrichtungen aus dem »Ameisenbau ohne Kirche und ohne Christus«, Europa, in Rußland. Europa sei am Vorabend seines Falles angelangt, zwei Kriege sind in dem Brief vorausgesagt. Ohne europäische Vormundschaft werde Rußland sich mit seinen eigenen sozialen Ideen befassen, »die unbedingt in Christus und der Idee der persönlichen Vervollkommnung wurzeln«.†19 Page 364
Im Gegensatz zu Hänsel, der im Grunde zeitlebens »ein Mann des Brenner« geblieben ist, wollte Wittgenstein mit der Linie der Zeitschrift bald nichts mehr zu tun haben. Für ihn wurde sie--als eine »christliche Zeitschrift«, wie er sie nannte »eine Schmockerei«.†20 Einen »Unsinn« nannte er den Brenner wohl deshalb, weil seiner Ansicht nach darin Religiöses in einer Art ausgesprochen war, wie man es in der Konsequenz seines eigenen Denkens sinnvoll nicht tun konnte. * Page 364
Hänsels Aufsatz zum sechzigsten Geburtstag von Karl Kraus führte in den ersten Wochen des Jahres 1935 zwischen ihm und Ficker zu einer grundlegenden Verständigung über ihr jeweiliges Verhältnis zum alternden Satiriker. In aller Knappheit Page Break 365
macht Hänsel die damals nach wie vor unüberwindlich scheinenden Schwierigkeiten deutlich, ein solches Verhältnis zu gestalten, ohne daß es in unerwünschte Gefolgschaft oder in deren Gegenteil ausartete--in Apostasie; oder--noch schlimmer--in eine Gefolgschaft aus apostatischer Gesinnung, also, wie Hänsel sagt, in eine Anhängerschaft, »die sich bewundernd an ihn herandrängt, die in das Schweigen der andern sein Lob in jenem falschen Ton hineinschreit, den gerade er unmöglich gemacht hat«.†21 Mit dem »Schweigen der andern« meint er in erster Linie das Schweigen Ludwig von Fickers, der sich--ein engster Freund von Kraus--geweigert hatte, sich an einer Festschrift für den Jubilar zu beteiligen oder gar bei einer Feier als Festredner aufzutreten, an einer »Gespenstergratulationscour nach einem [nicht zuletzt von Kraus selbst] außer Kurs gesetzten Geburtstagszeremoniell« mitzuwirken.†22 Es ist schon nicht leicht, ihm standzuhalten (ohne ihm zu verfallen oder ihn zu verwerfen), es ist wahrhaftig nicht leicht, ihm gerecht zu werden. [...] Immer wieder ist er ein anderer und doch eine Einheit, die man bewundert und liebt, auch wo man widerspricht und zweifelt.†23 So wenig selbstzufrieden, wenn auch nicht gerade resignierend faßt Hänsel seine Würdigung zusammen, mit der er es sich wirklich nicht leicht gemacht hat. Eben deshalb hielt Ficker sie für glaubwürdig, wie übrigens auch Kraus selbst, der »insofern« seine Zufriedenheit mitteilen ließ, »als er darin eine offene Anerkennung findet, ohne Lobhudelei,--was ihm lieber sei als verhimmelnde Gefolgschaft«.†24 Page 365
Konsequent widersetzte sich Hänsel auch einem Vorschlag »aus der Umgebung von K. K.«, das Hochland-Heft, in dem der Aufsatz erschienen war, anonym an den Bundeskanzler Schuschnigg zu schicken. Aus mehreren Gründen hätte sich das empfohlen: als Warnung an die Regierung, sich auf kulturelle Kreise zu sehr einzulassen, die nach der Ermordung von Dollfuß sichtlich an Einfluß gewannen: Page 365
»Es sind«--und damit war vor allem Franz Werfel mit seinem Anhang gemeint »abgesehen von ausgesprochenen Dienern der Phrase, zumeist pathetische Dichter, denen das Pathos zum Gerüst oder zur Draperie geworden ist.«†25 Page 365
Und zum anderen als Hinweis darauf, daß diese Regierung besser daran täte, sich an Kraus zu orientieren. Denn »bei der letzten Wendung der Dinge« (Bürgerkrieg), bei der die Sozialisten »ihren Augenblick versäumt, ihre Möglichkeiten schmählich vertan« hätten, sei Kraus »für die Konservativen, für die Katholiken in Österreich eingetreten, bei denen er, zurzeit, noch am ehesten gesichert sieht, was am meisten nottut, Menschlichkeit«, »einen Schimmer von Ordnung, in der es sich leben ließe«.†26 Schon wegen der »Hinterhältigkeit des Vorgehens« verbot sich Hänsel, so entschieden er hinter seinen Äußerungen stand, einen solchen Schritt: Ich kann mich nicht in den Dienst dieser Tendenzen stellen, selbst nicht, wenn sie von K. K. selber kommen.†27 Diese Ansicht teilte Ficker mit ihm in der Hoffnung, daß der Aufsatz, »dieser wichtige Beitrag zur Würdigung des oesterreichischen Geisteslebens« nicht ganz unbeachtet und ohne heimliche Wirkung bleiben könne.†28 Page Break 366 Page 366
Bei aller Hochschätzung und Liebe, die Hänsel und Ficker ohne allen Zweifel und in vollem Einverständnis Kraus entgegenbrachten, endete ihr diesbezüglicher Gedankenaustausch doch mit einem Resultat, das ihrer beider Zurückhaltung vor dem »Gottseibeiuns« tief in ihrer Weltanschauung fundiert erscheinen läßt, einer in wichtigen Aspekten zunehmend gemeinsam erlebten Weltanschauung. Angesichts der bedrohlichen politischen Situation, die weder für den einen noch für den andern ohne religiöse Prämissen angemessen beurteilt werden konnte (obwohl keiner von ihnen sich mit den Ambitionen der Kirche, zur maßgeblichen politischen Ordnungsmacht zu werden, identifizierte), hielten sie den Standpunkt von Karl Kraus für geistig nicht mehr haltbar, den Weg, auf dem sich die Freiheit der Satire und die persönliche Unabhängigkeit dieses »Tragödianten der Wahrheit« (Ficker) bewegte, für eine Sackgasse. Ficker--offenbar in Zusammenfassung schmerzlicher Abgrenzungsprozesse, die er in sich schon seit Jahren ausgetragen hatte,--beschrieb sie Hänsel gegenüber folgendermaßen: Er ahnt den Einbruch des neuen in sein altes Testament, aber er mißtraut der Wahrheit, die vor ihm aufdämmert, wie einem Dieb in der Nacht, der sich vor seinem Spürsinn zurückzieht. Daher das Ratlose seiner Haltung und ihr Schleierhaftes bei offenem Visier. Daher sein Deckungsuchen
hinter Vorwänden vor jedem Anspruch der Wahrheit, den er selbst nicht zu beantworten vermag.†29 -- »Wie einsam er in seiner geistigen Stellung ist, haben Sie in Ihrem Brief sehr richtig formuliert«, schreibt dazu Hänsel.†30 * Page 366
Das Wörtchen »einsam« ist verräterisch. Es verweist auf die weltanschauliche Perspektive im besonderen, unter der Ficker und Hänsel über Kraus dachten und sprachen: Es ist die Perspektive der dialogischen Aufgeschlossenheit des »Ich« gegenüber dem »Du« (--Ficker spricht dieses mit dem Bild vom »Dieb in der Nacht« an, mit dem Jesus das Kommen »des Himmelreichs« umschreibt--). In den zwanziger Jahren hatte Ferdinand Ebner im Brenner diese Perspektive als die maßgebliche Voraussetzung einer geistigen Neuorientierung genannt. Nur drei Jahre nach seinem Kraus-Aufsatz und sechs Jahre nach Ebners Tod (1931) hat Hänsel seinen ersten Aufsatz über Ebner verfaßt. Schon Ebner selbst und später auch Ficker hatten den satirischen Standpunkt von Kraus als einen exemplarischen Fall von »Icheinsamkeit« diagnostiziert†31, unbeschadet des Umstands, daß es ein ästhetisch und ethisch fundierter Standpunkt war, der sich zur Sphäre des Religiösen vielleicht tatsächlich so verhielt, wie Ficker es oben geschildert hat. Schließlich ist ja auch Hänsels Kraus-Aufsatz die Beschreibung einer im letzten total einsamen, nur wider Willen ansprechbaren, nur »trotzdem« zu liebenden Geistesexistenz. Page 366
Nach dem Zweiten Weltkrieg standen Hänsels Beziehungen zum Brenner und zu Ludwig von Ficker ganz im Zeichen dieser Ebnerschen Perspektive. Unter dieser Rücksicht vertieften sich diese Beziehungen noch einmal ganz entscheidend. 1950 gründete Hänsel gemeinsam mit Ebners Sohn eine »Ferdinand-Ebner-Gesellschaft«, Page Break 367
ein gedruckter Aufruf ist von Ficker und Hänsel gemeinsam unterschrieben. Bei der Gründungsversammlung am 18. März 1950 wurde Hänsel zum Vorsitzenden gewählt und auf seinen Vorschlag die Vorbereitung einer fünfbändigen Ebner-Ausgabe beschlossen. Tags darauf hielt Ficker anläßlich einer Fest-Akademie in Gablitz, wo Ebner als Lehrer tätig gewesen war, die Festrede, die er dann als Erinnerung an Ferdinand Ebner gemeinsam mit einer Rede Am Grabe Carl Dallagos und den Aufsätzen Rilke und der unbekannte Freund und Das Vermächtnis Georg Trakls in der achtzehnten und letzten Folge des Brenner veröffentlichte.--Einen Monat danach, am 21. April 1950, veranstaltete die Gesellschaft einen literarischen Abend zum Anlaß von Fickers siebzigstem Geburtstag. Hänsel hielt dabei eine Vorlesung, deren Inhalt im wesentlichen dem hier abgedruckten Furche-Aufsatz über den Brenner entspricht.†32 Page 367
Der erste Band der Ebner-Gesamtausgabe erschien 1952. Als Herausgeber zeichnen Hänsel und der Theologe und Universitätsprofessor Michael Pfliegler. Erscheinungsort des Bandes war die »Thomas-Morus-Presse« des Herder-Verlags in Wien, vom damaligen Mitherausgeber der Zeitschrift Wort und Wahrheit, Konsistorialrat Dr. Otto Mauer, dem einflußreichen Förderer bildender Künstler in Österreich, verantwortlich geleitet. Dieses publizistische Unternehmen konzentrierte sich ehrgeizig auf die Verbreitung hochqualifizierter Literatur (auch Philosophie, Theologie) mit religiösem Anspruch. 1949 war dort schon ein Band mit Tagebüchern und Aphorismen Ebners erschienen: Das Wort ist der Weg (hrsg. v. Hildegard Jone), dem Hänsel seinen zweiten Ebner-Aufsatz†33 gewidmet hat. Die Wege, um Ebners Werk der Verschollenheit zu entreißen, schienen unwiderruflich gebahnt. Doch trügte der Schein. Die weitere Edition der Gesamtausgabe, von der sich Hänsel gerade an dieser von ihm bevorzugten Erscheinungsstätte viel versprach, kam über den Umbruch des zweiten Bandes nicht hinaus. Grund hiefür war die Verweigerung der kirchlichen Druckerlaubnis durch die Wiener Zensurbehörde. »Totus quantus« sprach sich der Zensor gegen die Veröffentlichung der Brenner-Aufsätze Die Christusfrage und Das Ärgernis der Repräsentation und somit des ganzen Bandes aus. Zwischen Wien und dem Hl. Officium in Rom wurde der Fall Jahre hindurch wie eine heiße Kartoffel hin und hergereicht. Vergeblich suchten Hänsel und Pfliegler die kirchliche Obrigkeit und damit befaßte Theologen davon zu überzeugen, daß Ebner »mit allen Unausgeglichenheiten, Einseitigkeiten und Gegengefühlen in den Raum der katholischen Kirche« gehöre. Der dritte von Hänsels Ebner-Aufsätzen†34 ist direkt an die Wiener erzbischöfliche Kanzlei adressiert, Pfliegler veröffentliche--ohne Ebnerschen Text--sein Vorwort zum geplanten zweiten Band unter dem Titel Ferdinand Ebners Glaubensposition eben in der Thomas-Morus-Presse: Die Glaubensentscheidung Ferdinand Ebners fiel in einer persönlichen Einmaligkeit, für die ich selber keine Parallele weiß, und der Hergang liegt dementsprechend jenseits aller fundamentaltheologischen Mutmaßungen und Vorfragen.
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So heißt es bei Pfliegler einleitend. Aber eben mit solchen Äußerungen sahen sich Hänsel und Pfliegler zu ihrer eigenen großen Überraschung in eine der »Häresie« benachbarte Ecke gedrängt, sie bekamen den Anspruch einer Kirche zu spüren, die Page Break 368
nach dem Krieg in vakant gewordene gesellschaftliche Territorien einrückte und ihrer Macht durch Demonstrationen kollektiven Bekenntnisses Nachdruck verlieh. Nach dem Tode des Kardinals Theodor Innitzer zeigte sich der neue Erzbischof Dr. Franz König in der causa Ebner kooperativ, wollte jedoch angesichts des Druckes von Rom her das »Imprimatur« nicht ohne nochmalige theologische Begutachtung erteilen. Da diese nicht eindeutig positiv ausfiel, zogen sich schließlich der Herder-Verlag und die Thomas-Morus-Presse aus dem Editions-Unternehmen zurück--vor allem aus Geschäftsrücksichten, da kirchliche Daueraufträge an Herder, wie etwa der Vertrieb des Deutschen Meßbuchs (Schott) infragegestellt worden wären. Pfliegler sah sich als Angehöriger des Klerus an das Verdikt gebunden und schied gleichfalls aus, Hänsel folgte ihm, nachdem er zuvor noch nach anderen Verlagen Ausschau gehalten hatte. Er hat in dieser für das geistige Leben in Österreich beschämenden Angelegenheit zwar nie die ihm eigene Selbstkontrolle verloren, aus einer »Erklärung«, die er dazu 1952 abgegeben hat, ist dennoch der »heilige Zorn« zu erspüren, der ihn damals erfaßt hatte: Die Situation Ferdinand Ebners läßt sich mit der Pascals vergleichen. Sie sind beide »spiritualistisch« eingestellt und haben beide die offizielle Theologie ihrer Tage angegriffen. Sie waren beide im Herzen Katholiken und im Leben bessere Christen als vielleicht wir alle. Um Pascal bemühen sich jetzt katholische Schriftsteller (darunter auch Jesuiten), d.h. man erkennt jetzt die katholische (nicht-jansenistische) Grundlage auch seines Denkens. Siehe Etienne Gilson, Der Geist der mittelalterlichen Philosophie (Thomas-Morus-Presse). Ferdinand Ebner scheint man ein ähnliches Schicksal bereiten zu wollen. Weniger freilich aus Feindschaft, als aus Ängstlichkeit. Man will offenbar erst abwarten, wie er außerhalb der (offiziellen) Kirche aufgenommen werde. Wird er eine anerkannte Größe, so kann man ihn immer noch für sich reklamieren. Das ist aber weder recht noch schön. Ich glaube als guter Katholik zu handeln, wenn ich für ihn schon jetzt eintrete und sollte es sein müssen--mich auch außerhalb des katholischen Buchhandels um die Veröffentlichung seiner Werke bemühe.†35 Die offizielle kirchliche Reaktion hat Ebners Ansehen nachhaltig geschadet. Sein weit ausgreifender Denkansatz ist dadurch auf eine engräumige theologische Debatte hin fixiert worden; vor dem laienhaften Publikum ist er zum »christlichen« Erbauungsschriftsteller abgestempelt worden, noch dazu ohne kirchliche Sanktion; der kulturgeschichtliche Facettenreichtum seines Oeuvres kam daneben buchstäblich nicht mehr zur Geltung. Den Philosophen ein Narr, den Theologen ein Ärgernis... * Page 368
Dies alles gehört zum Kontext dessen, was sich in Wittgensteins letzter Lebenszeit zwischen Hänsel und Wittgenstein und nach dessen Tod (29.4.1951) zwischen Hänsel und Ficker zugetragen hat. In seinem Nachwort Zur Herkunft der Literaturbezüge im ersten Band der Ebner-Ausgabe und in seinen Aufsätzen zeigt Hänsel, daß er Page Break 369
auch Ebner gegenüber trotz allem Einsatz eine differenzierende Distanz zu wahren wußte: Ebner ist erfüllt (oder doch stark beeinflußt) von den Ressentiments der geistigen Sphäre, in der er sich entwickelt hat. Es ist die Geistigkeit des, könnte man sagen, schopenhauerischen Wien von Weininger, Karl Kraus und den Schriftstellern des »Brenner« [gemeint sind hier Carl Dallago und Georg Trakl]. Auch in Kierkegaards und Pascals Gedanken steckte genug Menschenpessimismus. Als Gegengewicht wirkte wohl Hamann.†36 Page 369
Gegen diese Haltung des Ressentiments versucht Hänsel die ausgleichende Funktion solider philosophischer Ansätze zu rechtfertigen. Zwar räumte er ein, daß Ebners rigoroser Standpunkt keine »lose abschwächenden theologischen Deutungen« vertrug. Ebners Eifer gegen alle Philosophie hätte jedoch konsequenterweise seinem eigenen Denken den Boden entzogen: Sprache ist auch Darstellung, nicht bloß Anrede, und Sprache redet in Begriffen, durch die
Begriffe hindurch spricht in Wahrheit Person zu Person.†37 Page 369
Dieser Crux seines geschriebenen Werkes, des Mißverhältnisses zwischen einer Darstellung, die einem homogenen gedanklichen Verlauf Ausdruck zu geben hatte, und einer ins Auge gefaßten Realität, die sich, wenn überhaupt, sprachlich nur in Paradoxien fassen ließ, war sich Ebner selbst ja ausreichend bewußt gewesen. Die Aporie veranlaßte Hänsel dazu, in seinem ersten Ebner-Aufsatz eine »nachträgliche Bemerkung« einzufügen. Schon damals, als er die Begegnungen und Auseinandersetzungen zur Veröffentlichung vorbereitete, durchschaute er die damit durchaus vergleichbare Darstellungsproblematik Wittgensteins in dessen Tractatus: In dem Widerstreben Ebners gegen die Objektivität der Philosophie und gegen die Rede vom »Ich« in der dritten Person (»es«), lag aber wohl auch das methodologische Bedenken Wittgensteins von der »Unmöglichkeit«, der freilich noch zu diskutierenden Unmöglichkeit, das, was sich »zeigte«, in Worten »sagen« zu wollen.†38 Page 369
Die letzte von Hänsels zahlreichen Lektüre-Anregungen an Wittgenstein war die Übersendung des zweiten Bandes von Johann Georg Hamanns Sämtlichen Werken in der Ausgabe von Josef Nadler. Der Band war soeben in der Thomas-Morus-Presse in Wien erschienen. Führt man sich alle soeben angeführten Belege vor Augen, so bleibt über die hinter der Übersendung stehenden Absichten wenig Zweifel übrig, abgesehen davon, daß Hänsel dem Freund damit natürlich Freude machen wollte und auch machte. In diesem zweiten Band sind die meisten von Hamanns philologischen Schriften zusammengefaßt, die eigentlich das Sprachdenken des »Magus im Norden« ausmachen: die Sokratischen Denkwürdigkeiten, die Kreuzzüge eines Philologen, darunter die berühmte Ästetica in nuce, um nur einige zu nennen. Diese Schriften Hamanns gehörten also zu Wittgensteins letzter Lektüre überhaupt. Page 369
Was Wittgenstein zur Zeit dieser Lektüre und danach noch geschrieben hat--darunter Page Break 370
insbesondere Über Gewißheit--, scheint von Hamann unbeeindruckt. Keine Spur etwa von der Deutlichkeit des Goethe-Zitats: Im Anfang war die Tat.†39 Derartiges, so könnte man freilich sagen, hat es aber auch nicht mehr gebraucht. Denn trotz der Verschiedenheit des Diskurses im einzelnen und als Ganzes steht Über Gewißheit, stehen die Philosophischen Untersuchungen und etwa auch die in Zettel zusammengefaßten Bemerkungen in wichtigsten Aspekten konform zu Hamanns »Philologie«. Durch nichts könnte Wittgensteins Weg von der doch artifiziellen Sprachauffassung im Tractatus zu den im alltagssprachlichen Gebrauch basierenden Erläuterungen des Spätwerks besser beschrieben werden als durch eine Konfrontation mit Hamann.†40 Zu diesen wichtigsten Aspekten zählt etwa Wittgensteins Rückkehr zur gesprochenen Sprache, zur Rückversetzung des in Analyse »abgetöteten« einzelnen sprachlichen Zeichens in die Lebendigkeit des alltagssprachlichen Gebrauchs, in die »Aktualität des Gesprochenwerdens«, um einen sinngemäß dazu passenden Ausdruck Ebners zu verwenden. »Die Sprache ist nicht aus einem Raisonnement hervorgegangen«, heißt es in Über Gewißheit am 5. April, und : »Ich will eigentlich sagen, daß ein Sprachspiel nur möglich ist, wenn man sich auf etwas verläßt«, am 11. April. Wie Hamann in seiner scharfen Kant-Kritik, macht Wittgenstein die Scheidung von Sinnlichkeit und Verstand, von Sprache und Vernunft rückgängig, und er bestätigt an verschiedenen Stellen seine Konformität mit einem Satz, den Hamann 1784 in seiner gegen Kant gerichteten Metakritik über den Purismum der Vernunft formuliert hatte: Sprache kenne kein »ander Creditiv als Überlieferung und Usum«.†41 Es ist gar nicht nötig, daß Wittgenstein dieser Bezüge kulturgeschichtlich reflektierend gewahr wurde, als er den Band offenbar intensiv, wenn auch gegen Widerstände, las. Es muß ihm sozusagen von selbst eingegangen sein, daß die zahlreichen griechischen, lateinischen und hebräischen Zitate, mit denen Hamann den scheinbar verwirrenden Bilderreichtum seiner Sprache versetzte, ja zu nichts anderem dienten, als die von ihm selbst längst progagierte Sprache als ein durch die Geschichte sich tragendes Kontinuum symbolisch darzustellen: Die Migrationen der lebenden Sprachen geben uns Licht genug über die Eigenschaften, welche die todten mit Ihnen theilen und über das wandelbare Schema aller Sprachen überhaupt.†42 Page 370
Das hat Wittgenstein bei Hamann damals gelesen. Was ihm dabei »großartig und eindrucksvoll« vorkam, bleibe dahingestellt. Hänsels Absichten ergeben sich aus der vorliegenden Konstellation deutlich genug. Es liegt uns dasselbe Handlungsmuster vor wie damals, 1920, als er Wittgenstein durch den Cusanus-Dialog wichtige Aspekte am bereits abgeschlossenen Tractatus rückwirkend verdeutlichte. Diesmal hielt er dem Freund einen Spiegel vor,
der dessen späteres Werk betraf, den »Hamann-Spiegel«, der aber auch, wie wir wissen, ein »Ferdinand-Ebner-Spiegel« war. »Als Gegengewicht wirkte wohl Hamann«, hatte er im Zusammenhang mit Ebners Vorbelastung durch Pascal, Kierkegaard und Kraus geschrieben.†43 Als »Gegengewicht« sollte er wohl auch bei Wittgenstein wirken, den er zum Teil von denselben »Ressentiments« belastet wußte. Die Wiederentdeckung Hamanns, Wiedergutmachungsversuch des wegen seiner nationalsozialistischen Umtriebe gebrandmarkten Page Break 371
Nadler, und die Wiederentdeckung Ebners im selben Verlag stellten damals für Hänsel Teile ein und der selben »Aktion« dar. Auf welche Art etwa bei Wittgenstein, der in den zwanziger Jahren mit Ebner offenbar nichts hatte anfangen können, hiefür der Boden bereitet war, mag der letzte von dessen »Zetteln« aus dem Jahre 1949 erläutern: »Gott kannst du nicht mit einem Andern reden hören, sondern nur, wenn du der Angeredete bist.«--Das ist eine grammatische Bemerkung.†44 Page 371
Für den 3. Band ihrer Ebner-Ausgabe hatten Pfliegler und Hänsel die posthume Veröffentlichung einer Schrift von Ebner mit dem Titel Zur Grammatik der Existentialaussage vorgesehen, in der die von Wittgenstein hier getroffene Unterscheidung eingehend erörtert wird und, wenn auch nicht mit durchwegs tauglichen Mitteln, dessen diesbezügliches Sprachspiel vorwegnimmt.†45-Page 371
Am 6.5.1951 teilte Hänsel Ludwig von Ficker mit: Vor einigen Tagen bekam ich die telegraphische Nachricht, daß Ludwig Wittgenstein gestorben ist (am 29. April). Ein großer Verlust auch für mich.--Er hat von seiner Krankheit (Krebs) seit gut einem Jahr gewußt, auch von ihrer voraussichtlichen Dauer.†46 Page 371
In der Zeit bis zum Erscheinen von Fickers Wittgenstein-Aufsatz im letzten Brenner wurde Hänsel zu Fickers maßgeblichem Informanten über Wittgenstein--auch durch den Nachruf, den er dem Freund gewidmet hat. Es war ein im Geiste Ebner vermittelter Wittgenstein, der--abgesehen von Victor Krafts Buch über den Wiener Kreis†47--am Beginn der Rezeption in Österreich stand.†48 Page Break 372 Page Break 373
Anhang Page Break 374 Page Break 375
Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur Page 375
Paul Engelmann: Ludwig Wittgenstein. Briefe und Begegnungen. Hrsg. von Brian F. McGuinness. Wien und München: Oldenbourg 1970 (= Engelmann) Page 375
Brian McGuinness: Wittgensteins frühe Jahre. Übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988 (= McGuinness) Page 375
Michael Nedo, Michele Ranchetti: Wittgenstein. Sein Leben in Bildern und Texten. 1. Aufl. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983 (= Nedo) Page 375
Ray Monk: Ludwig Wittgenstein. The Duty of Genius. London: Jonathan Cape 1990 (= Monk) Page 375
Hermine Wittgenstein: Familienerinnerungen. Wien, Hochreit, Gmunden 1944-1947, Typoskript (= Familienerinnerungen) Page 375
Ludwig Wittgenstein: Briefe. Briefwechsel mit B. Russell, G. E. Moore, J. M. Keynes, F. P. Ramsey, W. Eccles, P. Engelmann und L. von Ficker. Hrsg. von B. F. McGuinness und G. H. von Wright. 1. Aufl. Frankfurt/M.:
Wissenschaftliche Sonderausgabe Suhrkamp Verlag 1980 (= Briefe) Page 375
Ludwig Wittgenstein: Porträts und Gespräche. Hrsg. von Rush Rhees. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992 (= Porträts und Gespräche) Page 375
Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe [in 8 Bänden]. Frankfurt/M.: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 501-508) (= Werkausgabe Bd. 1-8) Page 375
Konrad Wünsche: Der Volksschullehrer Ludwig Wittgenstein. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985 (= Wünsche) Page Break 376 Page Break 377
Editorischer Bericht ZUR QUELLENLAGE Page 377
Der Großteil der hier abgedruckten Briefe befindet sich im Besitz von Univ.-Prof. Hermann Hänsel, Wien. Sie sind in einem Karton, großteils in Kuverts, abgelegt. Die Kuverts tragen unterschiedlich genaue Beschriftungen, so gibt es z.B. ein Kuvert 1919-Sept. 1920, oder ein Kuvert 1930-32; meistens enthalten die Kuverts Briefe aus zwei bis drei Jahren, daneben gibt es beispielsweise eine Mappe, die Briefe aus den Jahren 1921-1926 enthält, besser gesagt, enthalten soll. Da dieser Briefnachlaß schon durch mehrere Hände gegangen ist, ist auf die gegenwärtige Reihenfolge kein sicherer Verlaß mehr, doch gibt sie, bei den vielen undatierten Briefen, manchmal den einzigen Hinweis auf eine mögliche Einordnung. 32 Briefe von Ludwig Hänsel an Wittgenstein liegen im Forschungsinstitut Brenner-Archiv. Sie stammen aus dem Wiener Brieffund, der dem Brenner-Archiv 1988 über Vermittlung von Frau Charlotte und Univ.-Prof. Gernot Eder von Dipl.-Ing. Otto Vest-Rusan geschenkt worden ist. Nachdem das Buch bereits im Umbruch war, übermittelte uns Prof. Brian McGuinness freundlicherweise die Abschriften von 16 bis dahin unbekannten Briefen Ludwig Hänsels an Ludwig Wittgenstein, wofür wir ihm an dieser Stelle danken. Aufgrund der Unzuverlässigkeit der Abschriften und des Wunsches von Prof. Hermann Hänsel wurden jedoch nur vier Briefe (Nr. 226, 228, 248, und 261) eingearbeitet. Fehler, die offensichtlich bei den Abschriften entstanden sind, wurden stillschweigend korrigiert; andere Fehler, die möglicherweise von Ludwig Hänsel stammen, wurden belassen. Page 377
Die Briefe Hänsels an die Familie Wittgenstein, Ernst Geiger und Michael Drobil müssen als verschollen gelten. Daß sich im Nachlaß Hänsel auch mehrere Briefe von ihm selbst befinden, erklärt sich durch die Tatsache, daß Wittgenstein ja öfter bei Hänsels gewohnt, dort Post von Hänsel bekommen oder einfach dort vergessen hat. Page 377
58 Briefe von Ludwig Wittgenstein, einer von Hänsel an Wittgenstein, sowie 26 Briefe von Hermine Wittgenstein an Hänsel aus den Jahren 1919-1926 wurden bereits von Konrad Wünsche in dem Buch Der Volksschullehrer Ludwig Wittgenstein (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985) publiziert. Mit der Datierung, dem Kommentar zu den Briefen und der Art der Darstellung Hänsels und Wittgensteins durch Wünsche stimmen die Herausgeber in vielen Punkten nicht überein. Auf Abweichungen und Korrekturen von Wünsches Publikation wird in der vorliegenden Publikation deshalb nicht eigens verwiesen. Wünsche hat außerdem aus dem Zeitraum 1919-1926 nicht alle vorhandenen Briefe berücksichtigt. Diese Ausgabe enthält nun die Korrespondenz Hänsel--Wittgenstein aus den Jahren 1919-1951 (49 Briefe von Hänsel an Wittgenstein und 121 Briefe von Wittgenstein an Hänsel, davon 2 an Anna Hänsel) sowie eine großzügige Auswahl aus den Briefen der Familie Wittgenstein und von Freunden an Hänsel: Leopoldine Wittgenstein (5 Briefe), Clara Wittgenstein (3 Briefe), Hermine Wittgenstein (71 Briefe), Paul Wittgenstein (6 Briefe), Margarete Stonborough (7 Briefe), John Stonborough (3 Briefe), Michael Drobil (3 Briefe) und Ernst Geiger (2 Briefe). TEXTGESTALTUNG Page 377
Die äußere Form eines Briefes ist wesentlich mit der inhaltlichen Mitteilung verbunden. Die Papierwahl, ein vorgedruckter Briefkopf, bei handschriftlichen Briefen die Wahl des Schreibmaterials, die Schriftzüge und die Sorgfalt oder Nachlässigkeit bei der Abfassung liefern wesentliche Informationen über den Briefschreiber, die Art der Mitteilung und das Verhältnis der beiden Briefpartner mit. Bei der Drucklegung eines Briefes gehen daher wesentliche Informationen verloren und können durch formale Beschreibungen kaum, oft nicht einmal mit einem
Faksimile, vollständig wiedergegeben werden. Die »originalgetreue« Wiedergabe kann sich deshalb im wesentlichen nur auf den Brieftext beziehen, nicht aber auf die Form, die den Page Break 378
Herausgebern selber überlassen bleibt, die aber nichtsdestoweniger konsequent gehandhabt werden muß. Page 378
Jeder Brief wird mit einer Briefüberschrift (versal) begonnen. Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden Briefköpfe am Satzspiegel links oben, das Datum rechts oben, auch wenn es im Original etwa am Briefende steht (dies wird aber im Kommentar vermerkt) und die Unterschrift rechtsbündig wiedergegeben. Falls kein Briefkopf vorhanden ist oder wenn die Ortsangabe fehlt, wird diese in eckiger Klammer dem Datum vorangestellt. Hingegen werden alle Absätze beibehalten. Einfache und Doppel-Unterstreichungen werden als solche wiedergegeben, dreiund vierfache, wie sie bei Wittgenstein-Briefen manchmal vorkommen, sind als Doppel-Untersteichungen in Fettschrift gekennzeichnet. Einfügungen oder Überschreibungen werden, falls eine eindeutige Zuordnung möglich ist, ohne Vermerk in den Text eingefügt. Ist dies nicht möglich, etwa wenn ein Wort zwar überschrieben, dann aber nicht durchgestrichen wurde, so wird das überschriebene Wort zuerst und die Überschreibung nachfolgend zwischen zwei Schrägstrichen gedruckt. Durchstreichungen werden nur dann (im Kommentar) erwähnt, wenn eine deutliche Änderung der Autorintention erkennbar ist. Alle Fehler und Verschreibungen werden ohne das im Text oft störende [sic!] wiedergegeben, wurden nur einzelne Buchstaben vergessen, etwa »deke« statt »denke« so wird das fehlende n in eckiger Klammer hinzugefügt: »de[n]ke«. Bei schweren oder sinnstörenden Schreibfehlern erfolgt, damit nicht der Eindruck eines Druckfehlers entsteht, ein Verweis im Kommentar. Bei den für Wittgenstein typischen Fehlern, z.B. »wol« statt »wohl« wird ein solcher Verweis nicht für nötig erachtet. Schwer leserliche Stellen und Ergänzungen durch die Herausgeber werden mit eckiger Klammer gekennzeichnet. Das bei Wittgenstein regelmäßig verwendete Symbol für »und« wird mit »&« wiedergegeben. Beim Erscheinungsbild dieses Kürzels im Original kann man an das mathematische Zeichen für die Addition, das »+« denken. Dem widerspricht die Tatsache, daß in den meisten Fällen eine andere Art von Kopula herauszulesen ist und daß auch die Geschwister Wittgensteins, Paul und Margarete, dasselbe Kürzel verwendet haben. Das Zeichen muß unter allen Umständen von seiner Pragmatik her gelesen werden, die nicht--wie es der Gebrauch des »+« zwingend nahelegt--den Duktus der Argumentation optisch zerteilt; vielmehr soll das Zeichen als Verkürzung der Kopula »und« Teile der Argumentation in einem gespannten Bogen zusammenführen. Page 378
Alle Besonderheiten eines Briefes werden am Beginn des Kommentars zum jeweiligen Brief angeführt: die Textgattung (Brief, Postkarte u.ä), gegebenenfalls die Papierart, Beilagen und handschriftliche Zusätze von anderen Personen. In diesen allgemeinen Teil fallen auch Bemerkungen zur Datierung und zum (erschlossenen) Absendeort. DATIERUNG Page 378
Die Datierung des Briefwechsels Hänsel--Wittgenstein, ebenso wie die der Briefe Hermine Wittgensteins erwies sich als äußerst schwierig, da ca. die Hälfte der Briefe undatiert sind. Sogar auf scheinbar eindeutige Datierungen von Briefen, vor allem wenn sie zu Beginn eines neuen Jahres verfaßt sind, war nicht immer Verlaß. Zumindest in diesen Fällen konnte aufgrund des Poststempels oder des Inhalts eine Datierung als sicher erschlossen werden. Auch bei vielen undatierten Briefen gelang aufgrund inhaltlicher Bezüge zu umliegender Korrespondenz eine sichere Einordnung, etwa mit einem Terminus post quem oder ante quem, im günstigsten Fall konnte sogar ein genauer Entstehungszeitraum angegeben werden. In vielen Fällen konnte eine Datierung aber nur zugunsten einer guten Lesbarkeit vergeben werden. Manche Briefe könnten ebensogut ein paar Jahre früher oder später verfaßt worden sein. Auch Datierungen von fremder Hand--etwa von Hänsel--wurden herangezogen, wenn sie plausibel erschienen, in einigen Fällen lieferte die--unsichere--Reihenfolge im Nachlaß Hänsel den einzigen Hinweis auf eine mögliche Einordnung. Oft gelang eine Einordnung nur anhand des Handschriftenvergleichs. Aber auch hier konnten oft keine eindeutigen Zuordnungen getroffen werden. Briefe Wittgensteins aus den 20er Jahren sind von der Handschrift her nicht so ohne weiteres von Briefen aus den 30er Jahren zu unterscheiden. Je nach Stimmungslage kann das Erscheinungsbild sogar in engen Zeiträumen sehr stark variieren. Die unsicheren Page Break 379
Datierungen sind mit Fragezeichen versehen worden. Im Kommentar zu den Briefen werden diese Datierungen diskutiert, gegebenenfalls erfolgt ein Hinweis auf alternative Datierungsmöglichkeiten. KOMMENTAR Page 379
Der Kommentar wurde erstellt mit dem Ziel, den Leser der Briefe alles wissen zu lassen, was der Autor des Briefes nachweislich sagen wollte und was der Empfänger aus seiner Situation heraus verstehen konnte. Er setzt sich aus zwei Teilen zusammen: dem Einzelstellenkommentar und den Übersichtsdarstellungen. Die Beiträge von Allan Janik, Walter Methlagl, Ilse Somavilla und Christian Paul Berger verstehen sich als »Flächenkommentare« zum gesamten Briefwechsel und liefern zusätzliche wichtige Informationen, die ein konsequent gehandhabter Einzelstellenkommentar prinzipiell nicht liefern kann. Alle stellen Bezüge zum Briefwechsel her oder liefern weitere Hintergrundinformationen zur Figur Ludwig Hänsel, seinem Bildungsgang und seinem Verhältnis zu Ludwig Wittgenstein. Der Kommentar zu den einzelnen Briefen enthält einen allgemeinen Teil, in dem auf Besonderheiten der Textgestaltung und Datierung hingewiesen wird. Auch Angaben zur Situation des Verfassers und des Empfängers können hier erfolgen, falls eine solche Erläuterung nicht an einer konkreten Briefstelle möglich ist. Die darauffolgenden Einzelerläuterungen versuchen nicht nur den Briefinhalt zu klären, sondern so gut wie möglich auch die Situation, in der der betreffende Brief entstanden ist. Einen Schwerpunkt bilden biographische Angaben zu den Briefpartnern Hänsels, aber auch zu allen in den Briefen erwähnten Personen. Ein besonderes Augenmerk galt der Familie Wittgenstein: die biographischen Erläuterungen sind hier bewußt ausführlicher ausgefallen. Eine ausführliche Biographie Wittgensteins hielten die Herausgeber angesichts der Fülle und leichten Zugänglichkeit von biographischer Literatur nicht für sinnvoll, hingegen wurden in den Einzelstellenkommentar sehr wohl die jeweiligen Lebensstationen Wittgensteins eingearbeitet, sofern sie für das Verständnis der Briefe wichtig waren. Prinzipiell wird im Kommentar nie Ereignissen vorgegriffen, aber darauf geachtet, daß über der Fülle an Einzelinformationen die Zusammenhänge nicht verlorengehen. Ein weiterer Schwerpunkt lag im Ausfindigmachen der in den Briefen erwähnten oder diskutierten Lektüre. Ein Hauptaugenmerk galt den philosophischen Themen: hier beschränken sich die Herausgeber nicht auf das Wiedergeben von diskutierten Zitaten oder Inhalten von Werken, sondern versuchen ihrerseits mit dem Anführen von Parallelstellen und weiterführender Literatur, die Diskussion in einen breiteren Zusammenhang zu stellen. Die große Fülle an Wittgenstein-Literatur war für die Herstellung des Kommentars äußerst hilfreich, doch waren die Herausgeber stets bemüht--sofern möglich--zu den Quellen zurückzugehen. Dies erklärt z.B., daß in diesem Kommentar die von Hermine Wittgenstein verfaßten Familienerinnerungen öfter zitiert werden als etwa die Biographie von Brian McGuinness, für den die Familienerinnerungen ebenfalls eine wichtige Quelle waren. Nicht jeder Zusammenhang und jede Einzelanspielung konnten geklärt werden. Dies hängt einerseits vom Wissen und den Recherche-Möglichkeiten der Bearbeiter ab, andererseits von der Quellenlage, die eine Klärung derzeit nicht zuläßt. In diesen Fällen wurde die Formel »nicht ermittelt« verwendet. Als »nicht ermittelt« haben auch alle jene Briefe zu gelten, die in der vorliegenden Korrespondenz als einst geschrieben und geschickt erschlossen werden können--etwa wenn sich Wittgenstein für einen Brief Hänsels bedankt--, deren Ausforschung aber bis jetzt erfolglos geblieben ist. Im Einzelstellenkommentar wird auf solche fehlenden Briefe nicht eigens verwiesen. Page Break 380 Page Break 381
Nachweis der nachgedruckten Aufsätze Hänsels Page 381
Für fünf Aufsätze Hänsels diente die Sammlung Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Denkern und Dichtern der Neuzeit (Wien 1957) als Vorlage für den Nachdruck und nicht die früheren Einzelpublikationen (siehe Bibliographie). Darin vorhandene eindeutige Satzfehler wurden korrigiert, die von Hänsel angeführten Zitate wurden jedoch nach der Vorlage wiedergegeben. Page 381
Gefangenenlager bei Cassino. In: Der Plenny 10, Folge 5/6, Mai/Juni 1933, S. 52-54. Page 381
Alexius von Meinong. In: Begegnungen und Auseinandersetzungen, S. 297-312. Page 381
Das Relative und das Absolute. Nach einem Vortrag an der Ottakringer Volkshochschule. In: Österr. Rundschau 2, Heft 10, 1936, S. 451-460. Page 381
Newton--Goethe--Pascal. In: Begegnungen und Auseinandersetzungen, S. 93-97 und S. 133167 (da der Mittelteil aus Platzgründen nicht abgedruckt werden konnte, wurde die Fußnotennumerierung umgestellt; von Hänsel nachträglich eingefügte Bemerkungen am Schluß des Aufsatzes (S. 170-174) wurden ebenfalls in die Fußnoten eingearbeitet). Im übrigen wurde auch das Kapitel Die Möglichkeiten des Geistes (S. 150-167) gekürzt. Ausgelassen wurden vornehmlich solche Stellen, von denen die Herausgeber glauben, daß durch ihre Weglassung die Balance in Hänsels Argumentationen nicht wesentlich gestört wird. Page 381
Karl Kraus. In: Begegnungen und Auseinandersetzungen, S. 205-225. Page 381
Eine Fackel christlichen Geistes. Jubiläum um den »Brenner«. In: Die Furche, Beilage Die Warte, 25.3.1950. Page 381
Ferdinand Ebner. In: Begegnungen und Auseinandersetzungen, S. 327-349. (Der Beitrag setzt sich aus drei Studien zusammen: Ferdinand Ebner. In: In heiliger Sendung 2, H. 9, 1937, der Rezension von Das Wort ist der Weg (hrsg. von Hildegard Jone). In: Wiener Zeitung, 11.9.1949 und der Studie Ferdinand Ebners religiöser Entwicklungsgang, die Anfang 1955 zur Orientierung für das Wiener erzbischöfliche Ordinariat verfaßt und im Band Begegnungen und Auseinandersetzungen erstveröffentlicht wurde). Page 381
Ludwig Wittgenstein. In: Begegnungen und Auseinandersetzungen, S. 315-323. Die von Hänsel angeführten Wittgenstein-Zitate wurden belassen, auch wenn sie mit der Suhrkamp-Werkausgabe nicht in allen Punkten übereinstimmen. Page Break 382 Page Break 383
Bibliographie der Schriften Hänsels SELBSTÄNDIGE PUBLIKATIONEN Page 383
Vaterländische Erziehung. Wien, Leipzig: Dt. Verlag für Jugend und Volk 1935 (Schriften des Pädagogischen Institutes der Stadt Wien 6) Page 383
Die Jugend und die leibliche Liebe. Sexualpädagogische Betrachtungen. Innsbruck, Wien, München: Tyrolia 1938 Page 383
Goethe. Chaos und Kosmos. Vier Versuche. Wien: Thomas Morus Presse im Verl. Herder 1949 Page 383
Ferdinand Ebner: Das Wort und die geistigen Realitäten. Pneumatologische Fragmente. Hrsg. v. Michael Pfliegler und Ludwig Hänsel. Wien: Herder 1952 (Gesammelte Werke 1) Page 383
Christentum und moderne Geisteshaltung. Versuche, Studien und Übersichten. Hrsg. im Auftrag der Vereinigung christl. Mittelschullehrer v. Josef Stadelmann und Ludwig Hänsel. Wien, München: Herold 1954 Page 383
Unsterblicher Humanismus (5 Gespräche). Wien: Frick & Co 1956 (Schriftenreihe der österreichischen Unesco-Kommission 12) Page 383
(Übers.) Humanismus und Erziehung im Westen und im Osten. (Humanisme et Education en Orient et en Occident). Wien: Austria Edition 1956 (Bücher-Reihe der Österreichischen Unesco-Komission 1) Page 383
Zehn Jahre Unesco. Hrsg. vom Bundesministerium f. Unterricht. Wien: Österreichischer Bundesverlag 1956 Page 383
Der neuen Schule entgegen. Ratschläge und Mahnrufe. Wien: Österreichischer Bundesverlag 1956 Page 383
Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Denkern und Dichtern der Neuzeit. Wien, München: Österreichischer Bundesverlag 1957 Page 383
(Übers.) W. D. Wall: Erziehung und seelische Gesundheit. (Education and Mental Health). Wien: Austria Edition 1958 (Bücher-Reihe der Österreichischen Unesco-Kommission 3) Page 383
Ferdinand Ebner: Die Wirklichkeit Christi. Brenner-Aufsätze. Für den Druck vorbereitet von Franz Seyr. Wien: Thomas Morus Presse im Verlag Herder 1958 (Gesammelte Werke 2) (im Umbruch fertig). Page 383
Ludwig Hänsel, Karl Dienelt, Erwin Stransky: Menschenführung im Blickfeld der Pädagogik und Psychohygiene. Wien: Österreichischer Bundesverlag, 1960
AUFSÄTZE UND REZENSIONEN Page 383
Zur Komposition des »Laokoon«. In: Zeitschrift für Österr. Gymnasien 66, 1915, Heft 6, S. 481-506, Heft 7, S. 577-589 Page 383
Richard Dehmel und die Menschenfreunde. In: Deutsche Rundschau 44, Heft 8, Juni 1918, S. 1-12 Page 383
Katholischer Indifferentismus. In: Hochland 20, Bd. 2, Juni 1923, S. 268-282 Page 383
Ein »Denkmal« zum Kantjubliläum. In: Hochland 21, Bd. 2, April 1924, S. 90-102 Page 383
Prinzipielles zur Reform des Sprachunterrichtes. In: Österr. Pädagogische Warte 19, Folge 5, 1924, S. 111-118; Folge 6/7, S. 142-149 Page Break 384 Page 384
Gewissenserneuerung und Christentum. Das »Panideal« Rudolf M. Holzapfels. In: Hochland 24, Bd. 2, Mai 1927, S. 113-135 Page 384
Bürgerschulnovelle und Mittelschulgesetz. In: Österr. Pädagogische Warte 22, Folge 6, Juni 1927, S. 138-140 Page 384
Hermann Hefele. Das Gesetz der Form und das Christentum. In: Hochland 26, Bd. 2, Juli 1929, S. 358-374; August 1929, S. 516-533; September 1929, S. 631-645 Page 384
Rudolf Maria Holzapfel +. In: Hochland 27, Bd. 2, Mai 1930, S. 178-181. Page 384
Katholische Bildung. In: Reichspost, Die Quelle, Nr. 122, 4.5.1930, S. 19f. Page 384
Lichtbilder für den Französisch-Unterricht. In: Wissenschaft und Schule, Mai 1930, S. 51 Page 384
Jugendbildung (F. X. Eggersdorfer). In: Hochland 28, Bd. 1, Dezember 1930, S. 262-266 Page 384
»Neuland«. In: Reichspost, Die Quelle, 21.6.1931 Page 384
Lyrisch, Episch, Dramatisch. Vortrag der Fortbildungswoche der österr. Germanisten 1930. In: Wissenschaft und Schule, November 1931, S. 102-104; März 1932, S. 121-126 Page 384
Die schwerste Aufgabe des Jugendbildners. In: Das Neue Reich 14, Nr. 10, 5.12.1931, S. 190-191 Page 384
Die Neuland-Schule im Neuen Haus. Festspruch im Hilfswerk für Schulsiedlungen. In: Neuland 9, Folge 3, März 1932, S. 56-60 Page 384
Weltanschauung und Faustinterpretation. In: Neuland 9, Folge 4, April 1932, S. 78-84 Page 384
Wertlehre und Wertfragen. (Zu Siegfried Behns Wertlehre). In: Hochland 29, Bd. 2, Juni 1932, S. 261-272 Page 384
Zu dem Goethebuch von Friedrich Muckermann. In: Schönere Zukunft 7, Nr. 37, 12.6.1932, S.864-866; (Nachtrag in Nr. 42, 17.7.1932) Page 384
Corneille und Racine auf der Oberstufe. Vortrag der Fortbildungswoche der österr. Romanisten 1931. In: Neuphilologische Monatsschrift, Oktober 1932 Page 384
Ida Friederike Coudenhove, Von der Last Gottes. Rezension in: Neuland 9, Folge 10, Oktober 1932, S. 234-236 Page 384
»Vom Naturalismus zur neuen Sachlichkeit«. Rezension in: Neuland 9, Folge 11, November 1932, S. 258f. Page 384
Die pädagogische Situation. Rezension zum Buch von Michael Pfliegler in: Hochland 30, Bd. 1, Jänner 1933, S. 380-382 Page 384
Rudolf Henz, Die Gaukler. Rezension in: Neuland 10, Folge 4, April 1933, S. 93f. Page 384
Gefangenenlager bei Cassino. In: Der Plenny 10, Folge 5/6, Mai/Juni 1933, S. 52-54 Page 384
Religion und Politik. Fünf Briefe. In: Neuland 10, Folge 7/8, Juli-August 1933, S. 147-161 Page 384
Wertlehre und Religionspädagogik. In: Christl.-pädag. Blätter, Juli/August 1933 Page 384
Der Allgemeine Deutsche Katholikentag in Wien. In: Hochland 31, Bd. 1, Oktober 1933, S. 83-87 Page 384
Ehe und Familie in der Gegenwart. In: Der Seelsorger 10, Folge 2, November 1933, S. 40-47 Page 384
Die Situation der Kirche und der »Brenner«. In: Der Seelsorger 10, Folge 7, April 1934, S. 196-202 Page 384
Religiöser Aufbruch im geistigen Frankreich von heute. Von H. Hatzfeld. Rezension in: Österreichische Höhere Schule, April 1934, S. 30 Page Break 385 Page 385
Das Faustische Schicksal. Vortrag, gehalten im Wiener Goethe-Verein am 30. April 1932 und Rezension von W. Böhm »Faust, der Nichtfaustische« in: Chronik des Wiener Goethe-Vereins, Bd. 39, 1934, S. 4-13 Page 385
Über Mädchenbildung. In: Schönere Zukunft 10, Nr. 7, 11.11.1934, S. 171-173; Nr. 8, 18.11.1934, S. 202f. Page 385
Pfleger, Geister, die um Christus ringen. Rezension in: Österr. Höhere Schule, November 1934, S. 62 Page 385
Karl Kraus. In: Hochland 32, Bd. 1, Dezember 1934, S. 237-250 Page 385
Philosophie im Deutschunterricht. Rezension in: Österr. Höhere Schule 4, Februar 1935, S. 13-15; März 1935, S. 27f. Page 385
Das Herz Europas. Rezension in: Österr. Höhere Schule, März 1935, S. 32 Page 385
Handbuch der Kulturgeschichte, Lief. 1-4. Rezension in: Österr. Höhere Schule, April 1935, S. 39; Oktober 1935, S. 63f. Page 385
Allgemeine Volksbildung und Weltanschauung. In: Neue Ordnung 11, Folge 2, März-April 1935, S. 68-83 Unter dem Titel: Volksbildung im Aufbau. In: Berichte, Reinhold Verlag, Bd. 12, Nr. 270-271, S. 215-235 Page 385
Der gläubige Mensch im Unterricht. In: Österreichische Pädagogische Warte 30, Folge 5, 5. Mai 1935, S. 97-102 Page 385
Theodor Haecker, Was ist der Mensch? Rezension in: Österr. Höhere Schule, Mai 1935, S. 47 Page 385
Thomas von Aquino, Summe der Theologie (Kröner Bd. 105, 106). Rezension in: Österr. Höhere Schule, Juni/Juli 1935, S. 55 Page 385
Sexualpädagogik. In: Schönere Zukunft 10, Nr. 46, 11.8.1935, S. 1223f.; Nr. 47, 15.8.1935, S. 1250f. Page 385
Der neue Lehrplan für Deutsch an den Mittelschulen. In: Pädagogischer Führer 85, Dezember 1935, S. 1109-1113
Page 385
Meißinger Helena. Rezension in: Österr. Höhere Schule, Jänner 1936, S. 11 Page 385
Der Geist der Neuen Lehrpläne. In: Österr. Pädagogische Warte 31, Folge 1, Jänner 1936, S. 8-11; Folge 2, Februar 1936, S. 33-37 Page 385
Handbuch der Kulturgeschichte, Kletler, Wild, Ermatinger. Rezension in: Österr. Höhere Schule, Februar 1936, S. 19f. Page 385
Nohl, Einführung in die Philosophie. Rezension in: Österr. Höhere Schule, April 1936, S. 43 Page 385
Allers, Sexualpädagogik. Rezension in: Österr. Höhere Schule, Juni 1936, S. 65f. Page 385
Grundsätzliches über den Philosophieunterricht an den Mittelschulen. In: Österr. Pädagog. Warte 31, Folge 6/7, Juni 1936, S. 166-173 Page 385
Tragischer und christlicher Heroismus. In: Kirche im Kampf, 1936 Page 385
Die Religion im Weltbild der Wissenschaft. In: Monatsschrift für Kultur und Politik 1, Heft 8, August 1936, S. 682-698 Page 385
Das Relative und das Absolute. Nach einem Vortrag an der Ottakringer Volkshochschule. In: Österr. Rundschau 2, Heft 10, 1936, S. 451-460 Page 385
Goethes Faust und der Sinn des Lebens. In: Monatsschrift für Kultur und Politik 2, Heft 1, Jänner 1937, S. 8-18 Page 385
Die Erhebung gegen den Geist. In: In heiliger Sendung 2, Heft 1, Jänner 1937, S. 7-22 Page Break 386 Page 386
Handbuch der Kulturgeschichte. Ermatinger, Deutsche Kultur im Zeitalter der Aufklärung. Rezension in: Österr. Höhere Schule, Februar 1937 Page 386
Hauser-Bolterauer, Einführung in die Philosophie II. Rezension in: Österr. Höhere Schule, März 1937, S. 20-24 Page 386
Masse und Gemeinschaft. In: In heiliger Sendung 2, Heft 3, März 1937, S. 69-78 Page 386
Dunois, Ein starkes Herz (Georgette Garon). Rezension in: Österr. Rundschau, Heft 7, 1937 Page 386
Kathol. Universität. In: Mitteilungen des Kathol. Univ. Vereins, Heft 8, 1. Folge, 1937, S. 7f. Page 386
Krise der Wissenschaft. In: In heiliger Sendung 2, Heft 6, Juni 1937, S. 145-151 Page 386
Ferdinand Ebner. In: In heiliger Sendung 2, Heft 9, September 1937, S. 225-231 Page 386
Das »Reiterlied« und die Theaterkritik der Wiener Zeitungen. In: Monatsschrift für Kultur und Politik, November 1937 Page 386
Die zweite Bekehrung Europas. In: Kirche am Werk, Dez. 1937 Page 386
Chesterton, Der Heilige Thomas von Aquin. Rezension in: In heiliger Sendung 2, Heft 10, 1937, S. 299f. Page 386
Die mittlere Schule im ständischen Staat. In: Zeitschrift für Kultur und Politik 3, Heft 2, Februar 1938, S. 126-138
Page 386
Handbuch d. Kulturgeschichte. Koch, Deutsche Kultur des Idealismus (bis Lieferung 34). Rezension in: Österr. Höhere Schule, März/April 1938, S. 27 Page 386
Baumecker, Schillers Schönheitslehre. Rezension in: Österr. Höhere Schule, März/April 1938, S. 27f. Page 386
Wünsche an die Religionsprofessoren. 7. Wiener Seelsorgertagung »Bildung z. Christen«, S. 69ff. Gekürzt in: Schönere Zukunft, 25. Dezember 1938 und im Zeitwächter, Nr. 13, S. 351f. Page 386
Peter Wust, Ungewißheit und Wagnis. Rezension in: Österr. Höhere Schule, Mai/Juni 1938, S. 41 Page 386
Weltbild und Lebensalter. (Zu »Die Entwicklung des kindlichen Weltbildes« von Wilhelm Hansen). In: Hochland 36, Bd. 2, April 1939, S. 62-69 Page 386
Otto Willmann. Zum 100. Geburtstag. In: Schönere Zukunft 14, Nr. 32, 7.5.1939, S. 831f.; Nr. 33, 14.5.1939, S. 865f.; Nr. 35, 28.5.1 939, S. 911f.; Nr. 36, 4.6.1939, S. 943f. Page 386
Die Philosophie Wilhelm Diltheys. In: Hochland 36, Bd. 2, Juli 1939, S. 277-294 Page 386
Adalbert Stifter. (Zu seinem Schullesebuch). Rezension in: Hochland 36, Bd. 2, September 1939, S. 520-522 Page 386
Die Philosophie der Werte und der Sinn der Welt. In: Schönere Zukunft 15, Nr.29/30, 14.4.1940 Page 386
Die Werte des Heiligen und die Religionsphilosophie. In: Schönere Zukunft 15, Nr. 51/52, 15.9.1940, S. 603-605 Page 386
Otto Willmann und die Gegenwart. In: Otto Willmann zum Gedächtnis. Hrsg. v. Leopold Krebs. Freiburg im Breisgau: Herder 1940, S. 21-46 Page 386
Ein Priester in seiner Zeit. Anläßlich des 50. Geburtstages Michael Pflieglers. In: Schönere Zukunft 16, Nr. 19/20, 2.2.1941, S. 227-229 Page 386
Von der Vielfalt der Antriebe und dem unmittelbaren Leben. In: Aus christlichem Denken in der Neuheit der Tage. Festschrift für Pfliegler, hrsg. v. Dr. Karl Rudolf. Freiburg: Herder 1941, S. 11-84 Page Break 387 Page 387
In memoriam Karl Muth. In: Die Furche, Nr. 39, 28.9.1946 (Übersetzt in Documents Cahier 1, 1947, S. 6) Page 387
Aus der Mappe eines Weisen. Aus Karl Muths letzten »Hochland«-Aufsätzen. In: Die Furche, Nr. 46, 16.11.1946, S. 7 Page 387
Zeuge der Wahrheit. Guardini, Tod des Sokrates. Rezension in: Wort und Wahrheit 2, Heft 4, April 1947, S. 237-239 Page 387
Über den Menschen. Rezension von »Der Mensch und seine Stellung im All« von Bela von Brandenstein in: Die Furche, Beilage Die Warte, 3.4.1948, S. 4 Page 387
Warum: Bürger Kant (Erwiderung auf Toman »Bürger Kant«). Rezension in: Zs. Theater der Jugend, Nr. 34/9, 10.4.1948, S. 157f. Page 387
Hermann Hesse und die Flucht in den Geist. Gedanken zum »Glasperlenspiel«. In: Wort und Wahrheit 3, Bd. 1, 4.4.1948, S. 273-288 Page 387
Johann Fischl, Geschichte der Philosophie. Altertum und Mittelalter. Rezension in: Die Presse, 3.7.1948 Page 387
Marxistische Literaturbetrachtung. Lukácz, Goethe und seine Zeit. Rezension in: Die Furche, Nr. 34, 21.8.1948, S. 5f. Page 387
Um die Einheit unserer Mittelschule. In: Die Furche, Nr. 38, 18.9.1948, S. 3f. Page 387
Thomas Mann und Goethe. (Zu Manns Roman »Lotte in Weimar«). In: Wort und Wahrheit 3, Bd. 2, Sept. 1948, S. 712-716 Page 387
Wiederum die Matura... In: Die Furche, Nr. 41, 9.10.1948, S. 4f. Page 387
Geistige Arbeit und Studium. Zum Methodenproblem an der Mittelschule. In: Die Furche, Nr. 44, 30.10.1948, S. 3f. Page 387
Christentum und Magie. In: Wort und Wahrheit 4, Bd. 1, Jänner 1949, S. 11-30 Page 387
Der Brenner. In: Wort und Wahrheit 4, April 1949, Bd. 1, S. 317-320 Page 387
»Der Brenner«. In: Wiener Zeitung, 17.4.1949 Page 387
Wertgefühl und Wert. In: Wiener Zeitschrift für Philosophie, Psychologie, Pädagogik Bd. 2, Heft 3, April 1949, S. 1-40 Page 387
Goethe in der katholischen Welt. In: Neue Wege, Nr. 45/4, Mai 1949, S. 227f.; Nr. 48/6, Oktober 1949, S. 314 Page 387
Friedrich Schneider, Praxis der Selbsterziehung. Rezension in: Die Presse, 4.6.1949 Page 387
Die »offene« Philosophie Goethes. Demonstriert an dem Gedicht »Eins und Alles«. In: Wissenschaft und Weltbild 2, Heft 3, Juli 1949, S. 161-170 Page 387
Der Humanismus von Weimar. Zum zweihundertsten Geburtstag Goethes. In: Wort und Wahrheit 4, Bd. 2, August 1949, S. 561-569 Page 387
Goethe und der Geist der Gegenwart. In: Die Furche, Beilage Die Warte, Nr. 34, 20.8.1949 Page 387
Ein neues Goethe-Werk. (Karl Vietor, Goethe, Dichtung, Wissenschaft, Weltbild). Rezension in: Die Furche, Beilage Die Warte, 20.8.1949 Page 387
Goethe in christlicher Schau. Zwei bedeutende Neuerscheinungen im Jubiläumsjahr. In: Die Furche, Beilage Die Warte, Nr. 35, 27.8.1949, S. 4 Page 387
Eine neue »Faust«-Ausgabe. Zu dem Werke: J. W. Goethe, Faust, Eine Tragödie, erläutert von F. C. Endres. Rezension in: Die Furche, Beilage Die Warte, 10.9.1949 Page 387
Ferdinand Ebner, Das Wort ist der Weg. Rezension in: Wiener Zeitung, 11.9.49 Page Break 388 Page 388
Geistesgeschichte im Spiegel des Wortes. (Zu Erich Auerbachs Buch »Mimesis«). In: Wissenschaft und Weltbild 2, Heft 4, Okt. 1949, S. 328-330 Page 388
Newton-Goethe-Pascal. Die Farbenlehre und das Problem der Mitte. In: Goethe Festschrift zum 200. Geburtstag. Wien: Österr. Bundesverlag 1949, S. 8-146 Page 388
Eine Goethe-Ausgabe. In: Die Furche, Beilage Die Warte, 19.11.1949 Page 388
Leopold Liegler. In: Wort und Wahrheit 4, Bd. 2, 1949, S. 879f.
Page 388
Daniel Fenling, Das Leben der Seele. Rezension in: Die Presse, 26.11.1949 Page 388
Die Heranbildung unserer Mittelschullehrer. In: Die Furche, 4.2.1950, S. 6 Page 388
Eine Fackel christlichen Geistes. Jubiläum um den »Brenner«. In: Die Furche, Beilage Die Warte, 25.3.1950 Page 388
Ludwig Ficker 70 Jahre. In: Die Presse, 13.4.1950 Page 388
Kleine Bücher des Goethe-Jahres. Rezension in: Die Furche, Beilage Die Warte, Nr. 17, 22.4.1950, S. 3 Page 388
Ludwig Ficker und »Der Brenner«. In: Orbis Catholicus 4, Heft 11, August 1950, S. 524-526 Page 388
Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. (Zum Buch von Ernst Robert Curtius). In: Wissenschaft und Weltbild 3, Heft 7, September 1950, S. 328-330 Page 388
Gegen den Niedergang des Französischen. In: Die Presse, Nr. 37, 16.9.1950 Page 388
Jahr der Ehrfurcht. Vier Reden zum Goethejahr. Graz, Leykam-Verlag 1949. Rezension in: Der Mittelschullehrer, September 1950, S. 27f. Page 388
Ludwig Fickers Lebenswerk. In: Der Seelsorger 21, Folge 1, Oktober 1950, S. 26-28 Page 388
Kleine Goethe-Literatur aus Österreich. In: Die Furche, Beilage Die Warte, 1.1.1951 Page 388
Michael Pfliegler, dem Freunde, zum 60. Geburtstag. In: Der Seelsorger 21, Folge 6, März 1951, S. 243-247 Page 388
Die Tragödie des Humanismus ohne Gott, Henri de Lubac, übersetzt von Dr. E. Steinacker. In: Freude an Büchern 2, Heft 3, März 1951, S. 92f. Page 388
Kleine Goethe-Literatur aus England und Deutschland. Rezension in: Die Furche, 12.5.1951 Page 388
Ein großer Satiriker. (Karl Kraus). In: Neue Wiener Tageszeitung, Nr. 132, 12.6.1951 Page 388
Ein Goethe-Roman. Rezension zum »Sonnenspektrum« von Robert Hohlbaum in: Die Furche, 23.6.1951, Beilage Der Krystall 24, S. 4 Page 388
Jean Mouroux, Größe und Elend des Menschen. Rezension in: Neue Wege, Nr. 67/34, September 1951, S. 294 Page 388
J. Fischl, Geschichte der Philosophie. II. und III. Band. Rezension in: Die Presse, 26.9.1951 Page 388
Goethe und die Naturwissenschaften. Rezension zum Aufsatz von Gottfried Benn in: Die Furche, 13.10.1951, Beilage Die Warte Nr. 42, S. 3 Page 388
Ludwig Wittgenstein. In: Wissenschaft und Weltbild 4, Oktober 1951, S. 274-277 Page 388
Die Aktualität der Bibel. Rezension zu R. Jaromir, »Bibel und Zeitgeist« in: Die Presse, Nr. 40, 6.10.1951, S. 10 Page 388
Ferdinand Ebner. Zum Erscheinen seines Werkes. In: Wissenschaft und Weltbild 4, Dezember 1951, S. 342f. Page 388
Ein Österreicher. (Ankündigung der Schriften Ferdinand Ebners). In: Die Presse, 5.1.1952, S. 6 Page Break 389 Page 389
Pierre-Henri Simon, Grüne Trauben. Rezension in: Der Österr. Mittelschullehrer, März/April 1952, S. 29 Page 389
Die heroische Zeit des Christentums. Rezension von Daniel Rops, Die Kirche zur Zeit der Apostel und Märtyrer. In: Die Presse, 24.4.1952, S. 5 Page 389
Pax Romana in Salzburg. In: Die Furche, 3.5.1952 Page 389
Existenz und Existenzphilosophie. Rezension von Gabriels »Existenzphilosophie von Kierkegaard bis Sartre«. In: Freude an Büchern 3, Heft 7, Juli 1952, S. 166-168 Page 389
Die öffentliche katholische Schule. In: Der Volksbote, Nr. 30, 27.7.1952, S. 5 Page 389
Daniel Rops, Paulus, Eroberer für Christus. Rezension in: Die Presse, 1.11.1952 Page 389
Ebner, Ferdinand. In: Lexikon der Pädagogik. 4 Bde. Freiburg i. Breisgau. Verlag Herder 1952 Page 389
Rudolf Kassner. Rezension in: Freude an Büchern 4, Heft 4, April 1953, S. 89f. Page 389
Heinz Kindermann, Das Goethebild des XX. Jahrhunderts. Rezension in: Der Mittelschullehrer, Juni 1953, S. 24 Page 389
Wertphilosophie scholastischen Geistes. Rezension zu Gutwenger in: Die Presse, 23.10.1953 Page 389
Seelische Gesundheit des Kindes und Schule. Von der Mental-Health-Konferenz der Unesco, Paris 1952. In: Pädagogische Mitteilungen, Oktober 1953, S. 85-91 Page 389
Kathol. Beiträge zur Unesco-Konferenz. In: Österr. Pädagog. Warte, November 1953 Page 389
Der Lehrer als Beamter und Kollege. In: Werkblätter der Gemeinschaft Kathol. Erzieher in der Steiermark 6, Nr. 8, Oktober 1953; Nr. 9, Dezember 1953 Page 389
Das Werk Ferdinand Ebners (mit Auszügen aus Ebners Werk). In: Österr. Rundschau 6, Heft 1, 1953 Page 389
Peter Geach and Max Black, Translations from the Philosophical Writings of Gottlob Frege. Rezension in: Wiener Zeitschrift für Philosophie, Psychologie, Pädagogik, Bd. 4, Heft 3, 1953, S. 205f. Page 389
Goethe in der Mitte des XX. Jahrhunderts. Vortrag, gehalten im Wiener Goethe-Verein am 23. April 1953. In: Chronik des Wiener Goethe-Vereins, Bd. 58, Wien 1954, S. 13-32 Page 389
Die Problematik der christlichen Erziehung in der Gegenwart. In: Christlich-Pädagogische Blätter 67, Heft 2, Februar 1954, S. 33-40 Page 389
Lineamente einer Geistesphilosophie (G. Marcel, Geheimnis des Seins). Rezension in: Die Presse, 20.3.1954, S. 10 Page 389
Wertlehre ohne Wertgefühl. In: Wissenschaft und Weltbild 7, März/April 1954, S. 111-133 Page 389
Die sechs Aspekte von Erziehung und Bildung. In: Der österreichische Mittelschullehrer, Mai/Juni 1954, S. 2-11 Page 389
Goethes Faustdichtung--als menschliche Tragödie, ironische Weltschau und religiöses Mysterium. Rezension von E. Franz, Mensch und Dämon. In: Der Mittelschullehrer, Juni/Juli 1954, S. 8f. Page 389
Abseits der Gegenwart--aus klassischer Zeit. (Zu Willy Andreas Buch »Carl August von Weimar / Ein Leben mit Goethe 1757-1783«). In: Wort und Wahrheit 9, Bd. 2, 1954, S. 542f. Page 389
Die Universität. In: Gloria Dei 9, Heft 2, 1954, S. 69-79
Page 389
F. Gläser, Von der inneren Macht des Menschen. Rezension in: Der Österr. Mittelschullehrer, September/Oktober 1954, S. 21 Page Break 390 Page 390
Gentleman und Christ. J. H. Kardinal Newman. Geschichte seiner religiösen Überzeugungen »Apologia pro vita sua«. In: Die Furche, Beilage Der Krystall, 30.10.1954 Page 390
»Österreichische Kulturpolitik« (Brief an den Herausgeber der »Furche«.) In: Die Furche, 30.11.1954 Page 390
Eine Grabschrift. (Ferdinand Ebner). In: Blätter, Dezember 1954, S. 3f. Page 390
Barker Fairley, A study of Goethe. Rezension in: Der Österr. Mittelschullehrer, November/Dezember 1954, S. 23f. Page 390
Oskar Katann. Zum 70. Geburtstage. In: Mitteilungen der Wiener Kathol. Akademie, Jänner/März 1955, S. 12f. Page 390
Chrestien de Troyes. Leben und Werk des altfranzösischen Epikers, von Stefan Hofer. Rezension in: Die Furche, 13.8.1955 Page 390
Lebenserinnerungen ohne Pardon. (Zu Fr. W. Förster, Erlebte Weltgeschichte 1869-1953). Rezension in: Wort und Wahrheit 10, Bd. 2, August 1955, S. 626f. Page 390
Das Wesen des Geistes. (Irmgard Gindl, Die Grundakte des Geistes). Rezension in: Der Österr. Mittelschullehrer, September/Oktober 1955, S. 10f. Page 390
Erziehung zu intern. Gesinnung. (5. Kongreß des BICE, Venedig). In: Der Österr. Mittelschullehrer 7, Heft 9/10, November/Dezember 1955, S. 1-6 Page 390
Alexius Meinong. (Meinong-Festschrift). In: Wiener Zeitschrift für Philosophie, Psychologie, Pädagogik, Bd. 5, Heft 4, 1955, S. 224-239 Page 390
Geschichtsunterricht und internationale Verständigung. (Österr. Komitee für Geschichtsunterricht) In: Erziehung und Unterricht, Heft 3, März 1956, S. 136-138 Page 390
Karl Kraus. (Auszüge a. d. Artikel von 1934). In: Wort in der Zeit 2, Heft 6, Juni 1956, S. 8-16 Page 390
Das Österr. Komitee für Philosophie und Geisteswissenschaft. In: Wissenschaft u. Weltbild 9, Juni 1956, S. 146f Page 390
Die Unesco und die Österr. Unesco-Kommission. In: Pädagog. Mitteilungen, Oktober 1956, S. 81-88 Page 390
Lehrer und Schüler. Ihr natürliches Verhältnis zueinander. In: Der österr. Mittelschullehrer 9, Heft 1/2, Jänner/Februar 1957, S. 1-4 Page 390
Peter Wust, Im Sinnkreis des Ewigen. Rezension in: Österr. Pädagog. Warte, März 1957, S. 90 Page 390
Über das Lesen von Büchern. In: Blätter, April 1957, S. 6 Page 390
Erziehung zum Leben in einer Weltgemeinschaft. In: Gemeinschaft des Geistes. Schriftenreihe der Österr. Unesco-Kommission 1957, S. 69-90 Page 390
Der Thomismus und das Denken der Zeit. Ein Nicht-Thomisten Bekenntnis zum Hl. Thomas. (Festrede St.-Thomas-Feier 1955). In: Kathol. Glaube und Wissenschaft in Österreich. Jahresberichte der Wiener Kathol.
Akademie, Bd. 1, 1957, S. 261-279 Page 390
Ein Faustbild der Biedermeierzeit. In: Religion, Wissenschaft, Kultur Bd. 8, Heft 4, 1957, S. 278f. Page 390
Blaise Pascal. In: Der österr. Mittelschullehrer 10, Heft 1/2, Jänner/Februar 1958, S. 3-6 Page 390
Erziehungskrise und Schuldisziplin (Themen einer Enquète). In: Der österr. Mittelschullehrer, Mai 1958 Page 390
Ferdinand Ebner. In: Neue Deutsche Biographie, 1958 Page Break 391 Page 391
Staatsbürgerliche Erziehung in der Ersten und in der Zweiten Republik Österreichs. In: Österreich in Geschichte und Literatur 2, Heft 3, 1958, S. 157-166 Page 391
Ratlose Alte, revoltierende Junge. Erziehungskrise und Schuldisziplin. In: Die Furche, 8.11.1958 Page 391
Das Geistig-Wertvolle. In: Philos. Jahrbuch der Goethegesellschaft 65, 1958, S. 264-307 Page 391
Die Unesco und der Friede auf der Welt. In: Vorarlberg-Wien, Heft 17, Jänner 1959, S. 2 Page 391
Das Orient-Okzident-Projekt der Unesco. In: Pädagog. Mitteilungen, Februar 1959, S. 9-21 Page 391
Wissenschaft und Bildung, R. Schwarz. Rezension in: Wort und Wahrheit 14, Bd. 1, März 1959, S. 226f. Page 391
Unesco und Kirche. In: Der große Entschluß, März 1959, S. 255-259; April 1959, S. 307-312 Page 391
Unesco und Kirche. In: Religion, Wissenschaft, Kultur 10, Folge 1, 1959, S. 3-16 Page 391
Die Jugend von heute vor den sozialen, staatsbürgerlichen und internationalen Problemen der Zeit. In: Moderne Sprachen, Juni/Juli 1959, S. 6-9 Page 391
Jugend und Lehrerschaft von heute vor den Problemen der Zukunft. In: Österr. Pädagogische Warte 47, November 1959 Page 391
Friedrich Wilhelm Foerster. In: Wissenschaft und Weltbild 12, 1959, S. 533-543 Page 391
Leopold Liegler. Zu seinem 10. Todestag. In: Vierteljahresschrift für Religion, Wissenschaft, Kultur 10, 1959, S. 286-288 Page 391
Der Gegenstand des Begriffs und die Logik. In: Gestalthaftes Sehen. Darmstadt 1960, S. 160-177 Page Break 392 Page Break 393
Register Page 393
Das Register bezieht sich nur auf den Briefwechsel und den Einzelstellenkommentar, wobei nur die Namen von darin vorkommenden Personen (mit Ausnahme von Ludwig Hänsel, Ludwig und Hermine Wittgenstein), wichtigen Verlagen und Zeitschriften angegeben sind. Page 393
Alt, Rudolf von: 252 Anderson, Maria: 297 Angelus Silesius: 278 Annalen der Naturphilosophie: 59f., 92, 279f. Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret: 161f., 164f., 322
Augustinus: 251, 272 Page 393
Bach, Johann Sebastian: 253, 304 Bachtin, Nicholas: 306 Baden, Berchtold von: 301 Baden, Max von: 105, 301f. Bauch, Bruno: 255 Bauernfeld, Eduard von: 259 Baumayer, Marie: 111, 304 Baumruck, Leopold: 266 Berger, Georg: 266f., 277, 294 Bevan, Edward: 160f., 164f., 321, 324 Bevan, Joan: 324 Birger,?.: 59, 279 Bismarck, Otto von: 320 Bittner, Julius: 287 Blei, Franz: 100, 298f. Boldrino,?: 28 Bolstad, Arne: 276 Boltzmann, Ludwig: 255 Bonaparte, Marie von: 300 Bong & Co: 96, 297 Bormann, Eugenie: 296 Brahms, Johannes: 252, 254, 284, 304 Braun, R.: 287 Breitkopf und Härtel: 293 Der Brenner: 22, 26, 49, 256f., 259, 272, 286 Brenner, Elisabeth: 278 Brentano, Franz: 257, 271 Brockhaus: 93 Brücke,?: 303 Bruckner,?: 303 Bruckner, Anton: 284 Bühler, Charlotte: 307 Bürger, Gottfried August: 269 Busch, Wilhelm: 96, 297 Page 393
Caesar: 96, 297 Calasanza, Joseph: 54, 275 Carnap, Rudolf: 295 Castle, Eduard: 129, 309 Cato: 48, 272 Cicero: 154 Cornford, John: 306 Page 393
Dal Bianco, Maria (siehe Hänsel Maria) Dal Bianco, Peter: 259 Dallago, Carl: 257, 272 Dehmel, Richard: 22, 36, 256, 267f. Dobbs, Mrs.: 304 Dobb, Maurice: 305f., 317 Dostojewski, Fjodor: 26, 251, 259, 274f. Draegni, Halvard Thomasson: 276 Drobil, Michael: 19-22, 24, 29, 34, 36-39, 44, 48, 55, 59, 64, 68, 75, 79, 95, 109, 113f., 130f., 133, 136, 144f., 147, 153, 164, 252, 254, 256, 261, 276 Droste-Hülshoff, Annette: 267 Drury, Maurice: 275, 304, 315, 321, 324
Page 393
Ebner, Ferdinand: 257 Eccles, William: 298 Ehrbar,?: 283 Ehrenstein, Albert: 289 Eichendorff, Josef von: 267 Einaudi, Luigi: 316 Engelmann, Ernestine: 285 Engelmann, Paul: 74-76, 93, 103, 139, 251, 254f., 258, 261, 268, 279, 281, 283, 285f., 289, 297, 300f., 309f., 312 Eppstein, J.: 304 Euklid: 292 Evers, K.: 304 Page 393
Die Fackel: 285f. Ficker, Ludwig von: 251, 254-257, 286, 324 Fischer, Emil: 300 Franz von Assisi: 257 Frege, Gottlob: 20, 38f., 42, 255, 268, 271 Freud, Sigmund: 289, 299f. Freytag & Berndt Kartenverlag: 81, 288 Friedl,?: 111, 304 Frischauf, Grete: 308 Fuchs, Oskar: 73, 82, 285, 288f. Page 393
Gagel, Andreas: 315 Geach, Peter Thomas: 322 Geiger, Ernst: 100-102, 109f., 112-114, 118-122, 124, 126, 128f., 135, 146f., 156, 158, 291, 300, 303, 306-308, 312, 315 Gellert, Friedrich Fürchtegott: 39, 269 Gide, André: 298 Gindely-John: 64 Glöckel, Otto: 275, 282 Goethe, Johann Wolfgang von: 24, 251, 267, 271f., 289 Göschen: 58, 279 Grabner, Rudolf: 292 Gradowsky,?: 259 Gramsci, Antonio: 316 Greifeneder,?: 126, 308 Grimm, Jakob und Wilhelm: 36, 39, 267, 269 Page Break 394
Groag, Heinrich: 285, 314 Groller,?: 156, 319f. Gruber, Karl: 53f., 61f., 275, 278, 291, 294 Haas, Arthur: 261 Haas, A. E.: 279 Haase-Schulbücher-Verlag: 64 Haecker, Theodor: 257 Hahn, Hans: 295 Hahn, Kurt: 105f., 301f. Haidbauer, Josef: 300f. Hamann, Johann Georg: 165f., 323f. Handler, Josef: 277 Hänsel, Anna (Frau): 27, 36f., 39, 43, 51f., 54, 57, 62, 65, 67f., 74, 83, 106-109, 152, 159-161, 164f., 252, 258, 283 Hänsel, Anna (Tochter): 26, 65, 104, 107, 154, 159, 259, 282, 302, 321 Hänsel-Hacker, Ingrid: 165, 324 Hänsel, Hermann: 26, 65, 67, 107, 109, 114, 119, 121, 126, 145-150, 152, 158f., 161, 163, 165, 259, 303, 309, 315,
321, 324 Hänsel, Maria: 26, 65, 104, 107, 114, 119-121, 128f., 133, 144, 149-154, 158f., 259, 282, 302, 309, 315 Hansen-Löve, Friedrich: 324 Hauff, Wilhelm: 269 Hausmann, Luise: 275, 285 Hebel, Johann Peter: 35-37, 39, 96, 267-269 Heger, Robert: 272 Heine, Heinrich: 272 Helmer, Eduard: 252 Herder, Johann Gottfried: 323 Hertz, Heinrich: 255 Herz, Josef: 279 Hessen, Ernst Ludwig von: 262 Heyden-Guest, David: 306 Hijab, W. A.: 323 Hitler, Adolf: 315 Hoermann, Theodor: 252 Hoffmann, Arthur: 255 Hoffmann, Josef: 291 Höfler, Alois: 260 Hofmannsthal, Hugo von: 267 Hölder-Pichler-Tempsky: 63f., 90, 96, 259, 281, 293f. Hölderlin, Friedrich: 267 Homer: 61, 280 Hoover, Herbert Clark: 299 Hrätzky,?: 106, 302 Hume, David: 42, 256, 270f. Page 394
Ibsen, Henrik: 299 Page 394
Janko,?: 21f., 256 Janowskaja, Sophia: 310 Joachim, Josef: 252 Jodl, Friedrich: 260 Page 394
Kahn, Richard: 316 Kant, Immanuel: 24, 256, 258, 323f. Karban, Othmar: 154, 319 Kegan, Paul (siehe Routledge & Kegan) Keynes, John Maynard: 113, 251, 289, 298, 304, 309f., 315-317, 319 Keyserling, Hermann: 262 Kierkegaard, Sören: 257, 272, 278, 299 Klimt, Gustav: 253, 291 Klingenberg, Hans: 276 Klingenberg, Kari: 276 Klingenberg, Sofia: 276 Klinger, Max: 252 Koder, Elisabeth: 321 Koder, Rudolf Julius: 71-73, 75f., 79, 84, 89f., 93, 95-97, 109, 123, 131, 159f., 164, 253, 284f., 294, 297, 314, 321 Koderhold, Emmerich: 291 Konegens Jugendschriftenverlag: 38f., 268 Kraus, Karl: 74, 143, 255, 285f., 314 Krautmann, Ferdinand: 63, 281 Krenn, Anna (siehe Anna Hänsel, Tochter) Krenn, Gertrud: 159, 321 Krenn, Leo: 259 Kristof, Hermine: 300
Krummböck,?: 68, 283 Külpe, Oswald: 50, 273f. Page 394
Labor, Josef: 77, 83, 269, 272, 284, 287, 290 Lange, Friedrich Albert: 262 Larousse, Pierre: 115, 305 Latzke,?: 26, 259 Lavater, Johann Kaspar: 323 Lecher, Ernst: 260 Lecher, Helene: 28, 40, 65f., 101f., 260, 300 Leitner,?: 311 Lenau, Nikolaus: 267 Lessing, Gotthold Ephraim: 24, 39, 149, 258, 269 Liliencron, Detlev von: 267 Linke, Karl: 64, 282 Lipps, Theodor: 273 Locke, John: 270 Loos, Adolf: 74, 255, 285f. Luguber, Lorenz (= Ps. für Ludwig von Ficker) Page 394
Mach, Ernst: 262, 279 Maiski, Ivan: 309f. Malcolm, Norman: 314, 323 Markus, Josef: 285 Mayer-Rémy, W.: 304 Meade, James: 317 Meinong, Alexius von: 42, 50, 270f., 274 Menger, Carl: 271 Meyer, Eduard: 82, 90f., 289 Meyers KonversationsLexikon: 93 Meyer, Conrad Ferdinand: 267 Mill, John Stuart: 270 Moore, George Edward: 143f., 251, 281, 291, 305, 312, 314, 319, 322 Mörike, Eduard: 82, 152f., 267, 289 Morrell, Ottoline: 278 Morrison-Bell, Veronica: 301 Mozart, Wolfgang Amadeus: 284 Müller, Ernst: 261 Page Break 395
Müller, G. E.: 273 Müller, Wilhelm: 273 Musset, Alfred de: 130, 310 Mussolini, Benito: 316 Page 395
Nähr, Moritz: 75, 269f., 286 Nelbök, Hans: 311f. Neumann, Robert: 261 Neurath, Otto: 261, 279 Neururer, Alois Lucius: 56, 113, 148f., 154, 162, 278, 304, 317 Nikolaus von Kues: 30-33, 262-267 Novalis: 267 Page 395
Ogden, C. K.: 279, 281, 283 Oser, Johann Nepomuk: 304 Oser, Josefine: 304 Ostwald, Wilhelm: 279-281
Page 395
Palma, Wilhelm: 277 Parak, Franz: 251 Pascal, Blaise: 272 Pascal, Fania: 312, 318 Pattisson, Gilbert: 133, 305, 310f. Pauli, Hedwig: 112, 304 Pennerstorfer, Ignaz: 63, 281 Penz,?: 132, 311 Peterson, Erik: 257 Philosophische Gesellschaft: 58, 92, 296 Pichler (siehe Hölder-Pichler-Tempsky) Pinsent, David: 276 Piribauer, Aloisia: 273 Planck, Max: 295 Prokofieff, Sergej: 272 Puschkin, Alexander: 259 Putré, Josef: 293 Page 395
Radnitzky, Adelheid: 121, 125, 307f. Raimund, Ferdinand: 129, 309 Ramsey, Frank Plumpton: 77, 83, 287, 289, 304f., 317 Ramsey, Lettice: 304 Ravel, Maurice: 272 Rebni, Anna: 276, 323 Reclam: 36, 38, 61, 280f. Reichmann Verlag: 96, 297 Reidemeister, Kurt: 295f. Reilly, Gérard T.: 319 Reininger, Robert: 260 Rendl,?: 283 Respinger-de Chambrier, Marguerite: 267 Reuter, Fritz: 254 Rhees, Rush: 255, 313, 317 Ricardo, David: 316 Richards, Ben: 162f., 323 Riegler, August: 278 Rilke, Rainer Maria: 257, 267, 286 Robinson, Austin: 316 Robinson, Joan: 316 Rommel,?: 54, 276 Rosner, Norbert: 277, 283 Routledge & Kegan: 281, 284 Rusch-Herdegen-Tiechl: 64 Russell, Bertrand: 59f., 251, 254f., 257f., 278f., 281, 284, 287, 292, 305 Page 395
Salzer, Clara: 269, 296 Salzer, Felix: 296, 319 Salzer, Fritz: 296 Salzer, Helene: 93, 164, 267, 269, 296, 319f. Salzer, Marie: 35, 87f., 253, 267, 293, 296, 308 Salzer, Max: 156, 267, 296, 320 Sandner, Albert: 252 Santer, Anton: 257 Scheffel, Josef Viktor von: 273 Scheibenbauer,?: 266, 275 Schiller, Friedrich von: 56, 278
Schlick, Blanche: 296 Schlick, Moritz: 92, 100, 133, 279, 295f., 298, 307, 311f. Schlögl,?: 54, 276 Schmeil, Otto: 82, 289 Schmidt, Franz: 272 Schmiedle,?: 301 Schober, Karl: 36f., 267 Scholz,?: 132 Scholz, Eduard: 82, 289 Schönberg, Arnold: 287 Schopenhauer, Arthur: 255f., 261, 299 Schreier,?: 131 Schubert, Franz: 284 Schulbücher Verlag: 281, 289, 293 Schulnachrichten: 61, 280 Schumann, Clara: 304 Schuschnigg, Kurt: 315 Schwaighofer, Anton: 67, 282 Scrivener, S.: 319 Seidl, Paul: 91, 93-95, 294, 296f. Seidl, (Mutter): 91, 93-95. Sjögren, Arvid: 40f., 47, 56, 103, 160, 257, 260, 267, 269, 276, 319, 321 Sjögren, Clara: 319 Sjögren, Hermine: 25, 27, 35, 136, 257, 260, 269 Sjögren, Talla: 267 Skinner, Francis: 305, 317f. Spencer, Herbert: 270 Spengler, Oswald: 255 Spinoza, Baruch de: 86, 291f. Spitzl, Bruno: 54, 259, 287 Sraffa, Piero: 148, 255, 306, 316f. Stangl, Georg: 278 Steinschneider, Gustav: 285 Sternberg, M.: 261 Stockert, Elisabeth von: 125, 308 Stockert, Franz von: 125, 308 Stockert, Fritz von: 293, 308 Stockert, Johanna von: 125, 148, 308, 316 Stockert, Ludwig von: 125, 293, 308 Stockert, Marianne von: 125, 148, 308, 316 Stockert, Paul von: 125, 308 Stockert, Marie von (siehe Marie Salzer) Stockhausen, Julius: 304 Stonborough, John: 104-106, 121, 154, 160, 253f., 290, 301f., 308, 317-319, 321 Stonborough, Jerome: 299, 301, 307, 317 Stonborough, Margarete: Page Break 396
102, 105f., 110f., 113, 118, 122f., 125f., 134, 139, 145, 149f., 156-158, 164, 252f., 267, 290f., 296, 299-303, 307f., 312, 316f., 319 Stonborough, Thomas: 121, 267, 307, 317 Strauß, David Friedrich: 157, 320 Strauss, Richard: 272 Sturm,?: 98f., 298 Page 396
Tacitus: 154 Tagore, Rabindranath: 57, 279
Tempsky (siehe Hölder-Pichler-Tempsky) Thomson, George: 306 Tolstoi, Leo: 39, 52, 269, 275, 290 Tractatus: 24, 62, 70, 92, 100, 251, 255, 257, 279-281, 284, 287, 291, 295f. Trakl, Georg: 267 Page 396
Ullmann, Kurt: 97, 297 Undset, Sigrid: 136-138, 313 Utschimura, Kanso: 257 Page 396
Verdi, Giuseppe: 302 Vietoris, Leopold: 295f. Volkmann-Leander: 87f., 293 Page 396
Wanicek,?: 254 Weindl, Theodor: 261 Weininger, Otto: 255, 299 Wesselsky, Anton: 261 Weiß, Franz: 100, 298 Whitehead, Alfred North: 287 Wiesenberger, Franz: 82, 289 Wittgenstein, Clara: 108, 119, 128, 130f., 286, 302-304, 310 Wittgenstein, Hans: 157, 320 Wittgenstein, Helene (siehe Helene Salzer) Wittgenstein, Hermann Christian: 320 Wittgenstein-Hochstetter, Justina: 291 Wittgenstein, Karl: 19, 251-254, 257, 268, 303f. Wittgenstein, Kurt: 157, 320 Wittgenstein, Leopoldine: 20, 43, 46f., 51f., 251-254, 303 Wittgenstein, Ludwig (Onkel): 268 Wittgenstein, Paul (Bruder): 48, 50, 72, 78, 82, 103, 128, 130, 139, 151, 154, 161, 253, 268f., 272, 287f., 300, 316, 318f. Wittgenstein, Paul (Onkel): 67, 85, 267, 283, 290f., 303 Wörterbuch für Volksschulen: 89, 96, 259, 293f. Wolfram von Eschenbach: 273 Wright, Georg Henrik von: 161, 291, 321f. Wright-Troil, Maria Elisabeth von: 322 Wundt, Wilhelm: 30, 261f., 273 Page 396
Zastrow, Hans Joachim von: 104, 106, 301f., 308 Zastrow, Irmgard von: 301 Zastrow, Wedigo von: 125, 308 Zegani,?: 29, 261 Zettwitz-Liebenstein, Marianne von: 301 Zimmermann,?: 39, 258, 273 Zweig, Fritz: 285 Zweig, Max: 285f. Zwinz,?: 68 Zwinz, Emmerich: 283 Page Break 397
Bildnachweis Page 397
Die abgebildeten Dokumente und Gegenstände sind im folgenden unter den Namen ihrer Besitzer angeführt. Die Aufnahmen des zur Verfügung stehenden Bildmaterials stammen von Günter Kresser, Nr. 7 und 8 von Ilse Somavilla, Nr. 19, 20 und 23 von Jörg Moser und Nr. 18 vom Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek.
1) Peter Dal-Bianco, Wien. 2) Elisabeth Windischer, Innsbruck. 3) Elisabeth Windischer. 4) Hermann Hänsel. 5) Elisabeth Windischer. 6) Pierre Stonborough. 7/8) Ilse Somavilla. 9) Hermann Hänsel. 10) Hermann Hänsel. 11) Hermann Hänsel. 12) Andreas Sjögren 13) Elisabeth Windischer. 14) Pierre Stonborough. 15/16) Erzstift St. Peter (OSB), Salzburg. Mit freundlicher Genehmigung von Dr. A. Hahnl. 17) Hermann Hänsel. 18) Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien. 19/20/21) Peter Dal-Bianco. 22) Christian Paul Berger. 23) Peter Dal-Bianco. 24) John Stonborough. 25) Hermann Hänsel. 26) Hermann Hänsel. 27) Joan Ripley. 28) Trinity College, Cambridge. 29) Hermann Hänsel. 30) Peter Dal-Bianco. 31) Brenner-Archiv, Innsbruck. 32/33) Brenner-Archiv. 34) Hermann Hänsel. 35) Hermann Hänsel. 36) Elisabeth Windischer. 37/38) Elisabeth Windischer. 39) Hermann Hänsel. 40) K. E. Tranoj, Oslo, Norwegen. 41) Elisabeth Windischer. Page 397
Umschlag: Vorne links: Ben Richards, Hemel Hempstead. Vorne rechts: Hermann Hänsel. Hinten links: Hermann Hänsel. Hinten rechts: Hermann Hänsel.
Footnotes Page 35
†* Der Hebel ist gemeint Page 40
†*) Wenn sie nicht paßt, schicke sie zum Umtauschen bald zurück. Page 72
†* z. B. Milch Page 80
†* d.h. ich bitte dann um die Rechnung Page 112
†* wenn ich jetzt darüber nachdenke hatte er dieses etwas Spöttisch Überlegene auch schon früher. Page 114
†* (ich frug nicht nach der Schule, sondern was er im Kino gesehen habe und ähnliches) Page 148
†* wir hatten allerdings viel ernstes zu reden!
Page 150
†* Eine Lehre für Deinen Freund L. W.. Page 152
†* Du kannst sagen: es ist eine billige Aufrichtigkeit, einen Andern tadeln. Und das ist wahr. Page 158
†* Es wäre sehr nett von Ihnen, wenn Sie mir eine Nachricht nach München Hotel Bayrischer Hof senden würden! Page 169
†1 Meinong-Gedenkschrift, herausgegeben von dem Philosophischen Seminar der Universität Graz durch Konstantin Radakovi&ca;, A. Silva Tarouca und Ferdinand Weinhandl (Bd. I der Schriften der Universität Graz, Verlag Styria, 1952). Page 185
†1 Ad modum cognoscentis hat Thomas von Aquino gesagt. Page 185
†2 Pfleger, »Geister, die um Christus ringen«. Page 186
†3 Theodor Haecker, »Was ist der Mensch«. Vgl. besonders S. 168. Page 186
†4 Der Brenner, VII. Folge, 2. Band. Page 190
†1 Schiller hat sich aber auch durchaus zustimmend geäußert, z. B. in dem Brief an Gräfin v. Schimmelmann vom 23. November 1800. Page 193
†2 Vgl. Ch. Sherrington, Goethe on nature and on science, 1949: »In date the Farbenlehre is a century later (1870) than Newton's Optics, but a reader might well suppose the revers.« Page 193
†3 Materialien, Zwischenbetrachtung: nach dem Stück über die Alchimisten. Page 194
†4 Weimar war geradezu ein Herd von »Reaktionen«: Herders gegen Kant, Schillers und Goethes gegen die bürgerliche Aufklärung und Romantik, Goethes gegen Newton, gegen das Spektrum wie gegen die Gravitation, gegen die Geologie (den Vulkanismus), gegen die moderne Kunst, gegen das Maschinenwesen, gegen den deutschen Nationalismus. Page 194
Hans Ehrenberg, »Goethe, der Mensch«, 1949, dagegen verherrlicht (wie G. Benn) diese Haltung der Farbenlehre »als großartigen Primitivismus und Archaismus«, als »Urzeitanschauung«, Goethe habe »das Versunkene, das Zugedeckte, das Ursprüngliche wieder ans Tageslicht gezogen.«--Die Größe des Primitivismus sollte auch nicht verkannt werden. Page 195
†5 In Anschluß an die Notizen aus den Lobeshymnen, die seine Morphologie bei Wilhelm von Schütz gefunden hat. Page 195
†6 In den »Aperçus« nämlich.--Man darf bei diesem »Wahrheitsgefühl« übrigens an die »sentiments«, die »vérités de coeur« von Pascal denken; übernommen hat er das Wort wohl von F. H. Jacobi. Page 195
»Wahrnehmung des Wirklichen und Gefühl der Wahrheit, Bewußtsein und Leben sind eine und dieselbe Sache.« (Vgl. F. A. Schmid, Fr. H. Jacobi, 1908, S. 44f. und 61.)--Aber Kestner hatte von Goethe schon 1772 gesagt: »Er strebt nach Wahrheit, hält jedoch mehr vom Gefühl derselben als von ihrer Demonstration.« Page 196
†7 Vgl. dazu Goethes letzten Brief (an Humboldt). Page 198
†8 In der Dichtung hielt Goethe auch an der Erde als Mitte der Welt fest, besonders im »Faust«, nicht nur in dem »Gottesbekenntnis« Faustens Gretchen gegenüber: »Wölbt sich der Himmel nicht da droben? Liegt die Erde nicht hier unten fest?« usw., sondern auch im Gesang der Erzengel: »Die Sonne tönt nach alter Weise In Brudersphären Wettgesang...« Page 198
†9 Goethe hielt an dem antiken mythischen Weltbild fest: a) gegen die philosophisch-wissenschaftliche Entgötterung, b) gegen die christliche Entmythisierung, c) gegen die Chaotisierung (Pascals).
Page 198
†10 In der neuen kritischen Ausgabe von Z. Tourneur--Editions de Cluny, 1938--hat es die Nummer 183.--In der Übersetzung war ich bemüht, möglichst wortgetreu zu bleiben. (Brunschvicg, Nr. 72.) Page 199
†11 Pascal hatte Ernst gemacht mit der Entrückung der Erde aus der Mitte der Welt (in einen »verlorenen Winkel« des Universums), aber ebenso mit der Idee der Unendlichkeit der Welt im Sinne von Giordano Bruno. Page 200
†12 Er hat Fr. H. Jacobi widersprochen, als er Pascals Wort vom »Schleier der Natur« wieder aufnahm: »›Die Natur verbirgt Gott!‹ Aber nicht jedem!« (Spruch aus dem Nachlaß.) Page 200
†13 Maurice Barrès, der Wandelbare, nahm zuerst Partei für die Weisheit Goethes gegen die Angst Pascals, fand dann aber, daß ihn Pascal in der Tiefe seines Denkens ganz anders ausfülle (wie eine Rose von Jericho), spricht von einer Pascal-Krise, die ihn zum Katholizismus dränge, bringt aber schließlich Goethe und Pascal in eine Art polarer Eintracht. (B. Amoudru, La vie posthume des »Pensées«, 1936.) Page 201
†14 Kaum zu spüren ist die Ablehnung des »ewigen Sinnes« in den meistens mit Pathos gesprochenen Versen: »Gestaltung, Umgestaltung, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung«. Aber auch diese Worte spricht Mephistopheles, der solche »Unterhaltung« nur sinnlos finden kann. Page 201
†15 »In Goethe selbst aber, in seiner dichtenden Sprache, in seiner besonderen Einheit von Leben und Dichtung, Wahrheit und Dichtung ist schon mehr vom Unendlichen Pascals, als Goethe es hätte zugeben wollen.« (R. Kassner, Die Geburt Christi, 1951.)--Pascal wird hier allerdings zu sehr von Giordano Bruno aus gesehen.--Das Symbol »Mitte« hat bei Kassner auch einen anderen Sinn als bei Pascal (»Das physiognomische Weltbild«). Man könnte sagen, Kassner goethisiere Goethe, trotz der Gegengewichte Pascal und Schopenhauer, »Abgrund« und »Einbildungskraft«. Page 202
†16 Claude Bernard (in der Introduction à la médecine expérimentale, 1865) spricht wie Pascal von dem ersten Einfall (der Intuition, der Conaissance du coeur, dem Aperçu) als von einem sentiment (einem »Wahrheitsgefühl«).--Vgl. wieder die entsprechenden Teile in dem voranstehenden Essay über Blaise Pascal. [in: Begegnungen und Auseinandersetzungen] Page 202
†17 Weniger ironisch schreibt F. H. Jacobi (David Hume über den Glauben, 1787): »Alle Meinungen wurden im Schoße der Wahrheit empfangen; alle Wahrheiten im Schoße der Meinung. Vor den Begriffen sind die Wahrnehmungen, vor den Beweisen die Urteile. Die wichtigsten Lehrsätze hatten lange gegolten, ehe Philosophie sie nachbuchstabierte und die Gründe, warum sie gelten mußten, gewahr wurde.--Die höchsten Grundsätze ... sind--unverkleidet--bloße Machtansprüche, denen wir (blindlings?--wie dem Gefühl unseres Daseins!) glauben. Man könnte sie ... ursprüngliche, allgemeine, unüberwindliche Vorurteile nennen: als solche wären sie das reine Licht der Wahrheit, oder gäben vielmehr der Wahrheit das Gesetz.« Page 203
†18 »Nous avons une impuissance de prouver invincible à tout le dogmatisme; nous avons une idée de la vérité invincible à tout le pyrrhonisme.« Dazu der zweite Satz, den Jacobi anführt: »La nature confond les pyrrhoniens et la raison confond les dogmatistes.«--Vgl. Tourneur, Nr. 125.--Es ist die misère der zweiten »Ordnung«, der Ebene des Geistes.--Brunschvicg: Frgm. 395 und 434. Page 206
†19 Vgl. den letzten Essay meines Buches »Goethe, Chaos und Kosmos«: die wechselnden Chaos- und Kosmos-Tendenzen in den Weltauffassungen des Abendlandes. Page 207
†20 Und dann, vorübergehend, eine Schillersche. Page 208
†21 Huizinga »Homo ludens«.--Vgl. dazu die »Theologische Betrachung des homo ludens: »Das göttliche Kinderspiel« von Hugo Rahner (Wort und Wahrheit, Wien, Jänner 1949), und mein Goethebuch, S. 51. Page 228
†1 A. Zechmeister spricht auch von einer »leise abschwächenden« Darstellung des Gegensatzes, in dem Ebner gegen die »Philosophie« stand. (Ferdinand Ebner und die Theologie. Die Schildgenossen, April-Mai 1937.) Page 230
†2 Verlag Friedrich Pustet, Regensburg. Das Buch, das am besten in Ebners Gedankenwelt einführt, die beste Vorbereitung auf das Hauptwerk »Das Wort und die geistigen Realitäten«.--Dem »Brenner« aber und seinem
Herausgeber Ludwig Ficker ist es zu danken, daß Ebner zu seinen Lebzeiten noch zu Worte kam. Und das war ein großes Verdienst: um Ebner, um die Nachkriegszeit und um die Gegenwart.--Nachträgliche Bemerkung: Das Hauptwerk liegt seit 1952 als I. Band von Ebners Gesammelten Schriften bei Herder-Wien auf, die »Brenner«-Aufsätze sind als II. Band im Erscheinen. Page 230
†3 Insbesondere zu Henri Bergson.--Auch zu Wilhelm Dilthey fände sich manche Parallele, auch die Idee des »Verstehens« und die Überzeugung, daß sich das im »Verstehen« Erfaßte nicht in allgemeingültige Begriffe objektivieren lasse: »Das Verstehen ist ein Wiederfinden des Ich und Du.« (Dilthey, Werke, VII, 191.) Page 230
†4 Nachträgliche Anmerkung: Nicolai Hartmann sagt in seiner »Ethik« dasselbe, nur mit umgekehrter Bewertung: »Die Sehnsucht nach Erlösung ist ein Zeichen inneren Bankrotts. Die Religion baut ihr Erlösungswerk gerade auf diesem Bankrott, dem moralischen Gebrochensein auf ... Die Ethik kennt keine Erlösung.«--Ethik und Religion stehen aber schon einmal nicht auf derselben Ebene. Page 231
†5 Auch Nietzsches Pessimismus muß wohl genannt werden: »Den Menschen zu lieben um Gottes willen, das ist bis jetzt das vornehmste und entlegenste Gefühl, das unter Menschen erreicht worden ist. Daß die Liebe zum Menschen ohne eine heiligende Hinterabsicht eine Dummheit und Tierheit mehr ist, daß der Hang dieser Menschenliebe erst von einem höheren Hang sein Maß, seine Freiheit, sein Körnchen Salz und Stäubchen Ambra zu bekommen hat--welcher Mensch es auch war, der dieses zuerst empfunden und erlebt hat, wie sehr auch seine Zunge gestolpert haben mag, als sie versuchte, solch eine Zartheit auszudrücken, er bleibt uns in allen Zeiten heilig und verehrenswert.«--Wie weit steht freilich selbst dieses Nietzsche-Wort noch von Ebners pessimistischen Äußerungen ab! Soweit eben Fernstenliebe von der Nächstenliebe abstehen muß, selbst wenn sie den Nächsten meint. Page 231
†6 Vgl. die Deutung Zechmeisters in dem oben angeführten Aufsatz. Page 231
†7 Vgl. Albert Auer, »Das Menschenbild der Gegenwart« (Theologie der Zeit, 1937, Folge 1). Das Menschenbild Ebners stünde danach, in seiner »Tragik«, wenn auch mit entgegengesetztem Ausblick, auf der Stufe des Heideggerschen und im Gegensatz zu dem »christlichen Menschenbild scholastisch-idealistischer Prägung«. Das tut es wirklich. Aber es darf das wohl auch tun, ohne unchristlich zu sein. Page 232
†8 Wer, der Wilhelm Busch, d. h. »Eduards Traum«, kennt, denkt da nicht an das ergreifende Wort der Eduardschen Monade, als das Teufelchen sie haschen will: »Ich b-b-bin ja gar nicht so übel!« und an das Kreischen des Schwarzen: »Also auch das noch!«...? Page 232
†9 Das, was die Individualpsychologen »Selbstwertgefühl« nennen. Page 233
†10 Wieder wird nachträglich auf die »Gesammelten Werke« verwiesen, deren I. Band in zweiter Auflage »Das Wort und die geistigen Realitäten« enthält (1952), dessen II. Band demnächst unter dem Titel »Die Wirklichkeit Christi« die »Brenner«-Aufsätze bringen wird. Page 240
†11 Die Auffassung der Stelle schwankt übrigens, wie ich nachträglich festgestellt habe, sowohl auf reformatorischer wie katholischer Seite. Vgl. Luther: »inwendig in euch«; Züricher Bibel: »in eurer Mitte«; lateinische Übersetzung von Th. Beza, Cambridge 1624: »regnum Dei intus habetis«; Holy Bible, Cambridge, aber ebenso Ausgabe der Catholic Truth Society: »within you«; Abbé Crampon, Amiens: »au dedans de vous«; deutsche katholische Übersetzer: »(mitten) unter euch«, mit der Begründung, Jesus spreche von dem Reich Gottes, das mit ihm in die Welt gekommen und so inmitten der Apostel schon da sei.--Vgl. meine Übersetzung des UNESCO-Berichtes »Humanismus und Erziehung im Westen und Osten«, Austria Edition, Wien 1956, S 51. Page 242
†1 Wie immer sie bei Occam selbst gelautet hat.--Positivismus mit dieser Grundformel ist wohl auch der berechtigte Kern des (allzu generell) verfemten Nominalismus des Spätmittelalters. Page 242
†2 Über Ursprung und Entfaltung dieser Denkweise orientiert mit großer Sachkenntnis V. Kraft, »Der Wiener Kreis«, Wien 1950. Die Bezeichnung »Logischer Positivismus« hat man in Wien abgelehnt (a. a. O., S. 20 f.). Page 242
†3 »Logisch-philosophische Abhandlung«, erschienen 1922 in London mit einem Vorwort von B. Russell, mit parallel gesetzter englischer Übersetzung, nunmehr in dritter Auflage.
Page 242
†4 Some Remarks on Logical Form, Aristot. Soc. Suppl. Vol. IX, 1929. Page 243
†5 Das bezeugt V. Kraft in seinem Buch immer wieder.--M. Schlick: »Ich kann schwerlich meine Verpflichtung gegenüber diesem Philosophen übertreiben.« A. a. O., S. 2. Page 243
†6 26. Mai 1951. Ryle macht sich auch über die Manier der jungen Studenten lustig, in Wittgensteins Tonfall zu diskutieren. Page 243
†7 Die nunmehr sich durchsetzende Ordnungsform für wissenschaftliche Karteien. Page 244
†8 M. Pfliegler, den ich darauf aufmerksam gemacht habe, hat diese religiös bedeutende Erscheinung schon 1935 in einem Beitrag zur Würdigung Ferdinand Ebners und wieder 1948 in seinem Buch »Die religiöse Situation« hervorgehoben. Vgl. meinen Hinweis in »Goethe: Chaos und Kosmos«, 1950 (S. 225 f.). Page 244
†9 Bern, Sammlung Dalp. Page 244
†10 Vgl. vorne meine Abhandlung: »Newton--Goethe--Pascal«. Page 244
†11 Vgl. den Nachruf von V. Kraft in der »Wiener Zeitschrift für Philosophie, Psychologie und Pädagogik«, III/3, 1951. Page 244
†12 Erste Auflage 1926 bei Hölder-Pichler-Tempsky, Wien. Page 245
†13 Englische Freunde: J. M. Keynes und Ramsey, hatten ihn dazu gedrängt. Page 245
†14 Er hat darin allmählich den ursprünglichen Architekten P. Engelmann abgelöst. Page 245
†15 Wir sind in der Nähe von Adolf Loos, mit dem er befreundet war, aber, glaube ich, in einem strengeren Bereich. Page 245
†16 Wir sind in der Nähe von Karl Kraus (»In sprachzerfallnen Zeiten im sichern Satzbau wohnen«, oder »in dem alten Haus der Sprache wohnen«), und nicht in dem Bereich Heideggers, so leicht dessen Wort: »Die Sprache ist das Haus des Seins«, Wittgensteinschen Sinn bekommen könnte.--Aber es ließe sich denken, daß Heidegger von der anderen Seite her, von jenseits der »Grenze«, dasselbe meinte. (Vgl. L. Gabriel: Existenzphilosphie, Wien 1951, S. 82 und 130.) Page 325
†1 Letters from Ludwig Wittgenstein with a Memoir by Paul Engelmann, ed. B. F. McGuinness. Oxford: Blackwell 1967. Page 325
†2 Allan Janik and Stephen Toulmin. Wittgenstein's Vienna. New York: Simon & Schuster 1973. Page 326
†3 Vgl. Wittgensteins Brief an Norman Malcolm vom 18.2.49 in: Norman Malcolm: Ludwig Wittgenstein. A Memoir. With a Biographical Sketch by G. H. von Wright. Oxford: Oxford University Press 1984, S. 116. Vgl. auch Malcolm, S. 51f., wo er schreibt, daß für Wittgenstein »human kindness« weitaus mehr zählte als Intelligenz und Kultiviertheit, und daß er sich über besonders großzügige, gutherzige und ehrliche Menschen folgendermaßen äußerte: »he is a human being«. Page 327
†4 Ferdinand Ebner: Das Wort und die geistigen Realitäten. Pneumatologische Fragmente. In: Ferdinand Ebner: Schriften. Bd. 1. München 1963, S. 196f. Page 327
†5 Vgl. Hänsels Brief an Wittgenstein vom 17.1.1920 (Nr. 13) Page 327
†6 »Um glücklich zu leben, muß ich in Übereinstimmung sein mit der Welt. Und dies heißt ja, ›glücklich sein‹.« (Tagebücher, Werkausgabe Bd. 1, 8.7.1916, S. 169). Page 327
»Immer wieder komme ich darauf zurück, daß einfach das glückliche Leben gut, das unglückliche schlecht
ist. Und wenn ich mich jetzt frage: aber warum soll ich gerade glücklich leben, so erscheint mir das von selbst als eine tautologische Fragestellung; es scheint, daß sich das glückliche Leben von selbst rechtfertigt, daß es das einzig richtige Leben ist.« (Tagebücher, 30.7.1916, S. 173). Page 327
†7 Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe Bd. 8, S. 496. Page 328
†8 »Das Gebet ist der Gedanke an den Sinn des Lebens.« Page 328
»Den Sinn des Lebens, d.i. den Sinn der Welt, können wir Gott nennen.« Page 328
»Daß dieser Sinn nicht in ihr [der Welt] liegt, sondern außer ihr.« (Tagebücher, S. 167). Oder, am 8.7.1916: Page 328
»An einen Gott glauben heißt, die Frage nach dem Sinn des Lebens verstehen. An einen Gott glauben heißt sehen, daß es mit den Tatsachen der Welt noch nicht abgetan ist. Page 328
An Gott glauben heißt sehen, daß das Leben einen Sinn hat.« (Tagebücher, 8.7.1916, S. 168). Page 328
†9 Tagebücher, 13.8.1916, S. 176. Page 328
†10 M. O'C. Drury: Bemerkungen zu einigen Gesprächen mit Wittgenstein. In: Porträts und Gespräche, S. 131. Page 329
†11 Am 15. November 1917 notierte Ferdinand Ebner: »Groß, fast könnte es einem scheinen, unendlich groß, ist der Mißbrauch, den der Mensch mit dem Worte treibt. Vermag er seine Schuld dieses Mißbrauchs anders abzutragen als im Schweigen? Auch von jedem unnützen Worte, das er geredet hat, muß er einmal Rechenschaft ablegen. Durch die Einsamkeit seines Ichs muß der Mensch hindurch, um den Weg zu seinem wahren Du zu finden. Und durch das Schweigen muß er hindurch, um das rechte Wort zu finden.« (Ferdinand Ebner: Notizen. In: Schriften. Bd. 2, S. 242). Page 330
†12 Ferdinand Ebner: Versuch eines Ausblicks in die Zukunft. In: Schriften. Bd. 1., S. 894. Page 331
†13 Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke. Nach der ersten, von Julius Frauenstädt besorgten Gesamtausgabe neu bearbeitet und herausgegeben von Arthur Hübscher. Leipzig: Brockhaus 1938. Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, S. 261. Page 331
†14 Faksimile in Nedo, S. 343. Page 331
An anderer Stelle schrieb Wittgenstein: »Wenn Einer prophezeit, die künftige Generation werde sich mit diesen Problemen befassen und sie lösen, so ist das meist nur eine Art Wunschtraum, in welchem er sich für das entschuldigt, was er hätte leisten sollen, und nicht geleistet hat. Der Vater möchte, daß der Sohn das erreicht, was er nicht erreicht hat, damit die Aufgabe, die er ungelöst ließ, doch eine Lösung fände. Aber der Sohn kriegt eine neue Aufgabe. Ich meine: der Wunsch, die Aufgabe möge nicht unfertig bleiben, hüllt sich in die Voraussicht, sie werde von der nächsten Generation weitergeführt werden.« (Vermischte Bemerkungen, S. 484). Page 332
†15 Vgl. dazu Wittgensteins Brief an Norman Malcolm vom 3.10.40: »I wish you good luck; in particular with your work at the university. The temptation for you to cheat yourself will be overwhelming (though I don't mean more for you than for anyone else in your position.). Only by a miracle will you be able to do decent work in teaching philosophy.« (Malcolm: Ludwig Wittgenstein, S. 89). Page 332
†16 Ludwig Hänsel schreibt in seinem Aufsatz Ludwig Wittgenstein (S. 246): »In einer Nacht, während seiner Lehrerzeit, hatte er das Gefühl, gerufen worden zu sein und sich versagt zu haben.« Page 332
Und in einem Brief an Engelmann vom 2.1.21 schrieb Wittgenstein: »Ich hatte eine Aufgabe, habe sie nicht gemacht und gehe jetzt daran zu Grunde. Ich hätte mein Leben zum Guten wenden sollen und ein Stern werden. Ich bin aber auf der Erde sitzen geblieben und nun gehe ich nach und nach ein.« (Engelmann, S. 32). Page 332
†17 In seinem Vortrag über Ethik nennt Wittgenstein das Gefühl der absoluten Sicherheit, die Fähigkeit zum
Staunen und das Schuldgefühl als die drei Charakteristika der Ethik--sofern über diese überhaupt etwas gesagt werden könne. Vgl. Ludwig Wittgenstein: Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften. Hrsg. und übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1970. Page 332
Das Gefühl der absoluten Sicherheit und Geborgenheit hatte Wittgenstein im Alter von ca. 21 Jahren erfahren, als er eine Aufführung des Stückes Die Kreuzelschreiber von Ludwig Anzengruber sah: dies bewirkte in ihm einen durchgreifenden inneren Wandel und er hatte zum ersten Mal die Möglichkeit der Religion erkannt, wie er sich später Norman Malcolm gegenüber äußerte. (Vgl. Malcolm, S. 58 und McGuinness, S. 159f). Durch die Erlebnisse des Krieges hatte Wittgenstein offenbar das Gefühl der Sicherheit und damit sein Vertrauen in Gott wieder verloren; er war ohne Halt, innerlich einsam und verzweifelt. Page 333
†18 Vgl. Porträts und Gespräche, S. 64-70, S. 236ff. Vgl. auch Monk, S. 368. Page 333
†19 Vermischte Bemerkungen, S. 475. Page 333
Am 18.11.[1937] trug Wittgenstein in ein Notizbuch folgende Zeilen ein: »Im vorigen Jahr habe ich mich mit Gottes Hilfe aufgerafft und ein Geständnis abgelegt. Das brachte mich in ein reineres Fahrwasser, ein besseres Verhältnis zu den Menschen, und zu größerem Ernst. Nun aber ist alles das gleichsam aufgezehrt und ich bin nicht weit von dort, wo ich war. Vor allem bin ich unendlich feig. Wenn ich nichts Rechtes tue, so werde ich wieder ganz in das alte Fahrwasser hineintreiben.« (Zit. nach Porträts und Gespräche, S. 237). Page 333
†20 Wittgenstein und der Wiener Kreis, Werkausgabe Bd. 3, S. 26. Page 334
†21 In seinen Schriften spricht Wittgenstein mehrmals vom »erlösenden Wort« oder vom »erlösenden Gedanken«. Vgl. dazu Wilhelm Baum: Geheime Tagebücher. 1914-1916. Wien: Turia & Kant 1991, S. 32: »Ob mir der erlösende Gedanke kommen wird, ob er kommen wird??!!« (17.10.14); S.44: »Aber noch immer kann ich das eine erlösende Wort nicht aussprechen.« (21.11.14); S.45: »Das erlösende Wort nicht ausgesprochen.« (22.11.14) Page 334
Vgl. auch: »Die Aufgabe der Philosophie ist, das erlösende Wort zu finden.« (MS 105, 1929:44)12, zit. nach Alois Pichler: »Wittgensteins spätere Manuskripte: einige Bemerkungen zu Stil und Schreiben.« In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv, Nr. 12, 1993. Page 334
†22 Diese Eintragung Wittgensteins findet sich in einer Frühversion der Philosophischen Untersuchungen in Typoskript 220, Abschnitt 106.(108). Hrsg. von G. H. von Wright und Heikki Nyman Page 334
†23 Vgl. Wittgensteins Eintragungen in den Tagebüchern, 6.7.1916, S. 168 und im Tractatus, 6.521: »Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems.« (Werkausgabe Bd. 1, S. 85). Page 334
Vgl. auch seine Äußerung: »Die Lösung des Problems, das Du im Leben siehst, ist eine Art zu leben, die das Problemhafte zum Verschwinden bringt. Daß das Leben problematisch ist, heißt, daß Dein Leben nicht in die Form des Lebens paßt. Du mußt dann Dein Leben verändern, und paßt es in die Form, dann verschwindet das Problematische.« (Vermischte Bemerkungen, S. 487). Page 334
†24 Vermischte Bemerkungen, S. 511. Page 334
†25 Vermischte Bemerkungen, S. 483. Page 334
†26 Eintragung Wittgensteins am 31.10.1946, MS 133. Page 335
†27 Vermischte Bemerkungen, S. 501. Page 335
†28 Vgl. dazu Wittgensteins Brief an Ludwig von Ficker vom 28.11.14: »Ich danke Ihnen für die Zusendung der Gedichte Trakls. Ich verstehe sie nicht; aber ihr Ton beglückt mich. Es ist der Ton der wahrhaft genialen Menschen.« (Ludwig Wittgenstein: Briefe an Ludwig von Ficker. Hrsg. von Georg Henrik von Wright unter Mitarbeit von Walter Methlagl. Salzburg: Otto Müller Verlag 1969, S. 22). Page 335
Paul Engelmann, der Wittgenstein ein Gedicht des deutschen Dichters Ludwig Uhland sandte, antwortete er:
»Das Uhlandsche Gedicht ist wirklich großartig. Und es ist so: Wenn man sich nicht bemüht, das Unaussprechliche auszusprechen, so geht nichts verloren. Sondern das Unaussprechliche ist,--unaussprechlich--in dem Ausgesprochenen enthalten!« (Engelmann, S. 62). Page 335
Hingegen äußerte er sich in einem Brief an Engelmann vom 23.10.1921 über Tagores Werk Der König der dunklen Kammer weniger begeistert, da ihm dessen Ton nicht der »Ton eines von der Wahrheit ergriffenen Menschen« zu sein schien--eine Meinung, die er allerdings später änderte, wie aus einem Brief an Hänsel hervorgeht. (Engelmann, S. 34f.) Page 335
†29 Vgl. M. O'C. Drury: Bemerkungen zu einigen Gesprächen mit Wittgenstein. In: Porträts und Gespräche, S. 120. Page 335
†30 Vgl. Engelmann, S. 74: »Besonders in jener frühen Zeit, da er zum ersten Mal in Olmütz war, litt Wittgenstein an einer leichten Sprachstörung, die sich aber später verloren hat. Besonders rang er damals nach Worten, wenn er angestrengt bemüht war, einen Satz beim Sprechen zu formulieren.« Vgl. auch Vermischte Bemerkungen, S. 475f., in denen Wittgenstein schreibt: »Ich drücke, was ich ausdrücken will, doch immer nur ›mit halbem Gelingen‹ aus. Ja, auch das nicht, sondern vielleicht nur mit einem Zehntel. Das will doch etwas besagen. Mein Schreiben ist oft nur ein ›Stammeln‹.« Page 335
†31 Im Jahre 1919 schrieb Wittgenstein an Ludwig von Ficker über seine Abhandlung: »Von seiner Lektüre werden Sie nämlich--wie ich bestimmt glaube--nicht allzuviel haben. Denn Sie werden es nicht verstehen; der Stoff wird Ihnen ganz fremd erscheinen. In Wirklichkeit ist er Ihnen nicht fremd, denn der Sinn des Buches ist ein Ethischer. Ich wollte einmal in das Vorwort einen Satz geben, der nun tatsächlich nicht darin steht, den ich Ihnen aber jetzt schreibe, weil er Ihnen vielleicht ein Schlüssel sein wird: Ich wollte nämlich schreiben, mein Werk bestehe aus zwei Teilen: aus dem, der hier vorliegt, und aus alledem, was ich nicht geschrieben habe. Und gerade dieser zweite Teil ist der Wichtige. Es wird nämlich das Ethische durch mein Buch gleichsam von Innen her begrenzt; und ich bin überzeugt, daß es, streng, nur, so zu begrenzen ist. Kurz, ich glaube: Alles das, was viele heute schwefeln, habe ich in meinem Buch festgelegt, indem ich darüber schweige. Und darum wird das Buch, wenn ich nicht sehr irre, vieles sagen, was Sie selbst sagen wollen, aber Sie werden vielleicht nicht sehen, daß es darin gesagt ist. (Briefe an Ludwig von Ficker, S. 35). Page 339
†1 Ludwig Hänsel: Wertgefühl und Wert. In: Wiener Zeitschrift für Philosophie, Psychologie, Pädagogik, Bd. 2, Heft 3, April 1949, S. 1-40. Page 339
†2 Die näheren Umstände konnte der Verfasser nicht eruieren. Page 339
†3 Ludwig Hänsel: Das Relative und das Absolute. Nach einem Vortrag an der Ottakringer Volkshochschule. In: Österr. Rundschau 2, Heft 10, 1936, S. 451-460. Page 340
†4 Brief Nr. 232. Page 340
†5 ebenda. Page 340
†6 Hänsel selbst schreibt in seinem Nachruf (S. 245): »Es gibt in seinen Schriften (auch in seinen Briefen) keinen Satz, der nicht wohl gebaut wäre, auf Klarheit, Natürlichkeit, Einfachheit hin: kein Wort trifft daneben, kein Wort ist zuviel oder zuwenig, keines zu hoch gegriffen, keines affektiert, keines ein bloßes Ornament. Er ›wohnte‹ wahrhaftig im ›sichern Satzbau‹.« Page 341
†7 Brief Nr. 232. Page 341
†8 Dies bestätigte Ludwig Hänsels Sohn Hermann Hänsel in einem Gespräch mit dem Verfasser. Page 341
†9 Ihn interessierende Fragestellungen und Überlegungen Hänsels hat er stets mit einem seitlichen »!« gekennzeichnet. Page 342
†10 Vgl. Sonderdruck Wertgefühl und Wert (= SWGW), S. 30 und S. 39. Page 342
†11 Vgl. z.B. SWGW, S. 24. Dort erörtert Hänsel die »Gegenstände« der Mathematik und »Logik« im Zusammenhang mit dem logischen Wertbegriff. Obwohl Wittgenstein durch seitliche Wellung neben seinen beiden Rufzeichen zum Ausdruck brachte, daß hier seiner Auffassung nach einige stilistische Unklarheiten vorliegen, hielt er Hänsels Erörterungen für interessant. Page 342
†12 SWGW, S. 40. Page 342
†13 Bleistiftnotiz Wittgensteins am Deckblatt des Sonderdrucks. Page 342
†14 Vgl. SWGW, S. 9. Vgl. auch Beispiel 2 am Schluß der vorl. Arbeit. Page 344
†15 TLP, 6.41. Page 344
†16 Es ist also hier nicht von »Wertfreiheit« im Sinne Max Webers die Rede. Diese ist ja eine freigewählte wissenschaftliche »Attitüde«, die zunächst offen läßt, ob ein betrachteter Gegenstand »wertvoll« ist oder nicht. Im Wirkungsbereich solcher wissenschaftlichen Attitüden werden Werturteile lediglich methodisch ausgeklammert! Page 344
†17 Vgl. Werkausgabe Bd. 3, S. 117. Page 344
†18 ebenda, S. 116f. Page 345
†19 ebenda, S. 115f. Page 345
†20 Vgl. dazu z.B. Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. 6. Aufl. Bern, München 1980 (Gesammelte Werke 2), S. 40: »Aber auch die ›Wertverhalte‹ sind nicht bloße Werte von Sachverhalten. Die Erfassung der Sachverhalte ist nicht die Bedingung, unter der sie uns gegeben werden.« Zur Behebung jenes auch von Wittgenstein angesprochenen Defizites, daß Werte und Sachverhalte, zunächst nichts miteinander zu tun haben, führt Scheler den Terminus »Wertverhalte« ein, der allerdings keine positive Wertung des Sachverhaltes zum Ausdruck bringen will, sondern vielmehr die Tatsache als eine solche kennzeichnet, der man ganz offensichtlich einen Wert beimißt. Mit dieser Definition lassen sich, um auf ein von Scheler an dieser Stelle gegebenes Beispiel zurückzukommen, die Sprachspiele eines Weinkenners verbinden, der über die Eigenschaften wertvoller Weine spricht, ohne daß dadurch absolute Wertbehauptungen aufgestellt bzw. absolute Werturteile gefällt werden, die für sich kategorische Allgemeingültigkeit beanspruchen. Page 345
†21 Vgl. ebenda, Abschnitt VI. Page 345
†22 Z.B. Schelers Konzeption einer personalen Wert-Ethik, die alle wesentlichen deskriptiven Eigenschaften direkt auf eine, mehr oder minder metaphysische Personalität zurückführt. Hier finden wir verblüffende Anklänge zu manchen Auffassungen Ferdinand Ebners im Zusammenhang mit seiner Kritik an Weiningers Gleichsetzung von Ethik und Logik, an der ja Wittgenstein zeitlebens festhielt! Page 346
†23 Ludwig Wittgenstein: Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften. Hrsg. von Joachim Schulte. Frankfurt/Main 1989, S. 16. Page 346
†24 Vgl. auch Werkausgabe Bd. 3, S. 117f, vor allem S. 118: »Moral predigen ist leicht, Moral begründen unmöglich.« Page 346
†25 Vgl. ebenda, S. 115. Page 346
†26 Vgl. Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Abschnitt VI, Teil B: Die Person in ethischen Zusammenhängen. Page 347
†27 SWGW, S. 1. Page 347
†28 Vgl. SWGW, S. 2ff. Page 348
†29 Vgl. SWGW, S. 5.
Page 348
†30 Vgl. SWGW, S. 7. Page 348
†31 Z.B. der Versuch einer Synthese mit werttheoretischen Ansätzen der Gestalt- und Gegenstandstheorie, so wie er sie von der »Grazer Schule der Gegenstandstheorie« her kannte. Page 348
†32 Vgl. SWGW, S. 11. Page 348
†33 Vgl. SWGW, S. 5 Page 348
†34 Dazu vgl. SWGW, S. 20. Page 348
†35 Vgl. SWGW, S. 38. Page 348
†36 SWGW, S. 39 Page 349
†37 SWGW, S. 39. Die Hervorhebungen in diesem Zitat kennzeichnen »Unterwellungen«, die Wittgenstein vorgenommen hat. Page 349
†38 Im Aufsatz Ludwig Wittgenstein (1889-1951) hat Hänsel Wittgensteins tiefere Beweggründe ganz offensichtlich erkannt: »Er ist kein Ideologe. Er hat manchen Zug mit Kierkegaard und insbesondere mit Pascal gemein. Diesen beiden waren wie ihm das Unsagbare oder Paradoxe der letzten Wahrheiten bewußt geworden. Das Bewußtsein davon ist jetzt allgemein geworden. [...] Vielleicht kommt die Zeit, wo eine unbefangene Schau der Welt und der Wahrheiten des Christentums das ›Unerforschliche‹ (das nur in Sinnbildern oder widersprüchlichen Begriffen Zugängliche und doch Wirkliche) ohne die Zudringlichkeiten der Kritik und die Subtilitäten der Erklärung, ohne jegliche begriffliche Anmaßung, als Mysterium ›ruhig zu verehren‹ lehrt [...]«. (246) Page 349
†39 Siehe: SWGW, S.: 2, 3, 6, 13, 14, 15, 18, 19, 20, 21, 24, 29, 32, 33, 40. Page 349
†40 Siehe SWGW, S.: 3, 8, 9, 13, 14, 16, 19, 23, 25, 38, 39. Page 349
†41 Siehe SWGW, S.: 2, 5, 9: Im Zusammenhang mit Hänsels Frage nach dem Verhältnis eines Ichs zu seinen Wertgegenständen (als Theorie der »Präsentation«) notiert Wittgenstein: »Dann wäre ja Werturteil wieder nur der Satz ›Dieses Ding bringt in uns (vielen von uns) diese Reaktion hervor‹«. Dann auf S. 16 und 19: Wittgenstein bemerkt zu einer von Hänsel wiedergegebenen Charakteristik von Schelers Theorie der religiösen Gefühle:« Wenn man sich mit jedem Esel herumschlägt, wird man leicht selber einer.« Weiters S. 21, 22, 25: Wittgenstein bemerkt zu einem Absatz Hänsels, der zugegebenermaßen etwas unpräzise über Schelers Konzept von den »Wertverhalten« spricht: »Nimm die Wiederholungen fort & das Leere der Paragraphen wird sich zeigen.« Schließlich noch S. 30, 32, 39. Page 349
†42 Siehe SWGW, S. 15: Dort streicht Wittgenstein einen ganzen Absatz weg, in dem Hänsel eine durchaus eigenständige Theorie der »Farbenwerte« entwickelt, in deren Zentrum sogenannte »materiale Farbwerte« stehen (die sehr stark an die Auffassungen zur Theorie der Farbnuancen des französischen Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty erinnern lassen). Wittgenstein will damit deutlich zum Ausdruck bringen, daß seine drei Verdikte zur Ethik sinngemäß auch im Bereich der Ästhetik gelten müssen. Er lehnt das in dem Absatz Vorgebrachte schlechtweg ab. Schließlich noch: S. 17. Page 349
†43 Siehe SWGW, S. 8, 9, 23, 24, 34. Page 349
†44 Siehe SWGW, S. 5, 7, 9, 14, 15, 20, 38, 39. Page 349
†45 Siehe SWGW, S. 5, 14, 20. Page 350
†46 SWGW, S. 5; die Hervorhebungen in diesem Zitat kennzeichnen Unterstreichungen von Wittgensteins Hand. Page 350
†47 Vor allem Lotze und seine Schüler, aber auch einige Neukantianer (z.B. Heinrich Rickert und indirekt
auch Heinrich Hertz) haben versucht, auch die Werte unter ein »logisches Prinzip« zu bringen, das unifizierend wirken sollte und es im übrigen gestattete, auch das Wertproblem einem psychophysischen Monismus zu unterwerfen. Geltungen können ja immer auch als ideelle Zusammenhänge aufgefaßt werden, die sich ihrer grundsätzlich psychophysischen Natur wegen, so wie Hänsel zurecht feststellt, immer gesetzmäßig relational zeigen müssen. Wittgenstein hat allerdings das logische Konzept von der »Geltung« bereits im Tractatus für suspekt gehalten, so daß folglich insgesamt nur an acht Stellen dieses Werks von »Gelten« im obigen Sinne die Rede ist. Page 350
†48 Vgl. Anm. 18. Page 350
†49 Werkausgabe Bd. 3, S. 116. Page 350
†50 Man sollte nun aber nicht vergessen, daß auch Hänsel hier nicht seine Auffassung wiedergibt, sondern vielmehr über eine Theorie spricht, die seiner Ansicht nach abzulehnen ist. Dies zeigt der Fortgang seiner Argumentationen sehr deutlich. Page 351
†51 TLP, 4.122. Page 351
†52 SWGW, S. 9. Page 351
†53 SWGW, S. 14. Die Hervorhebung kennzeichnet eine Unterwellung Wittgensteins. Page 352
†54 So heißt es z.B. in Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie Band 2: »Der Mensch denkt, fühlt, wünscht, glaubt, will, weiß. Das klingt wie ein ein vernünftiger Satz. So wie: Der Mensch zeichnet, malt, modelliert.« (Werkausgabe Bd. 7, S. 222). Page 355
†1 Michael Pfliegler: Ludwig Hänsel +. In: Religion, Wissenschaft, Kultur 11, 1960, S. 87. Page 355
†2 Von Hänsels Studenten danke ich Michael Benedikt, Herbert Zdarzil, Richard Sickinger, Berhard Stillfried, Otto Muck und vor allem Friedrich Hansen-Löve für ihre Informationen über Hänsel und dessen hier angeführte Aktivitäten. Ich bedanke mich auch bei Paul Feyerabend, Alexander Auer und den Mitgliedern des Österreichischen Colleges für ihre Informationen über die Nachkriegszeit in Wien. Ich allein trage die Verantwortung für eventuelle Fehler, die sich in meinem Bericht eingeschlichen haben könnten. Page 355
†3 Rudolf Haller: Die Philosophische Entwicklung im Österreich der Fünfzigerjahre. In: Fragen zu Wittgenstein und Aufsätze zur Österreichischen Philosophie. Amsterdam: Rodopi 1986 (Studien zur österreichischen Philosophie 10), S. 219-245. Page 356
†4 Rudolf Haller: Österreichische Philosophie. In: Studien zur österreichischen Philosophie. Amsterdam: Rodopi 1979 (Studien zur österreichischen Philosophie 1), S. 5-22. Page 356
†5 Über das Österreichische College siehe Otto Molden: Der Zukunft verpflichtet. Wien: Österreichisches College 1974. Molden erwähnt Hänsel nicht. Page 356
†6 Ludwig Hänsel: Begegnungen und Auseinandersetzungen, S. 353. Page 357
†7 Newton, Goethe, Pascal. Die Farbenlehre und das Problem der Mitte. In: ebenda, S. 91-174. Page 357
†8 Ignaz Zangerle hat »Neuland« folgendermaßen beschrieben: »Neuland war kein Verein im üblichen Sinne, keine Loge sich elitär verstehender Katholiken, sondern eine Bewegung, mehr ein Bund von aufbruchwilligen Studenten und Studentinnen--auch dies war damals innerhalb der Kirche als etwas unerhört Neues empfunden--fast möchte man sagen, ein moderner Laienorden«. Religiöser Frühling nach 1918. In: Religion und Kultur an Zeitenwenden. Hrsg. von Norbert Leser. Wien, München: Herold 1984, S. 253. Für einen hilfreichen Überblick der Katholischen Philosophie jener Zeit mit einer Besprechung der Rolle der »Wiener Katholischen Akademie« siehe: Otto Muck: Die Katholiken und die Philosophie. In: Kirche in Österreich 1881-1965. Hrsg. von Ferdinand Klostermann, Hans Kriegl, Otto Mauer, Erika Weinzierl. Wien: Herold 1967. Page 358
†9 Hänsel: Begegnungen und Auseinandersetzungen, S. 355.
Page 358
†10 Dies trifft zumindest für die Personen zu, mit denen es mir möglich war, zu sprechen. Forscher, die bei historischen Projekten mit mündlichen Berichten zu tun haben, erwähnen oft solche Gedächtnismängel, doch es ist trotzdem erstaunlich, wie wenig in diesem Fall nach ca. 40 Jahren übrig geblieben ist. Page 359
†11 Über Meinong siehe David Lindenfeld: The Transformation of Positivism: Alexius Meinong and European Thought 1880-1920. Berkely, Los Angeles: University of California Press 1980. Page 359
†12 Seine Auseinandersetzung mit Hegel ist erstaunlich angesichts Hänsels angeblicher Unfähigkeit, den philosophischen Idealismus zu schätzen, doch es ist eine typische Grazer Einstellung gegenüber der Philosophie. Page 359
†13 Zumindest nach Ansicht von Lucien Goldmann. Siehe dazu: Le dieu caché. Paris: Gallimard, 1951. Page 362
†1 Siehe Bildteil, Nr. 4 Page 362
†2 Hänsel an Ludwig von Ficker, Wien, 22.7.1958, soweit nicht anders angegeben, befinden sich unveröffentlichte Texte im Forschungsinstitut »Brenner-Archiv« der Universität Innsbruck. Page 362
†3 Oskar Walzel: Schicksale des lyrischen Ichs. In: Das literarische Echo 18, 1915/1916, Sp. 593-600 und 676-683. Page 362
†4 Hänsel an Ludwig von Ficker, Wien, 21.2.1923. Page 362
†5 ebenda. Page 363
†6 ebenda. Page 363
†7 Vgl. Ludwig Wittgenstein an Ludwig von Ficker, Krakau [28.11.1914], in: Ludwig von Ficker: Briefwechsel, Bd. 2. Innsbruck 1988, S. 53, und Ludwig Wittgenstein an Paul Engelmann, 9.4.1917. In: Engelmann, S. 16f. Page 363
†8 Hänsel an Ludwig von Ficker, Wien [12.2.1923], am Ende des Satzes Textverlust. Page 363
†9 ebenda. Page 363
†10 ebenda. Page 363
†11 Vgl. Hänsel an Ludwig von Ficker, Wien, 19.4.1923, in: Ficker: Briefwechsel, Bd. 2, S. Page 364
†12 ebenda. Page 364
†13 7. Folge, 2. Teil, S. 226-229. Page 364
†14 Der Brenner, 8. Folge, 1923, S. 246. Page 364
†15 Vgl. S. 226. Page 364
†16 Vgl. S. 49 und Wittgenstein an Paul Engelmann, 5.8.1921. In: Engelmann, S. 33. Page 364
†17 Der Brenner, 6. Folge, Heft 9. Page 364
†18 Der Brenner, 6. Folge, Heft 2, S. 122-132. Page 364
†19 ebenda, S. 131. Page 364
†20 Wittgenstein an Paul Engelmann, 5.8.1921. In: Engelmann, S. 33. Page 365
†21 Vgl. S. 211.--Zur vorliegenden Problematik vgl. Gerald Stieg: Der Brenner und die Fackel. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte von Karl Kraus. Salzburg 1976 (Brenner-Studien 3), S. 5-7. Page 365
†22 Vgl. Ludwig von Ficker an Franz Glück, 4.4.1934, in: Ficker: Briefwechsel, Bd. 3. Innsbruck 1991, S. 249. Page 365
†23 Vgl. S. 223f. Page 365
†24 Hänsel an Ludwig von Ficker, Wien, 6.2.1935. Page 365
†25 Vgl. S. 220. Page 365
†26 Vgl. S. 215f. Page 365
†27 Ludwig Hänsel an Ludwig von Ficker, Wien, 4.1.1935. Page 365
†28 Ludwig von Ficker an Hänsel, Mühlau, 20.1.1935. In: Ficker: Briefwechsel, Bd. 3, S. 273 Page 366
†29 ebenda. Page 366
†30 Hänsel an Ludwig von Ficker, Wien, 6.2.1935. Page 366
†31 Vgl. z.B. Ludwig von Ficker an Hildegard Jone, [Ende Juni 1928]. In: Ficker: Briefwechsel, Bd. 3, S. 119-122. Page 367
†32 Vgl. S. 225-226. Page 367
†33 Vgl. S. 232-235. Page 367
†34 Vgl. S. 236-241. Page 368
†35 Hänsel, Erklärung zu der Besprechung vom 31. Oktober 1952 über die Herausgabe der Gesammelten Werke Ferdinand Ebners, Durchschlag im Nachlaß Ludwig von Fickers. Page 369
†36 Vgl. S. 231. Page 369
†37 Vgl. S. 228. Page 369
†38 Vgl. S. 229. Page 370
†39 Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe Bd. 8, S. 199. Page 370
†40 Bisher hat dies ohne von dieser tatsächlichen Lektüre Kenntnis zu haben, nur Hans Rochelt versucht in seiner Arbeit: Das Creditiv der Sprache. (Von der Philologie J. G. Hamanns und Ludwig Wittgensteins). In: Literatur + Kritik, Heft 33, April 1969, S. 169-176. Page 370
†41 Vgl. J. G. Hamann: Schriften, Bd. 3, S. 236, 284. Page 370
†42 Hamann: Schriften, Bd. 2, S. 172. Page 370
†43 Vgl. S. 231. Page 371
†44 Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe Bd. 8, S. 442. Page 371
†45 Veröffentlicht in Ferdinand Ebner: Fragmente Aufsätze Aphorismen. Zu einer Pneumatologie des Wortes. Hrsg. von Franz Seyr. München 1963 (F. E./Schriften 2), S. 820-858. Page 371
†46 Hänsel an Ludwig von Ficker, Wien, 6.5.1951. Page 371
†47 Viktor Kraft: Der Wiener Kreis. Wien 1950. Page 371
†48 Vgl. Fickers zahlreiche Berufungen auf Hänsel in seinem Wittgenstein-Aufsatz. In: Der Brenner, Folge 18, 1954, S. 234-248, und Christian Paul Berger: Erstaunte Vorwegnahmen. Zum intellektuellen Verhältnis Ludwig von Fickers zu Ludwig Wittgenstein. In: C.P.B: Erstaunte Vorwegnahmen. Studien zumfrühen Wittgenstein. Wien 1992, S. 23-47.
Wittgenstein und die Musik Ludwig Wittgenstein - Rudolf Koder: Briefwechsel Vorapparat Titelblatt
WITTGENSTEIN UND DIE MUSIK Ludwig Wittgenstein - Rudolf Koder: Briefwechsel Herausgegeben von Martin Alber in Zusammenarbeit mit Brian McGuinness und Monika Seekircher Zwei Essays über musikalische Aspekte in Leben und Werk von Ludwig Wittgenstein von Martin Alber
Inhalt Vorwort BRIEFWECHSEL WITTGENSTEIN - KODER KOMMENTAR Rudolf Koder Erläuterungen zu den Briefen Martin Alber: Josef Labor und die Musik in der Wittgenstein-Familie Martin Alber: "Jetzt brach ein ander Licht heran, ...". Über Aspekte des Musikalischen in Biographie und Werk Ludwig Wittgensteins ANHANG Editorischer Bericht Literaturverzeichnis Verzeichnis der Briefe Register
Vorwort Der vorliegende Briefwechsel zwischen Ludwig Wittgenstein und Rudolf Koder ist insgesamt ein Dokument privater Art, das Zeugnis einer Lebens-Freundschaft, entstanden und in nicht geringem Maße genährt von der gemeinsamen Liebe zur Musik. Die Freundschaft mit Ludwig brachte Koder im Laufe der Zeit eine enge Bekanntschaft mit Wittgensteins Schwestern. Auch ihnen wurde er - mit musikalischem Schwerpunkt - ein Lebensbegleiter, was ihm teilweise die Rolle eines vertrauten Mittlers zwischen Ludwig in England und Hermine, Margarete und Helene in Wien zuwies. Der private Charakter der Korrespondenz erübrigt eine inhaltliche Zusammenfassung an dieser Stelle. Begleitet wird der Briefwechsel von einem knappen Einzelstellenkommentar (siehe editorischer Bericht) und einem weiter ausgreifenden Flächenkommentar, der sich in zwei Essays über Musikalisches im familiären Umfeld der Wittgensteins bzw. in Leben und Werk Ludwig Wittgensteins gliedert. Der erste Essay ist dem "Hauskomponisten" der Wittgensteins, Josef Labor, gewidmet. Seine Biographie führt ins 19. Jahrhundert zurück, zu familiären Nahverhältnissen der Wittgensteins mit Joseph Joachim und zur Bekanntschaft mit Johannes Brahms, zu den musikalischen Salons der Wiener Aristokratie sowie zu
Rezeptionsweisen und musikalischen Vorlieben in der Familie Wittgenstein am Beispiel der Generation Ludwigs. Der zweite, umfangreichere Essay beschäftigt sich auf dokumentarische Weise vor allem mit musikalischen Aspekten in Ludwig Wittgensteins Philosophieren und in den überlieferten Gesprächen und Erinnerungen verschiedener Zeitgenossen und Freunde. Hier wird das in der Familie grundgelegte Rezeptionsmuster wiederaufgegriffen: Der Rückgriff auf romantisches Musikverständnis, dessen Bausteine skizziert werden, und die daran haftende Kanonbildung in den musikalischen Vorlieben Wittgensteins lassen einen thematischen Flächenkommentar zu den verstreuten Äußerungen in der Gesamtkorrespondenz Wittgensteins und in den Niederschriften (v. a. Vermischte Bemerkungen und Zettel) entstehen. Angeführt und anhand von zeitgenössischen musiktheoretischen Stellungnahmen aufgefächert ist auch die von Wittgenstein thematisierte Verwandtschaft von Musik und Sprache, ein traditionsreiches Paradigma, zu dem u. a. in Grillparzers Äußerungen zur Musik, die von Wittgenstein selber zitiert werden, einiges zu finden ist. Der Rückgriff auf zeitgenössiche und ältere Literatur aus dem (engeren) musiktheoretischen und dem (weiteren) auf Musik bezogenen ästhetischen Kontext soll den damaligen Stand des "Redens über Musik" für heute Interessierte ein wenig erhellen, an dem, wie wir annehmen können, die Familie Wittgenstein - mehr oder weniger - teilgenommen hat. Besondere, aber keineswegs erschöpfende Beachtung finden in diesem Essay musikalische Einzelaspekte wie etwa Regelhaftigkeit, Variationstechnik und der Gebärdencharakter des musikalischen Ausdrucks, die Wittgenstein keine Ruhe ließen. Damit zusammenhängend wird ein Naheverhältnis zwischen dem Nachdenken über musikalischen Ausdruck und der begrifflichen Arbeit rund um das "Sprachspiel" hergestelllt. Die Darstellungsweise des Essays verfolgt dabei aber nicht einen argumentativen Zweck, etwa in dem Sinne, der Interpretationsarbeit rund um Wittgenstein eine neue Spur zu legen. Die herausragende Gewichtung, die Wittgenstein der Musik in seinem Leben zusprach, wird vielmehr aus heuristischem Wagemut zum Filter für die Betrachtung der Physiognomie seines Philosophierens. Dies bedingt, daß Überlagerungen und mannigfaltige Querverbindungen auch zu dem im Essay über Josef Labor und die Bedeutung der Musik in der Familie Wittgenstein gesammelten Material sichtbar werden. Der Essay soll zum Weiterlesen anregen. Denkwege - einmal veranlaßt - erschließen sich im Abgehen. Danken möchte ich allen Personen, die die Herausgabe dieses Buches durch Bereitstellung von Material ermöglicht haben. Zuerst Prof. Johannes Koder und Dr. Margarete Bieder Koder, auch für das gute Arbeitsklima in Wien. Prof. Brian McGuinness sowie den hilfreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der aufgesuchten Bibliotheken und Archive: Musikwissenschaftliches Institut und Universitätsbibliothek Innsbruck, Musikabteilung der Stadtbibliothek München, Universitätsbibliothek Salzburg, Konzerthaus Wien, Musikverein Wien, Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien, Bibliothek der Arbeiterkammer Wien. Dank auch dem immer motivierenden Allan Janik, Günter Kresser für den fotographischen Teil, Toni Unterkircher und Monika Seekircher für alles. Maria und den Geralds in Wien Dank für die kostengünstige Abwicklung der zahlreichen Aufenthalte dort. Den größten Dank, weit über diese Arbeit hinausgehend, Walter Methlagl. Meine Innsbrucker Zeit war sein Dirigat. Martin Alber
Briefwechsel Ludwig Wittgenstein – Rudolf Koder 1 AN RUDOLF KODER [vor dem 2. 4. 1923] Ich würde mich freuen, Sie Montag um ½ 10h vorm. Ecke Mariahilferstr. und Kirchengasse beim Haidendenkmal zu treffen. Wir könnten dann miteinander zu H. Labor gehen, den ich von unserem Besuch verständigt habe. Ich hoffe sie k[ö]nnen sich frei machen! Wittgenstein
2 AN RUDOLF KODER [Anfang 1925] Lieber Koch! Du hast mir die Bilder nie geschickt und sie sind daher auch nicht bei mir. Im Koffer waren nur die wenigen kleinen Bilder die ich habe; wie wären auch die großen hineingegangen! Ich erinnere mich deutlich, daß wir besprochen haben, Du würdest mir die großen Bilder nachschicken, wenn ich sie brauche. Sind sie nicht vielleicht im Kasten in meiner Klasse geblieben? Dort haben wir ja Verschiedenes verstaut, unter anderem auch die Zeichnungen die mir meine Kinder am Schluß des Jahres gegeben hatten. Bitte schau dort nach. Keinesfalls aber sind sie bei mir. Es ist möglich, daß sie unter den geologischen Staubschichten, die die Gegenstände Deines Zimmers zum Teil bedecken, vergraben sind und daß erst spätere Ausgrabungen sie wieder ans Licht bringen
werden. Grabe aber immerhin auch jetzt schon soweit Du kommst. Solltest Du die Bilder finden, was ich sehr hoffe, so, bitte, schicke sie mir gleich! - Habt Ihr Semestralferien? Wir wissen hier noch gar nichts. Solltest Du schon etwas wissen so, bitte, teile mir's gleich mit. Lieber Koch, also such' nur recht fleißig und Du wirst bestimmt alles finden und vielleicht noch mehr, als Du Dir träumen läßt. So wie Dir muß es Schliemann zumute gewesen sein, als er daran ging, die Ruinen Trojas auszugraben. Heil! Schreib bald Deinem Ludwig Wittgenstein
3 AN RUDOLF KODER Ludwig Wittgenstein Otterthal Post Kirchberg am Wechsel N. Ö. Herrn Lehrer Rudolf Koder Puchberg am Schneeberg Nieder-Österreich [Poststempel: KIRCHBERG AM WECHSEL, 9. 2. 25] Lieber Koderl! Ich komme, wenn nichts unerwartetes geschieht am Samstag zu Dir. Beiliegend das kleine Geschenk, welches ich Dir seinerzeit überreicht habe, dann aber wieder in meinem Rucksack fand. (Offenbar durch einen Irrtum Deinerseits) Hier ist noch alles im Ungewissen. Ich freue mich darauf Dich zu sehen etc., Dein Ludwig
4 AN RUDOLF KODER 24. 4. 25. Lieber Kocherl! Vielen Dank für Deinen lieben Brief und die herrlichen Rosinen! - Auch hier in meinem idyllischen Otterthal wird mein Geburtstag, den ich am liebsten geheim gehalten hätte, von der Bevölkerung durch eine mächtige Demonst[r]ation gefeiert. Aus allen Gauen der Waldmark strömen Tausende und Abertausende herbei; um ihren geliebten Lehrer an seinem Jubeltag zu begrüßen und dem Wunsche Ausdruck zu verleihen, er möchte noch viele Jahre zum Wohle der vaterländischen Jugend wirken und dadurch auch den jüngeren Kräften - wie z.B. Dir - ein Beispiel und Ansporn der Aufopferung und Pflichttreue sein. Ich selbst werde an diesem Tage über den Achtstundentag, den Völkerfrieden und die Arbeitslosenunterstützung reden. Vor kurzem habe ich einen Artikel in die pädagogische Beilage der Arbeiterzeitung gegeben und sende ihn beiliegend. Es ist die Beschreibung einer Deutschstunde an meiner Waldmarkschule. - Der Pianist Viktor Wittgenstein ist nicht mit mir verwandt und ich las heute mit Befriedigung, daß er "verschwommen und ausdruckslos" gespielt und sogar öfters den Faden verloren habe. - In einer Woche werde ich wahrscheinlich nach Wien fahren: Freitag ist nämlich der 1. Mai, Samstag haben wir Kommunion und Sonntag ist Sonntag. Ich wollte Du könntest auch kommen! Aber es wird wohl nicht gehen, schon darum, weil Du am 1. Mai beim Gesangsverein beschäftigt bist.(?) Sollte es doch möglich sein, so lasse mich's wissen. Auch ich bin jetzt immer sehr beschäftigt gewesen. Ich habe ein Geleitwort zu meinem Wörterbuch geschrieben; das ist aber gestern, Gott sei Dank, abgegangen. Mein Oberlehrer kommt weg und dummerweise noch vor Schulschluß, so daß wir hier noch einen Wirbel haben werden. Hier schicke ich Dir eine Karte auf der ich mit meiner Klasse darauf bin (Ich sehe aus wie ein degenerierter Raubvogel.) Lieber Kocherl, wann werde ich Dich wiedersehen? Erst zu Pfingsten? Ich wollte Du könntest mich einmal besuchen, wenn die Verbindung besser wird! (Das wird jetzt bald sein.) Schreib bald wieder Deinem Ludwig W. Grüße Postl von mir.
5 AN RUDOLF KODER [1925/1926] Lieber Koderl! Ich habe vor 2 Tagen Deinen Brief erhalten und lasse Dich anständigerweise nicht so lange auf Antwort warten, wie Du mich (obwohl ich auch nicht wenig zu tun habe). Was die arme "Maria" betrifft, so ist doch klar, daß sie in Dich verliebt ist. Und da aus Deinem Brief hervorgeht, daß Du in sie nicht verliebt bist, so mußt Du ihr einen
Korb geben - ausdrücklich, oder durch Stillschweigen. Was immer Du aber tust, darfst Du sie nicht ins Gerede bringen. D.h., Du darfst von der Sache niemandem etwas erzählen (hoffentlich hast Du's nicht schon getan). Denn wenn sie Dir auch "greulich" ist, so ist sie doch ein armer Teufel und weiter nichts. - Mir tut sie leid. - Menschlicher wäre es freilich, ihr die Sache mündlich oder schriftlich klar zu machen; da es aber wohl keine Verständigung zwischen Dir und ihr gibt, so ist es - wie es mir scheint - das Einzige, Du gibst ihr durch Schweigen zu verstehen, wie Du denkst. (Ich sehe keinen Grund anzunehmen, daß sie verrückt ist; der Umstand, daß sie sich in Dich verliebt hat, ist jedenfalls noch kein genügender Beweis.) Daß Dir die ganze Sache sehr unangenehm ist, glaube ich wohl! Hoffentlich verläuft sie bald in den Sand! Daß Du mich "wieder einmal" besuchen willst, ist brav. Wenn Du gut und nett wärst, würdest Du Dich nicht so rar machen. Sei gegrüßt von Deinem treuen Ludwig W.
6 AN RUDOLF KODER [1925/1926] Lieber Koderl! Gott sei Dank! Du hast Glück gehabt - und ich auch. Gib nur acht, daß Du nicht Scharlach bekommst! - Vor ein paar Tagen gab ich meinen Kindern einen Aufsatz, "Das seltsame Rezept", eine Nacherzählung, und war wütend darüber, daß sehr viele das Wort "Doktor" nicht schreiben konnten, bis ich durch Deinen Brief lernte, daß es auch Lehrer gibt, die es nicht können. Docktor Es gibt allerdings auch ein Wort "Docktor" dies bedeutet das Tor eines Docks. Ein Dock ist der Ort, wo Schiffe ausgebessert werden. Ein solches Dock hat auch ein Tor, durch welches nämlich das Wasser hereingelassen wird, wenn das Schiff fertig ist & das Schiff hinausfährt. Vor ein paar Tagen bekam ich vom Postl eine Flasche Honig. Ist das nicht schön? Ich habe ihm gleich geschrieben. Auf Wiedersehen! Dein Ludwig 1 Beilage zu Deiner Belehrung & Unterhaltung
7 AN RUDOLF KODER 19. 4. 26. Lieber Koderl! Ich habe jetzt eine Stelle für mich gefunden: Ich werde heute in acht Tagen (Montag) als Gärtnergehilfe bei den Barmherzigen Brüdern in Hütteldorf meinen Dienst antreten. Wie es dazu gekommen ist, will ich Dir mündlich berichten. Ich möchte Dich am Ende dieser Woche besuchen und zwar am liebsten Freitag abend mit dem Zug zu Dir kommen und bis Sonntag bleiben. Warum ich so lange bei Dir bleiben will, das hat einen besonderen geheimen Grund (aber ich werde Dir ihn sagen.) Ist Dir das recht, so brauchst Du nicht zu schreiben, anderenfalls aber ja. Servus! Dein Ludwig V. Kriehubergasse 25 bei Dr Hänsel
8 VON RUDOLF KODER [Mitte Mai 1926] Lieber Ludwig! Ich danke Dir für die herrlichen Musikinstrumente. Wenn Du nächstens einmal herauskommst, werde ich Dir etwas vorblasen. Herr Postl hat mir erzählt, daß Du noch immer sehr müde wirst. Das tut mir sehr leid. Du wirst doch auch leichtere Arbeit haben, wenn die Umstecherei einmal vorüber ist, oder geht das immer so weiter? Hast Du die Zuschrift vom Gericht schon bekommen? Dein Austritt ist über Otterthal u. Puchberg hinaus nicht weiter bekannt geworden. Palma in Ternitz z.B. hat gar nichts gewußt, obwohl er doch in der Nähe des Inspektors ist. Dieser muß vielleicht Ursache haben, das geheim zu halten. Denn sonst wird doch so etwas gleich an die große Glocke gehängt. Ich komme in 8 Tagen hinein und will Dich am Pfingstsonntag nachmittag besuchen. Schreibe mir bitte, ob ich nach Hütteldorf oder in die Alleegasse kommen soll. Herr Postl hat mir erzählt, daß ihm etwas von Labor vorgespielt wurde und hat mir einige Angaben gemacht. Ich konnte aber nich[t] erraten, was es war. Ich freue mich schon sehr auf das Wiedersehen. Herzliche Grüße von Deinem Koch
Hier ein Autogramm von mir als Gegengeschenk: Der Alkohol ist das verderblichste Gift des Universums. R. Koder
9 AN RUDOLF KODER [3. 6. 1926] Lieber Freund! Heute früh ist meine Mutter gestorben. Es war ein sanfter Tod. Samstag nachmittag ist das Begräbnis & ich muß da anwesend sein. Ich werde daher wahrscheinlich nicht den rechten Zug zu Dir erreichen können. Wenn es irgendwie geht, komme ich, wenn nicht, so verschiebe ich es auf den nächsten Samstag. Ich bin Dein Ludwig
10 AN RUDOLF KODER [Fragment] [Herbst 1926] Lieber Koch! Alles mögliche scheußliche muß ich Dir schreiben: Heute vor 10 Tagen als ich von Dir zur[ü]ckkam, erhielt ich eine Vorladung vom Bezirksgericht Gloggnitz wegen Mißhandlung eines Schülers. Die Verhandlung war am 17., ihren Gang werde ich Dir erzählen, wenn wir uns wiedersehen. Das Ergebnis war, daß der Richter erklärte, er vertage die Verhandlung, bis ich auf meinen Geisteszustand untersucht sei, da er an meiner Zurechnungsfähigkeit zweifle. Ich werde mich also hier in Wien beim Bezirksgericht von einem Gerichtspsychiater untersuchen lassen müssen und erwarte die Vorladung täglich. Ich werde also am Freitag nicht zu Dir kommen können, da ich nicht weiß, wie & wann es weiter gehen wird. Wie leid es mir tut daß ich meinen Besuch verschieben muß kannst Du Dir denken. Ich bin übrigens neugierig, was der Psychiater zu mir sagen wird. Ich bin von Ekel vor der Untersuchung, wie vor der ganzen schweinischen Angelegenheit erfüllt. Außerdem beschäftigt mich noch eine andere abscheuliche Angelegenheit: Geiger hat wieder gestohlen & zwar diesmal eine goldene Uhr. Er wurde heute verhaftet und wird dem Jugendgericht eingeliefert werden.
11 VON RUDOLF KODER [Winter 1926/27 ?] Lieber Ludwig! Leider muß ich diesen Samstag unbedingt nach Wien fahren, da meine Anwesenheit sehr notwendig ist. Meine Mutter hat mir nämlich geschrieben, daß Hansi ganz verzweifelt ist, weil er trotz angestrengten Lernens nicht nachkommt und deshalb alle Lust zum Studieren verloren hat und austreten möchte. Nun muß ich mit ihm reden und schauen, was da zu machen ist. Solltest Du schon bei einem Professor gewesen sein, so bitte ich Dich, daß Du mir gleich Nachricht gibst, weil es mir sehr darum zu tun ist, zu wissen, was Du erfahren hast. Ich bin mir noch nicht klar darüber, was da ver[n]ünftigerweise geschehen soll. Ich möchte Dich Sonntag um 11h vorm. beim Schottentor treffen (Standuhr). Bitte, komm hin. Es grüßt Dich herzlich Dein Koch Was sagst Du dazu?
12 AN RUDOLF KODER [Entwurf?] [Winter 1926/27 ?] Lieber Freund! Ich werde Dich nicht bei der Uhr treffen. Denn erstens ist mein Katarrh noch nicht vorüber und ich will darum weder in der Kälte auf Dich warten noch dann im rauchigen Lokal mit Dir reden zweitens habe ich eine Abneigung gegen diese Art der Zusammenkunft außer natürlich wenn die Zeit drängt (dann ist mir alles recht). Es wundert mich daß Du der das alles weiß dennoch diesen Treffpunkt vorschlägst. Unser letztes Beisammensein war nicht befriedigend & ich will lieber auf dieses ganz verzichten als dieselbe Sache wieder zu erleben. Ist es Dir darum zu tun daß wir uns sehen so [wird] Dich der Weg zu mir nicht abhalten wenn aber nicht, so wird ohnehin nichts erquickliches draus. Bitte laß mich also wissen ob ich Dich bei mir erwarten darf oder nicht. Ich will noch schreiben Daß ich auf Dich gut bin und Dein Kommen mich also freuen würde Ich hoffe daß auch Du in Liebe an mich denkst, wenn aber jetzt nicht dann tus bald wieder. Dein
L.
13 VON RUDOLF KODER Montag, d. 21. [2.1927 ?] Lieber Ludwig! Als Du fort warst, hat es mir dann sehr leid getan, daß ich Dich gedrängt habe, den Zug zu benützen. Ich hatte eigentlich keinen triftigen Grund, es war nur eine dumme Laune von mir. Ich bin dann auf die Bahn gegangen, weil ich wissen wollte, ob Du den Zug erreicht hast. Ich konnte nichts erfahren, glaube aber, daß Du noch zurecht gekommen bist, weil ich Dich im Auto nicht gesehen habe. Ich hoffe, daß im Zug ordentlich geheizt war. Bitte, schreibe mir, wie Du hinein gekommen bist. Ich habe mir gedacht, daß Du wahrscheinlich auf den Gedanken kommen wirst, mich zu fragen, ob ich nicht etwas bereue. Da sage ich Dir gleich, ich bereue nur eines, nämlich, daß ich heute früh nicht so gut war, um Dir bis zum Auto Zeit zu lassen. Bitte, schreibe bald! Es grüßt Dich herzlich Dein Koch Bitte, sag dem H. Postl, daß ich mich freuen werde, wenn er mich besucht, ich habe aber so viel zu tun, daß wir nur Sonntag nachmittag beisammen sein können. Er soll mir aber schreiben, zu welcher Zeit er ankommt.
14 AN RUDOLF KODER [Fragment] [nach dem 21. 2. 1927 ?] Es giebt zweierlei übler Laune. Die eine ist mit wirklicher Liebe vereinbar die andere nicht. Oft ist man gegen einen Menschen den man liebt schlechter Laune in einer Weise wie man es gegen einen den man nicht liebt nicht einmal sein könnte. Nämlich man quält den andern & dabei sich selbst & kann doch nicht anders & [somit] denkt man: O weh! warum hab ich das getan! Und man sehnt sich dann nach Versöhnung. Die andere Art aber ist die daß man den Anderen nicht wirklich liebt aber sich bemüht ihn gern zu haben & nett gegen ihn zu sein daß aber hie & da die Spannung zwischen dem was man gern zeigen möchte & dem was man wirklich fühlt so groß wird daß man auf einmal gegen den anderen aushaut. Danach kann dann auch eine Art Reue eintreten indem man sich sagt nämlich: Das war doch nicht nötig, ich hätte doch netter gegen ihn sein können. Aber in Wirklichkeit war man ganz natürlich & die Unfreundlichkeit kam eben daher daß der innere Unwille sich einmal Bahn gebrochen hat
15 VON RUDOLF KODER [nach dem 21. 2. 1927 ?] Lieber Ludwig! Ich habe nur den 1. Fall gemeint, nämlich, die lieblose Art, in der ich die Sache zur Sprache brachte, tat mir leid. Und das war ja auch der Grund, warum ich auf die Bahn ging. Allerdings war ich [...] dann auch wegen der Kälte besorgt, als ich beim Gehen merkte, wie außerordentlich kalt es war. Leider komme ich bei solchen Gelegenheiten immer erst nachher darauf, daß ich unanständig gehandelt habe. Ich danke Dir sehr für Deinen Brief u. Deine Gesinung. Mit herzlichen Grüßen Dein Koch Ich werde sehr wahrscheinlich am nächsten Sonntag nach Wien kommen. Bitte, sage dem Herrn Postl, ich lasse ihn bitten, daß er mir den 1. Band der Kinderlieder von Reinecke kauft u. mitbringt. Er gehört für einen meiner Klavierschüler. Preis 5 S 20 od. 5 S 40.
16 VON RUDOLF KODER Donnerstag [Frühjahr 1927 ?] Lieber Ludwig! Ich war bei Sticklers. Sie sind sehr erfreut, daß Du Dich für den Buben verwendest hast. Leider ist der Bub nicht zu Hause u. kommt erst heute abend mit dem Zug, so daß er also erst morgen schreiben kann. Dann sagten mir seine Eltern, daß er noch bis November in die Schule gehen muß, da er dann erst 14 Jahre alt ist. Nun kann man in so einem Falle auf Ansuchen der Schulleitung auch schon mit Schulschluß entlassen werden, dazu ist aber der Einreichungstermin versäumt. Ich wollte mit dem Bürgerschuldirektor darüber sprechen, habe ihn aber nicht getroffen, da er in Wien ist und erst abends kommt. Der Oberlehrer sagte, daß es seiner Ansicht nach auch jetzt noch möglich ist die Altersnachsicht zu bekommen. Im Notfalle müßte halt der Herr Stickler nach Neunkirchen fahren und beim betreffenden Referenten persönlich darum ersuchen. Die Stiklers sind, wie gesagt, sehr froh darüber. Es wäre ihnen aber lieber, wenn der Bub den provisorischen Posten nicht antritt u. warten kann, bis er eine Stelle in der Fabrik bekommt, auch wenn das einige Monate dauert. Sie würden dann den Buben eventuell noch solange in die
Schule schicken. Wenn aber irgend ein zwingender Grund vorhanden ist, daß der Bub gleich irgendwo eintreten soll, so sind sie auch damit einverstanden. Auf jeden Fall werden sie gleich morgen um die Entlassung ansuchen, da er wenn es nötig sein sollte - dann noch immer freiwillig in die Schule gehen kann. - Ich fahre Samstag mittag hier weg u. komme Sonntag vormittag um 10h zu Dir in die Kriehubergasse. Die Adresse der Sticklers ist: Peter Stickler, Gärtner, Siening 6 Post Puchberg Es grüßt Dich herzl. Dein Koch
17 VON RUDOLF KODER [Winter 1927/28 ?] Lieber Ludwig! So leid es mir tut, muß ich Dich bitten, Deinen Besuch um eine Woche zu verschieben. Du kannst nämlich vorläufig nicht in meiner Wohnung schlafen, da ich ja die Decken nicht mehr besitze. Ich habe neulich ganz darauf vergessen. Ich mußte nämlich alle Decken dem Oberlehrer zurückgeben, da er sie dem Landesjugendamte, dem sie gehören, übergeben mußte. Deine Decke allein kann Dir aber bei der Kälte nicht genügen. Du mußt also im Winter im Hotel übernachten, und da ist es wohl besser, Du kommst 1 Woche später, weil Dir das Gehen dann leichter fällt als jetzt, wo Dein Fuß noch so schlecht ist. Nächste Woche bin ich dann auch nicht mehr in Rohrsbach und habe mehr Zeit und es ist mir auch deshalb angenehmer, wenn Du erst nächsten Samstag kommst. Der Schnellzug geht um 13.20 von Wien ab. Ich freue mich sehr auf Dein Kommen und hoffe, daß Du diese Zeilen gut aufnimmst. Mir fällt gerade folgendes ein: Ich bin vielleicht ein gemeines Hundsvieh aber ich weiß nur das eine, daß ich mich sehr freue, wenn Du nächsten Samstag kommst. Dein Koder
18 AN RUDOLF KODER [1928?] Lieber Koch! Danke für Deinen Brief. Ich komme Freitag mit dem Mittagszug heraus & esse mit Dir. Daß Deine Stimmung jetzt äußerst unbehaglich, trüb & unsicher ist verstehe ich ganz. Aber es gibt jetzt nur eins: Du darfst nicht reißaus nehmen, sobald sich ein Feind auch nur von Ferne zeigt. (Denn das willst Du ja machen.) Gott mit Dir & auf Wiedersehen Dein Ludwig
19 VON RUDOLF KODER 9.1.[1929] Lieber Ludwig! Ich danke Dir für die Karte aus Hannover. Es freut mich sehr, daß Du eine gute Fahrt gehabt hast. Ich habe Montag vormittag an Dich gedacht. Sonntag war ich mit den Eltern bei "Dreimal Hochzeit" und es hat uns allen so außerordentlich gefallen. Ich werde es mir noch einmal ansehen, wenn es sich [aus]geht. In Puchberg ist jetzt der Teich gefroren und es ist ein schönes Eis zum Schlittschu[h]laufen. Das ist mir riesig angenehm und ich laufe täglich mehrere Stunden mit dem H. Rosner. Heute abend höre ich im Radio die Übertragung der V. von Bruckner. Ich freue mich schon sehr darauf und werde dabei an Dich denken. Es grüßt Dich recht herzlich Dein Koder
20 VON RUDOLF KODER [vor 1.2.1929] Lieber Ludwig! Ich danke Dir für die Karten und den Brief. Hoffentlich fühlst Du Dich in Cambridge recht wohl. Mir geht es wie immer. Zuhause ist es jetzt manchmal ungemütlich, weil der Hansi sich zum groben Flegel entwickelt und mit dem Vater zusammen viel Ärger und Verdruß verursacht. Er ist scheinbar in den ärgsten Jahren und sehr oft unerträglich. Besonders seine Faulheit mitzuerleben, ist sehr unangenehm. Ich hätte nie gedacht, daß er sich so entwickelt. Mir ist das Allerliebste jetzt das Tanzen. Ich tanze sehr viel und mit großem Genuß. Zum Klavierspielen habe ich momentan keine sehr große Lust, höre aber öfters beim Herrn Rosner im Radio Musik. Ich bin jetzt überhaupt sehr eingenommen für das Anhören
von Musik im Radio oder Grammophon und ich glaube, daß es mir sogar angenehm ist, keine Musiker zu sehen. In Puchberg gibt es nichts Neues. Morgen haben wir nach langer Zeit wieder einmal eine Konferenz. Wie geht es Dir jetzt? Es grüßt Dich herzlich Dein Koder
21 AN RUDOLF KODER [Cambridge, zw. ca. 10. u. 24.2.1929] Mein lieber Koch! Ich habe mich nach langer Überlegung entschlossen - einige Zeit in Cambridge zu bleiben & dort etwas für mich zu arbeiten. Die Umgebung hier tut mir in gewissem Sinne wohl. Ich werde für die Osterferien nach Wien kommen & die dauern ca vom 20ten März bis zum 14ten April. Dann also werden wir uns sehen & ich hoffe recht viel. Bitte schreib mir & nicht zu selten! Meine Adresse ist bis auf weiteres: L. W. c/o. J. M. Keynes Kings College Cambridge, England Das Unangenehmste für mich ist jetzt, daß ich noch immer keine definitive Wohnung habe da im College derzeit alles besetzt ist. Ich wohne vorläufig bei Ramsey den Du seinerzeit in Puchberg gesehen hast. Er ist hier Professor. Das darf Dich übrigens nicht verwirren; meine Brief Adresse ist die auf der anderen Seite angegebene. Das herumsuchen nach einer passenden & nicht zu teueren Wohnung nimmt mir viel Zeit weg & so komme ich noch nicht recht in Schwung mit der Arbeit. Hoffentlich wird es bald! Was Du mir neulich über den Hansi geschrieben hast, hat mir sehr leid getan. Ich bin überzeugt daß in seiner gegenwärtigen Erziehung Vernunft die Hauptsache wäre & daß sie fehlt. Traurig ist es nur daß Du darunter leiden mußt. Schreibe gleich wie es Dir geht & alles Wissenswerte. Dein Ludwig
22 VON RUDOLF KODER [vor 20.3.1929] Lieber Ludwig! Ich dank Dir für den Brief und die Karte. Es freut mich, daß Du Dich wohl fühlst und eine Arbeit gefunden hast. Hoffentlich bekommst Du auch bald eine passende Wohnung. Ich habe früher nicht geschrieben, weil ich Dich schon auf der Rückreise vermutete. Du tust aber ganz recht länger dort zu bleiben, wenn Du dort zu einer Arbeit angeregt wirst. Zu Ostern werden wir uns dann oft sehen, da ich jetzt ohnehin in Wien wohne. Ich bin nämlich seit 1. Febr. nicht mehr in Puchberg sondern in Unter-Waltersdorf angestellt, wo es mir vorläufig noch gar nicht gefällt, so daß ich täglich aus und einfahre. Wie Du weißt, wollte ich schon lange von Puchberg weg und bin nur geblieben, weil [ich] dort das Klavier u. die Klavierstunden hatte und ein billiges Leben führen konnte. Im vergangenen Herbst habe ich nun versuchsweise [in] Unter-Waltersdorf [eingereicht], weil es nur 1 Stunde von Wien ist und eine günstige Zugsverbindung hat. Ich habe mich aber weiters nicht bemüht und war der festen Überzeugung, die Stelle nicht zu bekommen, sonst hätte ich es mir doch noch überlegt, den Ort angeschaut und das Gesuch vielleicht zurückgezogen. So aber ließ ich die Sache laufen und war ganz baff, als ich von meiner Ernennung erfuhr. Noch unangenehmer wurde es mir dadurch, daß ich erst am 30. Jänner verständigt wurde, daß ich schon am 1. Febr. den neuen Dienst anzutreten habe. Die Übersiedlung war bei der großen Kälte sehr unangenehm. Ich habe es anfangs in dem Ort überhaupt nicht aushalten können u. sehr bereut, so unbedacht eingereicht zu haben. Jetzt, wo ich draußen nur unterrichte, fühle ich mich schon wohler. Die Eisenbahnfahrten machen mir garnichts und ich bin froh, daß ich in Wien wohnen kann. Das Klavier geht mir sehr ab. Der neue Oberlehrer ist dem früheren sehr ähnlich. Die Kinder kenne ich noch nicht, da der größte Teil derselben krank ist. Hier ist Abteilungsunterricht, da die Schule nur 4 klassig ist. - Nun schließe ich für heute u. verspreche bald wieder zu schreiben. Es grüßt Dich herzlich Dein Koder Du kannst mir an meine Wiener [Adresse] oder nach Unter-Waltersdorf, Schule, schreiben.
23 VON RUDOLF KODER 10.5.29. Lieber Ludwig! Ich danke Dir sehr für die Karte. Verzeihe bitte, daß ich so spät antworte. Ich wollte es schon längst tun, habe es aber immer auf den nächsten Tag verschoben, weil ich nie zum schreiben fähig war, das heißt, weil ich nicht
wußte, was ich Dir schreiben soll. Ich hätte nur klagen können und das wollte ich nicht. Es tut mir nur leid, daß ich nicht schon früher auf den Einfall gekommen bin, Dir wenigstens das zu schreiben, wie ich es heute mache. Wie geht es Dir? Ich hoffe, recht gut. Ich war nach Deiner Abreise besorgt, daß Du vielleicht krank geworden seist, weil Du nicht gleich geschrieben hast und auch Deiner Schwester keine Nachricht gegeben hast. Ist es in England auch schon heiß? Hier ist es schon wie im Sommer. Ich verbringe die Zeit auf die dümmste Weise und kann mich zu keiner ordentlichen Arbeit aufraffen, so oft ich es mir auch vornehme. Meine Mutter ist seit 1 Woche zu Hause, aber ihr Arm ist noch lange nicht gut, was sehr unangenehm ist. Ich will jetzt bei Frau Radnitzky Stunden nehmen und mich so wenigstens zum Klavierüben zwingen. Abends gehe ich meistens ins Kino oder tanzen, was mir beides große Freude macht, mir aber nur über Stunden hinüberhilft und nichts Wirkliches gibt. Es grüßt Dich herzlich Dein Koder
24 VON RUDOLF KODER [Juni 1929] Lieber Ludwig! Ich danke Dir sehr für den Brief u. die Karten. Ich will immer gleich schreiben und komme dann doch nicht dazu, das heißt eigentlich, ich bin nicht immer gleich in der nötigen Verfassung. Jetzt geht es mir übrigens wieder etwas besser, weil ich viel musiziere, was mir sehr gut tut. Ich war schon einmal bei Frau [Radnitzky], die mir einige sehr gute Ratschläge gab. Sie ist aber der Meinung, daß man mir nur ab und zu einen Rat über Vortrag des Stückes geben kann und eine technische Ausbildung nicht nötig sei. Dein Bruder Paul, der mit ihr darüber gesprochen hat, ist anderer Meinung und hat mir [vor]geschlagen, bei ihm Stunden zu nehmen und zwar vorläufig nur versuchsweise. Er glaubt, daß er mir viel von seiner Schule lernen kann. Ich bin natürlich sehr froh darüber und schon sehr gespannt, ob es mir möglich ist, nennenswerte Fortschritte zu machen. Morgen werde ich mit Deiner Schwester Hermine 4 händig spielen. Wahrscheinlich Bruckner oder Bach. Ich lese jetzt "Krieg u. Frieden" von Tolstoi. Es gefällt mir, aber ich bin nicht so begeistert davon, wie Deine Nichte Mariechen die es mir empfohlen hat. Ich bin allerdings erst im 1. Teil. Was machst Du immer und wie steht es mit Deiner Arbeit? Kannst Du irgendwo Musik hören? Hat der Labor, den Du mitgenommen hast, gefallen? Ich habe mir neulich im Kino "Engel der Straße" angesehen und war ganz entzückt von dem herrlichen Spiel der 2 Hauptdarsteller. Nun grüße ich Dich herzlich. Dein Koder
25 AN RUDOLF KODER [Juni 1929] Lieber Koch! Danke für Deinen Brief! Es ist gewiss das einzig Richtige für Dich einen wirklich gründlichen Unterricht im Klavierspielen zu nehmen! Ein gelegentliches Vorspielen, wie die Radnitzky meint, ist gar nichts. Ich bin davon überzeugt, daß Dir ein wirklich gründliches Studium - und zwar ganz gleichgültig ob Du es je verwenden kannst oder nicht - außerordentlich viel Gutes tun wird. Bitte tu's! Ich weiß natürlich nicht wie mein Bruder als Lehrer ist obwohl er natürlich sehr viel versteht (ich meine von der Technik des Spielens). - Nebenbei: was für ein Wahnsinn mir, einen Brief "express" nach England zu schicken! Du weißt wahrscheinlich nicht, daß sich das express nur auf das Austragen des Briefes bezieht, so daß ich ihn also um volle 2 Stunden früher kriege als einen gewöhnlichen. Das hat in Puchberg Sinn, wo er sonst einen Tag lang auf dem Postamt liegen bleibt, aber nicht hier, noch dazu, wo der Brief 3 Tage braucht um herzukommen. Ich arbeite ziemlich fleißig & es geht mir nicht schlecht. Einige Zeit war ich sehr abgespannt & konnte nichts rechtes arbeiten aber ich habe ein Mittel gefunden das ich jetzt seit einer Woche täglich nehme und das außerordentlich anregend auf mich wirkt. Es ist "saures Natriumphosphat" & wurde mir durch ein Buch anempfohlen. - Ich weiß noch immer nicht ob ich gegen Ende dieses Monats oder erst Mitte Juli nach Wien komme, werde mich aber bald entscheiden. Schreib jedenfalls bald wieder und sei herzlich gegrüßt Dein Ludwig
26 VON RUDOLF KODER [nach 18.6. - Anf. Juli 1929] Lieber Ludwig! Ich gratuliere herzlich zu der Ernennung und danke Dir für den Brief und die Karte. Ich wußte gar nicht, daß ich schreibfaul bin, und vermutete daß Du vielleicht schon Ende Juni nach Wien kommst. Ich freue mich sehr auf
das Wiedersehen. Ich nehme jetzt Stunden bei Deinem Bruder, der mir schon viel Wertvolles beigebracht hat und mich sehr gut und gründlich unterrichtet. Die meiste freie Zeit verwende ich daher zum Klavierüben, was mir sehr gut tut und das Einzige ist, wozu ich Ausdauer habe. Im übrigen bin ich wieder in der Verfassung, daß ich nicht weiß, wozu ich eigentlich lebe. Ich passe in keine Gesellschaft, welcher Art sie auch sei und niemand weiß sich mit mir etwas anzufangen. Zum fortwährenden Alleinsein bin ich auch nicht geschaffen. Bei allem, was ich treibe, muß ich sehen, daß ich viel weniger kann als andere. Es freut mich sehr, daß Du wieder in guter Verfassung bist und arbeiten kannst. Ich kann heute nicht mehr schreiben. Mit herzlichen Grüßen Dein Koder
27 VON RUDOLF KODER [vor ca. 20.7.1929] Lieber Ludwig! Ich danke Dir sehr für Deinen Brief. Ich fahre sehr gerne mit Dir irgendwo hinaus, möchte dabei aber auch wandern. Wir werden uns das schon einrichten. Mit meinem Bruder mache ich wahrscheinlich in der nächsten Woche eine mehrtägige Wanderung, bin aber bei Deiner Ankunft wieder in Wien. Schreibe mir bald, wann Du eigentlich kommst! Mit dem Vorspielen wird es diesmal etwas schlecht aussehen, weil ich eigentlich nur das spielen soll, was mir Dein Bruder aufgibt. Ich denke dabei an Bruckner und dergleichen, was mir jetzt zu schwer ist. Es wird aber wahrscheinlich auch noch genug Leichteres geben. Ich übe sehr viel und habe von Deinem Bruder schon viel gelernt. Nun will ich Dir einige Neuigkeiten mitteilen! Ich war jetzt öfters bei Deiner Schwester Helene geladen, wo sehr schön gesungen wurde, was ich sehr genossen habe. Ich hörte die Liebeslieder Walzer und Chöre von Palestrina und anderen älteren Komponisten. Ich traf dort immer den Herrn Nehr (Photographen) der sehr nett ist. Herr Professor Hänsel hat mir einen neuen Führer für Wien geliehen, an dessen Hand ich jetzt Kunstwanderungen mache, die mir sehr viel Freude bringen. Du weißt ja, daß ich für Architektur und besonders für Barock empfänglich bin. Ich lerne da schöne Häuser u. Straßen kennen, von welchen ich bis jetzt nichts wußte. - Am Mittwoch war ich beim Glöckl im Stadtschulrat wegen einer [Anstellung] in Wien. Ich hatte eine Empfehlung Deiner Schwester Grete mit. Der Glöckl war sehr freundlich, sagte mir aber, daß es ganz ausgeschlossen ist. Ich war im Innersten gar nicht bös darüber, da ich die [Anstellung] in Wien nur aus finanziellen Gründen angestrebt habe, um meinen Leuten besser helfen zu können. Ich darf scheinbar an einem Mittwoch nichts unternehmen. Du wirst lachen oder schimpfen darüber, aber Tatsache ist, daß mir noch nichts gelungen ist, was ich an einem Mittwoch versuchte. - Was mich selbst betrifft, bin ich im Unklaren. Ich bin mir selbst ein Fragezeichen. Ich fühle mich noch so jung und bin immer wieder erstaunt und betroffen, wenn mir einfällt, daß ich schon 27 Jahre alt bin. Wenn meine Mutter nicht wäre würde ich wahrscheinlich auswandern. --Es grüßt Dich herzlich Dein Koder Herr Oberlehrer Weinberger läßt Dich grüßen.
28 VON RUDOLF KODER 13.10.29 Lieber Ludwig! Ich danke dir für die Karte. Gestern war ich beim Herrn Drobil und habe Dich entschuldigt. Morgen beginnen meine Kurse. Ich habe mich für Latein u. Mathematik einschreiben lassen und hoffe, gut arbeiten zu können. In dieser Woche kommt Dein Bruder wieder nach Wien und es fangen also auch die Klavierstunden an. Außerdem werde ich von jetzt an mit H. Stockert ständig musizieren. Wir fangen mit alten Meistern aus dem 17. Jahrhundert an und ich verspreche mir sehr viel davon, obwohl Du wahrscheinlich anderer Meinung sein wirst. Es tut mir aber glaube ich sehr gut, wenn ich irgend eine Art Kammermusik betreibe und ich habe es mir schon lange gewünscht. Von Hr. Prof. Hänsel habe ich mir den Heine ausgeliehen und will ihn lesen. Meine freie Zeit ist also, wie Du siehst, reichlich ausgefüllt. Vom Kino habe ich mich abgewendet, da es für mich nur ein Zeitvertreib und darum schlecht ist. Nur einem kann ich noch nicht entsagen und das ist der Tanz. Du wirst Dich wundern darüber. Ich weiß ganz genau, daß ich ohne Tanzen mehr leisten würde, abgesehen von der verlorenen Zeit, wenn man so sagen kann. Ich habe schon oft meinen Einfall, tanzen zu lernen, verwünscht, weil es mir viel geschadet hat. Andererseits brachte es mir viel wirkliches Vergnügen und ich kann mich nicht losreißen davon. Ich bin mir noch nicht ganz klar darüber. Ich würde aber alle Kurse u. Musizierei (mit Ausnahme der Klavierstunden) ohne Bedenken lassen, und werde es auch tun, wenn ich für die Nachmittage oder Abende eine Beschäftigung finde, die es mir ermöglicht
meinen Leuten zu helfen. Ich halte das auch für richtig. Denn Latein lernen und musizieren kann ich auch in späterer Zeit. Aber helfen kann ich nur in der Zeit, wo Hilfe möglich ist. Ich meine, wenn meine Eltern tot sind, kann ich nicht mehr helfen. Ich habe in Puchberg viel zu viel an mich gedacht und zu wenig an meine Eltern. - In der letzten Nacht hat mir von Dir geträumt. Ich habe Dir erzählt (was auch wahr ist), daß ich in meiner Klasse Dein Wörterbuch einführe. Es grüßt Dich recht herzlich Dein Koder
29 AN RUDOLF KODER [zw. 13.10. u. 29.10.1929] Lieber Koch! Dank Dir für Deinen Brief. Ich bin neugierig zu hören welchen Erfolg das Musizieren bei den Stockerts haben wird. Es ist wohl möglich daß es erfreulich sein wird. Ich rate Dir Dich an meine Nichte Mariechen zu halten die eine ausgezeichnete Person ist. - Vom Heine wirst Du wenig haben. - Daß Dich das Tanzen freut kann ich wohl verstehen & kann es auch nicht für etwas schlechtes halten. Es wird eben eine Nahrung sein, die Du brauchst. (Natürlich kannst nur Du das sicher beurteilen) Hast Du wirklich in Puchberg zu viel an Dich gedacht? Ich kann mir's nicht recht denken! Wie immer, jedenfalls wird es Dir nicht schaden, jetzt einigemale an mich zu denken & mir daher etwas öfter eine Zeile zu schreiben. Gott mit Dir! Sei herzlichst gegrüßt von Deinem Freund Ludwig Meine Adresse hast Du ganz unsinnig geschrieben!! Sie lautet: Trinity College, Cambridge Damit Du es besser lesen kannst: TRINITY nicht: Pristly
30 VON RUDOLF KODER 29.10.29. Lieber Ludwig! Das hat mich sehr erheitert, daß ich statt Trinity - Pristly geschrieben habe. Eine Verwand[t]schaft zwischen beiden kannst Du nicht leugnen. Ich bin aber nur froh, daß Dich der Brief erreicht hat und danke Dir für Deinen. Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so wenig Zeit gehabt wie jetzt. Die Kurse und das Klavierstudium nehmen mir alle freie Zeit weg. Der Mathematik-Kurs von einem gewissen Dr Brommer ist sehr gut und anregend. Weniger gefällt mir der Lateinprofessor, der jedes Mal versichert, daß der Lateinunterricht das Lustigste sei, was es gebe und behauptet, daß wir uns bald "glänzend lateinisch unterhalten" werden. Dieser Kurs ist auch darum weniger wertvoll, weil er bei 70 Teilnehmer hat, so daß einer beim Lesen oder Sprechen sehr selten daran kommt. Die Kurse sind auch etwas ungeschickt angesetzt für mich: Ich muß Montag u. Donnerstag von 3 7h, also jedes Mal 4 Stunden dort sitzen. Das ist etwas zu viel, wenn man vormittag unterrichtet hat. - Ich war schon einmal bei Stockerts. Von seinem Spiel bin ich nicht begeistert, glaube aber doch, daß mir das Musizieren mit ihm etwas geben kann. - Deine Schwester hat mich in einen außerordentlich schönen Film mitgenommen. Vielleicht kannst Du ihn in England sehen. Sein deutscher Titel = "Die 4 Teufel" mit Janet Gaynor. - Einzelne Lieder von Heine gefallen mir sehr gut. Besonders die aus "Heimkehr". Wie geht es Dir? Deine Mahnung ist unnötig: ich denke ohnehin oft an Dich. Es grüßt Dich herzlich Dein Koder
31 AN RUDOLF KODER [zw. 11.11. u. 15.11.1929] Mein lieber Kochi! Vielen Dank für Deinen lieben Brief & schreib bald wieder so einen oder einen ähnlichen! Ja 4 Stunden Arbeit am Nachmittag nach einem schweren Vormittag ist viel, das weiß ich. Bitte gib acht, daß Du Dich nicht überanstrengst. Freilich ist es sehr gut, wenn Du die Vorträge besuchst. Ich selbst soll diesen Sonntag einen Vortrag halten & er liegt mir gründlich im Magen, weil ich sicher bin, daß mich so gut wie niemand verstehen wird & doch versprochen habe ihn zu halten. Ich fühle mich recht mies. Ich wünsche Dir alles Gute & daß Du recht gut & brav bist & Freude machst Deinem Ludwig
32 VON RUDOLF KODER [nach 17.11.1929] Lieber Ludwig! Ich danke Dir für Deinen Brief, den ich schon sehr erwartete. Ich bin wieder einmal in einer miserablen Stimmung. Ich bin den ganzen Tag tätig und es geht doch nicht recht vorwärts. Dabei halte ich alles außer der Schularbeit für Zeitvergeudung, die nichts einträgt und eigentlich niemande[m] hilft. Denn es nützt ja letzten Endes auch mir nicht viel. Diese Mathematik macht mich auch nicht mehr gescheiter. Wenn ich eine Nachmittagsarbeit fände, die anständig bezahlt wird, würde ich sie sofort nehmen. Mir kommt das Mathematikstudium, das mich sehr interessiert u. das ich gerne betreibe, wie ein Vergnügen vor, etwa wie das Lesen eines guten Buches oder das Spielen eines guten Musikstückes. Ich bin voll Mißtrauen gegen mich selbst, denn ich glaube, daß ich nichts ganz kann, als höchstens liebenswürdig zu sein, und darauf pfeife ich so wie Du. Am wohlsten fühle ich mich noch in Gesellschaft Deiner Geschwister, bei denen ich öfters zu Gast bin. Und von diesen Stunden sind mir am angenehmsten, die Klavierstunden bei Deinem Bruder, weil diese doch eine sehr ernste Arbeit von beiden Teilen und andrerseits auch wieder sehr angenehm sind. Ich hatte schon einige Male die Ehre, dem Frl. Baumaier vorspielen zu können. Letzten Sonntag habe ich ihr und Deiner Schwester Hermine Bach vorgespielt (natürlich ein Stück, das ich bei Deinem Bruder gelernt habe). Es hat ihnen sehr gefallen, was mich sehr gefreut hat, da ich ihr Urteil für wahrhaft halte und nicht glaube, daß sie Deinem Bruder zuliebe so gelobt haben. Jetzt spiele ich Variationen von Händel. Wann kommst Du eigentlich? Deine Schwester Helene glaubt anfangs Dezember. Stimmt das? Ich freue mich schon sehr auf Dein Kommen. In der vergangenen Nacht hat mir von Dir und Herrn [Engelmann] geträumt. Dieser hat uns beiden ein von ihm verfaßtes Gedicht vorgelesen, das den Titel hatte: "Faust, der Hund". Du warst sehr entzückt über die wohlklingenden Verse. Nun grüße ich Dich herzlich. Dein Koder
33 AN RUDOLF KODER [Ende November 1929] Lieber Kochi! Du erwartest Dir offenbar Die Antwort auf Deine Briefe noch ehe Du sie geschrieben hast. Denn so viel ich weiß habe ich Dir gleich nach Empfang Deines Briefes geschrieben. Bitte sei nicht verzagt. Du hast keinen Grund dazu. Ich glaube Dein Mißtrauen gegen das Mathematikstudium zu verstehen. Es kommt Dir wie eine bloße Dekoration des Lebens vor und Du hast recht wenn Du das verurteilst. Denn auch das Lesen eines Buches & das Anhören eines Musikstückes sollen keine Dekoration des Lebens sondern Nahrungsmittel sein mit deren Hilfe man dann selbst wieder Arbeit leistet. Es darf nichts ein bloßes Essen von Süßigkeiten sein. Aber ist denn das Studium nur das für Dich? Mußt Du es so auffassen? Abgesehen davon daß Du es doch zu einem Zweck betreibst. Warte noch damit es aufzugeben bis Du klarer bist. Ich möchte gern darüber mit Dir reden wenn ich in ca 10 Tagen nach Wien komme. Nein, Du kannst noch etwas anderes als liebenswürdig sein, Du kannst gut sein & bist es, & wirst es sein, wenn Du auf Dich achtgibst! Denk' recht oft an Deinen Freund Ludwig Ich habe sehr über Deinen Traum gelacht.
34 VON RUDOLF KODER 21.1.30. Lieber Ludwig! Ich danke Dir für die Karte. Ich habe Deiner Schwester Helene alles ausgerichtet und das Präludium abgeschrieben, damit es leichter zu lesen ist. Gespielt haben wir es noch nicht, da Deine Schwester etwas unwohl ist; wir werden es aber bei nächster Gelegenheit tun. Gestern hat sie mich zum Doppelkonzert für 2 Violinen v. Bach mitgenommen, das vom Rosé und seiner Tochter sehr schön gespielt wurde. Ich habe besonders den langsamen Satz sehr genossen. Bei Deiner Schwester Grete war ich auch schon. Es war sehr schön. Ich habe ihr Bach u. Händel vorgespielt, was ihr zum Teil gefallen hat. Sie hat mir "König Ottokars Glück u. Ende" u. "Medea" zu lesen empfohlen. Beide Stücke gefallen mir außerordentlich u. geben mir sehr viel, was ich von "Ein treuer Diener" - nicht sagen konnte. Für Gymnastik hat sie mir die schwedische Turnschule auf dem Fleischmarkt angeraten, die ich wahrscheinlich ab Februar besuchen werde. Turnen möchte ich ja auf jeden Fall, da es mir ein wirkliches Bedürfnis ist und eine Wohltat wäre. Zu überwinden sind nur die Zeit- u. Geldfrage, Bequemlichkeit aber bestimmt nicht (Ich meine, die ist nicht vorhanden) Deine Schwester hat mir übrigens eine Springschnur geliehen (wie sie die Boxer zum Training verwenden), mit der ich eventuell dasselbe erreichen kann als mit Gymnastik. Wenn ich nur mehr Zeit hätte. Jetzt habe ich wieder in der Schule viel zu tun, da am 1. Febr. Semesterschluß ist. Denk Dir, mein Oberlehrer hat sich die Mühe genommen, die Schulversäumnisse im Katalog nachzurechnen und hat richtig einen Fehler entdeckt, wo
ich mich - wie er sagte - zu meinem Schaden geirrt habe. Es war nämlich um ½% zu viel angegeben. Busch würde da vielleicht sagen: Es gibt doch noch Leute, die gründlich u. gewissenhaft arbeiten. - Wie geht es Dir? Hast Du Dich schon von der Überfahrt erholt? Ist in England vielleicht ein Wetter, das Dich zwingt, die braune Haube aufzusetzen? Hier ist noch immer ein milder Winter. Heute will ich versuchen, ob ich noch Schlittschuh laufen kann. Es grüßt Dich herzlich Dein Koder
35 AN RUDOLF KODER [nach 21.1.1930] Lieber Kochi! Du bist unzweifelhaft das größte Arschloch, was es gibt: Meine Adresse ist TRINITY <-----Ypsilon COLLEGE nicht Trinitat College. Bitte merke es Dir! - Ich glaube wenn es sich irgendwie machen läßt, ist eine Turnschule dem Schnurspringen weit vorzuziehen, weil sie einen zwingt gewisse Dinge zu tun & auch viel lustiger ist. Es freut mich daß Du meiner Schwester Gretl vorgespielt hast & tue es bitte bald wieder! Ich bin jetzt sehr beschäftigt, aber das ist ganz in Ordnung. Wenn Du das Präludium von Labor mit Helene gespielt hast, laß mich wissen welchen Eindruck es auf Dich gemacht hat. Sei gut & brav & laß bald etwas hören. Ich hoffe Du weißt meine Adresse. Dein Ludwig
36 AN RUDOLF KODER [zw. 21.1. u. 28.2.1930] Lieber Koch! Danke für Deinen Brief. Ich habe Influenza & fühle mich recht mieß. Heute will ich versuchen eine Vorlesung zu halten & denke an die schöne Zeit wo Du mich von den Rendels in die Schule gebracht hast & mir in der Zwischenpause Tee gabst. So etwas habe ich freilich nicht hier. Ja der Bruderzwist ist herrlich! Eine Scene herrlicher als die andere. Eine der liebsten ist mir die, in welcher der Satz vorkommt "Du bist ein Ketzer doch ein Ehrenmann, so sei geehrt." - Aber es ist ja so vieles was unbeschreiblich ist. - Neulich war ich in einem Konzert & hörte die Klarinetten Quintette von Mozart & Brahms skandalös aufgeführt. Sie haben besser geklungen wie wir sie miteinander spielten! Wirklich! Wir haben uns doch die größte Mühe gegeben & sie richtig gemeint. Turnst Du fleißig?! Spiele den Labor noch einmal & denk dabei an mich & sag meiner Schwester, wenn sie ihn noch einmal spielt bringe ich ihr zu Ostern Influenzapastillen mit die ich jetzt einnehme & sicheren Erfolg haben sollen! Dein Ludwig
37 AN RUDOLF KODER [zw. 21.1. u. 28.2.1930] Mein lieber Koch! Es wird Dich freuen zu hören daß ich meine gestrige Vorlesung, der ich mit einigem Bangen entgegen gesehen hatte, habe halten können & daß es über Erwarten gut gegangen ist. Es war genau so wie damals in Puchberg wo ich auch in der ersten Stunde kaum reden konnte & dann immer kräftiger wurde. Es ist sehr seltsam. Heute bin ich zwar sehr schwach aber es geht mir gar nicht schlecht, & in 1-2 Tagen dürfte ich vollkommen normal sein. Spiele den Labor nur fleißig Du wirst ihn einmal ebenso herrlich finden wie ich. Du kannst meiner Schwester Helene sagen daß sie dafür zu Ostern außer den Pastillen auch eine Flasche "Vapex" bekommt das ist ein Mittel was man inhaliert. Dein Ludwig
38 VON RUDOLF KODER [Februar 1930] Lieber Ludwig! Ich danke Dir für den Brief. Es tut mir sehr leid, daß Du jetzt krank geworden bist und ich Dir mit nichts helfen kann. Du sollst aber doch versuchen, heißen Tee zu bekommen, der Dir ja so gut tut. Hoffentlich hast Du Dich beim Eintreffen meines Briefes schon wieder erholt! Wann kommst Du? Schreibe es mir u. wie es Dir jetzt
geht! - Ich hatte vor, Dir mehreres über mich zu schreiben, kann es jetzt aber nicht. Turnen gehe ich noch immer nicht, weil ich momentan kein Geld habe. Ich will mir jetzt den Turnbetrieb beim Deutschen T.V. ansehen, und dort mittun, wenn es mir nicht durch die deutschen Turnbrüder vergraust wird. [Das] käme halt viel billiger. - Letzten Sonntag habe ich Deiner Schwester Hermine u. der Frau Baumaier vorgespielt. Und zwar die Händel Variationen, die ich bei Deinem Bruder wiederholen mußte. Beide fanden es sehr gut gespielt u. lobten den Ausdruck, was mich u. Deinen Bruder sehr freute. Ich spiele sie jetzt auch wirklich viel besser, nämlich ausdrucksvoller, als zu Weihnachten. Mit Deiner Schwester Hermine war ich auch wieder in der Missa solemnis, die ich noch viel mehr genossen habe als im Herbst. - Am Samstag spiele ich mit D. Schw. Helene den Labor u. werde ihr dann das von den Influenzapastillen ausrichten. - Mit Ausnahme der Schularbeit bin ich mit mir sehr unzufrieden. Und daran ist letzten Endes nur das Tanzen schuld, von dem ich doch nicht lassen kann. - Die Stelle aus dem Bruderzwist ("Du bist ein Ketzer ...) verstehe ich nicht ganz. Ich habe so riesig gerne die Stelle "Mit Weib u. Kind! Die 20.000 Mann. Die Nächte sind schon kühl!" aus der Szene mit Ferdinand gleich im 1. Akt. - Ich wünsche Dir, daß Du Dich recht bald erholst u. wohl fühlst und bitte Dich, mir bald zu schreiben, wie es Dir geht. Es grüßt Dich herzlich Dein Koder
39 VON RUDOLF KODER 28.II.1930 Lieber Ludwig! Ich danke Dir für die 2 Briefe. Es freut mich sehr, daß es Dir schon besser geht und daß Du schon in 14 Tagen kommst. Ich wünschte mir auch so lange Osterferien! Ich weiß nicht, ob ich Dir schon geschrieben habe, daß ich in letzter Zeit an den Sonntag-Abenden immer bei Deiner Schwester [Helene] geladen war. Es werden dort immer Dramen mit verteilten Rollen gelesen, woran ich teilnehme und zwar mit großem Vergnügen. Ich lese sehr gerne und höre gerne Deine Schwester Grete lesen. Jetzt ist Wallenstein am Programm, von dessen 3. Teil ich begeistert bin. Ich hätte mir nie vorher denken können, daß mich ein Drama von Schiller so interessiert. Was sagst Du dazu? Weiter möchte ich Dir mitteilen, daß mich Deine Schwester Helene zu einem Hausball in der Alleegasse (am 22.) eingeladen hat und mir bei Rothberger einen Smoking machen ließ. Beides hat mich natürlich riesig gefreut. Ich fürchte nur, daß Du denkst: Das ist zu viel des Guten für d. K. Deine Schwester glaubt, daß Du Dich auch freuen wirst, wenn ich einen Smoking habe. Und ich sehe Dich bedenklich den Kopf schütteln. Nun ich weiß, daß ich etwas eitel bin, aber ich bin fest überzeugt, daß es darum nicht ärger wird. - Vorgestern war ich mit D. Schwester Grete im Kino, bei "Tropenglut" mit Greta Garbo. Der amerikanische Titel ist, glaube ich, "The wild orchidee". Von ihrem Aussehen u. Spiel bin ich entzückt. Das Stück selbst ist wertlos. - Gestern war ich abends bei Deiner Tante Klara in der Salesianergasse. Sie hat mich gebeten, ihr die Händel Variationen vorzuspielen. Wir waren allein und es war sehr schön. Mein Spiel hat sie sehr gelobt und den Ausdruck gut gefunden. Sie ist, glaube ich musikalisch etwas mit Dir verwandt, was mir sehr angenehm ist. Ich mußte mit ihr auch 4 hdg spielen, was mir auch sehr gefiel. Wir spielten Variationen von Brahms über ein Thema von Schumann. Es freut mich, daß ich ihre Persönlichkeit zu würdigen verstehe. So viel Ernst und Güte in allem tut wohl. Ich bekomme von ihr Karten zu 2 Konzerten der Frau Röger, auf die ich mich sehr freue. Deine Tante Klara ist besorgt, daß Du zu wenig ißt. Und da hat sie glaube ich recht. Ich wünschte, daß Du täglich mittags soviel essen würdest, als mir Deine Tante gestern auf einem Teller anrichtete. Von einem Zwang zum Essen, von dem Dein Bruder Paul immer spricht, habe ich noch nichts bemerkt. - Der Labor macht Fortschritte! Es grüßt Dich herzlich Dein Koder
40 VON RUDOLF KODER [Mai 1930] Lieber Ludwig! Ich habe vorigen Freitag zu turnen angefangen u. ich hoffe, daß es mir gut tun wird. Ich bin froh, daß ich einen unpolitischen Turnverein gefunden habe, in dem nur geturnt wird. - Sonst hat sich noch nichts verändert. Ich bin mit mir sehr unzufrieden. - Jetzt kann ich schon mehrere Tage nicht Klavier üben, da meine rechte Hand verstaucht ist. - Hast Du dem Vaugoni geschrieben? - Wie geht es Dir? Hörst Du schon etwas von Deiner Anstellung? Wenn ich kann, werde ich mehr schreiben. Dein Koder
41 VON RUDOLF KODER [Ende Mai 1930]
Lieber Ludwig! Ich wollte Dir schreiben, daß ich mein Versprechen nicht halten kann. Es ist momentan nichts Gescheites aus mir herauszubringen und ich kann daher auch nichts schreiben. Nun macht das ohnehin nicht viel aus, da Du ja bald kommst, wie ich gestern von Deiner Schwester Grete gehört habe. - Meine Hand ist fast gut und ich kann seit 1 Woche wieder üben. Das Einzige, was mir jetzt Freude macht, ist das Lesen von "Ut mine Stromtid" von Reuter. Ich glaube dieses Buch werde ich mein Leben lang genießen. Das Lesen ist das Einzige, das ich auch restlos nachgenießen kann. Da kommt es mir nie in den Sinn, daß ich dabei etwas besser machen hätte sollen oder können. Der Grund ist natürlich der, daß ich am Buch garkeinen Anteil habe. Da kann auch nichts passieren. Aber bei allem, was ich mache, wo meine Person irgendwie in Aktion tritt, kommt nur etwas Halbes heraus. Und das macht mir das Leben sauer. Es grüßt Dich herzlich Dein Koder
42 AN RUDOLF KODER [ca. 1.6.1930] Mein lieber Kochi! Dank Dir für Deinen Brief. Ich komme in ca 10 Tagen & dann wollen wir mit einander reden. Ich verstehe nicht was Du damit meinst, daß "etwas halbes herauskommt wo Deine Person in Aktion tritt". Das heißt ich verstehe schon ungefähr was Du meinst, aber es ist unwahr! auch wenn es vielleicht manchmal den Anschein hat. Du hättest mir (nebenbei bemerkt) nie so helfen können wie Du mir geholfen hast, wenn es wahr wäre. Gott mit Dir. Sei gut und tapfer. Du hast natürlich Dein eigenes Kreuz, aber es ist so viel wert wie ein anderes. Sei herzlich gegrüßt! Dein Ludwig
43 VON RUDOLF KODER [Anfang September 1930] Lieber Ludwig! Ich bin gut zu Hause angekommen und denke viel an die Hochreit zurück. Nun muß ich in dieser Woche noch nach Puchberg und Unter-Waltersdorf. Und zwar werde ich Freitag und Samstag von Wien abwesend sein. Ich glaube aber bestimmt, daß ich wenigstens während der ersten Schulwoche in Wien wohne und also leicht mit Dir zusammenkommen kann. Jetzt gehe ich zum Zahnarzt und hoffe, daß es mich recht wenig Zeit u. Geld kostet. Es grüßt Dich herzlich Dein Koder
44 VON RUDOLF KODER 25.10.30. Lieber Ludwig! Ich wollte Dir schon lange schreiben, wußte aber nicht recht was. Andrerseits wartete ich auf eine Nachricht von Dir, weil es bis jetzt meistens so war, daß Du mir nach Deiner Ankunft eine Karte geschrieben hast. Es tut mir leid, daß es Dir nur mittelmäßig geht. Bezieht sich das auf Deine Gesundheit oder auf äußere Umstände? Deine Schwester hat mir gesagt, daß Du eine neue Wohnung hast. An welche Adresse soll man Dir nun schreiben? - Von mir kann ich nicht viel sagen, weil ich selbst aus mir nicht ganz klug werde. Ich höre schon Deine Antwort: "Du denkst zu wenig nach!" Aber das Nachdenken hilft mir wenig, weil da bei mir nicht viel herauskommt. Ich habe nun im ganzen um 4 Stellen eingereicht (Mödling, [Inzersdorf], Gramatneusiedl & Biedermannsdorf) und bin jetzt in Erwartung, [ob] ich eine kriege. In nächster Zeit werde ich erfahren, wieviel Chancen ich habe. Die Besetzung wird dann am 1. Dezember sein. Ich lebe jetzt ziemlich brav. Seit Du weg bist, besuche ich nicht mehr die Sonntagsgesellschaften bei Deiner Schw. Helene und habe mit ihr auch darüber gesprochen. Ich gehe turnen u. halte Diät, soweit es bei uns zu Haus möglich ist, und an den Donnerstagen tanze ich beim Fränzl. Sonst übe ich Klavier. Mit Deinen Schwestern spiele ich manchmal 4 händig (Bruckner u. Schubert). Ich habe viel zu wenig Zeit u. kann nicht alles tun, was ich mir vorgenommen habe. Ins Kino gehe ich nicht, weil es mir nichts gibt. Auf der Bahn lese ich meistens. Und zwar jetzt mit viel Erfolg u. Genuß die vollständige Ausgabe von G. Kellers Briefen u. Tagebüchern. Deine Schwester Helene hat mich einmal ins Burgtheater mitgenommen. Man spielte "Maß für Maß" von Shakespeare so elend u. gemein, wie ich es mir nie hätte vorstellen können. Dabei riesig dilettantenhaft. Mit Deiner Schwester Hermine war ich im Schönbrunner Schloßtheater bei einem Faust-Stück, das von einer Münchner Marionetten-Bühne sehr schön aufgeführt wurde. Es hat mir sehr gefallen.
Dein Bruder Paul spielte am Dienstag mit dem Rosé-Quartett ein neues Werk von Korngold. Ich hörte die Generalprobe u. die Aufführung. Einzelne Teile klingen schön, aber begeistert bin ich nicht. Es wurde aber sehr viel applaudiert. - Ich muß jetzt (wie die anderen Lehrkräfte) am Mittwoch die Kinder zur Schulmesse führen u. erlebe dabei kuriose Dinge. Der [Dechant] will mit allen möglichen Mitteln die Kinder religiös machen. Er steht während d. Messe (die ein anderer liest) mit den Kindern beim Altar u. gibt laut fortwährend Erklärungen. Die ganze übrige Zeit wird laut gebetet u. abgewechselt zwischen Knien u. Stehen. - Den Postl habe ich noch nicht gesehen, will ihn aber bald besuchen u. Deine Grüße ausrichten. Ich weiß nicht, ob ich Dir schon gesagt habe, daß H. Oberlehrer Weinberger im [Neunkirchner] Spital liegt. Ich danke Dir für die schöne Karte u. grüße Dich herzlich. Dein Koder
45 AN RUDOLF KODER [zw. 25.10. u. 14.11.1930] Mein lieber Koch! Danke für Deinen langen Brief. Ich hoffe für Dich, daß Deine Chancen gut stehen & Du einen halbwegs annehmbaren Platz kriegst. Alles was Du mir geschrieben hast interessiert mich sehr - wie selbstverständlich - aber es ist darauf nichts zu antworten. Eines möchte ich sagen: wenn bei Deinem Nachdenken nicht das Entsprechende herauskommt, d h. Du Dir über Dich nicht klarer wirst, so wirst Du es dadurch werden, daß Du immer (d.h. womöglich immer) Deinem Gefühl oder Gewissen entsprechend handelst; das ist natürlich leicht gesagt & schwer getan, aber jede solche Handlung z.B. das Aufgeben einer Sache oder das Tun einer anderen wird Dich über Dich selbst klarer machen - glaube ich. Die einzige Möglichkeit ein Musikstück kennen zu lernen ist doch die: Du spielst es & merkst dabei deutlich, daß Du die & die Stellen noch ohne Verständnis spielst. Du kannst nun entweder auf diese Stimme (in Deinem Inneren) nicht weiter hinhorchen & das Stück verständnislos wie früher spielen, oder Du horchst auf die Stimme, dann wirst Du getrieben, die betreffende Stelle wieder & wieder zu spielen & quasi zu untersuchen. Je weniger träge Du bist desto weiter wird das gehen, d. h. desto mehr Stellen werden Dir als noch nicht wirklich gefühlt aufgehen. Denn die innere Stimme wird ermuntert zu reden, dadurch daß Du einmal auf sie horchst, & mehr oder weniger zum schweigen gebracht, dadurch daß Du sie ignorierst. Je mehr Du horchst desto mehr wirst Du hören & Stimmen die erst kaum vernehmbar gesprochen haben werden nun immer deutlicher reden & neue sich melden. Davor scheut aber die Trägheit eines jeden Menschen zurück & man hat etwa das Gefühl: wenn ich mich mit diesen Stimmen einlasse, wer weiß wozu sie mich endlich noch bringen könnten. Und doch kann man nur sagen: Horche genau hin & befolge was sie dir sagt & du wirst sehen, du wirst dann immer deutlicher hören & Dich immer besser in Dir auskennen. Mir geht es körperlich & daher vielleicht geistig nicht besonders gut, obwohl ich nicht recht weiß, woran es liegt. Erst hielt ich es für die Wirkung des ungewohnten Klimas & nun schiebe ich die Schuld jeden Moment auf etwas anderes. Die elende Beheizung englischer Zimmer hat gewiß etwas damit zu tun. Aber es wird schon wieder anders werden. - Der mittwöchige Kirchgang muß eine Höllenkomödie sein, fast wäre ich gern dabei, (und doch nicht.) Solltest Du mit Oberl. Weinberger zusammenkommen so wirst Du ihn natürlich von mir grüßen etc.; was fehlt ihm? Schreib bald wieder & sei herzlich gegrüßt von Deinem Ludwig
46 VON RUDOLF KODER 14.11.30. Lieber Ludwig! Ich danke Dir sehr für Deinen Brief. Dein Rat ist sehr gut und ich werde ihn befolgen. Hoffentlich trifft Dich mein Brief schon in besserer Verfassung an. Hast Du noch nicht daran gedacht, mit einem Petroleumofen zu heizen? Der wäre praktisch und nicht teuer. Mir geht es körperlich ganz gut. Gestern war ich bei meinem Bezirksschulinspektor und habe wegen meiner Stelle nachgefragt, konnte aber nichts erfahren, weil durch die Wahlen alle Sitzungen auf einen späteren Tag verlegt wurden. Ich weiß aber, daß leider überall viele Bewerber sind. In der nächsten Woche werde ich Genaueres erfahren können. - Wie Du schon wissen wirst, ist Deine Schwester Grete wieder in Wien. Ich war vorgestern bei ihr und wir hatten ein längeres Gespräch. Sie ist der Meinung, ich fühlte mich in der Sonntagsgesellschaft darum nicht wohl, weil ich zu den Teilnehmern zu wenig Zuneigung habe. Ich glaube aber, daß das damit nichts zu tun hat. Wir kamen dann auf meine häuslichen Verhältnisse zu sprechen. Ich sagte ihr, was auch bei mir jetzt feststeht, daß die erste große Sache, die ich zu erledigen habe, eine Verbesserung der Lage meiner Eltern u. insbesondere der meiner Mutter ist. Ich stelle alle anderen, mich selbst betreffenden Angelegenheiten weit zurück. (Das hat auf meine jetzige Stellenbewerbung keinen Einfluß, obwohl es für einen bestimmten Fall einen haben sollte.) Ich habe mich genau geprüft. Wenn es zur Erledigung der ersten Sache
notwendig wäre, in Wien zu bleiben und [einen] Nebenverdienst zu übernehmen, so würde ich es tun und nur aus dem einen Grund. Ich hätte keine Hintergedanken dabei (und denke z.B. nicht ans Tanzen. Ich habe Dir vor Deiner Abreise gesagt, daß mich nichts in Wien hält als das Tanzen. Jetzt ist es auch das nicht mehr. Ich gehe zwar noch tanzen, kann es aber jeden Augenblick lassen, wenn es notwendig ist. Du hast mir schon öfters gesagt, ich muß in erster Linie an mich u. meine Sache denken. Dagegen habe ich zwei Einwände. Erstens ist es mir eine Gewissenspflicht, zuerst den Eltern zu helfen und zweitens, habe ich das Gefühl, daß ich nie ins seelische Gleichgewicht kommen werde, so daß bei einer eventuellen Zurückstellung meiner eigenen Angelegenheiten nicht viel verloren wäre. Das sind aber alles nur Erwägungen und ich habe noch nichts Bestimmtes im Sinne. Ich warte vorläufig auf den Ausgang der Stellenbesetzung. Es ist das zwar wieder ein "dem Schicksal überlassen", momentan aber doch das Richtige, weil ich momentan nichts Besseres tun kann. - In meiner freien Zeit tu ich jetzt fast nur Klavier üben und ich glaube, daß auch das richtig ist, weil es doch die beste Arbeit ist, die ich jetzt leisten kann. Ich war mit dem Postl beisammen u. habe ihm Deine Grüße ausgerichtet. Er hat eine Aushilfsarbeit angenommen. Vom Oberlehrer Weinberger konnte ich noch nichts Genaues erfahren. Er ist schon zu Hause u. soll ein Rückenmarksleiden haben. Ich muß jetzt Schluß machen. Herzliche Grüße Dein Koder
47 VON RUDOLF KODER 14.1.31. Lieber Ludwig! Ich hoffe, daß Du gut angekommen bist und auch Dein Magen wieder in Ordnung ist. Schreibe mir bitte darüber! Der Rasierapparat, den Du mir geschenkt hast, ist herrlich. Er allein ist schon ein Grund, oft an Dich zu denken. - Die letzten Tage waren für mich sehr anstrengend. Es handelte sich um die Stelle für meine Eltern in der Ägidigasse. Zunächst weiß Herr Hönich bis heute noch nicht, ob er sie vergeben kann oder nicht. Meine Eltern wurden dann täglich mißmutiger und rechneten nicht mehr damit, das heißt, sie befürchteten, daß sie den Posten nicht bekommen können. Plötzlich wendete sich die Sache. Die Eltern schauten sich am Sonntag das Haus an und kamen sehr enttäuscht zurück und hatten auf einmal tausend Gründe gegen die Annahme der Stelle und sahen nur Schwierigkeiten. Ich hatte förmlich Kämpfe zu bestehen und konnte sie doch nicht dazu bringen, einzusehen, daß ihre meisten Gründe gar keine seien. Ich sah zum ersten Male, wie schwer es sein kann, jemanden zu helfen. Es sind allerdings einige Schwierigkeiten da, dazu ist meine Mutter noch krank und der Vater ist zu Hause und redet Stiefel über Stiefel. Dabei sind vielleicht alle Aufregungen und Kämpfe umsonst, wenn H. [Hänisch] die Stelle gar nicht besetzen kann. - Das Haus in der Mariahilferstraße ist meinen Eltern zu groß. - Gestern war ich in [Kalksburg] wegen der Lehrerstelle. Es ist für mich aussichtslos, weil Kollegen einreichen, die doppelt so viel Dienstjahre haben als ich. Der Weg war auch umsonst. Auf der Fahrt habe ich die "Ursula" von Keller wieder zu lesen angefangen. Ich verstehe sie schon viel besser und sie gefällt mir sehr. Dein Bruder Paul hatte einen kleinen Unfall. Er stürzte auf der Straße, bekam nachträglich Schmerzen im Oberschenkel und der Arzt konstatierte einen Bluterguß. Er muß einige Tage liegen. Deiner Schwester Grete ging es auch einige Tage schlecht. Jetzt ist sie wieder wohl. Ich war gestern bei ihr. Es grüßt Dich herzlich Dein Koder
48 VON RUDOLF KODER 26.1.31. Lieber Ludwig! Es freut mich sehr, daß es Dir schon besser geht. Die Grüße u. Deine Bestellung habe ich ausgerichtet. Daß Fräulein Baumayer gestorben ist, wirst Du schon wissen. Ich hätte mir auch nicht gedacht, daß ich sie zu Weihnachten zum letzten Male spielen hörte. Ein paar Tage vor ihrem Tod habe ich ihr eine Karte geschrieben, was mich jetzt doppelt freut. - In der Angelegenheit mit meinen Eltern steht es so. Von irgend einer neuen Stelle haben wir bis heute nichts erfahren. Meine Eltern sind jetzt fest entschlossen, das Haus in der Mariahilferstraße zu übernehmen, wenn es frei wird. Das aber ist ganz unsicher. Dein Bruder Paul hat uns angetragen, daß er die Küche ins Vorzimmer versetzen läßt, das heißt also die Öffnung im Vorzimmer zumauern u. den Herd hinaufsetzen läßt. Das ist riesig freundlich u. gut von ihm und ich bin ihm sehr dankbar für diese Hilfe. Meine Mutter war zuerst begeistert, wollte es aber dann in der Hoffnung auf die Mariahilferstraße ablehnen, weil sie fürchtete, daß ihr dann der Abschied zu schwer würde. Nun hat sie aber Dein Bruder selbst dazu überredet u. so wird die Sache also gemacht, wenn der Hausherr nichts dagegen hat. Die Stimmung zu Hause wechselt fortwährend zwischen Hoch u. Tief. Ich bin nötiger als je u. denke momentan an keine Übersiedlung, obwohl es jetzt durch die Anwesenheit des Vaters zu Hause viel unruhiger u. unangenehmer ist als früher. Wir hoffen, daß er bald die Altersrente u. dann eine
Arbeit bekommt. Ich bin ziemlich verkühlt u. werde heute [meine] Kostkur (Glühwein) machen. Es grüßt Dich herzlich Dein Koder
49 VON RUDOLF KODER [zw. 26.1. u. 15.3.1931] Lieber Ludwig! Ich danke Dir sehr für die schöne Karte. Es freut mich, daß es Dir halbwegs gut geht. Du kommst am 15. März? Deine Schwester Helene hat für den 16. ihr Hauskonzert angesetzt. Du wirst also dabei sein können. Ich bin noch immer sehr stark verkühlt. Es ist auch ein greuliches Wetter. Ich fühle mich abwechselnd wohl und sehr unwohl. Bei uns zu Hause wird jetzt die Küche gemacht. Das ist mehr Arbeit, als ich geglaubt habe. Ich fürchte auch, daß sich der gute Baumeister Haas mehr Arbeit macht, als nötig wäre. Wir haben bei verschiedenem gefragt, ob es nicht einfacher ginge bezw. überhaupt wegfallen könne, worauf er sagt, das muß so sein, es ist Bau-Vorschrift u.s.w. Ich bin aber sicher, daß bei Deiner Anwesenheit alles schneller u. einfacher, das heißt billiger geworden wäre. Meine Eltern waren schon ganz [desperat] über die viele Arbeit und befürchteten, daß es am Ende Deinem Bruder doch zu viel kosten würde. Ich bin darum gestern eigens zu ihm gegangen und habe mit ihm darüber gesprochen. Er hat mich aber gar nicht viel zu Wort kommen lassen u. gesagt, wenn der Baumeister etwas anschafft, wird es schon notwendig sein u. über die Kosten wolle er überhaupt nicht reden. Das ist sehr lieb u. schön von Deinem Bruder, aber ich bin doch in Sorge über die Kosten. Am Sonntag war ich bei Deiner Tante Clara in Laxenburg. Sie war wieder so außerordentlich lieb und gescheit wie immer. Ich habe mich recht wohl gefühlt. Ich wünsche Dir, daß es Dir weiter gut geht und grüße Dich recht herzlich Dein Koder
50 VON RUDOLF KODER [vor 15.3.1931] Lieber Ludwig! Ich danke Dir für die schöne Karte. Ich freue mich schon sehr auf das Wiedersehen. Es wäre aber sehr schade, wenn Du am 16. nicht beim Konzert sein könntest. Deine Schwester Helene würde es wahrscheinlich kränken, weil sie diesen Tag deinetwegen für das Konzert bestimmt hat. Soll ich aber ihr sagen, was Du mir über Dein Kommen geschrieben hast? Ich denke, nein. Wünschest Du es aber, so schreibe mir bitte noch einmal. - Mit der Küche ist alles in bester Ordnung. Es grüßt Dich herzlich Dein Koder
51 VON RUDOLF KODER 12.4.31. Lieber Ludwig! Ich danke Dir für Deine lieben Zeilen. Wenn Du glaubst, daß das Kathreiner-Lied nur Dir geschickt wurde, irrst Du Dich. Ich habe es schon viel früher erhalten. Die 1. Symphonie habe ich schon weggeschickt. Hoffentlich bekommst Du sie bald. Seit heute werden rekommandierte Sendungen ins Ausland nicht mehr angenommen. Da aber die Noten schon am Samstag aufgegeben wurden, hoffe ich, daß sie auch zugestellt werden. Mir geht es ganz gut und es gefällt mir heraußen immer besser. Am Sonntag hat mich meine Mutter besucht und es hat ihr alles sehr gefallen. Ich bin nur noch nicht recht zur Ruhe gekommen, aber das wird schon werden. Das eine ist sicher: Das Alleinsein tut mir sehr gut und ich bin riesig froh, daß ich herausgezogen bin. Deine Tante Clara hat mir geschrieben und mich aufgefordert, sie bald zu besuchen. Ich freue mich schon sehr darauf. Wie geht es Dir? Läßt Du dir den Bruckner vorspielen? Hat Dir die Siegl schon geschrieben? In der Schule geht es mir schon etwas besser. Die Kinder haben sich schon ein bißchen an mich gewöhnt und interessieren sich mehr für die Schule. Es waren sogar schon einige Elternnachfragen. Der Direktor ist auch gleich nett (=unsichtbar) und der Wirt gibt noch immer große Portionen. Ich freue mich schon auf Deinen nächsten Besuch. Es grüßt Dich herzlich Dein K.
52 VON RUDOLF KODER [nach 12.4.1931] Lieber Ludwig! Ich sitze da und studiere u. weiß nicht, was ich Dir von mir schreiben soll. Zu ruhigem Denken - und das
meinte ich neulich mit "Ruhe" - bin ich noch immer nicht gekommen. Daß diese Unruhe für mich wenigstens zum Teil sinnvoll ist, meinte ich. Und zur Ruhe werde ich wahrscheinlich überhaupt nicht kommen in meinem Leben. Ich sehe jetzt erst recht deutlich, wieviel Unklares in mir ist und muß mich erst gewöhnen, zu sondern u. eine Sache zu Ende zu denken, so weit mir das überhaupt möglich ist. Ich danke Dir für den Brief. Ich habe mich bei Deiner Schwester wegen des 4-Hände Spielens schon angefragt u. Deine Grüße ausgerichtet. Wir sind aber noch nicht zum Spielen gekommen - Ich kann garnicht verstehen, wie mir das mit Deinen Noten passieren konnte! An der Nummer der Symphonie bin ich übrigens unschuldig, denn das ist doch ein Einser Bitte besorge mir von meinem Geld die I. Symphonie v. Bruckner zweihä Dein Bruder Paul muß noch immer mit einer Schiene gehen. Neulich habe ich den Herrn Nähr besucht. Er machte mir einen sehr verfallenen Eindruck und klagte mir viel. Bei Deiner Tante Clara war es herrlich wie immer. Ich bewundere sie immer wieder. Sie gab mir eine Sammlung von Zeitungsausschnitten mit, die Dein Onkel Louis drucken u. verteilen ließ, als anläßlich der deutsch-russischen Verträge gegen Bismarck Stimmung gemacht wurde. Sie zeigte mir auch eine Sammlung von Aufsätzen Deines Vaters. Ich werde Dir mehr über mich schreiben, wenn es mir möglich ist. Es grüßt Dich herzlich Dein K.
53 VON RUDOLF KODER 21.4.31. Lieber Ludwig! Meine herzlichsten Glückwünsche zu Deinem Geburtstag! Wie geht es Dir? Bitte schreibe mir bald darüber. Ich war gestern bei Deiner Schwester Grete und habe mit ihr über diese Angelegenheit gesprochen, wie Du gewünscht hast. Wir sind beide noch nicht klar darüber, was ich bei dieser Sache tun kann. Deine Schwester fürchtet auch, daß ich bei einer Zusammenarbeit mit ihr zuviel unter ihrem Einflusse stehe und will mir gelegentlich etwas übertragen, was ich selbständig durchführen kann. Ich bin mir aber selbst so unklar über das Wie und Was, und ob ich überhaupt die nötige Zeit dazu habe, daß ich Dir heute gar nichts Vernünftiges schreiben kann. Es grüßt Dich herzlich Dein Koder
54 AN RUDOLF KODER [zw. 21.4. u. 18.5.1931] Mein Lieber! Vielen Dank für das Geschenk & Deine lieben Zeilen. Ich bin auch momentan zu dumm um noch etwas über Deine Angelegenheit mit Gretl zu schreiben. Ich sollte arbeiten fühle mich aber noch nicht ganz auf der Höhe. Ganz zur unrechten Zeit bekam ich daher vor ein paar Tagen einen Brief von meinem ehemaligen Schüler, Krummböck, an den Du Dich erinnern wirst. Ich schließe ihn - den Brief - bei & Du wirst Verschiedenes daraus sehen! Was aber soll ich tun? Vor allem ihm sagen, daß ich nicht daran denke einen "Künstler" zu unterstützen. Aber das wird er nur dann halbwegs verstehen, wenn ich es ihm mündlich erkläre. Schriftlich geht das nicht. Ich muß ihn also bis zu den Ferien vertrösten. Dann will ich mir irgendwelche Erzeugnisse des Steiner Josef zeigen lassen, obwohl ich so gut wie sicher bin, daß sie ein Dreck sein werden; oder im besten Falle nichts was eine Ausbildung rechtfertigen könnte. Ich fühle mich nun unfähig ihm jetzt irgend etwas zu erklären & bitte Dich: sei so gütig & schreib ihm, daß ich einstweilen schon darum nichts tun kann, weil ich mir jetzt nichts was der Steiner gemacht hat anschauen kann. Eine meiner Schwestern zu bitten, daß sie es tut, will ich nicht, da sich meine meine Schwester verpflichtet fühlen würde für meinen Schüler etwas zu tun & meine Schwestern sind ohnehin überlaufen. Ich selbst habe nicht genug Geld um einen Menschen in dieser Art erhalten zu können & hätte ich's so würde ich's nicht so gebrauchen. Wenn es sich darum handelt dem Steiner eine anständige Arbeit zu verschaffen, so will ich sobald ich nach Wien komme, tun, was ich kann; wenn ich glaube daß es ein Mensch ist den ich anempfehlen kann. Bitte schreibe dem Krummböck davon, was Du für passend häl[t]st, oder wenigstens, daß die ganze Sache warten muß bis ich nach Wien komme, obwohl ich auch für dann nur versprechen kann daß ich mir die Sachen des Steiner anschauen werde. Solltest Du jemals nach Puchberg kommen so wäre es herrlich, wenn Du mit Krummböck reden könntest. Verzeih diese ekelhafte Belästigung. Ich werde vielleicht später dem Kr. schreiben, nur jetzt bin ich's nicht im Stand. Noch vielen Dank! Und sei herzlichst gegrüßt von Deinem Ludwig
55 VON RUDOLF KODER [zw. 21.4. u. 18.5.1931] Lieber Ludwig!
Ich habe dem Krummböck gleich geschrieben. Und zwar folgendes: Sein Vorhaben ist eine schwierige u. sehr zu überlegende Sache, die sich brieflich nicht erledigen läßt. Darum u. weil Du auch Arbeiten seines Freundes sehen mußt, soll er sich bis zu den Ferien gedulden. Ich war sehr erstaunt über seinen Brief. Es ist sehr schade, daß er so unaufrichtig und geschraubt schreibt. Daß er Deine Adresse nicht erfahren konnte, ist doch ein Stiefel. Vorläufig fahre ich nicht nach Puchberg. Sollte es aber dazu kommen, so werde ich es Dir wissen lassen und könnte dann vielleicht irgend etwas ausrichten. Verzeihe mir bitte daß ich Dir erst heute schreibe. Ich habe mir schon 8 Tage Vorwürfe gemacht und weiß selbst nicht, warum ich das Schreiben immer hinausgeschoben habe. - Ich besuche jetzt auch einen Kurs für die Turnlehrerprüfung an Hauptschulen. Aber natürlich nicht der Prüfung wegen. Es tut mir sehr gut, denn es wird dabei 2x wöchentlich je 2 Stunden sehr ausgiebig geturnt und gespielt. Dabei lernte ich neue, lustige Jugendspiele kennen, die mir so gefielen, daß ich Deiner Schwester Hermine angetragen habe, diese Spiele ihren Buben zu zeigen. Deine Schwester war sehr erfreut u. nun werde ich wahrscheinlich jede Woche 1 Tag (Nachmittag) in [Meidling] sein und dort helfen u. erhoffe mir etwas gutes davon. - Ich habe mit Deiner Schwester Grete über die Bureauarbeiten gesprochen und glaube nicht, daß das etwas für mich ist. Es ist eine sitzende Arbeitsweise, von der ich ohnehin genug habe. - Ich hoffe, daß es Dir schon wieder ganz gut geht. Schreibe mir bitte darüber! Deine Schwester Hermine sieht leider schlecht aus, behauptet aber nicht krank zu sein. Wenn ich irgend etwas für Dich machen kann, so schreibe mir bitte. Ich tue es immer sehr gerne. Es grüßt Dich herzlich Dein Koder
56 AN RUDOLF KODER 18. 5. 31 Mein lieber Kochi! Danke vielmals für die vorläufige Erledigung des Falles Krummböck. Es freut mich zu hören daß Du turnst. Ich sollte viel mehr Bewegung machen, als ich tue. Körperlich geht es mir jetzt ganz gut, aber meine Nerven sind nicht recht in der Ordnung &, ich glaube, mein Kopf überanstrengt. Ich wollte wir hätten mehr Sonne, dann könnte ich öfter im Freien arbeiten, was mir riesig gut tut, wenn immer es möglich ist. Mein Lieber, ich habe oft an Dich gedacht, besonders daran, was es ist, daß Deine gegenwärtige Lebensweise so wenig gut für Dich macht. Aber es läßt sich darüber schwer schreiben; viel leichter reden. - Aber ich bin wie ein Doktor der anderen helfen möchte, sich selbst aber nicht heilen kann. - Gott mit Dir. Sei mit den besten Wünschen herzlichst gegrüßt. Dein Ludwig Grüße meine Schwestern.
57 VON RUDOLF KODER [November 1931] Lieber Ludwig! Verzeih mir bitte, daß ich erst heute schreibe. Ich habe schon ein paarmal angefangen u. bin nicht weiter gekommen. Ich kann momentan mit mir nichts anfangen und darum auch nichts von mir schreiben. Ich lebe in einer fortwährenden Unentschlossenheit und grüble über alles Mögliche nach. Ich verachte mich sehr oft selbst, wenn ich hinterher meine Schwächen sehe, mache aber doch immer wieder die alten Fehler. Auch in der Schule, wo ich mich mit den Kindern sehr viel ärgern muß. Ich bin jetzt überhaupt sehr nervös und riesig leicht aufgebracht. Schreibe mir bitte über mich nichts, es nützt jetzt ohnehin nichts. - Ich freue mich, daß es Dir körperlich gut geht. Den 3. Satz aus [der] 3. Bruckner habe ich mit Deiner Schwester schon gespielt. Das Trio gefällt mir sehr, aber der Hauptteil des Scherzo doch viel mehr. Ich danke Dir für die Grüße, die Du mir durch Deine Schwester Grete geschickt hast. Ich war neulich am Abend bei ihr u. es war sehr angenehm. Ich freue mich sehr, Dich bald wiederzusehen. D. K.
58 VON RUDOLF KODER [Pottendorf], d. 23.I.[1932] Lieber Ludwig! Ich schreibe Dir vom Konferenzzimmer aus, unter dem Bilde des verehrten Altmeisters Glöckl sitzend. Seit 2 Wochen bin ich an der hiesigen Hauptschule u. muß da bis Semesterschluß unterrichten. Darum brauche ich jetzt viel mehr Zeit zur Vorbereitung, besonders für Geographie u. Geschichte, von dem ich das Meiste schon vergessen habe. Sonst hat sich in meiner Lebensweise seit Deiner Abreise nichts geändert. Bist Du gut angekommen? Den Labor habe ich Deiner Schwester Helene noch nicht vorgespielt. Ich möchte das lieber tun, wenn Du dabei bist, weil
dann Deine Schwester noch am ehesten einen Eindruck davon hat. Morgen (Sonntag) höre ich im Philharmonischen die 8. von Bruckner. Ich freue mich schon sehr darauf. Schreibe mir bitte, wie es Dir geht! Es grüßt Dich herzlich Dein K.
59 VON RUDOLF KODER [zw. 23.1. u. 13.2.1932] Lieber Ludwig! Es tut mir leid, daß es Dir nicht sehr gut ging mit dem Arbeiten. Ich wollte, ich könnte Dir helfen. Wann kommst Du im März? Mitte März wird mit Deinem Bruder das Bläser-Divertimento v. Labor aufgeführt, das genaue Datum werde ich Dir noch schreiben. Das würdest Du doch sicher gern hören. Vor 2 Wochen hörte ich mit Deinem Bruder das Klarinetten Trio von Labor u. habe es sehr genossen. Ich bin in der 1. Reihe dicht neben dem Klarinettisten gesessen u. war von dem Klang der Klarinette so entzückt, wie schon lange nicht. Der Variationensatz hat mir auch sehr gefallen. Nachher kam das Mozart'sche Klarinetten-Quintett, bei dem ich nur den Klang aber nicht das Spiel genossen habe. Während des Labors habe ich an Dich gedacht u. Dich an meine Seite gewünscht. Es hätte Dir sicher auch sehr gefallen. Die 8. von Bruckner wurde zum Teil sehr schön aufgeführt u. die Mittelsätze habe ich sehr genossen. Am vorigen Sonntag war ich bei Deiner Tante Clara u. es war wieder herrlich bei ihr. Sie ist wirklich ein Engel an Güte. Und der Verstand, und wofür sie sich interessiert u. wie sie mit ihrer Anna verkehrt. Sie ist wirklich ganz wunderbar. Ich spielte ihr den Brahms vor u. dann mit ihr auf der Violine Bach u. Händel. Am Schluß hat sie mir unter den obligaten Badner Bonbons sogar noch Blumen für meine Mutter mitgegeben. Neulich habe ich den H. Nähr besucht. Er war auf, aber sehr niedergeschlagen über den Tod seiner treuen Bedienerin, die er sehr verehrt hat. Er ist schon etwas wunderlich geworden. Immer wieder sagte er: "Und die schöne Stirne, die sie gehabt hat." Er ist aber ein guter Mensch u. kann einen warm anschauen. - Mir ging es in letzter Zeit nicht schlecht, ich war sehr beschäftigt mit Korrigieren & Klassifizieren, denn am 13. ist Semesterschluß. Danke für Deinen Brief! Es grüßt Dich herzlich D.K.
60 VON RUDOLF KODER [Mitte Mai 1932] Lieber Ludwig! Danke für Deine Karte. Verzeih, daß ich solange nicht geschrieben habe. Ich bin sehr verdrossen u. unzufrieden mit mir u. kann mich momentan zu nichts aufraffen. Am vorigen Sonntag hatten wir eine öffentliche Haydnfeier für die Schule, bei der ich viel zu tun hatte. Vorher waren viele Proben nötig und die haben meine freie Zeit wenigstens nutzbringend ausgefüllt. Außerdem haben wir ein Hundewetter, es ist so kalt, daß man heizen muß. Jetzt kommen 4 Tage Pfingstferien, da werde ich eine Wanderung machen und hoffe, daß sie mich auf bessere Gedanken bringt. - Vor einigen Wochen habe ich mit der Frau Röger 2 Mozart-Sonaten gespielt. Da habe ich erst gesehen, wie wenig ausdrucksvoll ich noch spiele. Sie selbst u. Deine Schwester Hermine, auf deren Urteil ich sehr viel halte, haben mein Spiel gelobt, was mich etwas getröstet hat. Aber das wird Dich wahrscheinlich gar nicht interessieren u. es ist ja schließlich auch ganz nebensächlich. Ich soll es wahrscheinlich so machen, wie Du mit der Klarinette. Das Musizieren ganz sein lassen u. etwas Nützlicheres anfangen. Hoffentlich kann Dir bald einen besseren Brief schreiben Dein K.
61 VON RUDOLF KODER 25.V.32. Lieber Ludwig! Ich danke Dir herzlich für Deinen lieben Brief. Es geht mir jetzt wieder besser. Deine Schwester Grete hat mich etwas aufgerichtet. Dein Brief hat mir sehr wohlgetan. Es tut mir nur sehr leid, daß ich Dir nicht helfen kann. Ach, was ist das für ein Leben! Zu Pfingsten hatte ich schönes Wetter u. die Wanderung hat mir gut getan. Ich turne jetzt täglich in meinem Zimmer u. erhoffe mir etwas davon. Wann kommst Du? Ich freue mich schon auf Deinen Besuch in [Pottendorf]. Mein Bruder Hansi wurde vom Deutschen Kajakverband zu den Wasserspielen nach Venedig u. Marseilles geschickt. Er macht die herrliche Reise Venedig - Riviera - Marseille - Schweiz ganz umsonst. Heute erhielt ich die Nachricht, daß er in Venedig wieder 1. wurde u. eine silberne Taschenuhr gewonnen hat. - Sei recht herzlich gegrüßt von
Deinem K.
62 VON RUDOLF KODER [Oktober 1932] Lieber Ludwig! Verzeih mir bitte meine Schreibfaulheit. Ich bin wirklich ein schlechter Kerl und ein Trottel nebenbei! Ich lebe noch immer so blöd dahin und wache nur zeitweilig auf, um mich zu besinnen. Das einzig Vernünftige, was ich jetzt mache, ist, daß ich die "Brüder Karamasoff" wirklich lese. Ich lese sie sehr langsam und habe jetzt auch etwas davon. Wie geht es Dir? Schreibe mir bitte. Daß unser netter Schulinspektor in Pension geht, habe ich Dir schon erzählt. Denk Dir, der Herr Kund soll jetzt zu uns kommen! Mein Direktor ist schon ganz nervös deswegen. Wie geht es Dir mit der Gesundheit? Ich bin etwas verkühlt, weil das Wetter fortwährend wechselt. Seit Samstag d. 1. ist Wedigo in Wien. Ich bin sehr erschrocken über sein Aussehen. Deine Schwester hat mir aber gesagt, daß er schon viel besser aussieht. Der Arme tut mir sehr leid. Es grüßt Dich herzlich Dein K.
63 VON RUDOLF KODER [Anfang Dezember 1932] Lieber Ludwig! Es tut mir sehr leid, daß es Dir nicht gut geht. Hoffentlich hat Dir die Medizin genützt und nicht auch geschadet, was in Deinem Fall zu befürchten ist, soviel ich davon verstehe. Glaubst Du nicht, daß Dir eine Änderung Deiner Kost helfen würde? Du wirst jetzt wahrscheinlich schimpfen, aber ich muß es Dir doch sagen, weil es mir möglich scheint. Ich freue mich schon sehr auf ein Wiedersehen. Du wirst ja jetzt bald kommen? Dem Wedigo habe ich Deine Grüße ausgerichtet. Ich finde ihn jedesmal besser aussehend. Deine Verwandten sind alle ziemlich wohlauf. Am letzten Sonntag hörte ich ein sehr schönes Philharmonisches Konzert unter Bruno Walter[:] Gmoll von Mozart & die Eroika. Bis auf Weniges hatte er es herrlich einstudiert. Deine Schwester Mining hat mit mir öfters den letzten Satz aus der 9. von Bruckner gespielt. Willst Du irgend etwas hören? An Labor denkst Du jetzt gar nicht? Wir hatten auch in der letzten Zeit sehr viel Regen, aber es war nicht kalt. Danke für Deinen Brief. Es grüßt Dich herzlich Dein K.
64 VON RUDOLF KODER [ca. 23.5.1933] Lieber Ludwig! Nun ist es fast wieder ein Monat, daß ich Dir nicht geschrieben habe! Ich war sehr viel verstimmt und voll Unlust zu allem und jedem. Deine Schwester Grete hat mich wieder auf bessere Gedanken gebracht und es kommt mir momentan alles Schwere wieder erträglich vor. Vor 1 Woche war hier das Brahms Fest. Ich habe die meisten Aufführungen mit Deiner Schwester Mining gehört und viel Freude gehabt. Das meiste hatte ich vom Requiem, von der III. Symphonie (beides unter Furtwängler) und vom G-moll Klavierquartett. Deine Schwester hat mich vor kurzem gebeten, mich bei den Sticklerleuten zu erkundigen über ihr Alter, ob [sie noch] eine neue Stelle annehmen würden u.s.w. ohne aber Deine Familie zu nennen. Ich habe mit dem jungen Stickler gesprochen (der mir sehr gut gefallen hat) und auch an die Alten geschrieben. Sie wären gerne bereit. Deine Schwester hat nur Bedenken wegen ihres Alters. Er ist 54 u. sie 52 Jahre alt. Auf die Frage Deiner Schwester, was ich darüber denke, habe ich gesagt, ich nähme sie trotz des vorgerückten Alters; da sie so besonders anständig sind, wie man wenige finden wird. Ich bin nur nicht gescheit genug, darüber urteilen zu können, ob es einen Sinn hat nachzudenken, was in 10 oder 15 Jahren sein wird, wenn man jetzt anständige Leute haben kann. Wie geht es Dir? Danke für Deine Karte. Dein K. Verzeih den Fettfleck. Ich weiß nicht, wie er auf das Papier gekommen ist.
65 VON RUDOLF KODER 4.XI.[1934] Lieber Ludwig! Verzeih mir bitte, daß ich solange nichts von mir habe hören lassen. Es hat sich in den letzten zwei Monaten soviel bei mir verändert, daß ich erst jetzt wieder etwas zur Ruhe komme. Es ist kurz folgendes. 3 Tage vor
Schulanfang erhielt ich eine Aufforderung des Landesschulrates, sofort um Versetzung einzureichen, da mein Weiterverbleiben in Pottendorf wegen zu gering betätigter vaterländischer Gesinnung nicht statthaft sei. Ich war über diese Gemeinheit entsetzt u. konnte mir nicht denken, von welcher Seite diese Verleumdung ausgehen könne. In dieser Zuschrift stand auch, daß man mich eigentlich abbauen sollte, mir aber nochmals die Hand zur Besinnung u. Umkehr reiche, indem man mir die Möglichkeit gibt, an einem anderen Dienstorte im vaterländischen Geiste zu wirken. Ich mußte also sofort um Versetzung einreichen. Herr Sektionschef Wollheim, dem ich in dieser Sache zu großem Danke verpflichtet bin - hat sich beim Landesschulrat erkundigt u. erfahren, die Gemeinde Pottendorf habe meine Versetzung verlangt, weil ich Freidenker sei! Man wies mich zur Rechtfertigung an Dr [Czermak] (ehemals Minister f. Unterr.) u. an die Gemeinde Pottendorf. Der Gemeindeverwalter u. der Obmann des Ortschulrates haben sich nun in dieser Sache sehr unanständig benommen, indem sie sagten, sie wüßten von nichts, sie könnten sich nichts erinnern u.s.w. Der einzig Anständige war der Kooperator der auf meine Bitte hin mit mir zum Präsidenten [Czermak] nach Wien fuhr und dort bestätigte, daß diese Beschuldigung unwahr sei. Ich brachte für meine Rechtfertigung auch schriftliche Bestätigungen des Pfarrers, des Ortschulrates u. der Eltern. Dr [Czermak] schimpfte in gröbsten Ausdrücken vor mir u. dem Kooperator über die Pottendorfer Gemeinde, gab mir den dummen Rat, sie zu klagen - aber die einzig richtige Konsequenz zog er nicht, sondern ließ es trotzdem zu meiner Versetzung kommen. Der Referent sagte mir im Landesschulrat, ich müsse mit der günstigen Versetzung zufrieden sein, heute könne jeder Lehrer ohne Grund abgebaut werden. Nun bin ich seit 1. Monat in Gramatneusiedl, das liegt an der Ostbahn ½ Stunde von Wien. Zur Erläuterung muß ich Dir noch sagen, daß im heurigen Herbst Lehrer in großer Zahl abgebaut u. versetzt wurden, alle wegen "politischer Umtriebe". Auch der Direktor in Pottendorf, der sich stets korrekt benommen hat u. ein höchst anständiger u. gewissenhafter Leiter war, wurde frühzeitig pensioniert. Mich hat diese Sache so angeekelt, ich bin auf soviel Verlogenheit u. Erbärmlichkeit gestoßen, daß ich am liebsten vom Lehrberuf weggegangen wäre. Ich kann mich nun nicht entschließen, in Gramatneusiedl zu wohnen. Hauptsächlich darum, weil ich nicht wieder bald so etwas erleben möchte wie in Pottendorf, wozu diese Zeit herausfordert, in der man in so einem Nest auf Schritt u. Tritt beobachtet wird. Der zweite Grund ist der, daß mir der Ort zuwider ist. Da gibt es überhaupt nichts als Rübenfelder. Ich habe bis vor kurzem in der Borschkegasse gewohnt, seit einigen Tagen bin ich aber bei H. Sektionschef Wollheim, wo ich mich sehr wohl fühle. Ich brauche doch ein Zimmer, wo ich allein sein kann u. hätte es in der Borschkegasse nicht lange aushalten können. Wie geht es Dir? Herr Dr Wollheim hat mir Deine Grüße ausgerichtet, die mich sehr gefreut haben. Bitte, schreibe mir bald etwas von Dir u. auch darüber, was Du zu meiner Übersiedlung sagst. Daß es zu der Fußtour mit Deinem Bruder Paul nicht gekommen ist, weil er sich einer Knieoperation unterziehen mußte, wirst Du wohl schon wissen. Jetzt ist Dein Bruder auf einer Konzertreise in Nordamerika, wo er bis Weihnachten bleibt. Vor einer Woche war ich beim Stickler. Es ist noch immer dieselbe Sache. Er mußte die meisten Sonntage gegen sehr geringe Bezahlung arbeiten. Ich habe ihm angetragen, daß ich mit seinem Geschäftsführer darüber rede, er hat aber gedankt u. will selbst mit ihm sprechen. Er ist sonst sehr wohlauf u. es geht ihm bei seinem Onkel sehr gut. Er verdient sich jetzt öfters Trinkgelder für Linoleumlegen bei Kunden. In den nächsten Tagen werde ich ihn wieder sehen u. bin neugierig, was er bezüglich der Sonntage erreicht hat. Er ist ein sehr netter Bursch. Bitte, schreibe mir bald! Es grüßt Dich herzlich Dein Koder
66 VON RUDOLF KODER 22.XI.[1934] Lieber Ludwig! Danke für Deinen Brief. Es tut mir sehr leid, daß Du verkühlt bist und darum wieder weniger gut arbeiten kannst. Hoffentlich hast Du jemanden der Dich gut betreut, wenn Du im Bett bleiben mußt. Ich bin auch seit 8 Tagen krank, habe eine kleine Grippe und muß noch einige Tage im Zimmer bleiben. Während meiner Krankheit wohne ich in der Borschkegasse, da hier die Pflege leichter möglich ist. Ich hoffe aber, in 2-3 Tagen wieder zu H. Sektionschef Wollheim übersiedeln zu können, bei dem ich mich sehr wohl fühle. Er ist ein sehr guter, sehr gescheiter und - was mir besonders angenehm ist - ein sehr zartfühlender, feiner Mensch. Es sind jetzt große Vorbereitungen für den 60. Geburtstag Deiner Schwester Mining, an dem Du leider nicht hier sein kannst. Wann kommst Du heuer? Herrn Professor Hänsel, Herrn Drobil und den Stickler konnte ich wegen meiner Krankheit noch nicht sehen. Die ersteren werde ich wohl am 1. Dez. in der Argentinierstraße treffen und ihnen dann Deine Grüße ausrichten. Ich ärgere mich sehr über mein Kranksein, da ich soviel zu tun hätte und tagelang im Bett liegen muß, ohne etwas gescheites machen zu können. Ich lese jetzt wieder Raskolnikow. Aber anders als seinerzeit in Puchberg.
Wie geht es Dir jetzt? Kannst Du schon arbeiten? Von Deinem Bruder Paul sind gute Nachrichten da. Dein Neffe Tommy telegraphierte, daß D. Bruder in New York großen Erfolg gehabt hat. Er mußte 5 Zugaben spielen. Wir haben uns alle riesig gefreut darüber. Ich freue mich schon sehr auf das Geburtstagsfest, weil ich glaube, daß sich Deine Schwester Mining über das Festspiel wirklich freuen wird. Deine Schwester Grete hat ein Märchen gedichtet, zu dem sie, Deine Schwester Helene und Frau [Mima] Sjögren Puppen aus Watte u. Papier (nach Skizzen von Fr. Sjögren) als Illustration gemacht haben, die mich entzückt haben und die auch Dir sehr gefallen werden. Sie sind so enorm geschickt gemacht, voll Geschmack und sehr anmutig. Herr Professor Hänsel wird - glaube ich - das Märchen vorlesen. Alles Gute! D.K.
67 AN RUDOLF KODER Sonntag [2.12.1934] Mein lieber Koch! Danke für Deinen Brief. Beschissen, daß Du krank bist. Ich bin schon wieder ganz gesund & arbeite sehr viel. Für Minings Geburtstag ist mir nichts Gescheiteres eingefallen als ein kleines Zimmerfeuerwerk für den Garten in der Alleegasse. Die Feuerwerksstücke müssen natürlich kleiner sein als auf der Hochreit oben, dafür kann man mehr haben. Ich habe Gretl gebeten es zu besorgen. Ich weiß noch nicht, wann ich nach Wien kommen werde. Vielleicht um den 10ten oder 15ten. Möchtest Du wieder halbwegs gesund sein wenn Du diesen Brief kriegst. Eine Grippe ist etwas scheußliches, besonders der langen Zeit von Depression & Müdigkeit wegen, die ihr folgt. Dein Ludwig
68 AN RUDOLF KODER Donnerstag [vor Weihnachten 1934 ?] Lieber Koch, Nur ein paar Zeilen in Eile. Stickler schickt mir den beiliegenden Brief. Bitte, wenn es Dir irgend ausgeht, geh zu ihm, sag ihm, daß ich überzeugt bin daß er keine schwere Schuld hat, ich meine, daß ich nach wie vor überzeugt bin, daß er ein braver Mensch ist, & schau, bitte, ob er Hilfe braucht. Vielleicht könnte Dr Wollheim ihm etwas raten. Ich muß jetzt abbrechen. Bitte laß mich vielleicht mit einer Zeile wissen, wie es mit ihm steht. Sag ihm auch, daß ich ihn um Weihnachten herum sehen werde. Dein Ludwig Wenn Du ihn nicht bald sehen kannst, so bitte schreib ihm ein paar beruhigende Zeilen. Ich laß ihn herzlich grüßen.
69 AN RUDOLF KODER [vor dem Sommer 1935] Mein lieber Koch! Danke für Deine Karte (& die vielen Nachrichten die Du mir gibst). - Es geht mir nicht schlecht, wenn auch nicht gut, da ich in der größten Unsicherheit über meine nähere & weitere Zukunft bin. Das was mir jetzt unbedingt nötig ist, ist Zeit und Ruhe zu überlegen & irgendwie einen Entschluß zu fassen. Ich werde solange das nicht geschehen ist nicht nach Österreich kommen & vielleicht in diesem Sommer überhaupt nicht. Es ist wahrscheinlich, doch noch ungewiß, daß ich anfangs September nach Russland fahren werde. Vielleicht werde ich von dort nach einigen Wochen hierher zurückkommen, vielleicht auch dort bleiben. Wenn ich genaueres wüßte, würde ich es schreiben. Grüße Alle & sei herzlichst gegrüßt Dein Ludwig
70 AN RUDOLF KODER [Mitte Juli 1935] Lieber Koderl! Ein Schüler von mir ist jetzt auf ein paar Wochen in Wien. Ich glaube, er fühlt sich nicht sehr wohl in Wien.
Ich habe ihm Deine Adresse gegeben. Vielleicht wird er Dich aufsuchen. Bitte sei recht freundlich zu ihm, zeig ihm etwas & mach ihm das Leben etwas weniger trüb, - wenn Du kannst. Er ist ein lieber Mensch. Vielleicht kommt er auch nicht. Seine Adresse kann ich Dir nicht geben. Ich schreibe ihm Postlagernd. Sollte er zu Dir kommen, so könntest Du ihn dem H. Sectionschef Wollheim vorführen. Er wird ihn gewiss gern haben & vielleicht zum Essen einladen. Bitte grüße H. S. Wollheim herzlichst von mir & sage ihm, was ich Dir geschrieben habe, & daß er mir gegebenenfalls einen großen Gefallen täte, wenn er ihn ein oder das andere Mal einlüde. Wie gesagt, ich weiß nicht, ob er (sein Name ist George Ffennell) Dich aufsuchen wird, & wenn nicht, so macht es auch nichts. Hier hat sich noch nichts entschieden. Dein Ludwig ! Ich empfehle ihn absichtlich Dir & nicht meiner Familie, weil ich nicht wünsche, daß er unter zu großer Liebenswürdigkeit leidet.
71 AN RUDOLF KODER 4. IX. 35 Mittwoch Lieber Koder! Danke für Deinen Brief & die Karte vom Ausflug. Ich werde voraussichtlich in 3 Tagen auf etwa 3 Wochen nach Russland reisen. Die Krankheit eines Freundes hat vorläufig meine Pläne verändert. Ich werde wahrscheinlich noch ein Jahr in Cambridge bleiben. Ich habe eine sehr schwere Zeit hinter mir. Heute fiel mir eines der Brahms Stücke ein, die Du mir oft vorgespielt hast. Ich möchte es gern wieder von Dir hören. Meine Adresse etwa vom 12ten bis zum 24 September ist c./o. Intourist, Moskau U.S.S.R., dann wieder Trinity College. Sei herzlichst gegrüßt Dein Ludwig Grüß die Betty von mir.
72 AN RUDOLF KODER Donnerstag [Juli 1936] Lieber Koch! Lange haben wir nichts von Einander gehört. Ich werde jetzt nicht nach Österreich kommen sondern noch 4 Wochen hier bleiben & dann nach Norwegen oder Island gehen um dort für mich zu arbeiten. Zu Weihnachten will ich nach Wien kommen & freue mich darauf Dich mein Lieber zu sehen & spielen zu hören. Ich schicke Dir hier das Besteck das ich Dir in Wien versprochen habe. Bitte tu mir folgenden Gefallen: Kauf 2 Exemplare der Bong'schen (2 bändigen) Ausgabe von Peter Hebel's Werken. Ein Exemplar schicke mir & eines gib der Betty von mir. Ich schicke Dir hier ein Pfund & 10 Schilling (österr.) Das Pfund gib in's Bureau in der Alleegasse & laß Dir's dort vom H. Sekretär wechseln. Ist das Geld nicht ausreichend, so bitte schreib mir & ich schicke den Rest. Gern wüßte ich, wie es Dir geht & was Du spielst. Ich hoffe, daß es uns beiden gut gehen wird!! Dein Ludwig
73 AN RUDOLF KODER Trinity College Samstag 10. [vor dem 13. 8. 1936] Lieber Koch! Danke für Deinen Brief. Das Besteck wirst Du nicht vor 14 Tagen kriegen, da ich es mit einem Herren nach Österreich schicke um zu vermeiden daß Du Zoll zahlen mußt. Mit den 14 Schillingen bitte ich Dich meiner Schwester Helene irgend etwas für mich zu ihrem Geburtstag zu kaufen. Wenn uns nichts anderes einfällt, ein wenig Zimmerfeuerwerk oder eine Flasche Köllnerwasser. Die 46 Groschen darfst Du Dir behalten. Sie werden Dir auf Deinen Wanderungen von nicht geringem Nutzen sein, wenn Du sparsam damit umgehst. Geiger tut mir sehr leid, so ein Erlebnis ist fürchterlich; aber natürlich läßt sich viel Gutes daraus ziehen, - nur könnte ich es auch nicht. Grüß ihn von mir. Es ist möglich, daß ich Dich einmal bitten werde zu Frau Schlick zu gehen, oder zu ihrem Sohn, wegen der
Manuskripte die Schlick von mir hatte. Sein Tod ist ein großes Unglück. Dein Ludwig
74 AN RUDOLF KODER Herrn Rudolf Koder bei Dr Wollheim IV. Prinz Eugen Str.18 Wien Österrike [Skjolden, nach dem 18.8.1936] Sei herzlichst gegrüßt. Dein Ludwig
75 VON RUDOLF KODER 10.IX.[1936] Donnerstag Lieber Ludwig! Ich danke Dir sehr für Deine 3 Karten. Ich habe sie sehr verspätet erhalten, da ich damals gerade mit Deinem Bruder Paul auf der Fußtour war. Diese war sehr angenehm und schön. Wir mußten sie nur leider 4 Tage unterbrechen, weil wir beide sehr stark Durchfall bekamen. Danach ging es uns aber wieder sehr gut. Nach dieser Tour fuhr ich noch einmal nach Gmunden, wo ich eine Woche blieb und jetzt bin ich auf der Hochreith. Wie Du weißt, hat Deine Schwester Gretl jetzt sehr schwere Sorgen, was mir riesig leid tut. Und das umsomehr, da ich jetzt sowohl den Tommy wie seine Frau etwas besser kennen lernte und beide sehr gern habe. Das Schreckliche an der Sache ist, daß man wie ohnmächtig ist und zuschauen muß, wie alles seinen Lauf nimmt, ohne helfend eingreifen zu können.. Es ist für alle sehr, sehr schwer u. am aller schwersten für Deine Schwester, die sich Tag und Nacht abmüht und der es darum jetzt leider nicht am besten geht. Und dabei ist der Tommy zu allen andern besonders freundlich u. nett, selbstverständlich auch zu seiner Frau - wenn er nicht gerade seine eigensten Angelegenheiten mit ihr bespricht - und die Verwandten stellen diese äußere Liebenswürdigkeit mit Freude fest u. haben keine Ahnung, was sich dahinter abspielt! Ich war 2 Tage mit Tommy allein auf dem [Almsee] u. er war besonders nett zu mir. Er hat auch Verschiedenes mit mir besprochen, von dem was ihn jetzt sehr beschäftigt, ohne die Dinge beim rechten Namen zu nennen. Ich habe natürlich gewußt, worum es geht und habe mich bemüht, ihm über Liebe, Zuneigung, Verhältnisse, Verpflichtungen u.s.w. Wahres, Anständiges und Unegoistisches zu sagen, so weit ich überhaupt darüber reden kann. Ich habe dabei dummerweise gedacht, man könnte ihm sozusagen etwas "einbläuen". Aber man rennt da wie gegen einen Felsen. Ich weiß natürlich, daß ich nicht derjenige bin, der Diskussionen mit Erfolg führen kann, und daß der Tommy natürlich auf meine Meinung in solchen Dingen nicht viel halten wird. Aber abgesehen davon, ist es jetzt wahrscheinlich überhaupt unmöglich oder sehr schwer, ihn wesentlich zu beeinflussen. Er scheint niemanden Glauben schenken zu wollen u. verspricht sich alles von der Psychoanalyse. Diese sei die Einzige, sagte er mir, mit der man den psychischen Egoismus - so bezeichnet er seinen - heilen kann. Wenn man seine Frau (die ich besonders schätze) u. sein Kind kennt, kommt man wirklich auf den Gedanken, er sei sozusagen "vom Teufel besessen". Und wenn nur der sexuelle Teufel, was ich nicht weiß, dann umso schrecklicher. (Tommy spricht immer von Täuschung in Bezug auf Intellekt u. Charakter. Ich kann aber nicht recht daran glauben.) Von Deiner Schwester Gretl habe ich auch gehört, daß Du wieder mit der Galle zu tun gehabt hast. Das tut mir sehr leid! Wie geht es Dir jetzt? Kannst Du arbeiten? Hast Du nette Menschen in Deiner Umgebung? Ich habe dem Tommy die Labor-Variationen über die Volkshymne vorgespielt, die ihm u. auch Deiner Schwester Gretl zum Teil sehr gefallen haben. Die letzte Woche waren mit mir zusammen der Arvid mit Frau u. Kind in Gmunden. Ich habe sie in diesem Rahmen besonders nett gefunden. Hier auf der Hochreith ist alles wohlauf. Ich fahre übermorgen nach Wien, weil am 14. die Schule beginnt. Bitte, schreibe mir, wie es Dir geht. Es grüßt Dich herzlich Dein K.
76 AN RUDOLF KODER [Fragment] [nach dem 10.9.1936 ?] [...] ganz gut. Oder eigentlich, es geht mir schon gut & ich bin nur noch etwas schwach. Ich lebe hier gut, habe ein herrliches Zimmer, & die Natur, die ich um mich sehe, ist unbeschreiblich schön. Ich sehe sehr wenige Menschen,
aber die ich sehe sind nette Leute & hilfreich. Mit meiner Arbeit geht es nicht sehr schnell, aber nicht schlecht. Grüße Wollheim herzlichst & sag ihm, daß es mir wieder gut geht. Grüß auch den Paul & die Gretl, wenn Du sie siehst. Ich denke oft an Dich. Dein Ludwig
77 VON RUDOLF KODER 20.XI.[1936] Lieber Ludwig! Verzeih mir bitte, daß ich Dir solange nicht geschrieben habe. Ich bin ein so riesig faules Hundsluder im Schreiben und beschimpfe mich täglich deswegen. Ich danke Dir herzlich für Deinen letzten lieben Brief u. die Grüße durch Dr Wollheim. Von ihm habe ich erfahren, daß es Dir jetzt viel besser geht, was mich sehr, sehr freut. Ich denke oft an Dich und freue mich sehr auf Dein Kommen. Hast Du Dich schon entschlossen, wann Du jetzt kommen wirst? Es wäre sehr schön, wenn Du heuer länger hier bleiben könntest als im Vorjahr. Da war es gar kurz. Mit Deiner Schwester Mining üben wir jetzt das Adagio aus der 8ten von Bruckner. Sonst komme ich eigentlich nicht viel zum spielen, außer an Sonntagen mit Deinem Bruder Paul. Er hat gestern wieder einmal das Quintett v. Schmidt mit dem [Prix]-Quartett gespielt. Und neulich ein Konzertstück von Labor, F moll, das mir sehr gefallen hat. Dein Bruder spielt jetzt viel schöner als früher. Es würde mich interessieren, ob Du das auch findest. In der nächsten Woche höre ich mit Deiner Schwester Mining die Missa unter Toskanini, worauf ich mich sehr freue. Sonst höre ich eigentlich wenig. Ich habe sehr viel zu tun. Auch außer dem Beruf. Neulich mußte ich z.B. bei einem Kompositions-Konzert meines Direktors die 1. Geige spielen! Hoffentlich geht es Dir recht gut! Schreibe mir bitte, wann Du kommst. Es grüßt Dich herzlich Dein K.
78 AN RUDOLF KODER Mittwoch [April 1937?] Lieber Koch Danke für Deinen lieben Brief. Grüße Wollheim herzlichst von mir. - Ich bin sicher, daß Du ihm eine große Hilfe warst & bist. Ich komme wahrscheinlich am 28ten oder 29ten abends nach Wien & werde ca. 14 Tage bleiben. Ich habe Max zu seinem Geburtstag eine Art Shawl geschickt. Ich wüßte gerne, ob er ihn bekommen hat. Wenn Du es erfahren kannst ohne irgendjemand zu fragen, so schreib mir's bitte. Sei aber so gut & frage weder ihn, noch etwa meine Schwester Helene! Ich interessiere mich nur dafür, weil ich das Tuch nicht sehr gut eingepackt habe. Ich freue mich darauf Dich zu sehen. Dein Ludwig
79 VON RUDOLF KODER 18. Dez. 38. Lieber Ludwig! Ich danke Dir sehr für Deine liebe Karte. Es tut mir riesig leid, daß Du zu Weihnachten nicht hier bist. Es wird kein fröhliches Weihnachten sein! Und dabei hängen jetzt in den Hauptstraßen Julkränze, auf denen abends Lichter brennen! Deiner Schwester Grete geht es jetzt viel besser. Sie erwartet den Wedigo für die Feiertage und Fräulein Hedwig Schulze kommt auch. Das ist sehr angenehm! So wird es doch ein wenig gemütlich sein am Heiligen Abend in der Kundmanngasse. Deine Schwester Mining zeichnet dort seit einigen Wochen. 2 Bilder, das Zimmer Deiner Schwester u. die Bibliothek, sind schon fertig. Ich habe sie gestern gesehen und sie haben mir sehr gefallen. Ich schaue sie sehr gerne an. Es ist so merkwürdig, noch nie ist mir aufgefallen wie bei diesen Zeichnungen, wie stark die Persönlichkeit Deiner Schwester Mining darin zum Ausdruck kommt. Ich sehe die schönen Räume und die mir so angenehme Einrichtung Deiner Schwester Grete, die doch so ganz ihre Sprache spricht, und doch schaut einen aus der Zeichnung auch Deine Schwester Mining an. Daß wir jetzt wieder mit großer Freude Labor spielen, weißt Du schon. Wir haben jetzt viel mehr davon, weil sich die Sachen auf 2 Klavieren leichter spielen lassen. Ich komme allein sehr wenig zum spielen. Die schönen Klavierstücke von Brahms werde ich erst wieder spielen, wenn Du zuhörst. Ich freue mich schon sehr auf Ostern! Doktor Wollheim ist gesund, ich sehe ihn oft. Am wenigsten gut geht es jetzt Deiner Schwester Helene. Sie ist riesig reizbar u. meist nur erfüllt von Gedanken um die Schwierigkeiten. Sie tut mir sehr leid und ebenso Dein Schwager Max, der dabei auch keine guten
Tage hat. Beide haben sich über Deinen Brief sehr gefreut. Die Sjögrens sind sehr, sehr angenehm und ihre Kinder sehr sympathisch! Ich freue mich, daß es Dir wieder besser geht. Wo wirst Du Weihnachten feiern? Bei Mr. Skinner? Am 25. werde ich an Dich denken! Und an Deinen Bruder Paul! Er hat mir vor seiner Abreise Schallplatten geschickt. Ich wünsche Dir gute Weihnachten! Sei recht herzlich gegrüßt von Deinem K.
80 VON RUDOLF KODER [vor dem 25.12.1939] Lieber Ludwig! Ich wünsche Dir frohe Weihnachten u. ein glückliches neues Jahr! Hoffentlich wird im neuen Jahr bald Friede sein, so daß wir einander wiedersehen können. Ich denke oft an Dich, wie es Dir wohl gehen mag in dieser schweren Zeit? Ich denke auch oft an Puchberg zurück u. da fällt mir gerade ein, daß ich Dir von den Rentls Grüße ausrichten soll. Ich habe sie im Sommer gesehen. Wie geht es Dir gesundheitlich? Mußt Du viel entbehren? Wir leben hier noch so ziemlich auf die alte Weise. Wir spielen immer regelmäßig an den Sonntagen u. denken dabei oft an Dich u. wünschen Dich als Zuhörer zu haben. Geiger schreibt sehr nett aus Köln, u. vom Postl hören wir auch öfters. Zu Weihnachten werden wir ihn in Wien sehen. Ich bin in meiner alten Stelle u. es geht mir gut. Ich habe sehr viel zu tun u. wenig Zeit zum Besinnen. Hoffentlich hören wir recht bald wieder von Dir! Sei herzlichst gegrüßt von Deinem K.
81 VON RUDOLF KODER 15.V.40. Lieber Lucki! Ich danke Dir herzlich für Deinen lieben Brief und für das Geburtstagsgeschenk. Es war riesig lieb von Dir, mich jetzt aus der Ferne zu beschenken. Deine Schwester M. stellte mir einen Wunsch frei u. ich wählte die "Jugenderinnerungen eines alten Mannes" v. Kügelgen, die ich schon immer besitzen wollte. Ich freue mich sehr, dieses Buch zu haben u. danke Dir herzlichst! Gerne würde ich wissen, ob Du alle meine Briefe erhalten hast. Es geht leider viel verloren. Ich denke oft an Dich u. würde Dich gerne sehen und Dir vorspielen. Ich spiele leider sehr wenig allein, aber am Sonntag wird noch immer auf 2 Kl. musiziert. Jetzt spielen wir wieder Bruckner mit großem Genuß. Da solltest Du dabei sein! Ich bin noch in meiner alten Stellung u. von den alten Leuten umgeben, was eine große Wohltat ist. Aber leider wird sich das jetzt bald ändern, da ich schon für einen anderen Dienst in Aussicht genommen bin. In der Alleegasse, Prinz Eugenstr. u. auf d. Brahmsplatz ist alles gesund u. im alten Geleise. Gib acht auf Dich, damit Du gesund bleibst! Mit den herzlichsten Wünschen denkt immer an Dich in alter Liebe u. Treue D.K.
82 AN RUDOLF KODER 13. 8. 40. Liebster Koch! Nur eine Zeile, um Dir zu sagen, was Du ohnehin weißt, daß ich immer an Dich denke. Möchte es uns gegeben sein, einander wieder zu sehen! - Meine Gesundheit ist sehr gut. Bitte sag Allen alles Liebe; besonders Deinem guten Hausherrn, den Schwestern, & Max & Hänsel. In alter Liebe & Treue, wie immer, Dein Ludwig SENDET ANTWORT AN MEINEN VOLLEN NAMEN PER ADRESSE POSTFACH 506, LISSABON.
83 VON RUDOLF KODER
19.11.45 Lieber Ludwig! Vor einigen Tagen bin ich aus der brit. Gefangenschaft nach Hause gekommen u. hörte, daß Du Dich nach mir hast erkundigen lassen. Ich bin eben im Begriffe zu Mr. Colingwood zu fahren, der in einem Hospital in Lainz arbeitet, um von ihm etwas über Dich zu erfahren. Ich habe den Krieg gottlob gut überstanden, ebenso meine Familie. Daß ich seit 1941 verheiratet bin u. auf dem Brahmspl. wohne, wirst Du schon wissen. Auch unser Haus hat einen Treffer, die Wohnung Deiner Schwester und meine sind aber im großen u. ganzen heil. Schwer beschädigt ist leider das Haus in der Alleegasse. Besonders die Gartenfront hat sehr gelitten u. zwar mehr unter dem Einfluß des durchsickernden Regenwasser[s] als unter Zerstörung durch Bomben. Deine beiden Schwestern leben in Gmunden, wo es ihnen ganz gut geht. Hier in Wien ist es jetzt nicht schön. Die Ernährungsverhältnisse sind sehr schlecht und dazu sehr wenig Brennmaterial. Meine Frau ist ein sehr lieber und guter Mensch und würde Dir glaube ich auch sehr angenehm sein. Sie ist um 16 Jahre jünger als ich, auch Lehrerin. Ich lernte sie an meiner letzten Schule in Gramatneusiedl kennen. Ich habe auch einen Buben, Johannes Georg, Hansl gerufen, der jetzt 3¼ Jahre alt ist. Er ist auch sehr lieb und gescheit. Ich war fast 2 Jahre von Wien weg in Albanien u. Serbien u. muß mich erst wieder zurechtfinden. Wann werden wir einander wiedersehen? Meine Frau, der ich viel und oft von Dir erzählt habe (- sie liebt auch "An die entfernte Geliebte" -) läßt Dich herzlich grüßen. Gott schütze Dich und führe uns wieder einmal zusammen. Es grüßt Dich herzlich in alter Liebe und Treue Dein K. P.S. Vom Postl hörte ich, daß er wohlauf u. im Reich in Gefangenschaft sei. Geiger ist hier. Bitte, schreibe mir auf demselben Weg z[u]rück, wie es Dir geht.
84 AN RUDOLF KODER 10. 12. 45. Lieber Koch! Ich habe Deine Nachricht durch Collingwood erhalten. Er schreibt, Du seist unternährt. Das tut mir sehr leid; obwohl es mich nicht wundert. - Ob wir einander wiedersehen werden, weiß Gott. Ich hoffe es. Aber darum, weil es unsicher ist, ist es mir sehr wichtig, daß Du eines weißt: Ich denke an Dich heute nicht anders, als immer; nämlich als den, den ich in Puchberg gekannt habe. Du darfst also nicht denken, daß diese Zeit für mich begraben ist, sondern sie ist heute noch immer die Wurzel alles dessen, was ich für Dich fühle. Sollte das vielleicht töricht klingen, so macht es mir gar nichts. Wenn Du Geiger siehst, so grüß ihn sehr herzlich von mir. Bitte versuch Hänsels Adresse zu erfahren, & siehst Du ihn, so sag ihm, daß ich oft & unver[ä]ndert an ihn denke. - Es geht mir ganz gut. Wenigstens meinem Körper. Mögest Du & Deine Leute nicht zu schreckliches zu leiden haben. Ich wünsche Dir gute Gedanken & Gefühle. In alter Liebe & Treue Dein Ludwig
85 VON RUDOLF KODER Wien, 31.I.46 Lieber Ludwig! Ich danke Dir sehr für Deinen lieben Brief. Es freut mich sehr, daß es Dir gesundheitlich gut geht. Daß es einem seelisch nicht gut geht, ist ja in dieser Zeit verständlich. Es geht mir ähnlich. Es graust mir so vor allem, was jetzt vorgeht und ich kann nur sagen: das Getue, das jetzt anhebt, ist ebenso verlogen und widerlich wie das zwischen 1938 u. 45. Und ich glaube hier in Ö mehr als irgendwo u. in Wien ganz besonders. Meine Frau u. ich möchten darum aufs Land hinaus, in irgendeinen stillen Winkel in Salzburg oder Ob.Öst. Leider ist das momentan nicht durchführbar wegen der Demarkationslinie. Du kannst Dir nicht denken, was diese Grenzziehung innerhalb Öst. [?] bedeutet. Wir leben um vieles schlechter als die jenseits d. Demark. Linie. Stell Dir vor: Dein Bruder Paul hat mir 2 Liebesgabenpakete geschickt. Als ich sie abholen wollte, erfuhr ich bei der zuständigen Stelle, daß die Originalpakete (aus d. Schweiz) nur jenseits d. Demarkationslinie ausgefolgt werden können. U. hier in N.Ö. gibt man dafür Ersatzpakete. Diese enthalten zwar Bohnenkaffee. Uns wären aber Käse u. Sardinen wichtiger gewesen. Dies nur ein Beispiel. Ich kann Dir nur sagen, die Alliierten lassen N.Ö. u. Wien hungern. Nur wer sich im Schleichhandel oder wie hie u. da von Verwandten zusätzlich Lebensmittel verschaffen kann, braucht nicht zu hungern. Aber das nur nebenbei. Das Ärgste ist ja diese Atmosphäre voll Lug, Trug u. Hinterlist. Ich beneide die
Sjögrens, die in reiner Luft leben können. Ich kann jetzt, da ich klarer sehe, auch nur sagen: Was uns in Puchberg aneinander gebunden hat, wird uns zeitlebens verbinden und ist auch für mich der Grundstock unserer Beziehungen zu einander. Habe ich Dir schon geschrieben, daß es mich so freut, daß meine Frau den "Liederkreis an die entfernte Geliebte" so gerne singt, den Du immer in Puchberg so schön gepfiffen hast. Hier ist das Leben voller Unrast u. ich u. meine Frau haben leider, leider wenig Zeit für uns. Schreibe mir bald wieder! Ich denke immer in Liebe an Dich! Dein alter Koder
86 VON RUDOLF KODER Wien, 1.Juli 46 Lieber Ludwig! Ich danke Dir für Deinen lieben Brief. Es tut mir riesig leid, daß Du Dich so unruhig und bedrückt fühlst. Ich kann aber sehr gut verstehen, daß man in dieser Zeit häufig in einen solchen Zustand verfallen muß. Immer wieder begegnet man auf Schritt u. Tritt nur Lug u. Trug und das ganze Getue ist so widerlich. Es war eine große Freude für mich, Deine Schwester Mining wieder sehen zu können, die kürzlich für 3 Wochen in Wien war. Sie war oft bei uns, weil wir viel 4 hdg gespielt haben. Und zwar nur Labor: das 1. u. letzte der 5 Klavierstücke, den 3. Satz aus dem Klar. Trio u. das Adágio in cis-moll. Es war ein großer Genuß für uns beide und wir wünschten immer wieder, daß wir es Dir vorspielen könnten. Wann wird es dazu kommen? Du schreibst von dem langsamen Satz aus der ersten Schumann-Symphonie. Den habe ich auch ganz besonders gern. Ebenso den letzten der so heikel zu spielen ist. Ich habe seit gestern Ferien. Leider werde ich sie diesmal in Wien verbringen müssen, da Reisen über Land noch mit den größten Schwierigkeiten u. Hindernissen verbunden sind. Hier ist es jetzt sehr heiß und sehr staubig, da überall Schutt weggeräumt wird. Ich danke Dir herzlich für die Zigaretten, die mir große Dienste leisten. Leider ist Mr. Collingwood seit 1 Monat nach Italien versetzt (Bari) und damit fällt diese Möglichkeit aus. Er rüstet demnächst ab. Ich muß nochmals sagen, daß er sehr nett und freundlich war und mir und meiner Frau auch sehr sympathisch. Dem Geiger geht es materiell sehr gut, sonst aber höre ich nur Unangenehmes über ihn, so daß ich ihn garnicht sehen will. Er hat sich übrigens auch noch nie gemeldet oder sehen lassen, weil er wohl ein schlechtes Gewissen hat. Alles Gute für den Sommer! Es denkt immer in Liebe an Dich Dein K.
87 AN RUDOLF KODER Trinity College Cambridge 14. 10. 46 Lieber Koch! Ich erhielt heute Deinen lieben Brief vom 2ten Oktober. Was Du mir über Deine Stimmung sagst, begreife ich nur zu gut. Ich selbst bin in einem schlechten seelischen Zustand, obwohl körperlich bei sehr guter Gesundheit. Ich schreibe dies nicht um zu klagen, aber weil ich will, daß Du davon Nachricht hast. Mein Verstand ist, soweit ich es beurteilen kann, nicht wesentlich weniger lebhaft als er war. Ich habe noch immer Gedanken, die mir interessant scheinen. Aber ich verfalle immer wieder in einen Zustand, der eine gewisse Ähnlichkeit mit großer Müdigkeit hat, aber nicht gewöhnliche Müdigkeit ist. Es ist mir dann, als wäre ich ganz nahe einer seelischen Katastrophe, nahe irgend einer Form des Wahnsinns; als könnte ich der geistigen Umnachtung keinen Widerstand mehr leisten. So etwa, als wäre ich auf einem ganz schlüpfrigen Abhang & könnte mich nur noch an ein paar Grashalmen anhalten. Ich habe Tage & Wochen ganz ohne diese Schrecken, & Tage an denen ich nur eine ganz geringe Mahnung an sie höre. Wohin es führen wird weiß Gott - ob ich noch wirklich gesunden kann, oder ob einmal das Gefürchtete wirklich eintreten wird. Wie immer es ist - denk an mich! Denke an die Zeit, die auch ich nie vergessen kann. Möge das, was mir jetzt als das Schrecklichste erscheint, der Wahnsinn, nicht kommen! Ich habe hier, in Cambridge, leider niemanden um mich, der mir helfen kann; ich meine natürlich nicht einen Doktor, sondern einen Freund. Es sind ein paar Leute hier, die ich schätze, aber niemand, der mir nahe steht. Ich will, daß Du alles das weißt, aber nicht damit Du Dich um mich sorgst (denn ich stehe sozusagen in einer höheren Hand) noch auch, daß Du darüber redest! Denk aber an mich & wünsch mir alles Gute. Und das tust Du ja ohnehin. - Wenn Du die Hänsels wieder siehst, grüß sie herzlichst von mir. Kein Wunder, daß er gealtert ist!! - Gott mit Dir! Ich denke mit Liebe an Dich.
Dein Ludwig Mögen wir uns noch einmal wiedersehen!
88 VON RUDOLF KODER 7.XI.46 Lieber Ludwig! Deine Briefe vom 14. u. 26.10. kamen ziemlich nacheinander hier an. Über den ersten Brief bin ich sehr erschrocken, der zweite hat mich aber wieder etwas beruhigt. Ich bin sehr froh, daß Du auf ein Mittel gekommen bist, das Dir hilft. Die Verordnung des Arztes deutet aber doch - soviel ich verstehe - auf eine ungenügende Ernährung. Wenn wir noch in Puchberg wären, würde ich Dich oft zu Kakao, Käse, Butter und Salzstangerl einladen. Leider geht das jetzt nicht. Hoffentlich hast Du dort einen Arzt, der Dir einigermaßen sympathisch ist und auch gescheit genug, um Dir helfen zu können. Du schreibst von der 7. v. Bruckner. Deine Schwester Mining u. ich haben sie zusammen gehört, und waren beide wieder sehr entzückt. Mir machte diesmal einen ganz besonderen Eindruck das Trio vom Scherzo. Ich war so ergriffen davon. Mir schien es so "ungeheuer" edel. Ich dachte, wenn man zeigen wollte, auf welcher Höhe sich Bruckners Fühlen u. Denken abspielte, könnte man es mit diesem Trio vorführen. Würdest Du das auch sagen können? Ich hörte noch 2 Messen, die mir einen großen Eindruck machten, und auch die 4., die mir diesmal so irgendwie "kühl" *besonders der langsame Satz, vorkam. Vom letzten Satz habe ich überhaupt nichts. Ich spiele jetzt wieder öfters die Klavierstücke von Brahms. Es ist alles so schwer und verworren. Möge Dir Gott helfen! In alter Treue Dein Koder
89 VON RUDOLF KODER Wien, am 21.6.47 Lieber Ludwig! Verzeih, bitte, daß ich solange nicht geschrieben habe. Ich war sehr gehetzt in den letzten Wochen. Mein Stiefvater u. meine Mutter sind plötzlich beide schwer erkrankt und da mußte ich täglich in der schulfreien Zeit nach Währing, um ihnen zu helfen. Das hat mir viel Zeit weggenommen, u. wenn ich abends nach Hause kam, war ich viel zu müde, um noch irgend etwas Vernünftiges tun zu können. Ich danke Dir sehr für Deinen letzten Brief u. für die Lebensmittelsendung, die uns wieder sehr geholfen hat. Wie geht es Dir? Wird es Dir möglich sein, im Sommer zu kommen? Deine Schwester M. u. ich reden immer davon und hoffen sehr auf ein Wiedersehen in den Ferien. Von hier aus gesehen, scheint es möglich. Mit Deiner Schwester M. musiziere ich regelmäßig u. stets mit größtem Genuß. Wir haben die Müllerlieder u. d. Winterreise durchgenommen u. spielen jetzt das Wohltemp. Klavier v. Bach, das uns viel Freude macht. Ich bin gesund, nur immer sehr müde, besonders nach dem Unterricht. Am frischesten immer früh morgens, wie jetzt, es ist ½5. In meinen ganz guten Stunden denk ich immer an Dich. Ich hoffe sehr, Dich bald sehen zu können. Alles Liebe Dein Koder und noch vielen Dank
90 AN RUDOLF KODER TEL. U 40 402 Wien, [Ende September 1948] IV. ARGENTINIERSTRASSE 16 Lieber Koch! Bitte entschließ Dich diesen Brief mit Ernst & Geduld durchzulesen. - Er bezieht sich natürlich auf das Thema unsres gestrigen Gesprächs. Ich schreibe ihn aber nicht aus Schreibseeligkeit, denn das Schreiben fällt mir schwer, - sondern darum weil es mir leichter fällt die Wahrheit aufzuschreiben als sie Dir im Gespräch zu sagen. Denn beim Sprechen werde ich leicht durch Deine etwas dumpfe, trübe & unwillige Art der Reaktion verwirrt, oder zu Übertreibungen, oder Unfreundlichkeiten hingerissen. Beim Schreiben sage ich leichter die bloße Wahrheit. Erst etwas über mich: Wie Du weißt, fühle ich mich meinem Ende viel näher, als es, der Wahrscheinlichkeit nach, ist. Denn ich bin körperlich ziemlich gesund & werde vielleicht noch lange leben. Meine Gedanken & Gefühle
kommen vielleicht daher, daß ich in einem verhältnismäßig hohen Alter noch meine Lebensweise von Grund auf ändern muß, was schwere Probleme mit sich bringt. - Jedenfalls aber wird, wer so fühlt & ist wie ich, nicht das Verhältnis zu seinen Freunden leichtfertig behandeln. Denn für mich sind meine Freunde, was für einen Andern seine Familie ist; & diejenigen, die das für mich Wichtigste mit mir erlebt haben, sind wie die wichtigsten Glieder dieser Familie. Soviel ist also klar, daß ich nicht leichtfertig an unserm Verhältnis rühren werde. - Es ist allerdings wahr, daß gerade die Furcht, es könnte sich etwas ändern, manchmal die Änderung beschleunigt, oder sogar hervorruft! Nun muß ich auf etwas anderes sehr wichtiges übergehen. Wenn zwei Menschen aneinander hängen, aber, wie es oft unvermeidlich ist, im Verkehr manche Schwierigkeiten haben, ist es ihrem Verhältnis vorteilhaft, wenn sie auf einander angewiesen sind. Denn dann müssen sie die Schwierigkeiten mit Ernst behandeln & werden, so Gottwill, darüber hinweg kommen. Und ebenso, wenn A & B diese zwei Leute sind, ist es ihrer Freundschaft unvorteilhaft, wenn der eine von ihnen einen Dritten hat, bei dem alles leicht ist. Es ist dann so ähnlich, wie wenn zwei Buben miteinander raufen & der eine hat eine Mutter, zu der er laufen kann. Dadurch wird dann die ernste Auseinandersetzung der Beiden schwer. Und es liegt in dem Gefühl, daß man ja doch zum Dritten gehen kann, & daß dort alles leicht & schön sei, der Keim der Treulosigkeit. Aber es ist schwer diesen Keim, der ja erst ein Keim ist, ganz zu ersticken. Und nur wenige Menschen werden sich gerne in ein herbstliches Klima begeben, wenn sie auch ein sonniges haben können. Und wenn Du aus dem Klima meiner Schwester Gretl in das meinige kommst, so kommst Du ja aus einem sonnigen in ein herbstliches Wetter. Die Gefahren so einer Situation kann man nur mit Ernst überwinden. Denn daß hier schwere Versuchungen, & gerade zum Unernst, liegen, verstehe ich wohl. Und nun kommst Du zum letzten Absatz, Gott sei Dank! Es handelt sich um Morgen. Ich habe mir, wie ich Dir gestern sagte, den morgigen Abend, als den letzten, für Dich vorbehalten. Das ist für mich gleichsam eine Art Zeremonie. Ich meine damit aber alles eher als etwas Leeres. Aber eben weil es so ist, so will ich nicht diesen Abend mit Dir in dummen Verlegenheitsgesprächen verbringen; oder in Gesprächen, die zwar für mich ernst sind, für dich aber keinen rechten Sinn haben & Dir nur unangenehm sind; oder indem wir musizieren, aber doch nicht im rechten Geiste. Darum sagte ich gestern ich würde wenn es nur so sein kann, den morgigen Abend nicht bei Dir verbringen. Doch aber habe ich es in ungeschickter & falscher Weise gesagt; denn ich meinte damit keinen Bruch, sondern dachte nur: Hoffen wir lieber, daß wir uns noch ein andermal im Leben sehen & dann so beisammen sein können, wie ich es eigentlich wünsche. Ich Meinte: Finden wir uns, wenn's sein muß, damit ab, daß der Baum jetzt nicht blüht; wenn sein Stamm noch lebt, wird er wieder blühen. Und so denke ich auch jetzt noch. - Wenn Du mich, nachdem Du das gelesen hast, für morgen abend einlädst, so werde ich annehmen, daß Du mit ungeteilten Gefühlen an diese "Zeremonie" gehen kannst. Glaubst Du, es ginge diesmal nicht recht, so sag's mir in guter & ernster Weise, & wir wollen auf eine bessere Zukunft hoffen. Dieser Brief ist schlecht, aber so gut als ich ihn jetzt schreiben kann. Wie immer, Dein Ludwig
91 AN RUDOLF KODER c/o Dr Drury St. Patricks Hospital James's Street Eire Dublin [Oktober 1948] Lieber Koch! Dank Dir für Deinen lieben Brief, den ich vor ca 14 Tagen bekommen habe. Ich habe mich nur 14 Tage in Cambridge aufgehalten & bin dann nach Dublin gefahren, wo ich auch jetzt noch bin. Ich werde aller Wahrscheinlichkeit nach im Winter nicht nach Rosro gehen, sondern suche hier in der Nähe eine Wohnung. Ich finde, ich kann jetzt auch ohne die vollkommene Einsamkeit arbeiten, ja vielleicht sogar besser ohne sie. Die obige Adresse wird mich immer erreichen. Wenn ich eine definitive habe laß ich's Euch wissen. Meine Gesundheit ist sehr gut & es geht mir auch mit der Arbeit nicht schlecht. Jetzt, beim Schreiben dieses Briefes bin ich etwas müde & dumm. Es war schön, daß ich nach Wien kommen konnte & hat mir gut getan, & es war schön mit Dir beisammen zu sein. Bitte grüß Alle herzlich von mir & gib ihnen meine Adresse. Wie immer Dein Ludwig
Es war schön, Dich Labor spielen zu hören. Deiner lieben Frau ihre Bäckerei ist noch immer nicht ganz aufgegessen.
92 AN RUDOLF KODER 2. 2. 49. Ross's Hotel Parkgate Street Dublin Eire Lieber Koch! Dank Dir für Deinen Brief. Ich brauche Dir nicht zu sagen, was ich in diesen Tagen fürchte & hoffe. Du kannst Dir alles denken. Und ich weiß Du fühlst so wie ich. - An Bernscherer kann ich mich erinnern. Nicht, daß er mir besonders sympathisch war. Daß der Architekt nicht auch außer Dienst ist, wundert mich. - Helene schrieb mir vor einigen Wochen, sie habe die Bagatellen von Dir spielen gehört & Dein Spiel sei sehr schön gewesen, die Stücke hätten ihr aber nichts gesagt. Ja, Labor spielte sie, & mit unglaublichem Ausdruck. Ich hoffe, ich werde sie einmal von Dir hören. Es ist traurig, zu hören, daß Du nicht wohl bist & Deine Frau krank. Es ist jetzt eine schlechte Zeit. Auch ich war in den letzten 3 Wochen unwohl, hatte eine Art Magengrippe, aber es geht mir wieder gut. (Du wirst vernünftig sein & meinen Schwestern nicht sagen, ich sei nicht wohl gewesen.) - Die Photographie der Karlskirche ist die beste, die ich je gesehen habe. Es freut mich sehr, sie zu haben. Mit allen alten Wünschen & Gefühlen Dein alter Ludwig
93 AN RUDOLF KODER 8. 2. 49. Ross's Hotel Parkgate Street Dublin Eire Lieber Koch! Dank Dir für Deinen Brief vom 27. Jänner. Bitte laß mir oft Nachrichten über das Befinden meiner beiden Schwestern zukommen. Du brauchst dazu nicht erst Erlaubnis einholen & auch darüber, daß ich von Dir Nachrichten haben will, mit niemand zu reden. Du bist ja mein Freund, & kein altes Weib. (Oder es sollte doch so sein.) Gegenwärtig erhalte ich nur durch Helene Nachrichten über Minings Befinden. Und aus dem Ton dieser Nachrichten entnehme ich, daß Helene selbst sich in einem schlechten Gemütszustand befindet. So scheint es mir wenigstens. Ich brauche aber ehrliche Nachrichten von jemand, der selbst ruhig ist & meine Schwestern doch kennt. Darum wende ich mich an Dich. Ich hoffe Du wirst mich nicht enttäuschen. Solltest Du aber über meine Beunruhigung mit Andern schwätzen, so wäre das eine schlimme Sache. - Ich möchte auch wissen, wie es dem Hänsel geht. Ich habe lange nichts von ihm gehört. - Mögest Du nicht nur Güte, sondern auch Verstand & Urteil haben! - Wie immer Dein alter Ludwig
94 AN RUDOLF KODER 17. 2. 49. Ross's Hotel Parkgate Street Dublin Eire Lieber Koch! Dank Dir für zwei Briefe; besonders für den sehr vollständigen zweiten. Ich habe bisher nur zwei Berichte Tommys durch meine Schwester Gretl erhalten, & sie sind mir, unter uns gesagt, so wie ihr Verfasser nicht sehr sympathisch. Die Deinigen sind wie Du selbst. - Es tut mir sehr, sehr leid, daß Ihr, Du, Deine Frau & Dein Bub, alle krank seid. Ja, es kommt immer alles zusammen, oder es scheint wenigstens so. - Daß Du die Mining oft siehst, wird ihr gewiß gut tun & auch der Helene. Grüß sie herzlich! & schreib mir nur viel hinter ihrem Rücken. - Mir geht es gut. Ich war einige Zeit krank mit einer Darminfektion, aber sie ist vorüber & ich werde wieder kräftig. Auch meiner Arbeit geht es nicht schlecht. Was ich Dir wünsche, weißt Du. Grüß Deine Frau von mir. Mit den alten Gefühlen
Dein Ludwig P.S. Das Paket mit cakes, wovon Du schreibst, habe ich leider nicht erhalten. - Ich habe lange, seit dem Herbst, keine Musik gehört & ich glaube, ich würde jetzt manches genießen.
95 AN RUDOLF KODER 22. 2. 49. Ross's Hotel Parkgate Street Dublin Eire Lieber Koch! Dank Dir für Deinen Brief vom 18. Februar. (Die Post funktioniert nicht mehr ganz so schlecht.) Bitte gib meinen beiden Schwestern meine herzlichsten Wünsche & sag ihnen, ich denke täglich an sie. Paul ist jetzt mit den Denekes in Oxford, & ich erhielt neulich eine sehr seltsame mir Ekel erregende Einladung der Miss Deneke, sie dort während Pauls Anwesenheit zu besuchen. Daß, & warum, ich diese Einladung weder annehmen kann, noch will, habe ich ihr geschrieben. Es geht mir & meiner Arbeit gut. Wie immer Dein Ludwig P.S. Ich bin sicher, daß die Einladung der Miss Deneke nicht in Pauls Auftrag geschrieben war. Ich glaube vielmehr, daß sie eine Zusammenkunft herbeiführen wollte, & mein Bruder ihr die Erlaubnis gab, mich einzuladen, was sie, ihrer Dummheit entsprechend, in der dümmsten Form getan hat.
96 AN RUDOLF KODER 24. 2. 49. Ross's Hotel Parkgate Street Dublin Eire Lieber Koch, Dank Dir für alle Nachrichten. Die Worte aus dem Brief meiner Schwester Gretl, die ich in meinem Brief an Helene zitiert habe, hat Tommy nicht geschrieben, sondern am 8. Februar, angeblich, am Telefon gesagt. Es ist also denkbar, daß Gretl sie nicht richtig verstanden hat. - Ich habe, seit der Operation, meiner Schwester Mining zwei, oder dreimal geschrieben, & zwar in die Argentinierstraße. Ich wüßte gerne, ob meine Briefe ihr gegeben wurden. Natürlich habe ich mir keine Antwort erwartet; es war auch nichts zu antworten, aber ich möchte schon, daß sie die Briefe erhält. Bitte grüß die Helene & auch Deine Frau. Ich hoffe Beider Befinden bessert sich. Hier giebt es nichts Neues. Wie immer, Dein Ludwig
97 AN RUDOLF KODER 25. 2. 49. Ross's Hotel Parkgate Street Dublin Eire Lieber Koch! Gestern sprach ich mit meiner Schwester Gretl übers Telephon. Sie war in England angekommen & rief mich an. Sie wird, wenn Du diesen Brief erhäl[t]st schon in Wien sein. - Sie sagte mir, daß Mining im Sterben liege, niemand mehr erkenne aber friedlich schlummere; sie habe diese Nachricht von Tommy, der ein Telephongespräch mit ihr hatte. Wie viel es für mich bedeutet, wenn es so ist, kannst Du Dir denken. Ich weiß nicht, in welchem Zustand Gretl Wien erreichen wird. Ich hoffe in keinem schlechten. Aber ich fürchte mich vor den übereilten Maßregeln, zu denen sie dann raten wird. Möge ich zu schwarz sehen! Gretl sagte auch, Helene habe Influenza; & das ist schlimm, gerade jetzt. Ich weiß, Du wirst sie erheitern k[ö]nnen, wenn irgend jemand es kann. Bitte, wenn Du mir Nachrichten gibst, gib sie mir gänzlich wahrheitsgemäß. Laß niemand in dieser Sache zwischen uns kommen! oder Dich beeinflußen.
Wie immer, Dein Ludwig
98 AN RUDOLF KODER 2. 3. 49 Ross’s Hotel Parkgate Street Dublin Eire Lieber Koch! Dank Dir für zwei Nachrichten. Die letzte vom 25. Februar hatte ich heute. Aus ihr geht hervor, daß mir meine Schwester Gretl im Telephongespräch am 24. wieder eine falsche Nachricht gegeben hat, als sie sagte, Mining erkenne niemand mehr. Wenn es Dir aber vielleicht leid täte, mir wahrheitsgetreue Berichte gegeben zu haben, so wäre das schlimm. Aber es ist schrecklich für mich, widersprechende Nachrichten zu erhalten. Bitte laß Dich durch niemand beeinflußen & schreib mir nach wie vor die Wahrheit, so wie Du sie weißt. - Ich verstehe nicht, wie Prof. Kauders den Zustand Minings beurteilen kann, & warum Du Dich an ihn wendest. Er ist doch Psychiater, oder irre ich mich? Wenn nicht, warum fragst Du dann nicht lieber Dr Straßer um seine Meinung? Es wäre mir sehr wichtig seine Prognose, besonders über die wahrscheinliche Dauer, zu wissen. Bitte verlaß Dich nicht auf das Urteil meiner Schwester Gretl, es ist viel zu temperamentvoll. - Aus einem zweiten Brief der Miss Deneke ersehe ich, daß Paul gegen Mitte März in Wien ein Konzert gibt. Ich habe ihr darauf geschrieben, Mining liege im Sterben, & sie gebeten, dies Paul mitzuteilen. Bitte sag das der Gretl. Gott mit Dir! Dein Ludwig
99 AN RUDOLF KODER 9. 3. 49. St. Lawrence Hotel Hoth o C Dublin Eire Lieber Koch! Ich bin vor vier Tagen mit einem Freund, der mich auf eine Woche von England besuchte, hierher gezogen, um mich etwas zu erholen. Der Ort ist ganz nah von Dublin & Briefe werden mir nachgeschickt. Schreib also nicht hierher sondern wie immer nach Dublin. In drei Tagen gehe ich wieder dorthin zurück. Telegramme werden mir hierher telefoniert. - Ich wollte Dich eigentlich nur bitten, der Mining zu sagen, daß ich in Liebe an sie denke. (Wenn man ihr nämlich noch etwas sagen kann!) - Vor einigen Tagen erhielt ich einen Brief von Hänsel, den er mir nach Cambridge geschickt hatte. Er mußte doch wissen, daß ich nicht in Cambridge war! Bitte gib ihm meine Adresse, ich meine die in Dublin, obwohl er sie jederzeit hätte von Dir erfahren können. Möge es Dir & Deiner Frau halbwegs gut gehen. Meine Gedanken sind bei Euch Allen. Wie immer, Dein Ludwig
100 AN RUDOLF KODER 28. 3. 49. Ross's Hotel Parkgate Street Dublin, Eire Lieber Koch! Ich bin Dir für viele Nachrichten Dank schuldig. Das Schreiben fällt mir jetzt sehr schwer. Ich fühle mich nicht allzu wohl & die Unsicherheit, ob & wann ich nach Wien kommen soll, ist auch nicht leicht zu ertragen. Meine Schwestern H. & G. meinen, Mining würde die Aufregung des Wiedersehens mit mir nicht ertragen. Wahrscheinlich irren sie sich darin, aber es ist natürlich möglich, daß sie recht haben. Mining hat ja auch das Wiedersehen mit Gretl ertragen. - Bitte sag dem Hänsel, ich werde ihm bald schreiben. Wie gesagt, das Schreiben fällt mir jetzt schwer. Noch eines: Du schriebst in einem Deiner Briefe, der Mining wären meine Briefe vom Tommy vorgelesen worden. Das tut mir sehr leid. Ich wollte, sie hätte sie selbst lesen können. Ich weiß auch nicht, ob ich ihr jetzt schreiben soll. Sag ihr, ich denke an sie & sie weiß mit welchen Gefühlen. - Es tut mir leid, daß es Dir nicht gut geht; auch ich habe die Witterung nicht gut ertragen. -
Wie immer, Dein Ludwig
101 AN RUDOLF KODER Ross's Hotel Parkgate Street Dublin Eire [Mitte Mai 1949] Lieber Koch! Ich bin gestern gut hier angekommen. Die Zeit, die ich mit Dir verbringen konnte, war herrlich. Sag der Mining, daß ich in Liebe an sie denke & ihr Ruhe des Geistes wünsche. Bitte ruf den Drobil einmal in seinem Atelier vor 5h an (R 40719) & sag ihm, es tut mir leid, daß ich ihm nicht adieu sagen konnte. - Ich gehe morgen zum Arzt & werde versuchen, wieder auf gleich zu kommen. Es geht mir übrigens nicht schlecht, außer meiner großen Mattigkeit, Steifheit & den rheumatischen Schmerzen. - Ich werde wahrscheinlich einen Monat hier bleiben & dann nach Cambridge fahren & dann vielleicht für 3 Wochen nach London, ehe ich am 21. Juli nach America reise. Aber alles ist ja jetzt ungewiss. Gott mit Dir! Grüß Alle & sag ihnen meine Adresse aber red nicht über meine Gesundheit. In alter Liebe Dein Ludwig
102 AN RUDOLF KODER 4. 6. 49. Ross's Hotel Parkgate Street Eire Dublin Lieber Koch! Dank Dir für 2 Briefe. Meine Blutuntersuchung hat ergeben, daß ich an einer ziemlich schweren & etwas ungewöhnlichen Art von Blutarmut leide, die, wie der Arzt glaubt, alle meine Beschwerden erklärt. Ich nehme Eisen & Leberextract & fühle bereits eine kleine Besserung, aber es geht natürlich langsam. In ca 14 Tagen wird wahrscheinlich wieder eine Blutuntersuchung vorgenommen werden & es wird sich zeigen, wie gut der Fortschritt ist, den ich gemacht habe. - Ich habe häufig den Gedanken in mir herumgewälzt, ob es nicht richtiger gewesen wäre, ich wäre in Wien geblieben. Zwar nicht besser für mich, glaube ich, aber für meine Schwester Mining. Aber freilich ist da nichts mehr zu machen. Dennoch hätte ich jetzt gern Deine aufrichtige Meinung darüber, wieweit meine Abwesenheit für die Mining seelisch schlecht ist. - Ich denke immer wieder mit Freude daran wie Du uns vorgespielt hast. Es war herrlich. - An das letzte Stück aus den Davidsbündlern erinnere ich mich nur dunkel, obwohl höchst deutlich an das Vorletzte "Wie aus weiter Ferne", das mir vielleicht das allerliebste ist. So Gott will, werde ich einmal das letzte von Dir gespielt hören. Mir ist auch oft die 7te von Bruckner durch den Kopf gegangen, die in mir durch die schlechte Aufführung gleichsam ganz ausgelöscht war. Jetzt lebt sie wieder auf. Bitte sag das der Mining & sag ihr wieder was ich Dir schon neulich geschrieben habe & immer gleich wahr bleibt. - Hoffentlich geht es bei Dir zu Hause schon etwas besser. Die Bäckereien von Deiner lieben Frau sind noch immer nicht ganz aufgegessen. Sie sind herrlich. Wie immer, Dein Ludwig
103 AN RUDOLF KODER 11. 6. 49. Ross's Hotel Parkgate Street Dublin Eire Lieber Koch! Dank Dir für zwei Briefe, die zugleich heute angekommen sind. Du Guter bist eine Wohltat für meine Schwester Mining - & für die andern auch. Aus Deinen Briefen ist hervorgegangen, daß Du die meinen nicht erhalten hast. Die Postverbindung ist höllisch! Von Helene habe ich übrigens nichts gehört. Ich wollte ich könnte Dir etwas schreiben, damit Du's der Mining ausrichtest; aber Du weißt ja, es ist immer dasselbe. Das aber kannst Du ihr
sagen & es ihr immer wiederholen. - Mir geht es jetzt etwas besser. Das Eisen & der Leberextrakt scheinen doch zu wirken, wenn auch langsam. Ich habe vor, in einer Woche nach Cambridge zu fahren, dort ca 12 Tage zu bleiben & dann nach Ickenham zu gehen, & bis am 21. July dort zu bleiben. Am 21. July würde ich dann nach Amerika fahren. Aber ganz bestimmt ist das alles noch nicht. Bitte schick Deine Briefe von jetzt an an die Adresse "Trinity College, Cambridge" bis auf weiteres. Bitte sag das auch den Andern. Grüß die Helene herzlich von mir. Ich weiß nicht, ob ihr noch vierhändig spielt, wenn aber, so versucht einmal die dritte vierhändige Klaviersonate von Mozart. Sie ist wunderbar. Noch einmal: Sag der Mining, wie ich an sie denke! In alter Liebe Dein Ludwig
104 AN RUDOLF KODER 24. 7. 49 Cunard White Star R. M. S. Queen Mary Lieber Koch! Nur ein paar Zeilen, um Dir zu sagen, daß ich an Dich & Euch Alle denke. Die Überfahrt ist sehr glatt & es geht mir körperlich ganz gut. Über das Seelische will ich jetzt lieber nicht reden. - Ich habe der Helene vor einiger Zeit Gramophonplatten geschickt. Ich hoffe sie kommen gut an. Es sind Haydn Quartette, die, glaube ich, im Ganzen, schön gespielt sind & Dir auch gefallen werden. - Meine Adresse in Amerika wird sein: c/o Dr Malcolm 1107 Hanshaw Road Ithaca N. Y. U. S. A. Ich will ca 3 Monate dort bleiben. Lieber Koch, ich will jetzt schließen, weil ich mich zum Schreiben zu dumm fühle. Bitte sag der Mining, was Du ihr immer mit Recht von mir sagen kannst & grüß Deine Frau, den Hänsel & die Helene herzlich. So wie immer Dein Ludwig
105 AN RUDOLF KODER c/o Dr Malcolm 1107 Hanshaw Road Ithaca N. Y. U. S. A. 6. 8. 49. Lieber Koch! Das ist nur ein Lebenszeichen. Meine Gesundheit ist ziemlich gut. Im übrigen aber fühle ich mich dumm & nutzlos. Ich habe schon sehr lange nichts mehr von Dir gehört & auch nichts von Helene. Bitte grüß die Mining von mir, sag ihr, daß ich an sie denke wie immer. Wie immer, Dein Ludwig
106 AN RUDOLF KODER 1107 Hanshaw Rd. Ithaca N. Y U. S. A. 23. 8. 49. Lieber Koch! Dank Dir für Deinen guten Brief. Es ist mir nicht unverständlich, daß Mining viel an Paul denkt. Ich glaube, sie will gleichsam von ihrer Seite Friede machen & in sich alle Bitterkeit, die doch existiert haben muß, auslöschen. Das Hineinreden der Pflegerin ist wahrscheinlich schlecht, aber viel wird es nicht schaden. Die Gedanken der Mining werden ihren Weg gehen, was immer Andere reden. Ihr Beruhigungsmittel zu geben, nur weil sie sich Gedanken macht, hielte ich für schlecht! Es sei denn, sie regte sich furchtbar auf, was sie aber, nach Deinem Brief zu urteilen, nicht tut. Die Pflegerinnen sind wahrscheinlich geneigt die Aufregung oder Sorge im Bericht zu übertreiben, damit
sie doch irgend eine Sensation haben. Leute sind oft dafür, Kranken Beruhigungsmittel zu geben, um dadurch für sich Probleme aus der Welt zu schaffen, nicht so sehr, weil es den Kranken gut tut. - Mir geht es nicht sehr gut, weder körperlich noch seelisch. Ein Arzt hier, den ich um Rat fragte, glaubt, daß die Schmerzen in meinen Armen Nervenschmerzen sind & vielleicht von einer Infection durch einen eiternden Zahn herrühren. Aus verschiedenen Gründen aber ist es mir nicht leicht, die Sache hier gründlich untersuchen & behandeln zu lassen. Ich muß jedenfalls noch eine Zeit Geduld haben. Ich denke oft an Dich. Sag der Mining alles Liebe. In alter Treue Dein alter Ludwig
107 AN RUDOLF KODER 1107 Hanshaw Rd. Ithaca N. Y., U. S. A. 22. 9. 49. Lieber Koch! Dank Dir für Deinen lieben Brief. Vor einiger Zeit erfuhr ich von Hänsel, Deine liebe Frau habe ein Kind gekriegt. Hoffentlich macht es mehr Freude als Sorgen. - Mir geht es ziemlich schlecht die ganze Zeit. Ich weiß noch nicht, was daraus werden wird. Ich habe jetzt einen nicht schlechten Doktor & es geschieht was möglich ist, also habe ich Hoffnung. - Bitte sag der Mining von mir, daß ich an sie denke. Ich fühle mich sehr schwach & ganz dumm, werde daher nicht weiterschreiben. Ich denke in alter Liebe an Dich. Dein Ludwig
108 AN RUDOLF KODER 1107 Hanshaw Rd. Ithaca N. Y U. S. A. 1. 10. 49. Lieber Koch! Dank Dir für Deinen Brief, vom 27.9.. Was Du schreibst ist alles sehr schön & rührend & traurig. Ich bin sicher Du hast herrlich gespielt. I wollte, mehr als ich sagen kann, ich wäre jetzt bei Euch & könnte Dich sehen & hören. - Mir ist es die meiste Zeit recht schlecht gegangen, aber ich habe hier einen sehr guten Arzt. Ich bin noch sehr schwach, aber werde hoffentlich bald kräftiger werden. Es ist traurig zu hören, daß bei Dir auch Kranke sind. Du hast viel Übung im Leben, Andern zu helfen. Ich habe vor bis zum 20. Oktober hier zu bleiben, dann reise ich nach England. Grüß die Mining von mir in der alten Weise. In alter Liebe Dein Ludwig
109 AN RUDOLF KODER 12. 11. 49 c/o Prof. von Wright Strathaird Lady Margaret Rd Cambridge Lieber Koch! Wir haben unendliche Zeit nicht voneinander gehört. Ich bin vor 14 Tagen von Amerika zurückgekommen & gleich krank geworden. Die eigentliche Ursache weiß man nicht, sondern nur daß ich sehr blutarm bin. Ich bin im Bett & es werden weitere Untersuchungen gemacht. Bitte schreib mir an die obige Adresse. Ich denke mit Liebe an Dich & an Mining. Ich habe keine Schmerzen, bin nur fürchterlich schwach & dösig. Darum ist auch dieser Brief so dumm. Wie immer Dein Ludwig
110 AN RUDOLF KODER c/o Prof. v. Wright Strathaird 25. 11. 49. Lady Margaret Rd Cambridge Lieber Koch! Dank Dir für Deinen lieben, guten Brief. Ich denke jetzt daran, in nicht langer Zeit nach Wien zu kommen. Meine Gesundheit ist schlecht & ich muß einen großen Teil des Tages liegen & kann nicht arbeiten. In der Argentinierstraße könnte ich vielleicht ruhig liegen. Ich gebrauche ein Mittel, das, wie der Arzt sagt, mir helfen wird. Ich möchte gerne wissen, wie Du darüber denkst. Ich möchte auch Dich sehen, & auch Hänsel. Bitte grüß ihn von mir. Du wirst mir vielleicht am meisten helfen. Ich habe auch der Helene meinen Plan geschrieben. Grüß die Mining von mir, wie immer. Ich hoffe Dich wiederzusehen. In alter Liebe Dein Ludwig Ich bin jetzt nicht ganz stark genug zu einer Reise, hoffentlich aber in ein paar Wochen.
111 AN RUDOLF KODER Strathaird Lady Margaret Rd Cambridge 22. 4. 50. Lieber Koch! Ich hab Dir lange nicht geschrieben, zum Teil darum, weil ich mich noch nirgends niedergelassen habe. In diesem Haus ist es mir zu lärmend; es sind zwei kleine Kinder da. Anfang der nächsten Woche will ich nach Oxford gehen & in einem Zimmer im Haus der Miss Anscombe wohnen, oder es versuchen. Ich sehne mich danach mich niederlassen zu können & soviel als möglich zu arbeiten. Es geht mir körperlich recht gut. Mein Blutbefund ist viel besser, als er vor meinem Wiener Aufenthalt war, & mein Medikament wirkt ausgezeichnet. Der Arzt hier ist sehr zufrieden. - Ich denke oft an Dich. Vorgestern abend hörte ich hier im Radio die 7te von Bruckner, sehr schlecht aufgeführt, merkwürdigerweise von einem Holländischen Dirigenten, van Beynum, der dieselbe Symphonie einmal recht gut aufgeführt hat; ich habe eine Grammophonaufnahme davon gehört! Aber in der Aufführung vorgestern war das ganze Stück in winzige Teile zerrissen, ohne jeden melodischen Zusammenhang gespielt. Laut, leise, schnell, langsam, ohne Sinn & Zusammenhang. Das ist die ungeheure Gefahr, wenn Bruckner jetzt aufgeführt wird, daß jeder Satz klingt wie eine Aneinanderreihung kleiner Einfälle. - Das Scherzo, was das einfachste ist, hat dennoch herrlich geklungen. Etwas, was ganz gefehlt hat, & auch in der Grammophonaufnahme, ist die Süße, die Bruckner immer wieder hat & ohne die alles andere leer wäre. - Ich hoffe, Du hast nicht wieder eine schlechte Zeit mit Krankheiten & Sorgen! Grüß Deine Frau & den Hänsel & Helene & Miss Anscombe herzlich. Schreib vorläufig an die Adresse "Trinity College Cambridge". Wenn ich eine definitive Adresse weiß, so schreib ich sie Dir. - Ich habe unser Zusammensein unendlich genossen. Mit guten Wünschen, wie immer Dein Ludwig
112 AN RUDOLF KODER 27 St. John Street Oxford 22. 5. 50. Lieber Koch! Ich hätte Dir schon längst schreiben sollen, es war aber aus verschiedenen Gründen nicht leicht. Meine Gesundheit ist gut, & ein Londoner Spezialist, dem der Gang meiner Krankheit von meinem Cambridger Arzt beschrieben wurde, sagte, ich könne mit der gegenwärtigen Behandlung noch 5 oder mehr Jahre leben. Dieser Befund war mir weit weniger angenehm als der pessimistischere meines Arztes in Cambridge, aber vielleicht ist er der richtigere. Bitte sag, was ich Dir hier geschrieben habe, dem Hänsel, aber sonst natürlich niemandem. - Ich arbeite, manchmal mehr, manchmal weniger, aber nicht wirklich gut. Ich denke viel weniger scharf & klar als früher.
- Ich denke oft an Dich; auch an Dein schönes Spiel. - Ich höre so gut wie nie Musik, aber gestern war ich in der "Hohen Messe" von Bach. Was ich davon verstehe - & es ist nicht viel - ist enorm eindrucksvoll. Am meißten sagt mir das Sanctus & das "Et incarnatus est". - Bitte grüß die Helene, den Hänsel, Deine Frau & die Miss Anscombe herzlich. - Mit den alten Gefühlen, wie immer Dein Ludwig
113 AN RUDOLF KODER 27 St. John Street Oxford 16. 6. 50. Lieber Koch! Ich denke oft an Dich. Heute kam Miss Anscombe nach Oxford & erzählte, wie Du ihr vorgespielt hast & wie gut Du mit ihr warst. Ich wollte, ich könnte Dich bald wieder sehen & hören. Es geht mir ganz gut, & wenn ich beim Arbeiten weniger langsam & dumm wäre, ginge es mir noch besser. Vor einigen Wochen hörte ich die Hohe Messe von Bach, schön gesungen, & vieles hat mir einen Eindruck gemacht. Vor ein paar Tagen sah ich eine fürchterliche Aufführung des Sommernachtstraums. Ich ging nur, weil die Schwester eines Freundes darin auftrat. Die Regie war so gräßlich, daß selbst gute Schauspielertalente verloren gewesen wären. Es war eine Freiluftaufführung & die Personen rannten auf dem Rasen herum wie Tennisspieler & schrieen ihre Zeilen, da man sie sonst nicht gehört hätte. Ich hoffe ich höre bald wieder von Dir. Grüß Deine Frau, meine Schwestern & die Hänsels von mir, auch die Betty, wenn Du sie siehst. Ich bin, ganz wie immer, Dein alter Ludwig
114 AN RUDOLF KODER [Kuvert adressiert an:] Herrn Rudolf Koder bei Fräulein Lydia Oser Thumersbach bei Zell am See Salzburg Austria 27 St. John Street Oxford 13. 7. 50. Lieber Koch! Ich schreibe Dir, obwohl ich eigentlich nichts zu schreiben habe. Aber ich denke oft an Dich. Ich weiß nicht, ob ich Dir geschrieben habe, daß ich vor kurzem für einen Freund Platten der C-dur Symphonie von Schubert, dirigiert von Karajan, besorgt habe. Die Aufführung, ausgenommen vom ersten Satz, ist besser als jede andre, die ich bis jetzt gehört habe, obwohl auch sie in mancher Beziehung nicht gut ist. Bei allem Lyrischen versagt sie. Aber das Orchester klingt schön. - Es geht mir ziemlich gut. Das Klima hier ist nicht gut für mich, es ist dumpfig & luftlos. Ich arbeite schlecht, & das wird sich auch wahrscheinlich nicht mehr ändern. - Mögest Du gute Ferien haben. Grüß meine Cousine Lydia & Deine liebe Frau, auch die Helene, wenn Du sie wieder siehst. In alter Liebe Dein Ludwig
115 AN RUDOLF KODER 27 St. John Street Oxford 26. 8. 50. Lieber Koch, Dank Dir für Deinen Brief von Thumersbach. Ich hoffe die Ferien waren nicht bloß eine Anstrengung für Dich. - Ich konnte nicht, wie ich vorhatte, im August nach Norwegen gehen, obwohl meine Gesundheit sehr gut ist, werde es aber vielleicht im Herbst tun. Es ist gar nichts von mir zu berichten. Ich vegetiere so dahin & scheine nach & nach immer dümmer zu werden. - Neulich hörte ich auf dem Gramophon das Schubert Oktett. Es war von Wienern gespielt & gar nicht gut. Im Variationensatz lassen sie alle Wiederholungen aus, so daß die Variationen wie
Skitzen klingen. Wenn es Dir möglich ist bitte sag der Betty, sie möchte so lieb sein, mir meinen Pelzrock zu schicken & zwar sehr bald da ich ihn gerne für Norwegen hätte. Grüß sie herzlich von mir, auch Deine Frau & die Helene. Hier ist das Klima ungemein drückend & erschlaffend. Wie immer, Dein Ludwig [...]
116 AN RUDOLF KODER 27 St. John Street Oxford 22. 9. 50. Lieber Koch! Ich habe heute den Pelzrock erhalten. Bitte sag es der Betty & gib ihr meinen Dank. Ich have vor ein paar Wochen einen sehr lieben Brief von ihr erhalten & ihr auch geschrieben. - Ich hoffe, Du bist nicht zu furchtbar überanstrengt. - Es geht mir gut, wenigstens körperlich; ich fühle mich oft sehr dumm & dösig & matt, aber das wird vielleicht vorübergehn. - Am 11ten Oktober habe ich vor nach Norwegen zu reisen. Wenn es wirklich dazu kommt, schreibe ich Dir meine Adresse. - Bitte grüß den Hänsel, meine Schwestern, Deine Frau & die Betty herzlichst & schreib mir, ob meine Schwester Helene schon in Wien ist, oder noch in Gmunden. - Ich wünsche Dir alles Gute, wie immer. In alter Treue Dein Ludwig
117 AN RUDOLF KODER 27 St. John Street Oxford 1. 12. 50. Lieber Koch! Ich hab Dir lange nicht geschrieben. Ich bin vor ca. 10 Tagen von Norwegen zurückgekommen. Trotz mannigfacher Schwierigkeiten war es dort sehr schön. Ich werde vielleicht dorthin zurückkehren, dann aber nicht in meiner Hütte leben, weil mir die Arbeit jetzt zu schwehr wird, sondern in einem Bauernhof. Es ist vielleicht das Richtige für mich, weil ich dort mehr Ruhe habe, als irgendwoanders. Es geht mir ziemlich gut. Ich denke oft an Dich. Ich hoffe, ich werde Dich wiedersehen!! - Ich habe lange keine Musik gehört, aber gestern spielte mir ein Freund auf dem Gramophon ein Haydn Quartett vor mit einer Fuge als letztem Satz. Es war wunderschön. Grüß meine Schwestern herzlich von mir & Deine Frau. In alter Liebe, wie immer Dein Ludwig
118 AN RUDOLF KODER 27 St. John Street Oxford 2. 1. 51. Lieber Koch! Danke für die guten cakes! Es war riesig lieb von Dir & Deiner Frau sie mir zu schicken. Was Du über meine Schwestern & Dich selbst schreibst tut mir sehr leid. Gut, daß Du doch dazu kommst mit der Helene vierhändig zu spielen! Daß sie Mozart mit schönem Ausdruck spielt, glaube ich Dir gerne; & sie spielt wahrscheinlich jetzt schöner als früher. & darum hast Du's früher nicht gemerkt. - Ich glaube, ich habe Dir geschrieben, daß ich vor hatte Ende Dezember nach Norwegen zu reisen; es ist aber nicht zustande gekommen. Auch war meine Gesundheit in der letzten Zeit sehr wackelig, aber nicht allzu schlimm. Ich hatte einen sehr lieben Brief von der Betty. Sag ihr meinen herzlichen Dank. Ich hoffe, ihr bald schreiben zu können. Grüß meine Schwestern herzlichst & Deine liebe Frau & den Hänsel, wenn Du ihn siehst. In alter Treue Dein Ludwig
119 AN RUDOLF KODER 27 St. John Street
Oxford Mittwoch. [vor dem 19. 2. 1951] Lieber Koch! Dieser Brief enthält nur eine Frage. Es ist mir, vielleicht aus ganz unzureichenden Gründen, der Verdacht aufgestiegen, Du habest mit einer meiner Schwestern, oder beiden über meinen Gesundheitszustand geschwätzt, & verraten, was ich Dich dringend bat geheim zu halten. Bitte schreib mir, ob ich richtig oder falsch argwöhne. Wenn das erstere, so mag Gott Dir verzeihen, wenn das letztere, so bitte verzeih Du mir. Bitte laß mich nicht auf Deine Antwort warten. Hast Du noch nicht geschwätzt, dann tu's auch weiterhin nicht. Es ist der einzige Dienst den Du mir erweisen kannst, aber es ist ein großer Dienst. Ich wünsche Dir alles Gute. In alter Treue Dein Ludwig
120 AN RUDOLF KODER [Kuvert adressiert an:] Herrn Rudolf Koder IV. Brahmsplatz 4 Wien Austria 19. 2. 51. c/o Dr Bevan 'Storeys End' Storeys Way Cambridge Lieber Koch! Danke für Deinen Brief & bitte verzeih meinen ungerechtfertigten Verdacht. Die Nachricht von der baldigen Ankunft meiner Schwester Gretl ist eine schlechte Nachricht. Denn erstens können wir einander uns sehr an die Nerven gehen, zweitens bin ich jetzt durchaus nicht ganz gesund & noch immer sehr schwach, & eine Reise nach London etwa würde mich sehr anstrengen, drittens sehe ich noch blaß & mager aus & das wird meine Schwester beunruhigen & neugierig machen. Nichts ist mir weniger erwünscht, als ein solches Zusammentreffen; es kann für beide Teile nur schlecht sein. Ich werde daher versuchen, es zum mindesten hinauszuschieben. - Ich werde jetzt mit Röntgenstrahlen behandelt & es ist möglich, daß das eine rasche Besserung bewirken wird. - Ich habe schon seit Monaten nichts mehr gearbeitet, fühle mich aber darüber nicht unglücklich. Ich wohne jetzt für einige Zeit im Haus meines Arztes hier. - Möge es Dir halbwegs gut gehen! Grüß Alle! Ich hoffe Du meinst dasselbe wie ich, wenn Du schreibst "Wie immer..." Wie immer Dein Ludwig
121 AN RUDOLF KODER 76 Storeys Way Cambridge 6. 3. 51. Lieber Koder! Ich erhielt heute einen Brief von H. Lichtenegger, worin er mir mitteilt, daß Du die Labor Zeichnung meiner Schwester Mining, d.h. das Original, zur Aufbewahrung übernommen habest. Ich schenke Dir nun dies Original & bitte Dich diesen Brief als Schenkungsurkunde wohl aufzubewahren. Ferners bitte ich Dich die Zeichnung, wenn es möglich ist, in Deiner Wohnung aufzuhängen oder aufzustellen & sie nicht in einen Schrank zu legen; auch, sie testamentarisch nach Deinem Tod einem Mitglied meiner Familie zu vermachen. Mein Grund Dich dies zu bitten ist, daß außer Dir in Deiner Familie niemand eine Beziehung zu dem Bilde haben kann (abgesehen natürlich von von einer bloß aesthetischen). Solange Du lebst, bist Du dazu der nächste: als mein Freund, ein Freund der Mining, & in gewisser Beziehung auch ein Freund des Labor. Lichtenegger schickte mir auch eine Photographie des Bildes, aber in einem furchtbaren Format & auf glänzendem Papier! Ich möchte wissen, ob es möglich wäre eine kleinere Reproduktion (etwa halb so groß wie die, die mir geschickt wurde) & auf mattem Papier herzustellen. Sie muß so klein sein, daß man sie als eine Verkleinerung erkennt. Die Helene wäre vielleicht im Stande die richtige Verkleinerung anzugeben. Meine
Reproduktion schaut abscheulich aus & ich hätte gern eine bessere. - Grüß die Helene & die Betty herzlichst von mir. Wie immer Dein Ludwig
122 AN RUDOLF KODER 76 Storeys Way Cambridge 30. 3. 51. Lieber Koch! Danke für Deinen Brief. Du hast ganz recht, es ist nicht so leicht zu entscheiden wem Du die Labor Zeichnung vermachen sollst. Ich überlasse es natürlich Dir, will aber einige Bemerkungen machen. - Dem Arvid würde ich die Zeichnung nicht vermachen. Er hat allerdings ein sehr gutes Kunstverständnis, aber er hatte keinerlei Beziehung zu Labor, & hat zwar die Mining respektiert & gern gehabt, aber auch nicht mehr. Paul wäre offenbar der richtige Erbe, aber er hatte mit Mining gänzlich gebrochen & man kann ihm daher die Zeichnung nur als Erinnerung an den Labor & nicht als Erinnerung an Mining geben, was sie doch sein sollte. Es schiene mir ungerecht gegen die Schwestern, das Beste, was die Mining je gemacht hat, einem zu geben für den es keinen Wert als Erinnerung an die Mining haben könnte. Ja, es kommt mir sogar vor, daß Paul, wenn ihm die Zeichnung angeboten würde, sie anständigerweise nicht annehmen dürfte. Es bleiben dann, soviel ich sehe, nur die Schwestern & deren Kinder über; & da wird mir die Wahl schwer! - Noch eines will ich sagen. Du könntest vielleicht einwenden, daß Paul das Andenken der Mining jetzt vielleicht hoch hält. Aber erstens ist kein Grund zu dieser Annahme, & zweitens müßte ihm das Andenken der Mining in diesem Falle sehr schmerzlich sein, da er grundlos mit ihr gebrochen hat. Wie Du weißt, fühle ich gegen Paul auch nicht die geringste Spur von Bitterkeit & ich teile das Urteil meiner Schwestern über ihn nicht; aber wenn er diese Zeichnung bekäme so, glaube ich, hätten sie gerechten Grund zur Klage. (Ferner wäre es mir lieber, jemand von den Stockerts erbte das Bild als der Tommy.) - Warum, übrigens, suchst Du nach einem Platz an der Wand & stellst das Bild nicht auf's Klavier, so wie es bei uns seinerzeit gestanden ist? - Ich hoffe Dein Ischias gibt sich bald. Mögest Du an mich mit den gleichen Gefühlen denken, wie ich an Dich. Dein Ludwig P.S. Gretl habe ich noch nicht gesehen, noch von ihr gehört. Da ich mich nur sehr mäßig wohlfühle, wünsche ich mir das Zusammentreffen gar nicht.
Kommentar Rudolf Koder Rudolf Koder lernte Wittgenstein während ihrer Lehrerzeit in Puchberg kennen; ihre Freundschaft erwuchs vor allem aus dem gemeinsamen Interesse für Musik. In seinen Erinnerungen an Ludwig Wittgenstein schreibt Koder: "Er war uns als ehemaliger Offizier und Neffe eines unweit von Puchberg ansässigen, sehr reichen Großgrundbesitzers (Louis Wittgenstein) angekündigt worden. In meinen Kollegen und mir rief diese Ankündigung zunächst ein Gefühl der Ablehnung hervor, das durch das Auftreten W.s noch verstärkt wurde. Er war sehr reserviert und wortkarg und zeigte nicht das geringste Bedürfnis, sich an jemanden von uns anzuschließen. [...] Ich hatte in meinem Zimmer ein Klavier zur Verfügung, auf dem ich viel musizierte. Als ich wieder einmal an einem Nachmittag den ersten Satz aus der sogenannten ‘Mondscheinsonate’ von Beethoven spielte, klopfte es, und L. W. trat ein. Er fragte, ob er zuhören dürfe. Von da an datiert unsere Freundschaft, die bis zu seinem Tod andauerte. L. W. kam nun öfter und schließlich fast täglich nachmittag zu mir. Er war außerordentlich musikalisch und hatte ein großes Bedürfnis nach Musik. Er liebte alle Klassiker und Romantiker, besonders aber Mozart, Schubert, Bruckner, Brahms und Josef Labor. Er selber spielte Klarinette, die er auch bei Gesangsunterricht in der Schule verwendete. Das Instrument trug er stets in einen dicken Wollstrumpf eingewickelt unter dem Arm, was den Puchbergern sehr absonderlich vorkam." (Koder-Typoskript) Im Klarinettenspiel, zu dem er schon in Trattenbach von der Violine, dem Prüfgegenstand in der Lehrerbildungsanstalt, übergewechselt war, hatte er zunächst bei Franz Behrends (Klarinettist der Wiener Philharmoniker) Unterricht genommen. Schon im Jänner 1921 beschäftigte er sich mit den beiden Klarinetten-Sonaten von Brahms (vgl. Briefe von Leopoldine Wittgenstein an Ludwig, 4. u. 17.1.1921), Paul schickte ihm das Andante aus der Sonate von Carl Maria von Weber und die Romanze aus dessen Es-dur Konzert:
"Das Stück ist zwar nicht gerade das bedeutendste, - der letzte Satz ist ungleich reicher, - außerdem ziemlich schwer, was ich daraus schließe, daß sich sogar Behrends eine Vereinfachung erlaubt hat: aber schaden kann es nichts, und zeigen wollte ich es Dir doch, weil mir der mittlere Teil, die 32tel Passagen und das darauffolgende Recitativ, sehr gefällt." (Paul Wittgenstein an Ludwig, 25.1.1921) Auch der späteste überlieferte Hinweis auf das Klarinettenspiel hat als Anlaß eine Notenlieferung durch Paul. Am 11.1.1923 schickte er, mit einem Brief, "das Clarinetten-Trio von Beethoven und die ‘Märchenerzählungen’ für Klavier, Clarinette und Viola von Schumann. Die letzteren kenne ich nicht, habe sie nie gehört, sondern nur jetzt durchgesehen. Sie sind Opus 132, und machen leider ganz den Eindruck der letzten Schumann’schen Werke: verworren im Rhythmus und kraftlos in der Erfindung. Nun gibt es aber noch eine frühere Komposition Schumann’s in dieser Art. Das Werk war leider nicht vorrätig, ich habe es bestellt und sobald ich es habe werde ich es Dir schicken." (Familienbriefe, 94) Behrends starb, im 60. Lebensjahr, am 22. August 1923 in Buenos Aires, auf einer Südamerikatournee des Orchesters. Wittgenstein scheint um diese Zeit die Klarinette aufgegeben zu haben. Koder erinnert sich: "L. W. musizierte mit größtem Ernst (wie er ja alles mit größtem Ernst machte) u. mit größter Genauigkeit. Beim Klarinetten-Spiel bemühte er sich stets, einen möglichst ‘schönen Ton’ hervorzubringen, was ihm nicht immer gelang, da er ja kein gelernter Klarinettist war. [...] Wenn ihm nun beim Musizieren der ‘Ton’ seines Instrumentes an einer Stelle nicht schön genug schien, dann spielten wir diese Stelle viele Male nacheinander, auf jeden Fall aber solange, bis er mit dem ‘Ton’ der Klarinette zufrieden war." (Koder-Manuskript) Offenbar sind durch diese Praxis nicht eigentlich Werkaufführungen zustande gekommen, das Musizieren war eher eine Werkstatt der Empfindungen. "Wir musizierten nun in der Weise, daß W. Themen von klassischen Kammermusikwerken oder von Vokalkompositionen auf der Klarinette spielte, oder daß er sie pfiff und ich ihn am Klavier begleitete. So spielten wir z. B. Teile der Klarinettenquintette von Mozart und Brahms, das ‘Kegelstatt-Trio’ von Mozart, das Lied ‘Der Hirt auf dem Felsen’ von Schubert, das ja original für Singstimme, Klarinette und Klavier geschrieben ist." (Koder-Typoskript) "Oder er pfiff die führende Stimme von Mozarts ‘Requiem’, von Mendelssohn-Duetten, von Vocalquartetten Schumanns, von Liedern v. Beethoven u. Schubert u. ich begleitete ihn am Klavier. Von Beethoven liebte er besonders den Liederkreis ‘An die entfernte [richtig: ferne] Geliebte’, von Schubert ‘Suleika I’ u. ‘Suleika II’, ‘Schäfers Klagelied’, die ‘Romanze’ aus ‘Rosamunde’, ‘Der Wanderer an d. Mond’ u.a." (Koder-Manuskript) "Von Schumann hatte er sehr gern den Liederkreis Op. 39 (Texte von Eichendorff) sowie das Lied ‘Die alten bösen Lieder’ (Text v. Heine)." (Koder-Typoskript) (Vgl. auch Nedo, 1983, 181) Rudolf Julius Koder wurde am 12.4.1902 in Wien geboren. Am 25.7.1921 maturierte er an der Lehrerbildungsanstalt Wien, worauf er am 16.9.1921 als provisorischer Volksschullehrer in Puchberg seinen Schuldienst begann; am 22.11.1923 folgte die Lehrbefähigungsprüfung; ab 1.1.1925 war Koder definitiver Volksschullehrer, bis 1.2.1929 in Puchberg; die folgenden Dienststationen, die sich aus der von Koder selbst erstellten Auflistung auf einem Lehrerkarteiblatt entnehmen lassen, waren die Volksschule Unter-Waltersdorf (bis 1.8.1931), die Hauptschulen Pottendorf (1.8.1931 bis 1.10.1934) und Gramatneusiedl (1.10.1934 bis 25.2.1943). Koder war, wie sich aus den Dienstorten ersehen läßt, niederösterreichischer Landeslehrer. Die territoriale Umgliederung durch die nationalsozialistische Regierung (Eingemeindung mehrerer umliegender Ortschaften) brachte ihm mit 15.10.1938 die Übernahme in den Wiener Schuldienst. Seine Fächer an den Hauptschulen waren Musik, Deutsch und Mathematik. Den Kriegsdienst leistete Koder am Balkan (Albanien) als Sanitätsgefreiter der Reserve ab. Im November 1945 kam er aus der britischen Gefangenschaft in Graz nachhause und begann unmittelbar darauf wieder zu unterrichten: bis 4.9.1948 in Wien III, Hauptschule Dietrichgasse, dann zwei Schuljahre an der Volksschule Eslarngasse, ab 4.9.1950 an der HS Hasenleitengasse (bis 1.1.1955). Die administrative Umschichtung nach Wien war nach dem Krieg wirkungslos geworden, mit Jahresbeginn 1955 wurde Koder - als erneut dem Landesschulamt Niederösterreich zugehörig - per Dekret nach Gramatneusiedl zurückversetzt. Er bemühte sich um eine Wien, dem Wohnort, nähere Dienststelle und wurde mit 1.9.1955 der Hauptschule Schwechat zugewiesen. Hier unterrichtete er bis 1962. Die letzten beiden Jahre vor seiner Pensionierung 1964 war Koder Direktor der Volksschule Klosterneuburg. Am 13.11.1977 ist Koder in Wien gestorben.
Erläuterungen zu den Briefen 1 an Koder [vor dem 2.4.1923]: Brief. Datierung von Koder auf "Ostermontag d. 2.4.1923", was sich vielleicht auf das Datum des ausgemachten Treffens bezieht. Haidendenkmal: richtig: Haydndenkmal. Labor: vgl. Albers Essay "Josef Labor und die Musik in der Wittgenstein-Familie". 2 - [Anfang 1925], an K: Brief. Datierung von Koder mit "Otterthal Herbst 1924 oder 1925". Der angesprochene Umzug und die Semestralferien lassen eine Datierung mit Anfang 1925 zu. Wittgenstein war seit Herbst 1924 Lehrer in Otterthal.
3 - [9.2.25], an K: Kartenbrief. 4 - 24.4.25, an K: Brief. Deinen lieben Brief: nicht überliefert. beiliegend: Die Beilage ist nicht überliefert. Wittgenstein selbst hat auch keinen Artikel für die Arbeiterzeitung geschrieben. Am 18.4.1925 wurde jedoch in der Arbeiterzeitung unter der Sparte "Erziehung und Unterricht" ein Artikel mit dem Titel "Deutschstunden in der neuen Schule" veröffentlicht. Darin wird am Beispiel von zwei Deutschstunden gezeigt, wie Grammatikunterricht bei den Erlebnissen der Kinder ansetzen kann. Vermutlich hat Wittgenstein diesen Artikel Koder zugesandt. Pianist Viktor Wittgenstein: dieser New Yorker Pianist gab am 5. Mai 1925 einen Klavierabend im Mittleren Saal des Wiener Konzerthauses. Wörterbuch: Ludwig Wittgenstein: Wörterbuch für Volksschulen. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky 1926. Erst am 21.4.1925 hatte der Verlag das Geleitwort für die ministerielle Genehmigung des Buches für den Schulgebrauch angemahnt. (Vgl. Wünsche, 1985, 98) Das Vorwort erschien, faksimiliert, erst in der Neuauflage, hrsg. v. Adolf Hübner, Werner und Elisabeth Leinfellner, Verlag Hölder-Pichler-Tempsky 1977, XXV-XXX. Postl: Heinrich Postl, Bergarbeiter vom Kohlenbergwerk Grünbach, ab 1928 bis 1971 im Dienst der Familien Wittgenstein und Stonborough. (Vgl. Familienbriefe, 102) Koder hatte ihn in dem von ihm geleiteten Arbeitergesangsverein Puchberg kennengelernt, wo er "die Stütze des Basses" war. Beim gemeinsamen Musizieren mit Wittgenstein und Koder in Puchberg sang Postl in den mehrstimmigen Vokalwerken oft die zweite oder dritte Stimme. (Wünsche, 1985, 112). Nach dem Krieg kam Postl regelmäßig am Donnerstag zum Musizieren zu Koder, erinnert sich dessen Tochter, Frau Margarete Bieder. 5 - [1925/26], an K: Brief. Datierung von Koder: "aus Otterthal 1925 oder 1926". Deinen Brief: nicht überliefert. 6 - [1925/26], an K: Brief. Datierung von Koder. Docktor: dieses Wort hat Wittgenstein von Koders Brief ausgeschnitten und aufgeklebt. 1 Beilage zu Deiner Belehrung: Möglicherweise meint Wittgenstein die Aufklebung von Koders falsch geschriebenem Wort "Docktor" und seine Belehrung. 7 - 19.4.26., an K: Brief. Gärtnergehilfe: Wittgenstein blieb über den Sommer bei dieser Arbeit. Näheres über den zeitlichen Ablauf und eine gerichtliche Untersuchung im Zusammenhang mit seiner Dienstentsagung (vgl. auch den folgenden Brief) konnte nicht ermittelt werden. Bei Wünsche heißt es: "Ein Dienstaufsichtsverfahren endete mit Freispruch oder wurde jedenfalls eingestellt; seine Dienstentsagung konnte demnach als freiwillige beantragt werden. Sie wurde ihm am 28. April 1926 vom Landesschulrat für Niederösterreich gewährt." (Wünsche, 1985, 276) Dr Hänsel: Ludwig Hänsel: geb. 8.12.1886, Hallein/Salzburg; gest. 8.9.1959, Wien. Gymnasiallehrer und -direktor. Mit Wittgenstein befreundet. (Vgl. Hänsel-Briefwechsel) 8 - [Mitte Mai 1926], von K: Brief. Datierung ergibt sich aus dem Inhalt. Palma: Wilhelm Palma. Lehrer. Inspektors: Wilhelm Kund. Pfingstsonntag: 23. Mai. 9 - [3.6.1926], an K: Kartenbrief. meine Mutter gestorben: Leopoldine (Poldy) Wittgenstein, geb. Kalmus: geb. 14.3.1850, Wien; gest. 3.6.1926, Wien. 10 - [Herbst 1926], an K: Brieffragment. Datierung von Koder. Vorladung: Wittgenstein hatte seinen Schüler Joseph Haidbauer geschlagen und war in der Folge von Otterthal geflüchtet. "Der Bub bekam zwei bis drei Ohrfeigen auf den Kopf, worauf er zusammenfiel." (Wünsche, 1985, 274, zitiert die ehemalige Schülerin Aloisia Piribauer) "Er [Wittgenstein] verschwand, und die Gerüchte verschwanden mit ihm. Man hörte von der Angelegenheit nichts mehr, ‘insbesondere auch davon nichts, daß ein Prozeß betreffend dieses Vorfalls stattgefunden hat. Der Zeuge, Herr Piribauer, wurde auch niemals vorgeladen, ebenso ist der geschlagene Bub nach seiner Kenntnis nicht einvernommen worden. Der Bub besuchte anschließend weiter normal die Schule.’" (Ebd., 276, wieder mit Zitat von Aloisia Piribauer) Zum gerichtlichen Nachspiel vgl. den Brief von Ludwig Hänsel an Wittgenstein vom 26.8.1926: "Langsam mahlen die Gerichte. Ich habe schon gedacht, sie hätten
die Sache einschlafen lassen." (Hänsel-Briefwechsel, 103) Geiger: Ernst Geiger: geb. 3.11.1912, Puchberg; gest. 13.11.1970, Wien. Apotheker. Schüler Wittgensteins aus der Puchberger Zeit. Vgl. zu den Bemühungen der Familie, v.a. Hermines, um Geigers Erziehung, Unterbringung und beruflichem Fortgang die häufigen Erwähnungen im Hänsel-Briefwechsel. 11 - [Winter 1926/27?], von K: Brief. Die Datierung dieses und des folgenden Briefes ist unsicher; ich beziehe sie auf die Zeit, da Wittgenstein in Wien wohnte und mit dem Hausbau für seine Schwester Margarete Stonborough beschäftigt war. Meine Mutter: Theresia Schrottenholzer, Wwe. Koder, geb. Kurz: geb. 12.7.1873, Würnsdorf/NÖ; gest. 9.9.1954, Wien. In erster Ehe war sie verheiratet gewesen mit dem Schneidermeister Julius Philip Koder (1866, Trnovo - 1905, Wien). Ihr zweiter Ehemann, Stiefvater von Rudolf Koder, war Franz Schrottenholzer (15.12.1865, Wien - 11.1.1952, Wien), der zuerst als Fiakerkutscher tätig war, später als Angestellter in einer Altwarenhandlung Hansi: Hans Schrottenholzer: geb. 16.3.1912, Wien; gest. 13.1.1990, Wien. Professor: bezieht sich vielleicht auf die gerichtspsychiatrische Untersuchung, die im vorhergehenden Brief erwähnt ist. 12 - [Winter 1926/27?], [Entwurf] an K: Briefentwurf, geschrieben auf der Rückseite des vorhergehenden Briefes von Koder. [wird] . . . Weg zu mir: laut Mitteilung des Magistrats der Stadt Wien war Wittgenstein, wie schon über Sommer 1925, vom 14.6.1926 bis 11.10.1927 in der Kriehubergasse, bei Ludwig Hänsel, angemeldet. In der Vorlage dieses Briefes lautet diese Stelle vor der Korrektur durch Streichung und Überschreibung: "... wirst Du den Weg in die Kriehubergasse gewiß nicht scheuen." 13 - Montag, 21.[2.1927?], von K: Brief. Vollständige Datierung erschlossen mittels Kalender: Ein weiterer möglicher - winterlicher - Montag, der 21., wäre der 21.11.1927. Für die beiden folgenden Briefe vermute ich einen inhaltlichen Zusammenhang zu diesem Brief. 14 - [nach dem 21.2.1927?], an K: Brieffragment. 15 - [nach dem 21.2.1927?], von K: Brief, auf der Rückseite des vorhergehenden Fragments geschrieben. Diesen Brief hat Koder vermutlich gleich nach Erhalt von Wittgensteins Brief geschrieben und Wittgensteins Briefseite mit seiner Antwort auf der Rückseite zurückgesandt. [. . .]: im Original steht "ich" zweimal. Reinecke: Carl Reinecke (1824-1910): deutscher Komponist, Pianist und Dirigent. Als Komponist war er R. Schumann und F. Mendelssohn Bartholdy verpflichtet (u.a. Sinfonien, Instrumentalkonzerte, Kammermusik, Opern, Chorwerke, Lieder, v.a. beliebte Kinderlieder). 16 - Donnerstag [Frühjahr 1927?], von K: Brief. Datierung: offensichtlich vor Schulschluß in Puchberg geschrieben, das Jahr ist fraglich. Sticklers: Johann Stickler war ein Schüler von Wittgenstein aus der Puchberger Zeit. (Das geht aus einer Auflistung einiger ehemaliger Schüler hervor, die Koder, vermutlich in den sechziger Jahren, erstellte.) Die Unterstützung der Wittgensteins ermöglichte Stickler eine Ausbildung zum Elektriker. (Mitteilung von Brian McGuinness) 17 - [Winter 1927/28?], von K: Briefabschrift. Datierung aufgrund einer Fußverletzung Wittgensteins am Bau. (Vgl. Monk, 1992, 258) in Rohrsbach: Koder war dort vermutlich aushilfsweise zugeteilt worden. 18 - [1928?], an K.: Brief. Datierung unsicher, aufgrund des Schriftbildes erst in den späten 20ern anzusiedeln. 19 - 9.1.[1929], von K: Briefabschrift. Datierung anhand des Radioprogramms ermittelt. Karte aus Hannover: nicht überliefert. Wittgenstein war unterwegs nach England. "Dreimal Hochzeit": Möglicherweise handelt es sich hier um ein Theaterstück. Ein Film mit diesem Titel (Buch von Ernst Marischka nach einer Idee von Gerhard Menzel, Regie von Geza von Bolvary) wurde 1941 erstaufgeführt. Rosner: Norbert Rosner, Lehrerkollege in Puchberg. 20 - [vor 1.2.1929], von K: Briefabschrift. Datierung: Der Brief ist noch in Puchberg geschrieben, von wo Koder am 1.2.1929 nach Unter-Waltersdorf versetzt wurde. die Karten und den Brief: nicht überliefert. in Cambridge: Wittgenstein war am 18.1.1929 wieder in Cambridge. Obwohl er ursprünglich die Absicht hatte, nur für ca. 14 Tage zu bleiben, wurde daraus ein dauernder Aufenthalt. 21 - [zw. ca. 10. u. 24.2.1929], an K:
Brief. Datierung aufgrund von Wittgensteins Aufenthalt bei Ramsey, wo er – wie aus einem Brief von Keynes an seine Frau hervorgeht – ungefähr vom 10. bis zum 24. Februar wohnte. (Vgl. Nedo, 1983, S. 225) Ramsey: Frank Plumpton Ramsey: geb. 22.2.1903, Cambridge; gest. 19.1.1930, Cambridge. Logiker und Mathematiker; war wesentlich an der Übersetzung des Tractatus ins Englische beteiligt. Er hatte Wittgenstein im September 1923 für ca. 2 Wochen in Puchberg besucht. 22 - [vor 20.3.1929], von K: Briefabschrift. Datierung aufgrund der erwähnten Osterferien. Karte: nicht überliefert. Abteilungsunterricht: in Kleinstschulen waren die Schüler mehrerer Jahrgänge räumlich in einer Klasse zusammengefaßt, und der Lehrer beschäftigte sich abwechselnd mit den Altersgruppen. 23 - 10.5.29, von K: Briefabschrift. Karte: nicht überliefert. Abreise: Wittgenstein hatte die Osterferien in Wien verbracht und war Mitte April wieder nach Cambridge zurückgekehrt. Deiner Schwester: gemeint ist vermutlich Hermine (Mining) Wittgenstein: geb. 1.12.1874, Eichwald bei Teplitz (Böhmen); gest. 11.2.1950, Wien. Frau Radnitzky: Adele Radnitzky-Mandlick: geb. 18.11.1864, Wien; gest. 22.9.1932, Mödling. Pianistin. Von Julius Epstein, einem Brahms-Freund, privat zur Pianistin ausgebildet; Brahms-Medaille; gab seit ca.1884 regelmäßig Kammermusik-Konzerte - auch mit ihrem Gatten, Franz Radnitzky - und Privat-Klavierunterricht. Franz Radnitzky (1855-1924), Violinist im Hofopernorchester, gründete 1878 das nach ihm benannte Radnitzky-Quartett, hier bis 1884 Primgeiger (mit Siebert, Stecher, Kretschmann), Musikpädagoge. 24 - [Juni 1929], von K: Briefabschrift. Die Datierung dieses und des folgenden Briefes ist aus ihrem Inhalt erschlossen. den Brief u. die Karten: nicht überliefert. Paul: geb. 5.11.1887, Wien; gest. 3.3.1961, Manhasset, New York. Pianist. Fred E. Flindell, der sich mit der Biographie Paul Wittgensteins befaßte, zitiert einen Brief von Koder an ihn (24.7.1967): "I was his first student, and Paul W[ittgenstein] discovered his talent and desire for teaching by instructing me. Hence, he soon had several pupils ranging in age from 10-40 years". (Flindell, 1971b, 118. Dort auch Weiteres zur Biographie.) Paul lehrte in den 30er Jahren (die Dauer wird unterschiedlich angegeben: 1930-33 bzw. 1931-38, vgl. ebd.) am Neuen Wiener Konservatorium. "Exceptionally patient when students sought to unravel interpretive and technical puzzles, Wittgenstein could be emphatic when mistakes, once corrected, were repeated. The result was a schooling in concentration and exemplary discipline. [...] In the pursuit of the ideal Wittgenstein exhibited a driving personal energy which deeply influenced his pupils. There were moments when he was severe, brusque in manner and abrupt in his reactions. But, ‘... he would apologize profusely when he discovered that he had offended’." (Ebd., Flindell zitiert einen Brief von Prof. H. Tischler an ihn.) 1957 erschien von ihm Die Schule für die linke Hand. (London: Universal) Nichte Mariechen: Marie von Stockert: geb. 6.3.1900; gest. 14.8.1948. Tochter von Helene Wittgenstein und Max Salzer. "Engel der Straße": engl. Originalfassung "Street Angels" (1928); Regie führte Frank Borzage (eine Fortsetzung seines großen Erfolges mit "Seventh Heaven") und die Hauptdarsteller waren Janet Gaynor und Charles Farrell. 25 - [Juni 1929], an K: Brief. Technik des Spielens: vgl. hiezu auch S. 132ff. Ich arbeite ziemlich fleißig: seit 2. Februar schrieb Wittgenstein an den Manuskriptbänden "Philosophische Bemerkungen I und II" (MSS 105 und 106); am 18. Juni erhielt er, nach dem Rigorosum mit George E. Moore und Bertrand Russell als Prüfern, den Doktortitel. (Vgl. Nachwort von Rush Rhees in PB, 315-319; Nedo, 1983, 355f.; Monk, 1992, 291f.) Mitte Juli: am 13.7. sprach er vor der "Annual Joint Session of the Mind Association and the Aristotelian Society", dem Jahrestreffen englischer Philosophen, in Nottingham "über den Begriff der Unendlichkeit in der Mathematik" (PB, 318; vgl. Nedo, 1983, 356), als schriftlichen Beitrag dazu reichte er "Some Remarks on Logical Form" ein. Danach erst reiste er nach Österreich. (Vgl. Hänsel-Briefwechsel, 115f.) 26 - [nach 18.6.-Anf. Juli 1929], von K: Briefabschrift. Datierung aufgrund der Verleihung des Doktortitels an Ludwig Wittgenstein am 18.6.1929 und des inhaltlichen Zusammenhangs mit den vorhergehenden Briefen. Brief und die Karte: nicht überliefert. 27 - [vor ca. 20.7.1929], von K:
Briefabschrift. Datierung bezieht sich auf Koders Altersangabe im Brief und auf die diesjährige Ankunft Wittgensteins in Wien. Deinen Brief: nicht überliefert. Schwester Helene: Helene Salzer: geb. 23.8.1879, Wien; gest. 1956, Wien. (Vgl. Hänsel-Briefwechsel, 296) Die Familie Rudolf Koders wohnte später in der Nachbarwohnung von Helene am Brahmsplatz. Herrn Nehr: Moritz Nähr (1859-1945), Photograph und Freund der Familie Wittgenstein. Glöckl: Otto Glöckel: geb. 8.2.1874, Pottendorf; gest. 23.7.1935, Wien. Pädagoge und Schulpolitiker. Nach dem Lehrerseminar in Wiener Neustadt wirkt Glöckel an Wiener Volksschulen, wird 1897 wegen seiner sozialdemokratischen Gesinnung entlassen; 1907 als Kandidat des Wahlbezirks Erzgebirge ins Abgeordnetenhaus entsandt; 1917 stellt er auf einer Versammlung des Vereins "Freie Schule" sein Schulreformprogramm vor, das er 1919/20 als Unterstaatssekretär f. Unterricht und, nach dem Regierungswechsel, ab 1920 als geschäftsführender Präsident des Stadtschulrates für Wien in die Praxis umwandelt. Als Unterstaatssekretär richtet er eine Abteilung für Schulreform ein. 1927 werden neue Schulgesetze (Hauptschulen- und Mittelschulengesetz) erlassen: Vereinheitlichung des Schulsystems; Bürgerschulen in Hauptschulen (Modell Allgemeine Mittelschulen) umgewandelt, Mittelschulen (Gym., Realgym. in 3 Formen, Realschule, Frauenoberschule) bleiben als Vollanstalten erhalten. Im Februar 1934 wird Glöckel, im Gefolge des Bürgerkriegs, ohne "Erhebung einer Anklage" im Anhaltelager Wöllersdorf interniert, hier zieht er sich ein Herzleiden zu, das nicht mehr auskuriert wird. Werke u.a.: Die Reaktionären an der Arbeit (1908); Schule und Klerikalismus (1911); Schulreform und Volksbildung in der Republik (1919); Die österreichische Schulreform (1922); Die Wirksamkeit des Stadtschulrates (1925); Drillschule, Lernschule, Arbeitsschule (1928). Vgl. zu seinem Wirken Richard Olechowski: Schulpolitik. In: Erika Weinzierl/Kurt Skalnik: Österreich 1918-1938. Geschichte der Ersten Republik. 2 Bände. Graz, Wien, Köln: Styria 1983. Band 2, 589-607. - Im Manuskript zu seinen Erinnerungen an Ludwig Wittgenstein schreibt Koder: "L. W. war nie ein Anhänger der Glöckelschen Schulreform, er hat sich über ihre Auswüchse (z. B. Schneiden von Klosettpapier im Handfertigkeitsunterricht) lustig gemacht. Er hat auch die damals sehr propagierten Zeitschriften ‘Die Schulref.’ und ‘Die Quelle’ nie gelesen. Aber obwohl er kein Anhänger der Schulreform war, hat er in mancher Hinsicht in ihrem Sinne (z. B. Selbsttätigkeit der Schüler im Unterricht, Anschaulichkeit des Unterr.) unterrichtet. Das machte er aber nicht, weil es von der Schulref. gefordert wurde, sondern weil er es so für richtig fand. Er hätte auch ohne Glöckel in d. Weise in d. Schule gearbeitet. So präparierte er z. B. das Skelett einer Katze und setzte die Knochen u. Knöchelchen mit viel Mühe u. Ausdauer (Geduld?) wieder zusammen, um seinen Schülern den Körperbau eines Raubtieres veranschaulichen zu können. Oder: er ließ nach seinen Angaben von einem Tischler eine Töpferscheibe anfertigen, damit die Kinder das Formen von Ton selbst versuchen konnten." Schwester Grete: Margarete Stonborough: geb. 19.9.1882, Wien; gest. 27.9.1958, Wien. (Vgl. Hänsel-Briefwechsel, 299f.) 28 - 13.10.29, von K: Briefabschrift. Drobil: Michael Drobil: geb. 19.9.1877, Wien; gest. 12.9.1958, Wien. Akademischer Bildhauer. 1920-39 Mitglied der "Wiener Secession". In seinem Atelier versuchte Wittgenstein sich am Modellieren. (Vgl. Hänsel-Briefwechsel, 252) H. Stockert: vermutlich Fritz von Stockert, Ehemann von Helene Salzers Tochter Marie. Dein Wörterbuch einführe: Koder schätzte dieses Wörterbuch als "vom Kind her gedachte" pädagogische Leistung. In seinen Erinnerungen schreibt er: "Während der zwei Jahre, die L. W. an der Schule in Puchberg unterrichtete, verfaßte er das ‘Wörterbuch für Volksschulen’, und zwar aus folgendem Grunde. Das amtliche österreichische Wörterbuch, das die Kinder zur Verfügung hatten, war für Volksschüler nicht brauchbar. Es strotzte von Fremdwörtern und von Wörtern aus der deutschen Sprache, die für Kinder gänzlich ungeläufig sind. Es war also für die Kinder sehr schwierig und zeitraubend, aus diesem Wust, das für sie Verständliche und Brauchbare herauszufinden. Wittgenstein nahm in sein Wörterbuch nur die Fremdwörter auf, die die Kinder wirklich zu verwenden gewohnt waren, wie etwa: Cousin, Thermometer, Plafond etc. Neu für ein Wörterbuch waren die Hinweise auf den richtigen Gebrauch von Dativ und Akkusativ, deren Unterscheidung den meisten Kindern sehr schwer fällt. Er verwendete zur Erläuterung entsprechende Beispiele aus der Mundart, in der solche Fehler nicht gemacht werden, wenn sie unverbildet gesprochen wird. Zum Beispiel: ‘I hab’ eam’s g’sagt’, hier ist der Dativ zu setzen: ‘Ich habe es ihm gesagt’, dagegen ‘I hab’n g’sehn’ ... ‘Ich habe ihn gesehen’." (Koder-Typoskript) "In ähnlicher Weise gab er auch Hilfen bei orthographischen Schwierigkeiten, z. B. zum Unterscheiden vom Relativ-Pronomen ‘das’ und der Konjunktion ‘daß’, (was auch den meisten Kindern schwer fällt): Nur die Konjunktion ‘daß’ wird in der Mundart mit reinem ‘a’ gesprochen, z.B. ‘I glaub’, daß morgen regnt.’ Andernfalls handelt es sich um das Relativ-Pronomen ’das’, z. B. ‘Er hat a Haus, des schon baufällig is.’ Hier schreibt man: ‘Er besitzt ein Haus, das schon baufällig ist.’" (Koder-Manuskript) 29 - [zw. 13.10. u. 29.10.1929], an K:
Brief. Datierung aufgrund inhaltlichen Bezugs zum vorhergehenden Brief von Koder. 30 - 29.10.29, von K: Briefabschrift. Dr Brommer: nicht ermittelt. "Die 4 Teufel": Originaltitel: "The Four Devils" (1929), nach einer Novelle von Hermann Bang; Regie führte F. W. Murnau und die Hauptdarsteller waren Janet Gaynor und Charles Morton. In Wien lief dieser Film seit Mittwoch, 23.10., im "Apollo" in der Gumpendorferstraße. "Heimkehr": Gedichtzyklus (1823-24), den Heine in sein Buch der Lieder (1827) aufnahm. Wieder in: Heines Werke in fünfzehn Teilen. Erster Teil. Hrsg. v. Helene Herrmann und Raimund Pissin. Berlin - Leipzig: Deutsches Verlagshaus Bong & Co. o. J., 151-203. Die Herausgeberin dieses Bandes, Helene Herrmann, schreibt in der Einleitung (1-54, hier: 9): "Namentlich in einigen Gedichten der ‘Heimkehr’ entwickelt er jenen Tatsachenstil der Empfindung, der mit ganz wenigen Zeichen auskommt und der wie eine Erquickung wirkt nach so vielen Gedichten, die das Gefühl grüblerisch verflüchtigt oder sentimental übersteigert hatten." 31 - [zw. 11.11. u. 15.11.1929], an K: Brief. Datierung aufgrund des am Sonntag, 17.11.1929, vor den "Heretics", einem freigeistigen Zirkel, auf Einladung C. K. Ogdens gehaltenen Vortrags über Ethik, wovon ein Manuskript bzw. Konzept später über Margarete Stonborough in den Besitz von Rudolf Koder überging. (Vgl. Johannes Koder: Verzeichnis der Schriften Ludwig Wittgensteins im Nachlaß Rudolf und Elisabeth Koder. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 12/1993, 52-54, hier: 52) Da Wittgenstein von "diesen Sonntag" spricht, muß er den Brief höchstwahrscheinlich zwischen dem 11. und dem 15. November geschrieben haben. 32 - [nach 17.11.1929], von K: Briefabschrift. Datierung aufgrund inhaltlicher Bezüge zum Frühjahr 1929 und zum Brief von Hermine an Ludwig vom 18. u. 20.11.1929 (Familienbriefe, 117). Frl. Baumaier: Marie Baumayer: geb. 12.7.1851, Cilli; gest. 23.1.1931, Wien. Pianistin, Lehrerin. Am Wiener Konservatorium von Julius Epstein unterrichtet; kurz auch bei Clara Schumann Unterricht, von Brahms zum Musikstudium angeregt. Konzerte u. Unterricht. Vgl. Hermine an Ludwig, 18. u. 20.11.1929: "Baumayerl ist unbeschreiblich leistungsfähig; z. B. am Sonntag Philharmonisches Conzert, - Nachmittag Paul angehört, der in einem populären Conzert ein Labor-Conzertstück spielte - dann zu uns in die Alleegasse; beim Clavier wartete sie auf mich um mit mir vierhändig zu spielen. Bis ich die Noten fand spielte sie 3 Solostücke, dann mit mir Sonate u Variationen von Mozart, - nach der Jause liess sie sich von Koder vorspielen (sehr hübsch u fein) und bat Paul noch einmal die Kadenz aus dem Labor zu spielen, die er sehr schön spielte [...]". Auf dem Programm des erwähnten volkstümlichen Symphoniekonzerts vom Sonntag, 17.11.1929, im Konzerthaus (Leitung: Anton Konrath) standen neben Labors Konzertstück die Sakuntala-Ouvertüre von Karl Goldmark (1830-1915), Arien von Puccini und Verdi, die Unvollendete (h-moll) von Franz Schubert und Richard Strauss’ Tod und Verklärung. - Am Montag vorher, dem 11.11., hatte Paul Wittgenstein im Militärkasino mit dem Wiener Frauen-Symphonieorchester (Leitung: Julius Lehnert), mit dem er zwischen 1927 und 1933 jährlich einmal konzertierte (außer 1931), in einer Rudolf-Braun-Gedenkfeier das Konzert für die linke Hand (a-moll) dieses Komponisten (1869-1925) gespielt. [Engelmann]: Paul Engelmann: geb. Juni 1891, Olmütz; gest. 5.2.1965, Tel Aviv. Architekt, Schriftsteller. Mit Wittgenstein seit Herbst 1916 bekannt und befreundet. Engelmann schrieb gelegentlich Gedichte und zeigte sie auch Wittgenstein. (Vgl. Hänsel-Briefwechsel, 285f.) 33 - [Ende November 1929], an K: Brief. Datierung aufgrund des inhaltlichen Bezugs zum vorhergehenden Brief. nach Wien komme: Wittgenstein war ab 8.12. für die Weihnachtsferien in Wien. (Familienbriefe, 109) 34 - 21.1.30, von K: Briefabschrift. die Karte: nicht überliefert. Rosé: Arnold Rosé: geb. 24.10.1863, Jassy/Rumänien; gest. 25.8.1946, London. Violinist. Emigrierte 1938 nach London. Seine Tochter Alma Maria (geb. 1906) wurde auf einer Konzerttournee in Holland von den Nazis gefangen genommen und starb, vermutlich 1945, im Konzentrationslager Birkenau. (Vgl. Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1940-1967. Hrsg. von Martin Alber, Walter Methlagl, Anton Unterkircher u.a. Innsbruck: Haymon 1996, 479) Begleitet wurde das Solistenpaar von der Wiener Kammer Konzert Vereinigung (Leitung: Otmar Steinbauer), die außerdem von Mozart Adagio und Fuge, von Pergolesi das Orchestertrio B-dur und Haydns Symphonie Nr. 102 gab sowie die Spielmusik (op. 43, Nr. 1) von Paul Hindemith erstaufführte. (Mittlerer Konzerthaussaal) "Ein treuer Diener": zu Wittgensteins Wertschätzung u.a. auch dieses Stücks von Grillparzer vgl. Engelmann, 1970, 67f. Busch: nicht ermittelt. 35 - [nach 21.1.1930], an K:
Brief. Datierung aufgrund des inhaltlichen Bezugs zum vorhergehenden Brief. sehr beschäftigt: am 20.1.1930 hatte Wittgenstein mit seinen offiziellen Lehrveranstaltungen begonnen (montags ein zweistündiges Seminar, donnerstags eine Diskussionsklasse; vgl. Nedo, 1983, 356). 36 - [zw. 21.1. u. 28.2.1930], an K: Brief. Die Datierung dieses und der folgenden beiden Briefe ergibt sich aus inhaltlichen Zusammenhängen. Deinen Brief: nicht überliefert. Rendels: (oder Rendl) Wirtsfamilie Wittgensteins in Puchberg. 37 - [zw. 21.1. u. 28.2.1930], an K: Brief. 38 - [Februar 1930], von K: Briefabschrift. Dieser Brief und Brief Nr. 37 müssen sich – wie aus inhaltlichen Bezügen hervorgeht – gekreuzt haben. den Brief: Nr. 36. in der Missa solemnis: am Mittwoch, 12.2.1930, in einem Gesellschaftskonzert der Musikfreunde im Großen Musikvereinssaal; Wilhelm Furtwängler dirigierte das Wiener Symphonie-Orchester, weiters mitwirkend: der Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde, Maria Peltenburg (Sopran), Rosette Anday (Alt), Carl Erb (Tenor), Richard Mayr (Baß), Franz Schütz (Orgel) und Rudolf Malcher (Violine-Solo). - Die erwähnte Aufführung der Beethovenschen Missa Solmenis im Herbst war vermutlich jene im zweiten Staatsopernchorkonzert am 8.12.1929 im gleichen Saal mit den Wiener Philharmonikern unter Franz Schalk. 39 - 28.2.1930, von K: Briefabschrift. die 2 Briefe: vermutlich Nr. 37 und ein weiterer, nicht überlieferter Brief, in dem Wittgenstein seine Ankunft ankündigte. Aus Wittgensteins Taschenkalender geht hervor, daß er am 17. März in Wien ankam. "The wild orchidee": richtig: "Wild Orchids", 1929; einer von Greta Garbos letzten Stummfilmen. Lewis Stone spielte ihren älteren Ehemann und Nils Asther einen indochinesischen Prinzen. Tante Klara: geb. 9.4.1850, Leipzig; gest. 29.5.1935, Laxenburg. Schwester von Karl Wittgenstein. Förderte u.a. das Roeger-Quartett. Frau Röger: Marie Roeger-Soldat: geb. 25.3.1863, Graz; gest. 6.10.1955, Graz. Violinistin. Vgl. Norbert Stückers Würdigung anläßlich ihres 80. Geburtstages (Grazer Tagespost, 24.3.1943): "Marie Soldat empfing bei ihrem Vater, der Organist an der Leechkirche und Lehrer an der Musikschule Buwa war, schon von ihrem sechsten Lebensjahr an Unterricht im Klavier- und Orgelspiel. Im Alter von neun Jahren sehen wir sie als Geigenschülerin Eduard Pleiners, eines Lehrers des Steiermärkischen Musikvereines. Als ihr Vater und bald darauf Pleiner starben, setzte sie bei August Pott, einem Spohr-Schüler, den Unterricht fort, war jedoch gezwungen, durch Stundengeben ihren Lebensunterhalt zu bestreiten." Johannes Brahms "entdeckt" sie gelegentlich eines Konzerts in Pörtschach, er veranlaßt 1879 ihre Aufnahme an der Berliner Hochschule für Musik (bei Joseph Joachim). Sie befreundet sich mit Clara Schumann. "Mit dem Abgang von der Hochschule [1882] beginnt ihre eigentliche Konzertlaufbahn. Die junge Geigerin unternahm Reisen durch fast ganz Europa, auch nach England, das sie siebzehnmal besuchte, und erntete damit außerordentliche Triumphe; und als sie [am 8. März] 1885 mit den Wiener Philharmonikern unter Hans Richters Leitung erstmalig das Violinkonzert von Brahms spielte, trat sie in die Reihe der ersten Meister der Geige." (Es war dies die Wiener Erstaufführung dieses Werks, das Joachim am 1.1.1877 in Leipzig uraufgeführt hatte.) Noch während ihres Berliner Aufenthalts gründet sie 1887 ein Frauenquartett, in dem Ella Finger-Bailetti (später Elsa v. Planck) als zweite Geigerinnen, Natalie Bauer-Lechner als Bratschistin und Lucy Herbert Campbell (später Leontine Gärtner) als Cellistinnen mitwirken. Stücker: "Ihre Hauptvorzüge, die immer und immer wieder gerühmt wurden, sind ihr weicher, seelenvoller Ton in der Kantilene, ihr energischer Strich in bewegten Sätzen, ihre Vornehmheit, die stets auf das Kunstwerk gerichtet und billigen Effekten abhold ist, ihre vollendete Technik und die Gabe, im Ensemble die unbedingte Führung zu behalten." 1889 heiratet sie den Wiener Anwalt Wilhelm Roeger; ihr Sohn, Josef Roeger, wird Kompositionsschüler von Robert Fuchs (1847-1927) am Wiener Konservatorium. Frau Roeger lebte bis 1936 in Wien, zog dann wieder nach Graz. Vgl. auch den biographischen Abriß von Michael Musgrave (1990). Hier ist v.a. Soldats Beziehung zu englischen Kreisen, im besonderen zu den schon mit der Mendelssohn-Familie und mit Clara Schumann befreundeten Denekes (siehe Brief Nr. 95) ausgeführt. – Im Frühjahr 1930 gab sie zwei Kammermusikabende im kleinen Musikvereinssaal. Am 5. März spielte sie (mit Fanny Davies, Klavier, und Karl Stiegler, Horn) die Violinsonate G-dur, op. 78, und das Trio für Klavier, Violine und Horn von Brahms, die Violinsonate A-dur, Nr. 2 von J. S. Bach und die Violinsonate B-dur, Nr. 10, von Mozart; am 14. März wirkten neben Fanny Davies noch Ernst Moravec (2. Violine) und R. Krotschak (Cello) mit, auf dem Programm: Beethovens Violinsonate D-dur, Nr. 1, op. 12, die Klavierquartette c-moll, op. 60, von Brahms und g-moll, Nr. 1, von Mozart. 40 - [Mai 1930], von K:
Briefabschrift. Datierung aufgrund des inhaltlichen Zusammenhangs (Turnverein) mit Brief Nr. 38 und mit Brief von Hermine an Ludwig vom 4.5.1930. (Familienbriefe, 127f.) Vaugoni: nicht ermittelt. Gemeint sein könnte vielleicht eine Angelegenheit mit dem Bundesminister für Heereswesen, Carl Vaugoin (1873-1949). Vaugoin (christlich-sozial) war zwischen 1921 und 1933 - mit einer Unterbrechung von Oktober 1921 bis Mai 1922 - Bundesminister in diesem Ressort; 1930 führte er außerdem, vom 30.9. bis zum 4.12., als Bundeskanzler die Regierungsgeschäfte. (Auch musikalisches Detail am Rande: Auf Vaugoins Antrag hin wurde am 13.12.1929 vom Ministerrat beschlossen, daß Haydns Kaiserlied mit einem Text von Ottokar Kernstock ("Sei gesegnet ohne Ende") als österreichische Bundeshymne gelten solle. Vgl. Rudolf Flotzinger: Musik. In: Erika Weinzierl/Kurt Skalnik: Österreich 1918-1938. Geschichte der Ersten Republik. 2 Bände. Graz, Wien, Köln: Styria 1983. Band 2, 651-674, hier: 658) Deiner Anstellung: gemeint ist vermutlich Wittgensteins Ansuchen um den Posten eines Probationary Faculty Lecturer, das am 21. Mai 1930 bewilligt wurde. (Vgl. Familienbriefe, 127, Fn 181) 41 - [Ende Mai 1930], von K: Briefabschrift. Datierung aufgrund des Bezugs zum folgenden Brief von Wittgenstein. da Du ja bald kommst: Wittgenstein kam am 11. Juni in Wien an und blieb hier bis zum 17. Juli. Anschließend war er bis zum 20. September auf der Hochreith. "Ut mine Stromtid": Roman von Fritz Reuter, dt. Das Leben auf dem Lande (1863f.). Hermine Wittgenstein wurde nach einer Figur aus diesem Werk Mining genannt. 42 - [ca. 1.6.1930], an K: Brief. Zur Datierung: Wittgenstein kam am 11. Juni in Wien an. mit einander reden: Aus Wittgensteins Taschenkalender geht hervor, daß er sich mit Koder am 21., 26. und 27. Juni, sowie am 15. Juli traf. 43 - [Anfang Sept. 1930], von K: Briefabschrift. Datierung: angenommen wird der Schuljahrbeginn im Herbst 1930. mit Dir zusammenkommen: In Wittgensteins Taschenkalender ist am 22. September 1930 ein Treffen mit Koder eingetragen. 44 - 25.10.30, von K: Briefabschrift. neue Wohnung: Aus Wittgensteins Tagebucheintragung vom 8.10. geht hervor, daß er am 8.10. oder kurz davor übersiedelt ist. (Denkbewegungen, 33) Fränzl: Wiener Tanzschule. Münchner Marionetten-Bühne: Die Gastspielserie von Paul Branns Marionetten-Theater im Herbst 1930 hatte begonnen mit einer türkischen Komödie (Wasif und Akif); als zweites Stück wurde Das lastervolle Leben und erschröckliche Ende des weltberühmten, jedermänniglich bekannten Erzzauberers Doctoris Johannis Fausti (Faustspiel aus dem 17. Jahrhundert) gegeben. Vgl. die Ankündigung in der Neuen Freien Presse, 9.10.1930: "Die neuen Figuren schuf Prof. Jakob Bradl †, die Dekorationen Paul Ren. Die Musik ist der Lassen’schen Musik entnommen. Bearbeitet und in Szene gesetzt von Paul Brann." Rosé-Quartett: 1882 von Arnold Rosé gegründetes Streichquartett, das zu den berühmtesten seiner Zeit gehörte. Erich Wolfgang Korngold: geb. 29.5.1897, Brünn; gest. 29.11.1957, Los Angeles. Komponist und Dirigent; lebte ab 1934 in den USA. Für Paul Wittgenstein komponierte er ein Klavierquintett in E, op. 15 (1924), ein Klavierkonzert Cis-dur, op. 17 (1923, uraufgeführt September 1924 in Wien) und die Suite für 2 Violinen, Cello und Klavier, op. 23. (Vgl. Flindell, 1971b, 127) Letztere wurde bei dem erwähnten Konzert am 21.10.1930 im zweiten Abonnement-Konzert des Rosé-Quartetts im Mittleren Konzerthaussaal uraufgeführt. Zuvor auf dem Programm: Streichquartette von Mendelssohn (e-moll, op. 44) und Brahms (B-dur, op. 67). 45 - [zw. 25.10. u. 14.11.1930], an K: Brief. ein Musikstück kennen zu lernen: vgl. zu diesen Gedanken auch Kapitel 2 u. 4 in Albers Essay "'Jetzt brach ein ander Licht heran, ...'. Über Aspekte des Musikalischen in Biographie und Werk Ludwig Wittgensteins". 46 - 14.11.30, von K: Briefabschrift. die Wahlen: am 9.11.1930 fanden Nationalratswahlen statt. 47 - 14.1.31, von K: Briefabschrift. Stelle für meine Eltern: als Hausbesorger. Hönich: vermutlich ist hier Alois Hänisch, ein Freund der Familie Wittgenstein gemeint: Geb. 31.3.1866, Wien. Maler, Zeichner, Graphiker. Er besuchte kurze Zeit die Wiener Kunstgewerbeschule und Akademie und wurde dann Schüler der Münchner Akademie. 1905 kehrte er von München nach Wien zurück. Er pflegte fast ausschließlich die
Landschaft und das Stilleben. Seine Werke waren zwischen 1893-1908 vor allem auf den Ausstellungen der Münchner Sezession, seit 1907 besonders auf denen der Wiener Sezession (Okt. - Nov. 1919 Sonderausstellung). (Abbildung in Nedo, 1983, 167) Vater: hier gemeint ist der Stiefvater Franz Schrottenholzer. 48 - 26.1.31, von K: Briefabschrift. Fräulein Baumayer gestorben: am 23.1.1931. die Küche ins Vorzimmer versetzen: gemeint ist hier ein Umbau im Eltenhaus von Koder in der Borschkegasse, Wien IX: die Küche war ursprünglich im Keller und wurde nun auf das Parterreniveau angehoben. 49 - [zw. 26.1. u. 15.3.1931], von K: Briefabschrift. Datierung aufgrund inhaltlichen Zusammenhangs (Umbauarbeiten) mit vorhergehendem Brief. Karte: nicht überliefert. Baumeister Haas: nicht ermittelt. 50 - [vor 15.3.1931], von K: Briefabschrift. Karte: nicht überliefert. Wiedersehen: Wittgenstein kam am 15. März in Wien an. 51 - 12.4.31, von K: Briefabschrift. Deine lieben Zeilen: nicht überliefert. Kathreiner-Lied: Zusammenhang nicht ermittelt. 1. Symphonie: von Anton Bruckner. Vgl. Brief Nr. 52. Vielleicht für George E. Moore, dem Wittgenstein Bruckner nahelegte. Moores Sohn, Timothy, schreibt an den Herausgeber (20.10.1996): "I played Piano Duets with my father from an early age, almost every day when I was at home, & it was Wittgenstein who persuaded us to buy arrangements for duet of all the Bruckner symphonies - almost unknown in this country at the time -, & also gave us a copy of Schumann’s works for Pedal Piano, which we had never even heard of." Die Empfänger dieses Musikstücks könnten aber auch die Thomsons gewesen sein. In einem Brief an G. E. Moore spielt Wittgenstein auf gemeinsames Klavierspiel mit Catherine Thomson an. (Vgl. Cambridge Letters, 274) heraußen: offensichtlich war Koder nach Unter-Waltersdorf gezogen, wo er noch dieses Schuljahr beendete. die Siegl: nicht ermittelt. 52 - [nach 12.4.1931], von K: Briefabschrift. Datierung aufgrund inhaltlichen Zusammenhangs ("Ruhe") mit vorhergehendem Brief. den Brief: nicht überliefert. Bitte....zweihä: diese Stelle hatte Koder aus Wittgensteins Brief ausgeschnitten und hier aufgeklebt. Onkel Louis: (1845-1925), Bruder von Karl Wittgenstein. Gemeint ist hier vermutlich das im September 1872 abgeschlossene Dreikaiserbündnis zwischen dem Deutschen Reich, Österreich und Rußland. Aufsätzen Deines Vaters: vgl. die neue Ausgabe von Karl Wittgensteins Politicio-Economic Writings, hrsg. v. J. C. Nyíri, Amsterdam/Philadelphia: Benjamins 1984. Als Privatdruck waren diese Aufsätze schon früher erschienen. 53 - 21.4.31, von K: Briefabschrift. diese Angelegenheit: Aus dem Brief von Margarete Stonborough an Wittgenstein vom 23.4.1931 geht hervor, daß es dabei um die Mitarbeit beim Verein gegen Armut und Bettelei ging: "Der Koder war bei mir (lieb und gut wie immer) & sagte mir Du habest ihm geraten sich mir anzubieten. Ich wüßte gerne, wie Du Dir das gedacht hast. Welche Art von Arbeit Dir vorgeschwebt hat? Einem fremden Menschen zu helfen, scheint mir nicht geeignet. Ich glaube er kann nur etwas für einen Menschen tun, den er kennt & gern hat. Er müßte quasi mir helfen & nicht den Menschen, die an den Verein herantreten." Dieser Verein hing in hohem Maße von den Wittgensteins ab; geleitet wurde er von Oskar Wollheim. (Vgl. Familienbriefe, 145) 54 - [zw. 21.4. u. 18.5.1931], an K: Brief. Die Datierung dieses und des folgenden Briefes ergibt sich aus dem inhaltlichen Zusammenhang mit Nr. 53 und 56. das Geschenk: nicht ermittelt. Krummböck: Wittgenstein hatte in Puchberg zuerst einige Wochen in einem ihm von der Gemeinde zugewiesenen Zimmer im "Hotel Pfennigbach" gewohnt, das der Familie Krummböck gehörte. Vgl. dazu das Interview mit Franz Stoschek, Wittgensteins Zimmerkollege, in der Zeitschrift Limes, hrsg. von der literarischen Gesellschaft St. Pölten, Nr. 1/2, 1985, 15-19. Steiner Josef: nicht ermittelt. meine meine: sic!
55 - [zw. 21.4. u. 18.5.1931], von K: Briefabschrift. [Meidling]: gemeint ist die von Hermine Wittgenstein 1921 gegründete und bis Frühjahr 1938 aus eigenen Mitteln erhaltene Tagesheimstätte für Knaben. 56 - 18.5.31, an K: Brief. 57 - [November 1931], von K: Briefabschrift. Datierung aufgrund eines Briefes von Hermine an Ludwig Wittgenstein vom 1.11.1931, in dem vom Scherzo der Dritten von Bruckner die Rede ist. (Familienbriefe, 131f.) [der] 3. Bruckner: Vgl. den Brief von Ludwig an Hermine, [Oktober 1931]: "Siehst Du Koder manchmal. - Bitte sag ihm, er soll mir schreiben. Spiel einmal mit ihm das Scherzo aus der 3. Symph. von Bruckner. Es geht mir oft im Kopf herum und ich finde es großartig." (Familienbriefe, 131) 58 - 23.1.[1932], von K: Briefabschrift. Datierung anhand des im Brief erwähnten Philharmonischen vom 24.1.1932. [Pottendorf]: In seiner Kartei notierte Koder allerdings die Hauptschule Pottendorf schon ab 1.8.1931 als Dienstort. Vielleicht handelt es sich dabei um eine Erinnerungsunschärfe, und Koder wurde tatsächlich erst nach den Weihnachtsferien 1931/32 nach Pottendorf versetzt. im Philharmonischen: auf dem Programm standen am 24.1.1932 (Leitung: Clemens Krauss) vor der Achten von Bruckner 3 Stücke aus der Lyrischen Suite von Alban Berg und die Tondichtung Don Juan von Richard Strauss. 59 - [zw. 23.1. u. 13.2.1932], von K: Briefabschrift. Datierung aufgrund inhaltlichen Zusammenhangs mit vorhergehendem Brief (Bruckners Achte); Semesterschluß am 13. Februar. Bläser-Divertimento v. Labor: Konzert Paul Wittgensteins mit dem Prix-Quartett im Industriehaus am 18.3.1932. Außerdem auf dem Programm: Werke von Max Ast und Ludwig van Beethoven. Beim Laborschen Divertimento handelt es sich um das Quintett für Flöte, Oboe, Viola, Cello und Klavier einhändig, dessen Notentext nicht greifbar ist; Kundi vermutet die Handschrift im Nachlaß Paul Wittgenstein. (Kundi, 1962, 50; vgl. auch Flindell, 1971b, 127.) Ein weiteres Konzert mit Paul Wittgenstein, Mitgliedern des Prix-Quartetts sowie dem Wiener Lehrer A-cappella-Chor fand am 12.3.1932 im Großen Musikvereinssaal statt. Das Programm dieses Abends wurde nicht ermittelt. Klarinetten Trio von Labor: Labor hat zwei Klarinettentrios mit Klavierpart linker Hand komponiert, e- und g-moll. Die erwähnte Aufführung konnte nicht ermittelt werden. Möglicherweise hörte Koder noch am Samstag, den 23.1.1932 - also am Tag, an dem er aus Pottendorf den Brief Nr. 58 schrieb - das Konzert im Großen Musikvereinssaal, bei dem Paul Wittgenstein mitwirkte, dessen Programm allerdings nicht vorliegt. Weitere Mitwirkende an diesem Abend waren das Sedlak-Winkler Quartett, Robert Kuppelwieser (Klavier), das Streichorchester Akademischer Orcherster Verein und Hans Wrana (Gesang); außerdem als Dirigenten Carl Luze und Ferdinand Großmann. Aus der Zusammenstellung der Musiker(gruppen) läßt sich eine Aufführung der Klarinetten-Kammermusik von Labor und Mozart nicht unbedingt herleiten, aber auch nicht ausschließen. Anna: die langjährige Haushälterin und Confidante von Clara Wittgenstein. (Vgl. Familienerinnerungen, 228) 60 - [Mitte Mai 1932], von K: Briefabschrift. Datierung: Angenommen wird eine Feier zum 200. Geburtstag von Joseph Haydn (1732-1809); Pfingsten fiel 1932 auf den 15. Mai. Deine Karte: nicht überliefert. 61 - 25.5.32, von K: Briefabschrift. Deinen lieben Brief: nicht überliefert. 62 - [Oktober 1932], von K: Briefabschrift. Zur Datierung: Im Oktober 1932 war der erste des Monats ein Samstag; außerdem stützt sich die Datierung auf einen Motorradunfall Wedigo von Zastrows, der im Brief Hermine Wittgensteins an Ludwig Hänsel (24.9.[1932]) erwähnt ist (vgl. Hänsel-Briefwechsel, 125). Schulinspektor in Pension: Karl Heider, zu dieser Zeit Bezirksschulinspektor des Bezirks Mödling, zu dem alle bisherigen Dienstorte von Koder gehörten. Herr Kund: Wilhelm Kund war zur Zeit von Wittgensteins Austritt aus der Schule Inspektor in Puchberg. (Vgl. Brief Nr. 8) Wedigo: Wedigo von Zastrow: geb. 11.9.1910, Hirschberg/Schlesien; gefallen am 18.9.1944, Wohlau/Schlesien. Ziehsohn von Margarete Stonborough. 63 - [Anfang Dezember 1932], von K: Briefabschrift. Die Datierung stützt sich auf das im Brief erwähnte Konzert.
Philharmonisches Konzert: am 27.11.1932 dirigierte Bruno Walter ein außerordentliches Philharmonisches. Zwischen Mozarts Symphonie Nr. 40, g-moll, (KV 550), und Beethovens Symphonie Nr. 3, Es-dur, op. 55, spielten die Wiener Philharmoniker die Tondichtung Don Juan, op. 20, von Richard Strauss. 64 - [ca. 23.5.1933], von K: Briefabschrift. Datierung aufgrund des Brahms-Festes in Wien vom 16. bis 21. Mai 1933. Brahms Fest: Die musikalische Leitung hatte Wilhelm Furtwängler. Auszüge aus dem Programm: Mittwoch, 17.5.: Ein deutsches Requiem; Freitag, 19.5.: Tragische Ouvertüre, Dritte Symphonie, Doppelkonzert (Pablo Casals Bronislaw Hubermann), Akademische Festouvertüre; Samstag, 20.5.: Kammerkonzert (Klavierquartette c-moll und g-moll, Klaviertrio C-dur); Sonntag, 21.5.: Haydn-Variationen, Klavierkonzert B-dur, Erste Symphonie. [sie noch]: in der Abschrift doppelt. 65 - 4.11.[1934], von K: Briefabschrift. Vollständige Datierung aufgrund der Dienstkartei von Koder. Dr [Czermak]: Emmerich Czermak: geb. 14.3.1885, Datschitz; gest. 18.4.1965, Wien. Christlich-sozialer Politiker, Gymnasialdirektor. 1929-32 Bundesminister für Unterricht, dann bis 1938 Präsident des Landesschulrates Niederösterreich. Letzter Obmann der Christlich-Sozialen Partei (bis 27.9.1934). Direktor in Pottendorf: nicht ermittelt. Borschkegasse: dort wohnten Koders Eltern. Konzertreise: Flindell (1971b, 115f.) führt folgende Konzerte an: Montreal (4.11.; Ltg.: D. Clarke), New York (17.11.; Boston Symphony Orchestra, Ltg.: Sergej Koussevitzky), Minneapolis (9.12.; Ltg.: Eugene Ormandy), Cincinnati (14.12.; Cinc. Symphony Orchestra, Ltg.: E. Goossens). 66 - 22.11.[1934], von K: Briefabschrift. Vollständige Datierung aufgrund des 60. Geburtstags von Hermine Wittgenstein am 1.12.1934. Deinen Brief: nicht überliefert. Raskolnikow: Dostojewskijs Schuld und Sühne. [Mima] Sjögren: Hermine (Mima) Sjögren (geb. Bacher, 1871-1965) war mit den Schwestern Wittgensteins eng befreundet. 67 - Sonntag [2.12.1934], an K: Brief. Datierung aufgrund inhaltlicher Zusammenhänge zum vorhergehenden Brief. 68 - Donnerstag [vor Weihnachten 1934 ?], an K: Brief. Datierung aufgrund möglichen inhaltlichen Zusammenhangs mit Brief Nr. 65 von Koder (Stickler); da Wollheim konsultiert werden sollte, nehme ich an, daß Koder schon bei ihm wohnte, dieser Brief also erst nach Nr. 65 geschrieben wurde. beiliegenden Brief: nicht überliefert. 69 - [vor dem Sommer 1935], an K: Brief. Datierung aufgrund der Rußlandpläne Wittgensteins, die er im Herbst 1935 realisierte. Deine Karte: nicht überliefert. nach Russland: Wittgenstein plante mit Francis Skinner eine Umsiedlung dorthin für 1936. Skinner wurde jedoch im Herbst, vor der Abreise, krank, sodaß Wittgenstein am 7.9. alleine abfuhr; am 12.9. war er in Leningrad, am 14.9. in Moskau und am 1.10. war er wieder zurück in Cambridge. (Monk, 1992, 374ff.) 70 - [Mitte Juli 1935], an K: Brief. Datierungen von Koder auf "1938/9" und "Jedenfalls vor 1941". Aus George Ffennells Brief vom 15.7.1935 aus Wien geht jedoch hervor, daß dieser Brief ungefähr zur gleichen Zeit wie jener von Ffennell abgefaßt wurde. Ffennell dankt in seinem Brief Wittgenstein für die Vermittlung von Koders Adresse: "Thank you very much indeed for sending the address of your friend. But unless I alter my plans - which at the moment mean my going to Budapest on Thursday - I shall not take advantage either of your kindness or his, for two reasons: (1) I shall only be a few days more in Vienna (2) Added to this, since he does not speak English, and I am a fool in all languages, but a bigger one in German, I could not get to know him well in a short time. If by any chance I decide to stay in Vienna, and these obstacles are removed, I shall most certainly go and see Herr Koder. I hope you don't think me ungracious - that is the last thing I want to be. I think you will understand what I mean." 71 - Mittwoch, 4.9.35, an K: Brief. Deinen Brief & die Karte vom Ausflug: nicht überliefert. eines Freundes: Francis Skinner (1912-1941), Schüler und Lebensgefährte von Wittgenstein. Betty: Betty Gaun: Eine Hausangestellte, zuerst von Hermine, später von Helene. 72 - Donnerstag [Juli 1936], an K: Brief. Datierung aufgrund der Abreise nach Norwegen am 13.8.1936. Peter Hebel’s Werken: Hebels Werke in vier Teilen. (2 Bände) Hrsg. mit Einleitungen, alemannischem Wörterbuch
und Anmerkungen versehen von Adolf Sütterlin. Berlin - Leipzig: Deutsches Verlagshaus Bong & Co. 1911. 73 - Samstag 10. [vor dem 13.8.1936], an K: Brief. Datierung: Wittgensteins Angabe "Samstag 10." ist vermutlich ein Irrtum; der inhaltliche Bezug zum vorhergehenden Brief und die Erwähnung von Helene Wittgensteins Geburtstag (23.8.) lassen vermuten, daß der Brief vor der Abreise nach Norwegen verfaßt wurde; der 10. August 1936 war aber kein Samstag. Deinen Brief: nicht überliefert. Geiger: vgl. Brief von Margarete Stonborough an Ludwig Wittgenstein (11.7.1936): "Jetzt hat er [Geiger], noch knapp vor seinem Eintritt in den freiwilligen Arbeitsdienst ein schreckliches Erlebnis gehabt, das ihn sehr hergenommen hat. Ein junger Mann, der neben ihm im Laboratorium gearbeitet hat, ist bei einer Explosion verbrannt. Er war im selben Raum & konnte ihm nicht helfen." (Familienbriefe, 152) zu Frau Schlick: Die Schlicks wohnten in der Nähe von Oskar Wollheim in der Prinz-Eugen-Straße. Manuskripte: vgl. Brief Margarete Stonborough an Ludwig Wittgenstein (26.9.1936): "Die Erledigung der Manuskript-Angelegenheit hatte sich etwas verzögert, nun scheint es aber einwandfrei festgestellt, dass sich das Manuskript in der Alleegasse befindet. Waismann hat es agnosziert. Freilich meint er, es fehlten einige Teile daraus. Darin wird er sich wol irren. (Er schreibt Dir selber darüber.) Bei Schlicks ist nichts zu finden gewesen." (Familienbriefe, 153, dazu die Fußnote: "Offenbar wollte Wittgenstein feststellen, ob ein Waismann schon bekanntes und Schlick möglicherweise ausgeliehenes Manuskript (vermutlich eine maschinenschriftliche Version) in Sicherheit war.") Moritz Schlick: geb. 14.4.1882, Berlin; am 22.6.1936 in Wien ermordet. (Vgl. Wittgenstein und der Wiener Kreis, Werkausgabe 3) 74 - [nach dem 18.8.1936], an K: Postkarte. Datierung von Koder; Briefmarke mit Poststempel ist ausgeschnitten (der Ort "Skjolden" am Poststempel ist noch erkennbar). Zur Datierung: Wittgenstein war am 18.8. in Skjolden angekommen. (Nedo, 1983, S. 358) bei Dr Wollheim: die Karte wurde Koder an den Sommerferienort nachgesandt. Die Adresse ist ersetzt durch: "bei Fr. Stonborough - Villa Toskana - Gmunden" 75 - 10.9.[1936], Donnerstag, von K: Briefabschrift. Vollständige Datierung aufgrund des Kalenders. Deine 3 Karten: eine davon vermutlich Nr. 73, die beiden anderen nicht überliefert. Tommy: Thomas Stonborough: geb. 9.1.1906, Berlin; gest. 14.2.1986, Wien. Ältester Sohn von Margarete und Jerome Stonborough. Seine Ehe mit Helen Stonborough wurde 1936 geschieden. sein Kind: Pierre Stonborough. mit der Galle: vgl. auch die Briefe von Ludwig Wittgenstein an Ludwig Hänsel ([Skjolden, Herbst 1936]; Hänsel-Briefwechsel, 134) und von Margarete an Ludwig (26.9.1936; Familienbriefe, 153). Labor-Variationen: Phantasie über die österreichische Volkshymne, op. 9, 1898 zum 50jährigen Thronjubiläum Franz Josefs für Orgel komponiert. Arvid: Arvid Sjögren: geb. 17.4.1901, Donawitz/Kreis Leoben; gest. 1.3.1970. Sohn von Mima Sjögren. Er war verheiratet mit Clara Salzer, Helenes Tochter. Aus dieser Ehe stammen 5 Kinder: Anna, Andreas, Katharina, Gabriella und Cecilia. 76 - [nach dem 10.9.1936?], Fragment, an K: Von diesem Brief ist nur die letzte Seite überliefert. Die Datierung ist fraglich, doch gibt es einige inhaltliche Bezüge zum vorhergehenden Brief Koders. Ich lebe hier gut: vgl. Wittgensteins Brief an Ludwig Hänsel, [Skjolden, Herbst 1936]: "Hier habe ich schönes Wetter & die Leute sind nett & freundlich & hilfreich. Die Gegend paß mir sehr." (Hänsel-Briefwechsel, 134) 77 - 20.11.[1936], von K: Briefabschrift. Vollständige Datierung aufgrund des außerordentlichen Philharmonischen Konzerts am 29.11.1936 unter Arturo Toscanini mit Beethovens Missa Solemnis; allerdings dürfte der Brief am 21.11. geschrieben worden sein, da das erwähnte Konzert von Paul Wittgenstein am 20.11. stattfand. Deinen letzten lieben Brief: vielleicht der nur fragmentarisch überlieferte Brief Nr. 75. Dein Kommen: Wittgenstein fuhr am 8.12.1936 von Skjolden nach Wien, blieb dort bis Anfang Jänner 1937 und reiste dann, mit Aufenthalt in Cambridge bis Ende Jänner, wieder zurück nach Norwegen. [Prix]-Quartett: Konzert am 20.11.1936 im Industriehaus; weiters mitwirkend: Lony Pecinovsky und Anton Tausche. Das genaue Programm liegt nicht vor, gegeben wurde Werke von Tanaiew, Johanna Müller-Hermann (eine Uraufführung) und Franz Schmidt. Dieser hatte zu der Zeit schon zwei Quintette für Paul Wittgenstein komponiert: Das erste (G-dur) für Klavier und Streichquartett (1926); das zweite (B-dur) für Klavier, Klarinette, Violine, Bratsche und Violoncello (1932). 1938 folgte ein weiteres (A-dur) für die gleiche Besetzung wie beim B-dur-Quintett. Der letzte Satz dieses A-dur Quintettes sind Variationen auf ein Thema von Labor. (Vgl. Liess, 1951, 72-77) - Als Pianist hatte Schmidt 1921/22 Soireen im Hause Stonborough gegeben, sein Programm endete musikgeschichtlich bei Brahms. (Tschulik, 1972, 38)
neulich: am 26.10.1936 im Mittleren Konzerthaussaal in einem Orchester- und Chorkonzert des Frauen-Notdienstes Wien u.a. mit dem Orchester des "Musikvereins Haydn". Außerdem auf dem Programm: Beethovens Ouvertüre Die Geschöpfe des Prometheus, das Violinkonzert A-dur von Mozart und die Messe in h-moll von Alfred Uhl. Kompositions-Konzert meines Direktors: nicht ermittelt. 78 - Mittwoch, [April 1937?], an K: Brief. Zweifache Datierung von Koder: "Zwischen 1939 und 1941" und "Vor Krieg nach Norwegen 1937?". Aufgrund der Erwähnung von Max Salzers Geburtstag (3.3.) nehme ich an, daß der Brief spätestens im April abgefaßt wurde; die Ankündigung, am Monatsende nach Wien zu kommen, könnte sich, wenn man Koders zweiten Datierungsvorschlag gelten läßt, auf den April 1937 beziehen, denn Anfang/Mitte Mai dieses Jahres war Wittgenstein in Wien. (Vgl. Brief an Ludwig Hänsel, 14.4.[1937], im Hänsel-Briefwechsel, 144f.) Dem ersten Datierungsvorschlag folge ich nicht: Wittgenstein kam 1939 erst am 22. Juni nach Wien, nachdem er im April die englische Staatsbürgerschaft und am 2.6. den neuen Paß bekommen hatte. (Vgl. Nedo, 1983, 359.) In den Kriegsjahren kam er nicht mehr nach Wien. Deinen lieben Brief: nicht überliefert. Wollheim: Oskar Wollheim, ein Freund der Familie Wittgenstein, bei dem Ludwig Anfang der 30er, wenn er in Wien war, vorübergehend wohnte. Auch Koder bezog bei ihm bis zu seiner Heirat im Herbst 1941 Quartier. Er war Nachfolger von Max Salzer als Sektionschef im Finanzministerium. 1942 kam er durch Maragrete Stonboroughs Hilfe nach New York. (Vgl. Familienbriefe, 110 und 178f.) Max: Max Salzer: geb. 3.3.1868, Wien; gest. 28.4.1941, Wien. Gerade zum 1937er Geburtstagsgeschenk für Max Salzer vgl. Familienbriefe, 156f. Hier schreibt der Jubilant (am 17.3.1937) von zwei Büchern, die Helene ihm in Ludwigs Namen geschenkt habe. Ludwig antwortet am 23.3.[1937]: "Die Bücher waren natürlich die Idee der Helene, da mir nichts Besseres eingefallen wäre, als Blumen oder Fressalien." Von einem Schal ist nicht die Rede, vielleicht daher die Anfrage bei Koder. 79 - 18.12.38, von K: Briefabschrift. Deine liebe Karte: nicht überliefert. Hedwig Schulze: mit Margarete befreundet; vgl. Brief Margarete Stonborough an Ludwig Wittgenstein, 7.12.1938. (Familienbriefe, 165) das Zimmer Deiner Schwester u. die Bibliothek: Diese beiden Bilder von Hermine Wittgenstein sind in Wijdevelds Buch abgebildet. (Wijdeveld, 1994, 126 u. 129) auf Ostern: die Hoffnung, zu Ostern nach Wien zu kommen, spricht Wittgenstein auch in einem Brief an Ludwig Hänsel vom 31.12.1938 aus. (Vgl. Hänsel-Briefwechsel, 153) Er kommt dann allerdings erst im Sommer für zwei Wochen nach Wien, um in dringend anstehenden Familienangelegenheiten behilflich zu sein. (Vgl. dazu Familienbriefe, 160-169) Paul: war im Juli in die Schweiz emigriert und von dort im Dezember nach New York. 80 - [vor dem 25.12.1939], von K: Briefabschrift. Datierung auf das erste Kriegsjahr aufgrund des Tonfalls der Kontinuität. Rentls: gemeint ist die Familie Rendl (oder Rendel) in Puchberg. Geiger: Ernst Geiger war in Köln als Apotheker tätig. (Vgl. Brief Hermine Wittgenstein an Ludwig Hänsel, 14.8.[1939], im Hänsel-Briefwechsel, 155f.) in meiner alten Stelle: Koder unterrichtete bis am 25.2.1943 in Gramatneusiedl. 81 - 15.5.40, von K: Briefabschrift. Lucki: in der Familie, besonders von Margarete, benützte Briefanrede für Ludwig; allerdings von Koder normalerweise nicht verwendet. Diese für Koder ungewöhnliche Anredeform und die Vermeidung aller Personennamen im Brief weisen darauf hin, daß dieser Brief auf in irgendeiner Form unerlaubte Weise gesandt wurde. (Vgl. Hermine Wittgensteins Brief an Ludwig datiert mit [April 1940] in Familienbriefe, 171) Deinen lieben Brief: nicht überliefert. Kügelgen: Wilhelm von Kügelgen (1802-1867). Das Buch war zuerst 1870 erschienen (Berlin: Hertz), wieder als Band 1 der dreibändigen Ausgabe Erinnerungen 1802-1867. Hrsg. v. J. Werner. Leipzig: Koehler & Amelang 1924f. anderen Dienst: Johannes Koder vermutet, daß sein Vater hier auf den Stellungsbefehl anspielt. Prinz Eugenstr. u. auf d. Brahmsplatz: die Wohnadressen von Oskar Wollheim bzw. Helene und Max Salzer. Koder übersiedelte nach seiner Heirat im September 1941 auf den Brahmsplatz; seine Familie wohnte dann angrenzend an Helene Salzer. 82 - 13.8.40, an K: Brief.
Hausherrn: Oskar Wollheim. SENDET . . . LISSABON: in roter Farbe gestempelt. 83 - 19.11.45, von K: Briefabschrift. brit. Gefangenschaft: der Heimkehrer-Entlassungsschein ist mit 19.11.1945 datiert. Mr. Colingwood: richtig: Collingwood; war mit Rowland Hutt befreundet und von daher mit Wittgenstein bekannt. (Vgl. Brief Ludwig Wittgensteins an Rowland Hutt, 10.12.1945: "Please do me a favour. Write to your friend Collingwood that I have sent him a parcel with 300 cigarettes. I have written him, too, but it's just possible that he mightn't get my letter as I enclosed a letter to my Vienese friend, written in German.") Alleegasse: Hermine wohnte nach dem Krieg wieder hier. Meine Frau: Elisabeth Koder, geb. Reder: geb. 20.9.1918; gest. 26.4.1992, Wien. Hauptschullehrerin für Deutsch, Geographie und Geschichte. 1938 hatte sie kurz in Wien unterrichtet, war dann für ein Jahr nach Dreis/Kreis Wittlich (Eifel) versetzt worden; 1939-42 in Gramatneusiedl, danach immer an Wiener Schulen. einen Buben: Johannes Georg Koder, geb. am 26.7.1942, lebt in Wien. "An die entfernte Geliebte": richtig: An die ferne Geliebte, Liederkreis nach Gedichten von Alois Isidor Jeitteles, op. 98 (1816), von Ludwig van Beethoven. 84 - 10.12.45, an K: Brief. 85 - 31.1.46, von K: Briefabschrift. das Getue: Koder meint vermutlich die sogenannte Entnazifizierung und das "Sich’s richten" mit der sowjetischen Besatzungsmacht. [?]: in der Abschrift ein Leerraum. Sjögrens: Arvid Sjögren lebte mit seiner Familie seit November 1944 in Schweden. 86 - 1.7.46, von K: Briefabschrift. Deinen lieben Brief: nicht überliefert. Labor: die Fünf Klavierstücke, op. 8, gehören zu der Reihe der schon früher in verschiedenen Musikverlagen gedruckten Werke Labors (op. 1-14), die 1912 zusammen mit erstmals in Druck gegebenen Kompositionen auf Veranlassung der Familie Wittgenstein von der Wiener Universal-Edition übernommen wurden. - Labor hat zwei Klarinettentrios komponiert: e-moll, mit Cello (1917); g-moll, mit Viola (1919); beide für Klavier linker Hand. Beim Adagio cis-moll handelt es sich vielleicht um die zweite Variation aus der Phantasie für Orgel (zu zwei Spielern), op. 12, entstanden im Februar 1903, Rosine Menzel gewidmet; dieses Stück liegt auch als Bearbeitung für Klavier zu vier Händen vor (datiert 12./13.4.1911). (Vgl. Kundi, 1962, nicht paginierter Anhang.) 87 - 14.10.46, an K: Brief. Brief vom 2ten Oktober: nicht überliefert. 88 - 7.11.46, von K: Briefabschrift. Deine Briefe: letzterer nicht überliefert. 7. v. Bruckner: G. E. Moore und sein Sohn Timothy spielten Wittgenstein diese Symphonie vor. Vgl. schon Wittgenstein an Moore, [7.8.1945], wo von einer Aufschiebung des geplanten Vorspielens die Rede ist, da Timothy Moore mit Arbeit überlastet war. (Letters, 1974, 182) Am 30.3.1946 schreibt Wittgenstein an seine Schwester Helene: "Gestern spielten mir zwei Bekannte die 7te Symphonie von Bruckner vor (vierhändig). Sie spielen schlecht, aber nicht ohne Verständnis. Ich hatte die Symphonie seit Jahren nicht gehört und hatte wieder einen großen Eindruck." (Familienbriefe, 187) - Zum 50. Todestag von Anton Bruckner wurden im Herbst 1946 im Großen Musikvereinssaal mehrere Werke von ihm aufgeführt, u.a. am 10. und 11. Oktober die Messe f-moll und das Te Deum (Wiener Symphoniker, Leitung: Anton Lippe; Irmgard Seefried, Elena Nicolaidi, Julius Patzak, Ludwig Weber, Karl Walter (Orgel), Chor der Gesellschaft der Musikfreunde, Wiener Männergesangsverein und Wiener Lehrer a-cappella-Chor), am 20. Oktober Trösterin Musik (für Chor und Orgel) und die Siebente Symphonie (Wiener Philharmoniker, Leitung: Josef Krips), am 22. Oktober Präludium und Fuge c-moll (Alois Forer, Orgel), Ave Maria (a-cappella, Chor der Wiener Lehrerbildungsanstalt) und die Vierte Symphonie (Wiener Symphoniker, Leitung: Rudolf Moralt). Klavierstücke von Brahms: gemeint sind vielleicht die Intermezzi. Koder führt sie (neben dem Klarinettenquintett) auf einer Liste von Stücken an, die er offenbar in Zusammenhang mit Wittgensteins Musikvorlieben hervorheben wollte. (Koder-Manuskript) 89 - 21.6.47, von K:
Briefabschrift. Dieser ist der letzte der Briefe von Rudolf Koder an Wittgenstein, die greifbar sind. Deinen letzten Brief: nicht überliefert. im Sommer zu kommen?: Den Sommer verbrachte Wittgenstein in Swansea und auf Kurzbesuch bei Maurice Drury in Dublin. Am 12. September kam er nach Wien und blieb dort vermutlich bis 4. Oktober. (Vgl. den Brief an Helene Salzer, 22.7.1947, in Familienbriefe, 190, und den Brief aus Wien an Rush Rhees, 21.9.1947: "I found my sisters & friends in good health. As you can imagine Vienna isn’t a nice sight at present. In spite of everything the people I meet are in astonishingly good spirits. - There’s been no rain here for the last 2 months, & somehow one gets the impression that the climate has changed: it’s difficult to imagine that there will be a rainy season again. I’ve never experienced this sort of incredibly dry weather before. (It isn’t agreable, apart from the fact that it’s extremely bad for the country.)" Müllerlieder u. d. Winterreise: Liederzyklen von Franz Schubert. Koders Tochter, Frau Margarete Bieder, erinnert sich, daß ihr Vater nach dem Krieg sehr häufig Liedbegleitung spielte (u.a. mit Helene in der Gesangspartie). 90 - [Ende September 1948], an K: Brief. Datierung von Koder auf "Herbst 1948"; Wittgenstein war dieses Jahr im September in Wien. Unfreundlichkeiten: über seine Beziehung zu Koder hatte Wittgenstein schon zehn Jahre früher einmal bemerkt (Wittgenstein's Nachlass, MS 120, 6.1.1938): "Mit Koder stehe ich nicht befriedigend. Seine liebenswürdige Art wärmt mich nicht und macht mich daher zurückweisend. Dabei bekommt es den Anschein, als könnte ich ihn moralisch tadeln, was natürlich unsinnig ist; denn ich sehe nicht daß er schuldiger ist als ich; wahrscheinlich ist er unschuldiger. Schon weil er sich viel weniger ändert als ich. Ich könnte sagen: das flaue laue Wesen schmeckt mir nicht." 91 - [Oktober 1948], an K: Brief. Datierung aus dem Inhalt erschlossen. c/o Dr Drury: Wittgenstein lebte von Dezember 1947 bis Sommer 1949 größtenteils in Irland: auf Drurys Vermittlung zuerst bei der Familie Kingston in Red Cross, Wicklow, und von Mai bis August in Rosro Cottage, Renvyle, an der Westküste. Den Winter 1948/49 verbrachte er in Ross’s Hotel in Dublin, das bis Mitte Juni 1949 seine Postadresse blieb; im Juli 1949 reiste er auf drei Monate zu Norman Malcolm in die USA. Deinen lieben Brief: nicht überliefert. in Cambridge: während dieser zwei Wochen überarbeitete er die von November 1947 bis August 1948 abgefaßten MSS 135-137 und diktierte davon ausgehend am Typoskript 232 weiter, das die Unterlage des 2. Bandes der Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie bildet. (Werkausgabe 7; vgl. dort Vorbemerkung, 219) mit der Arbeit nicht schlecht: vom 22.10.1948 bis 22.3.1949 schrieb Wittgenstein an der zweiten Hälfte des MS 137 und am MS 138. (Vgl. Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie, Werkausgabe 7) 92 - 2.2.49, an K: Brief. Bernscherer: richtig: Bärenscherer, Pfarrer in Puchberg. der Architekt: nicht ermittelt. Bagatellen: zwei Sammlungen von 7 bzw. 6 Klavierstücken, op. 33 (1803) bzw. op. 126 (1823/24), von Ludwig van Beethoven. Photographie der Karlskirche: nicht ermittelt. 93 - 8.2.49, an K: Brief. Minings Befinden: Hermine Wittgenstein war an Krebs erkrankt. Sie stirbt am 10.2.1950. (Vgl. auch die Briefe Ludwig Wittgensteins an Helene Salzer, Familienbriefe, 196-201) Hänsel: im überlieferten Hänsel-Briefwechsel gibt es vom 10.10.1947 (dem letzten greifbaren Brief von Ludwig Hänsel an Wittgenstein) bis 11.4.1950 (dem ersten greifbaren Nachkriegsbrief von Wittgenstein an Hänsel) einen Leerraum; von der Korrespondenz 1950/51 sind nur mehr Briefe Wittgensteins an Hänsel überliefert. 94 - 17.2.49, an K: Brief. 95 - 22.2.49, an K: Brief. Denekes: Zwei musikalisch engagierte Schwestern, die sich insbesondere für das musikalische Leben in Oxford einsetzten. Vgl. zum musikalischen Bekanntschaftskreis der aus Deutschland stammenden Denekes in London und Oxford (Mendelssohn, Schumann, Brahms, Joseph Joachim und Marie Soldat) sowie zur Entstehung der Deneke-Mendelssohn-Collection in Oxford den Beitrag von Margaret Crum: The Deneke Mendelssohn Collection. In: The Bodleian Library Record. April 1987, 298-320. Margaret Deneke wird hier kurz charakterisiert: "She shared her mother’s enthusiasm and reverence for musical gifts, and shared also in setting the greatest value on any contact that could be achieved with past and present musicians. She cultivated her own talent with immense energy, not
hampered either by false modesty or, having grown up in the presence of what she recognized as real eminence, by any delusion as to it quality." (Ebd., 301) Für die Times (14.3.1961) verfaßte Deneke den Nachruf Mr. Paul Wittgenstein, Devotion to Music. Sie starb, hoch achtzigjährig, am 4. März 1969. 96 - 24.2.49, an K: Brief. Brief an Helene: vom 14.2.1949, vgl. Familienbriefe, 196: "Vor ca 2 Tagen hatte ich einen Brief von Gretl vom 8. und darin schrieb sie, sie habe mit Tommy gesprochen und erfahren, Mining sei ‘teilweise gelähmt und nicht ganz bei sich und erkennt niemand’ (das sind ihre Worte)." 97 - 25.2.49, an K: Brief. 98 - 2.3.49, an K: Brief. Prof. Kauders: Otto Kauders, Arzt an der Psychiatrischen Klinik. (Vgl. Familienbriefe, 171) D r Straßer: praktischer Arzt in Wien. Konzert: zwei März-Konzerte im Musikverein waren Franz Schmidt gewidmet: am 13.3.1949 spielte Paul Wittgenstein, das erste Mal nach dem Krieg wieder in Wien, mit den Wiener Philharmonikern unter Karl Böhm im Großen Saal im Franz-Schmidt-Gedächtniskonzert das 1923 entstandene Erste Klavierkonzert, Konzertante Variationen über ein Thema von Beethoven, das er schon am 2.2.1924 in Wien uraufgeführt hatte. (Außerdem auf dem Programm: Präludium und Fuge D-dur mit Franz Schütz, Orgel, und die Symphonie Nr. 4, C-dur.) Am 19. März führte Wittgenstein im Brahmssaal mit dem Sedlak-Winkler-Quartett und Leopold Wlach beide Klarinettenquintette (B- und A-dur) dieses Komponisten auf. (Vgl. Liess, 1951, 82) 99 - 9.3.49, an K: Brief. einem Freund: Ben Richards, seit 1946 mit Wittgenstein befreundet. Mit ihm machte Wittgenstein im Oktober/November 1950 seine letzte Reise nach Norwegen. 100 - 28.3.49, an K: Brief. nach Wien: Wittgenstein flog am 11. April nach Wien und blieb dort bis 12. Mai. (Vgl. Briefe an Rush Rhees, [Poststempel 11.4.1949] (unveröffentlicht) und an Norman Malcolm, 17.5.1949, in Malcolm, 1984, 119.) Für die Reise zur kranken Schwester benötigte Wittgenstein offensichtlich ein ärztliches Zeugnis über Hermines Zustand. Vgl. Brief an Rhees, 16.3.1949: "My two other sisters who are with her think that my coming would only upset her. I told them, of course, that if there were the slightest chance of my eldest sister wishing to see me they should send me a medical certificate & I could be in Vienna within a week. It would be no sacrifice for me to go." Vgl. weiter den Brief an Helene Salzer vom 21.3.1949. (Familienbriefe, 197) 101 - [Mitte Mai 1949], an K: Brief. nach America: auf Einladung des Ehepaars Malcolm verbrachte Wittgenstein den Sommer 1949 in Ithaca, New York. (Vgl. Malcolm, 1984, 117f., 122) 102 - 4.6.49, an K: Brief. Davidsbündlern: Davidsbündlertänze, op. 6, von Robert Schumann, eine Sammlung von 18 kurzen Klavierstücken, dessen vorletztes Wie aus der Ferne betitelt ist. Dieses ist auch in die Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie eingegangen: "Die Weisung ‘Wie aus weiter Ferne’ bei Schumann. Muß Jeder eine solche Weisung verstehen? Jeder, z.B., der die Weisung ‘Nicht zu geschwind’ verstünde? Ist nicht die Fähigkeit, die dem Bedeutungsblinden abgehen soll, von dieser Art?" (BPP, I 250) Jeremy Siepmann schreibt über den Zyklus im CD-Beiheft der Einspielung mit Vladimir Ashkenazy (Decca, 1990): "In response to Schumann’s own observation that Chopin, in his B flat minor Sonata, had yoked together four of his maddest children, offended Chopinistes might well point a retaliatory finger at the present work, though here the number of progeny is eighteen, family relations are many and demonstrable, and their arrangement so strangely convincing that it comes as a shock to learn that they were originally split up and published as separate books. [...] The uniquely personal character of the music, the quicksilver changes of mood, the inncoent ardour of the curious verbal commentaries appended to some of the dances in the first edition, and the unprecedented, almost anarchic, approach to tonality and rhythm seemed at the time original to the point of madness (though the years of the composer’s clinical insanity were still a long way off)." 7te von Bruckner: Wittgenstein hatte sie vermutlich am 11. Mai, dem Abend vor seiner Abreise von Wien, im Großen Musikvereinssaal gehört. Die Wiener Symphoniker hatten unter Eugen Jochum vor dieser Symphonie das Klavierkonzert Nr. 5, Es-dur, op. 73, von Beethoven gespielt, Solist: Wilhelm Backhaus. 103 - 11.6.49, an K:
Brief. nach Cambridge: dort wohnte er bei der Familie von Wright. nach Ickenham: zu Ben Richards. dritte vierhändige Klaviersonate: aufgrund überarbeiteter Köchel-Numerierungen (die vierhändige Sonate C-dur, KV 19d, aus dem Jahr 1765 war erst in diesen Jahren ins Verzeichnis der Werke von Mozart aufgenommen worden) unklar; wahrscheinlich meint Wittgenstein KV 381, D-dur (1772), die in der Ausgabe der Original-Kompositionen für Klavier zu vier Händen (Hrsg. v. Leopold Josef Beer, Wien: Universal-Edition) als 3. Sonate geführt wurde. 104 - 24.7.49, an K: Brief. Gramophonplatten: vgl. Briefe an Helene Salzer vom 3. und 17.7.1949. (Familienbriefe, 198f.) 105 - 6.8.49, an K: Brief. 106 - 23.8.49, an K: Brief. hier gründlich untersuchen: an Rush Rhees schreibt Wittgenstein am 31.8.1949 (unveröffentlicht): "The trouble is, I’m a total stranger here & have no way of finding out what doctor & dentist can be trusted. So although I’m in bad shape, I may have to leave the whole thing until I come to England at the end of October." Helene bittet er am 22.8.1949 um das Geld für die ihr gesandten Grammophonplatten: "Ich brauche es ziemlich dringend. Die Leute, bei denen ich lebe, sind zwar sehr gut und freundlich, aber ich will mir doch von ihnen nicht Doktorrechnungen zahlen lassen." (Familienbriefe, 199f.) Malcolm erzählt: "His doctor arranged for him to spend two days in the hospital to obtain a complete physical examination. On the day before he went to the hospital he was not only ill, but also frightened. He had told me previously that his father died of cancer and, in addition, his favourite sister was gradually dying of the same disease, despite several operations. Wittgensteins’s fear was not that he would be found to have cancer (he was quite prepared for that) but that he might be kept at the hospital for surgery. His fear of surgery came near to panic. It was not the operation itself he dreaded, but to become a useless and bed-ridden invalid whose death had only been deferred for a little. He was also very afraid that the doctors might prevent him from making the return passage to England in October, which was already booked. ‘I don’t want to die in America. I am a European - I want to die in Europe’, he murmured to me in a frenzy. And he exclaimed: ‘What a fool I was to come.’" (Malcolm, 1984, 76f.) Die letzten beiden Wochen vor der Rückreise erholte Wittgenstein sich deutlich, die Diagnose auf Krebs wurde erst in England gestellt. 107 - 22.9.49, an K: Brief. ein Kind: Thomas Koder, der inzwischen drei Monate alt ist. 108 - 1.10.49, an K: Brief. einen sehr guten Arzt: vermutlich gemeint ist Dr. Louise Mooney, die Wittgenstein in seinen Briefen an Malcolm öfter grüßen ließ. (Vgl. Malcolm, 1984, 51, 124f. u.ö.) 109 - 12.11.49, an K: Brief. Cambridge: Wittgenstein wohnte unmittelbar nach der Ankunft in England für zwei Wochen bei Mrs. Jean Rhees, der Ehefrau von Rush Rhees, in London, danach bei der Familie von Wright in Cambridge. Als Arzt zog er Dr. Edward Bevan heran, den ihm Drury geraten hatte. (Monk, 1992, 591f.) Dieser stellte am 25.11. die Diagnose auf Prostatakrebs. 110 - 25.11.49, an K: Brief. nach Wien: Wittgenstein plante, am 23.12. abzureisen, doch kam der Flug ab London, aufgrund widriger Witterungsverhältnisse, erst mit 24 Stunden Verspätung, also an Heiligabend, zustande. (Vgl. Brief an Rush Rhees (unveröffentlicht) vom 3.1.1950.) Er blieb bis 23. März 1950. (Brief an Malcolm, 5.4.1950; Malcolm, 1984, 126f.) der Helene: vgl. den stellenweise im Wortlaut gleichen Brief, datiert auf 28.11.1949. Die Datierung scheint Wittgenstein irgendwie durcheinander geraten zu sein. (Familienbriefe, 200f.) 111 - 22.4.50, an K: Brief. niedergelassen: nach seiner Rückkehr wohnte Wittgenstein zunächst eine Woche bei Jean Rhees in London, seit 4. April bei der Familie von Wright, am 25. April zog er nach Oxford ins Haus von Elizabeth Anscombe in der St. John Street. Miss Anscombe: Gertrude Elizabeth Margaret Anscombe, geb. 1919. Philosophieprofessorin, Übersetzerin und Mitherausgeberin von Wittgensteins posthumen Schriften. Sie hatte seit 1942 Wittgensteins Vorlesungen in
Cambridge besucht und war in seinen letzten Lebensjahren mit ihm befreundet. Im Frühjahr 1950 hielt Anscombe sich in Wien auf, "um ihr Deutsch zu vervollkommnen, weil sie das Werk Wittgensteins übersetzen wollte". Sie wohnte bei der Familie Hänsel. (Monk, 1992, 595; vgl. auch von Wright, 1983, 63) arbeiten: in Wien hatte er einige Bemerkungen über Farben geschrieben (vgl. Monk, 1992, 593ff.) und mit Aufzeichnungen begonnen, die dann als Über Gewißheit veröffentlicht wurden. In Cambridge und in Oxford setzte er die Arbeit an diesen beiden Sammlungen fort. (Werkausgabe 8) van Beynum: Eduard van Beinum: geb. 3.9.1900, Arnhem; gest. 13.4.1959, Amsterdam. Seit 1945 Chefdirigent des Amsterdamer Royal Concertgebouw Orchesters, daneben 1949/50 Chef des London Philharmonic Orchestra, 1956-59 des Los Angeles Philharmonic Orchestra. Uwe Kraemer schreibt im CD-Beiheft zur Neuauflage einer Einspielung der Achten (c-moll) von Bruckner mit dem Concertgebouw Orchester aus dem Jahr 1955 (Philips, The Early Years): "Fern jeder kapellmeisterlichen Selbstherrlichkeit wurde er [van Beinum] zum musikalischen Gegenpol [Willem] Mengelbergs, wollte mit dem Orchester ‘zusammen Musik machen’ und gewann binnen kurzem durch seine präzisen Interpretationen der Klassik und Romantik, die er vom Mengelbergschen Schwelgen in romantischem Überschwang befreite und ‘entschlackte’, die Anerkennung der Musikwelt. Ausgehend von einer unvergleichlich aufeinander eingespielten Streichergruppe mit einer relativ großen Bratschengruppe formte er mit einem Orchester einen ungewöhnlich sonoren, individuellen ‘Ton’, in dem die Wendigkeit des Blechs und der schlanke Ton der französischen Holzbläserschule sich zu einem Gesamtklang zusammenfanden, den Kritiker mit der Vokabel ‘altgold’ zu umschreiben suchten." unser Zusammensein: über das Musizieren von Koder während dieser Zeit finden wir einige Äußerungen Wittgensteins in Briefen an seine englischen Freunde. An Rush Rhees schreibt er am 3.1.1950 über das Befinden von Hermine und führt aus: "When she isn’t too sleepy she loves to hear my friend Koder play the piano & she listens with great intensity. He sometimes plays heavenly & always beautifully." (Unveröffentlicht) Am 19.1.1950 an von Wright: "I haven’t been to a concert so far but I hear a fair amount of music. A friend of mine plays the piano to me (very beautifully) and one of my sisters [d.i. Helene] and he play piano duets. The other day they played two string quartets by Schumann and a sonata written for 4 hands by Mozart." (Von Wright, 1983, 61) 112 - 22.5.50, an K: Brief. Cambridger Arzt: Dr. Edward Bevan. "Hohen Messe": h-moll, BWV 232. 113 - 16.6.50, an K: Brief. Sommernachtstraums: von William Shakespeare, zu dem Wittgenstein in dieser Zeit einige Gedanken notierte. (Vgl. VB, 569-570) 114 - 13.7.50, an K: Brief. C-dur Symphonie: Nr. 9 ("Die Große"), D 944. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Herbert von Karajan (1908-1989) wegen seines Naheverhältnisses zum Nationalsozialismus eine zeitlang Aufführungsverbot. Studioaufnahmen waren davon nicht eindeutig betroffen, und so entstand im September 1946 für Columbia seine erste Einspielung der C-dur Symphonie. Cousine Lydia: Lydia Oser, Tochter von Karl Wittgensteins Schwester Josefine. Sie lebte in Thumersbach, Koder war nach dem Krieg in den Sommerferien häufig bei ihr zu Gast. 115 - 26.8.50, an K: Brief. nach Norwegen: "Wittgenstein plante, den Sommer gemeinsam mit Ben [Richards], der gerade am Londoner Bart’s College das letzte Jahr seines Medizinstudiums absolvierte, in Norwegen zu verbringen. Im Juli fiel Ben jedoch durchs Abschlußexamen und mußte deshalb den Sommer in London verbringen, um für die ‘Nachprüfung’ im September zu lernen. Sie verschoben also ihren gemeinsamen Urlaub auf den Herbst, und Wittgenstein blieb den Sommer über in Oxford, wo er weiter an seinen Bemerkungen über die Farben schrieb." (Monk, 1992, 601) Der Aufenthalt in Norwegen, zuerst in Wittgensteins Hütte am Sogne-Fjord, dann - v.a. wegen Richards zweimaliger Bronchitiserkrankung - bei der befreundeten Anna Rebni, dauerte fünf Wochen, von Mitte Oktober bis Mitte November. (Vgl. Karte an Dr. Edward Bevan, 12.11.[1950], in Nedo, 1983, 339, und Brief an Malcolm, 1.12.1950, in Malcolm, 1984, 129f.) Schubert Oktett: F-dur, D 803. [. . .] : Auf dem Original ist am Rand aufwärts ein Satz geschrieben, doch ist das Papier hier abgeschnitten, der Satz unlesbar. 116 - 22.9.50, an K: Brief.
117 - 1.12.50, an K: Brief. dorthin zurückkehren: Wittgenstein hatte in Norwegen den Entschluß gefaßt, wieder in dieser Gegend leben und arbeiten zu wollen, doch dazu kam es nicht mehr. (Vgl. Monk, 1992, 607f.) Haydn Quartett: der genaue Bezug ist nicht feststellbar. Vgl. die Äußerung des Haydn-Biographen C. F. Pohl über die Hinwendung zur Fugentechnik für die Quartett-Schlußsätze ab opus 20: "Irgend ein Umstand mag Haydn veranlaßt haben, einmal auch in seinen Quartetten die Fuge besonders zu bevorzugen. Vielleicht wollte er damit dem schon damals ihm gemachten Vorwurf entgegen treten, daß er zuviel ‘tändle’ und daß er damit ‘die Kunst herabwürdige’." (C. F. Pohl: Joseph Haydn. Band 2. Leipzig: Breitkopf & Härtel 1928, 292. Ich übernehme im folgenden nicht die Numerierung von Pohl, sondern die laut Hoboken.) In den "Sonnenquartetten" (Hob. III: 31-36; op. 20) griff er also "frischweg zum feierlichen Contrapunkt, verwendete ihn aber auch gleich im Finale dreier Nummern in verschiedener Gestalt": in Nr. 35 mit zwei, in Nr. 36 mit drei, in Nr. 32 gar mit vier Subjekten. (Ebd.) Hervorgehoben wird von Pohl außerdem das Quartett Hob. III: 47, die Nr. 4 (fis-moll) aus der Sechsergruppe op. 50 ("Die Preußischen"), entstanden kurze Zeit nachdem Haydn die Quartette von Mozart kennengelernt hatte, "die dieser ihm dann decidirte". (Ebd., 296) Das Andante von Nr. 47 "[spiegelt] in seinem Dur- und Moll-Wechsel ein Bild wechselnder Stimmung, von Klage und frommer Ergebung [wider], von denen eine die andere zu bekämpfen sucht. Auch dem Menuett und Trio ist der heitere Himmel abhanden gekommen; der Ausdruck ist unerbittlich streng. Dies gilt noch mehr vom letzten Satz, der sich zur ernsten Fuge flüchtet, dessen Thema in wenigen Noten unsagbare Klage ausspricht und von dem die Anfangsnoten bei jedem neuen Eintritt wahrhaft einschneidend eingreifen. Kurz vor dem Schlusse wiederholen je zwei Stimmen noch ergreifender die wehmuthsvolle Klage, steigert sich der Schmerz, bis endlich Stimme um Stimme zum letztenmale ermattet ihr Leid austönt. Wo bist du hingerathen, guter, kinderseliger Haydn!" (Ebd., 296) 118 - 2.1.51, an K: Brief. nicht zustande gekommen: am gleichen Tag schreibt er dem Ehepaar Malcolm: "I booked a passage on a steamer Newcastle-Bergen on Dec. 30th. Shortly before Christmas I heard that my friend [die Rebnis] could not put me up after all & at the same time I fell ill & so couldn’t have gone anyway." (Malcolm, 1984, 130) 119 - [vor dem 19.2.1951], an K: Brief. Datierung von Koder auf "1951 Febr.", aber noch vor der Übersiedlung zu Dr. Bevan nach Cambridge in der ersten Februarwoche geschrieben. 120 - 19.2.51, an K: Brief. nichts mehr gearbeitet: was sich nach Beendigung der Hormonbehandlung und der Bestrahlung Ende Februar ändern wird: ab März 1951 schreibt er den größten Teil der Bemerkungen von Über Gewißheit und den ersten Teil der Bemerkungen über Farben. (Werkausgabe 8) 121 - 6.3.51, an K: Brief. H. Lichtenegger: Direktor der Wittgensteinschen Gutsverwaltung. Labor Zeichnung: vgl. Nedo, 1983, 345. Die Zeichnung ist heute im Besitz einer Tochter von Clara Sjögren. 122 - 30.3.51, an K: Brief.
Josef Labor und die Musik in der Wittgenstein-Familie Josef Labor wurde am 29.6.1842 in Horowitz/Böhmen geboren. Er war, nach seinen Schwestern Therese und Josefine, das jüngste Kind aus der Ehe von Josefa Wallner (1812–1889) mit Joseph Labor sen. (1790–?). Infolge einer Blatternerkrankung im dritten oder vierten Lebensjahr erblindet, fand er, nachdem die Mutter ihren Mann verlassen hatte und, vermutlich 1848, mit den Kindern nach Wien gezogen war, am dortigen k.k. Blindenerziehungsinstitut Aufnahme. Er blieb hier bis 1858. Musikalisch war schon der Vater, Verwalter der Eisenwerke des Grafen Wrbna in Horowitz, gewesen: er hatte eine Messe (d-moll) komponiert und war in den Kreis um Franz Schubert eingeführt worden. Das Musizieren im Elternhaus hatte Josef jun. schon in frühester Kindheit zum Geigen- und Klavierspiel gebracht. In letzterem wurde er nun an der Erziehungsanstalt, vom sonst obligaten Stricken und Korbflechten befreit, weiter unterrichtet. Seit 1857 lernte er auch am Wiener Konservatorium bei Eduard Pirkhert Klavierspiel und bei Simon Sechter (dem Lehrer Anton Bruckners) Harmonielehre und Kontrapunkt. "Labor erwähnte einmal, daß auf seine Blindheit gar keine Rücksicht genommen ward [...]. Was die anderen aus den Noten lasen, mußte er eben auswendig können", schreibt Alfred Schnerich in einem Artikel für Bühne, Welt und Mode (Illustrierte Wochenbeilage der Wiener Neuesten Nachrichten) vom 6.5.1928. (Zit. nach
Kundi, 1962, 7) Außerdem hörte er bald an der Universität Vorlesungen über die Geschichte der Musik von Eduard Hanslick, der sich dort – als erster in diesem Fach an einer österreichischen Universität – 1856 für Musikästhetik und Musikgeschichte habilitiert hatte und 1861 zum außerordentlichen Professor ernannt wurde. Schon der Beginn von Labors Pianistenlaufbahn mit den ersten Konzerten im Musikvereinssaal (Tuchlauben) 1863 war von wohlmeinender Kritik begleitet; Hanslick etwa schrieb am 22.4.1863 in der Presse: "Bewunderungswürdig ist die Sicherheit, mit welcher Labor ohne die Hilfe des Blicks die Claviatur beherrscht, selbst in raschesten Zeitmaßen, in schwierigen Passagen und Sprüngen. Allein das eigentliche Bravourspiel liegt ihm doch nach Neigung und Beruf etwas seitab; Labor’s musikalische Individualität äußert sich am schönsten und eigenthümlichsten im Vortrag langsamer Stücke von zartem, insbesondere klagendem Ausdrucke. Dergleichen spielt unser junger Blinder mit einer fast sensitiven Innigkeit. Sein weicher, schöner Anschlag läßt ein ungleich feineres Tastgefühl, sein träumerisch-gefühlvoller Vortrag ein tieferes Gemüthsleben vermuthen, das, von der Außenwelt abgeschlossen, um so heller und liebevoller nach innen blickt." (Zit. ebd., 30) Der Tenor der Rezensenten ist hier getroffen: neben der mit der Blindheit des Spielers mehr oder weniger deutlich in Zusammenhang gebrachten spieltechnischen Leistung wird als charakteristisch an Labors Spiel die "tiefe Empfindung" (Fremdenblatt, 22.3.1863; ebd., 29), "eine eigenthümliche wehmütige Sinnigkeit" (Wanderer, 27.3.1863; ebd.) hervorgehoben, die Meisterschaft, "dem Klavier einen gesangähnlichen, vollklingend abgerundeten Ton zu entlocken, wodurch er diesem Instrument, auf welchem sonst die Vorträge selbst bedeutender Künstler leicht den Stempel einer allgemein gleichförmigen Kunstfertigkeit tragen, gewissermaßen einen individuellen Seelenausdruck zu geben versteht." (Deutsche Nordsee-Zeitung, 10.12.1864; ebd., 33) Die Betonung des Gefühlvollen hält sich auch in der Beurteilung Labors als Organist, als der er ab 1879 Bedeutung errang. Theodor Helm schrieb anläßlich des ersten Orgel-Konzerts im Großen Musikvereinssaal sogar von "Herrn Labor’s zart besaitetem, fast weiblich empfindsamem Künstlergemüthe" (zit. ebd., 38), dem die Klangfülle und -pracht, wie die Orgel sie hervorbringen könne, vielleicht nicht allzusehr entgegenkomme. Doch Labor fand seinen Stil einer "klassischen, von aller Effekthascherei freien, unvergleichlichen Registrierung" (Musikpädagogische Zeitschrift, Juli 1912; zit. ebd., 41), die Erich Indrasé, einer seiner Schüler, als "spärlich, einheitlich, monumental" bezeichnete. "Labor sei dagegen gewesen, daß die Orgel zum Orchestrion wird." (Ebd.) Daß sein Ruf als Organist bald schon dem Anton Bruckners gleichgestellt, nach dessen Tod gar übergeordnet wurde – obwohl, Detail am Rande, Vergleichbarkeit nur sehr eingeschränkt gegeben war, zumal Bruckner v.a. in der Improvisation bestach und darin auch seine Verwirklichung auf der Orgel sah, von Labor dagegen "fast keine" Improvisationen bekannt sind (ebd., 40) –, die zeitgenössische Höchstschätzung also wird in historischer Betrachtung von Kundi zurechtgerückt: "Wien hatte längere Zeit hindurch kein Orgelkonzert zu verzeichnen gehabt, nur einzelne Orgelstücke und Orgelbegleitungen in untergeordneter Rolle in anderen Konzerten. Labor gab mit seinem ersten Orgelkonzert am 2. Jänner 1879 in Wien zugleich das erste Orgelkonzert hier nach dieser Periode. Es leitete eine Blütezeit des Orgelspiels in Wien ein, an der ihr Initiator selbst rege beteiligt war. Außerdem war Labor auch der erste Wiener Orgelmeister, der sich überhaupt und konsequent der vorbachschen Orgelmusik annahm. Er verhalf damit nicht nur dieser Musik zu einer Renaissance, sondern war zugleich Wegweiser für Zeitgenossen und Nachfahren." (Ebd., 41) Johann Sebastian Bach war sowohl auf dem Klavier wie auch auf der Orgel ein von Labor bevorzugter Komponist; aus der Klavierliteratur interpretierte er in seinen Konzerten außerdem viel Beethoven und Mozart, auch Chopin, den er "Friedrich der Einzige" nannte (ebd., 37); das Orgeltriumvirat war ihm Bach, Buxtehude und Mendelssohn (ebd., 38), doch reichte sein Repertoire hier bis in die jüngste Zeit. Der Bogen zur Familie Wittgenstein, in der er größte Achtung besaß, wird wohl über seine Bekanntschaft mit dem Violinisten Joseph Joachim und, über diesen, mit Johannes Brahms zu schlagen sein. Joachim (1831, Kittsee/Köpcsény – 1907, Berlin) war mütterlicherseits ein Cousin von Fanny Figdor (1813–1890), die 1839 Hermann Christian Wittgenstein (1802–1878) heiratete und nach Leipzig zog. Kurz zuvor veranlaßte sie, daß Joachim im Sommer 1839 von Pest nach Wien kam, wo er im großväterlichen Haus Figdor untergebracht wurde und sein Geigenstudium aufnehmen konnte. Zunächst bei Georg Hellmesberger sen. (1800–1873), der mit seinen Söhnen Joseph (1829–1893), Georg jun. (1830–1852) und Simon bereits ein Geigentrio unterrichtete; nun erweiterte sich dieser Kreis mit Joachim zum "Wunderkinderquartett". (Moser, 1910, Bd. 1, 24) Bereits 1840 wechselte der Neunjährige in die Schule von Joseph Böhm (1795–1876), wo er bis 1843 blieb. Erneut wirkte Cousine Figdor entscheidend auf den Lebensweg von Joachim, denn sie veranlaßte, daß er nicht gemäß dem Wunsch von Böhm nach Paris, der Hauptstadt des Virtuosentums, ging, sondern nach Leipzig auf das von Felix Mendelssohn-Bartholdy eben erst gegründete Konservatorium kam. (Vgl. ebd., 39–73; Flindell, 1969, 299–301) Das sich entwickelnde Geigenspiel von Joachim, für dessen weitere Biographie auf das Lebensbild von Andreas Moser (2 Bände, Berlin: Verlag der Brahmsgesellschaft 1910) verwiesen sei, mußte im damaligen Musikbetrieb, der in der Erinnerung an Niccolò Paganini (1782–1840) schwelgte und teilweise einer wahren "Virtuosenhysterie" (Hellsberg, 1992, 50; vgl. auch das Kapitel über das Virtuosentum bei Riemann, 1901, 235–238) verfallen schien, Aufmerksamkeit anderer Art erregen: "schlichte Vornehmheit und geschlossene Einheitlichkeit" schreibt Moser (Bd. 2, 343) ihm zu, keine Anbiederung an den Publikumsgeschmack durch Auffädelung von abwechselnd "ernsten" mit
"ansprechenden" Stücken. (Liszt sollte später als der Schlußpunkt des dieserart verstandenen Virtuosentums gelten.) Die Kritiken hatten über Jahrzehnte hinweg ähnlichen Tenor. Bei Michael Musgrave (1990, 325f.) finden wir zwei englische Rezeptionszeugen aus der späten Zeit zitiert. Zum einen Donald Francis Toveys Charakterisierung aus der Musical Gazette (Nr. 3, Juli 1900, 34): "there is an enormous amount of accent in Dr Joachim’s playing, but we are not too much aware of it, because, as with the length of the smalles notes, so with the least accentuated notes, full measure is given". Dann John Alexander Fuller Maitlands Beobachtung (aus dem Porträt Joseph Joachim, London 1905, 24): "the moulding of his phrases, as it may be called, is inimitable, for it consists of slight modifications of the strict metronomic value of the notes, together with slight variations of power such as no marks of expression could convey [...] it is perhaps this subjection to the real laws of rhythm which makes Joachim an extraordinarily easy player to accompany; one seems to know what he is going to do before he does it, and the notes of his phrases seem to follow a natural curve which, once starte, must pursue an inevitable course." Rund 40 Jahre vorher, anläßlich seines Wiener Konzertdebüts 1861, hatte Hanslick ihn "einen durch die glänzendste Virtuosität hindurchgegangenen vollendeten Musiker" genannt. "Sein Spiel ist groß, edel, frei." (Hanslick, 1897, 263) "Joachim's unbeugsamer, römischer Ernst" nehme sich im Vergleich zu Joseph Hellmesbergers Spiel aus wie Mann zu Weib. (Ebd., 267. – Diese zeittypische und noch lange gängige Vergleichsweise finden wir bei Wittgenstein 1938 auf die "zwei Anfänge" einer Brucknerschen Symphonie angewandt: "den Anfang des ersten und den Anfang des zweiten Gedankens. Diese beiden Gedanken verhalten sich nicht wie Blutsverwandte zu einander, sondern wie Mann und Weib." (VB, 497)) Auf zahlreichen Konzertreisen wurde Joachim gefeiert, das Violinkonzert von Beethoven wurde bald das "seine". Bei einer Aufführung dieses Konzerts am 11.3.1848 in Hamburg hörte ihn Johannes Brahms das erste Mal. (Moser, 1910, Bd. 2, 344, Fn 1) Persönlich bekannt machte die beiden, die einander Lebensfreunde wurden, der ungarische Violinist und ehemalige Studienkollege von Joachim am Wiener Konservatorium Eduard Reményi (1830–1898), der mit dem (außerhalb von Hamburg) noch gänzlich unbekannten Brahms im Frühjahr 1853 dessen erste Konzertreise absolvierte, die auch nach Hannover führte. Die musikalischen Ansichten von Joachim, der auch Komponist war, und Brahms, der auch Interpret war, werden einander geglichen haben: der Briefwechsel der beiden zeugt von intensivem musikalischen Gedankenaustausch über Kompositionen und Interpretation. Im Herbst 1853 machte Joachim Brahms mit Robert und Clara Schumann bekannt, der Kreis weitete sich, doch blieb er innig, gefühlsbetont. Der zwanzigjährige Brahms nannte sich zu dieser Zeit selbst, in bis zu Identifikation gehender Anlehnung an E.T.A. Hoffmanns Figur des Kapellmeisters in den Kreisleriana, den "jungen Kreisler". (Vgl. dazu ausführlich Floros, 1980) Die deutsche Romantik trat ihm nun sozusagen in persona gegenüber. Schumann veranlaßte die Drucklegung der ersten Werke von Brahms: "Die Sonate op. 1 widmet er dem Freunde Joachim, die Sonate op. 2 der hochverehrten Clara Schumann – für eine Widmung an Robert Schumann selbst findet Brahms keines seiner Werke gut genug – , die Lieder op. 3 aber werden Bettina v. Arnim zugeeignet. Diese bedeutende Frau hatte Brahms bei Schumann persönlich kennengelernt". Sie "verkörpert [...] für den ‘jungen Kreisler’ gleichsam die Muse der Romantik." (Geiringer, 1935, 36) Auch Brahms’ 1854 vollendetes opus 9, die Schumann-Variationen, zeugt in der Wahl des Themas und der Widmungsträgerin Clara Schumann von der Verwobenheit mit dem romantischen Zirkel. Welche Entwicklung bzw. Wandlung dieses in der Opusreihe grundlegende "Bekenntnis zur Romantik" (ebd.) in Brahms’ Werk genommen hat, braucht hier nicht ausgeführt zu werden. (Vgl. dazu Fellinger, 1965) – Neben den zahlreichen Einzelgastspielen fanden sich Joachim und Brahms (und Clara Schumann) in den folgenden Jahren häufig zu gemeinsamen Auftritten. Joachim vermittelte Brahms 1854 auch als Klavierlehrer: Aus Düsseldorf, wo er im Hause Schumann wohnte, schrieb er Ende Jänner 1855 an Joachim: "Ich gebe nämlich Stunden, einer kleinen Miß und Frl. Wittgenstein (Ah, AAAhhh!) Cramersche Etüden, Tonleitern usw." (Brahms-Briefwechsel V, 86f.) Anna (1840–1896), die älteste Tochter von Fanny und Hermann Christian, machte Fortschritte, doch ihre Begabung hatte Grenzen. (Vgl. Flindell, 1969, 305f.) Brahms verkehrte später öfters in ihrer Familie (sie heiratet den Landesgerichtsrat Emil Franz) wie auch in den Familien ihrer Schwestern Josefine Oser (1844–1933) und Bertha Kupelwieser (1848–1908) in Pörtschach am Wörthersee, der Sommerfrische für Brahms 1877–79. (Vgl. dazu Flindell, 1969, und die dortigen Hinweise auf die entsprechenden Stellen in der umfassenden Brahms-Biographie von Max Kalbeck und auf Hermine Wittgensteins Familienerinnerungen.) – Joachim heiratete im Juni 1863 in Hannover, wo er als Konzertmeister des Hoforchesters in Diensten des blinden Königs Georg V. stand, die Sopranistin Amalie Weiß, die das Opernfach verließ und ihn nun als Konzertsängerin auf seinen Reisen begleitete. Als es im Sommer 1865 nach London ging, war auch Josef Labor als Pianist dabei. Dieser hatte im Herbst 1863 als Folge seiner ersten Auftritte in Wien vom Kaiser ein dreijähriges Stipendium von jährlich 400 fl. "zu seiner weiteren Ausbildung auf Kunstreisen" erhalten (zit. bei Kundi, 1962, 9) und war im Frühjahr 1864, in Begleitung seiner Mutter, über Prag, Dresden und Leipzig, wo er von Ignaz Moscheles "in die ersten musikalischen Kreise" eingeführt wurde (ebd., 9), schließlich nach Hannover gekommen. Hier spielte der junge Pianist u.a. Beethovens c-moll Konzert unter der Leitung von Joachim. Diesem ersten gemeinsamen Musizieren folgten im Jahr darauf – der König hatte Labor am Hof verpflichtet und ernannte ihn 1865 zum Kammerpianisten – weitere Konzerte in Hannover und eben London. Die Beziehung der beiden Musiker zum Königshaus blieb auch aufrecht, nachdem Hannover im
Sommer 1866 infolge einer kriegerischen Auseinandersetzung von Preußen in Besitz genommen wurde und Georg V. mit Hofstaat nach Wien und später nach Gmunden zog. Nach dem (dienstlichen) Abschied von Hannover und der erwähnten Konzertreise nach England wurde Labor 1866 in Wien ansässig. Die Sommer verbrachte er häufig in Gmunden zu Gast bei Cumberlands. (Noch im Sommer 1916 kam er ihrer Aufforderung zur Orgeleinweihung in der Schloßkapelle nach. Vgl. Leopoldine an Ludwig Wittgenstein, 7.7.1916) Hier wirkte er ab 1871 regelmäßig in Vereinskonzerten der Gmundner Gesellschaft der Musikfreunde mit, als deren Ehrenmitglied er schon 1872 aufscheint. (Ebd., 12f.) Hier auch trat er im November 1874 anläßlich der Orgeleinweihung der Kapuzinerkirche erstmals öffentlich als Organist auf; er hatte bei dem in Gmunden tätigen Johann Evangelist Habert (1833–1896) sein Orgelstudium aufgenommen. Eigene Orgelkonzerte gab er ab 1879 wiederholt u.a. in den evangelischen Kirchen Gmunden und Wien/Dorotheergasse, im Großen und Kleinen Musikvereinssaal in Wien und im Grazer Stephaniensaal. Sehr intensiv wurde ab 1871 sein Mitwirken an Konzerten der Wiener Singakademie, die 1858 gegründet worden war und deren Leitung 1863/64 Brahms innegehabt hatte: eine Dirigent wie Publikum wenig beglückende Saison, zumal die Brahmssche Programmwahl vorwiegend ins 17. Jahrhundert zurückführte und von dort "Stücke düstersten Charakters" hervorholte, was schlecht ankam. "Wenn Brahms recht übermütig ist, läßt er singen: Das Grab ist meine Freude." So soll die Rede gegangen sein. (Geiringer, 1935, 72) Brahms und Labor: die Vorliebe für die alten Meister haben sie gemein. Auch in seiner Amtszeit als künstlerischer Direktor der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde (1872–75) widmete Brahms zwei Drittel der insgesamt 18 von ihm geleiteten Konzerte der älteren Musik: Bach, Händel, a cappella-Stücke aus dem 17. Jahrhundert. "Modernisierungen der Instrumentation, wie sie im 19. Jahrhundert nicht selten waren, geht er grundsätzlich aus dem Weg. Sein historisches Empfinden läßt ihn sogar an altertümlichen Einzelheiten festhalten, wie etwa dem Gebrauch, die Solostimmen stets nur durch einen Teil des Orchesters begleiten zu lassen; und es ist für ihn nur selbstverständlich, daß er auch alle Werke der Barockzeit mit Generalbaßinstrumenten ausführt und Abänderungen in der Art etwa von Robert Franz, der die Continuostimme durch hinzu komponierte Blasinstrumente ersetzt, aus dem Wege geht." Doch: "Starre des Vortrages vermeidet er sorgfältig. Seine Dynamik ist reichlich abschattiert und schmiegsam. Sie bringt nicht nur schroffe Antithesen, sondern auch fein getönte Übergänge". (Ebd., 101f. Geiringer stützt diese Äußerungen auf von Brahms in jener Zeit eingerichtete Partituren.) Die intensive Beschäftigung mit Bach und seinen Vorgängern fand in Labors eigenen Kompositionen, die ihm ab Mitte der 70er Jahre langsam, ab der Jahrhundertwende vermehrte Aufmerksamkeit zukommen ließen, in den "zahlreich verwendeten kontrapunktischen Formen" (Fuge, Passacaglia, Ciacona, Kanon, Inventionen), v.a. im Orgelwerk, ihren Niederschlag. (Kundi, 1962, 60) Das handwerkliche Können, die Konstruktion, blieb ihm aber "vorwiegend ein unauffällig verwendetes Formungsprinzip" (ebd.), als charakteristisch galt sein erfindungsreicher Umgang mit überlieferten, auch klassischen, Bauformen: "Man kann den Componisten nicht in eine bestimmte Schule einreihen, er hat sich an allen Classikern gleichmäßig gebildet; doch zeigt sich ganz besonders ein tiefes eingehendes Studium in die Werke des Altmeisters Seb. Bach, und die Kunst des Componisten besteht eben darin, jene alten Formen so umzumodeln, daß sie dem modernen musikalischen Bewußtsein nicht wie etwas Fremdartiges erscheinen." (Rezension im Vaterland zur Uraufführung des Quintetts mit Kontrabaß, op. 3, durch das Quartett Kretschmann-Radnitzky und Prof. Simandl am 13.11.1880 im Salon Bösendorfer; zit. bei Kundi, 1962, 56; vgl. hier, 56–59, auch weitere zeitgenössische Stellungnahmen.) Die formale "Hinwendung zur Vergangenheit" bei Brahms wurde in ähnlicher Weise konstatiert: "Wohl findet sich in Brahms’ kühner Melodik, seiner oft komplizierten Harmonik, der häufig so abwechslungsreichen Polyrhythmik und in gelegentlichen Formexperimenten gar mancher in die Zukunft weisende Zug. Im ganzen aber macht der Meister von modernen Freiheiten doch weniger Gebrauch als von der Gebundenheit, die sich für ihn aus dem strengen Festhalten an Wesenszügen der Vergangenheit ergibt. [...] Jeder kleinere Komponist wäre von so gewaltigen Vorbildern wie Bach und Händel erdrückt und am selbständigen Schaffen gehindert worden. Brahms aber gelingt es, eine wirklich schöpferische Renaissance der alten Meister zu erzielen, bei der erstarrte Formen und Gesetze mit neuem Geist erfüllt werden." (Geiringer, 1935, 304f. Vgl. dazu an einem formalen Beispiel auch Urbantschitsch, 1927) Bemerkenswert vielleicht, daß in Labors erstem eigenen Orgelkonzert 1879 – zwischen Bach, Buxtehude und Mendelssohn – von den Zeitgenossen, neben den Lehrern Sechter und Habert, eine Fuge von Brahms (vermutlich jene in as-moll, WoO 8, entstanden 1857 im Zuge der mit Joachim damals betriebenen Kontrapunktstudien; vgl. Geiringer, 1935, 197) erklang. (Vgl. dazu die Kritiken in Kundi, 1962, 38ff.) – Eine kleine Episode sei hier eingefügt, die in ihrer scheinbaren Nebensächlichkeit den musikalischen Sinn Labors, seine Auffassung auch von Brahms’ Stellung in der Musikgeschichte verdeutlichen mag: Labor, "der seelenvolle Klavierspieler", sprang in einem Benefizkonzert der Wiener Singakademie am 30.3.1879 für eine erkrankte Harfistin ein. "Der Chor hatte eben Brahms’ ‘Bei nächtlicher Weil’ gesungen und die wunderzarte Schlußphrase klang dem Hörer noch im Ohr. Labor schlug sie auf dem Klavier an, führte sie, wie träumend durch zwei Takte fort, brach ab – und wie organisch daran gefügt, sang der Leitakkord unter seinen Fingern hervor, mit dem Beethoven’s D-moll-Sonate (Op. 31, Nr. 2) beginnt." (Zeitungsbericht zit. bei Kundi, 1962, 37) – Brahms stand bei Labor oft und gerne auf dem Programm. (Ebd., 42) Wieder in einem Konzert der Wiener Singakademie, als deren Ehrenmitglied er 1882 genannt wird (vgl.
zur Chronologie der Auftritte ebd., 15ff.), kam am 2.12. dieses Jahres Choralvorspiel und Fuge für Orgel über "O Traurigkeit, o Herzeleid", a-moll, WoO 7, von Brahms durch Labor zur Uraufführung. (McCorkle, 1984, 520) Das gegenseitige musikalische Verständnis geht aus einer Erzählung Ludwig Wittgensteins hervor, die Maurice Drury überliefert hat: "Bei der Uraufführung von Brahms’ vierter Symphonie [am 17.10.1885 in Meiningen] saß dieser Organist im Publikum, und nach der Aufführung sagte er zu Brahms: ‘Na, das war aber ein gewagter Kanon auf der Terzdezime, den Sie da im letzten Satz versucht haben’, und Brahms antwortete: ‘Niemand außer Ihnen hätte das gemerkt.’" (Rhees, 1992, 190f.) Für die Verbindung Labors zu Brahms kommt, neben musikalischer Seelenverwandtschaft, dem (teilweise) gemeinsamen Bekannten- und Freundeskreis einige Bedeutung zu: Die österreichischen aristokratischen und großbürgerlichen Familien, in denen Brahms verkehrte, boten in ihren Salons immer wieder das intime Forum, Kammermusik in einer ihr angemessenen Atmosphäre erklingen zu hören. Dabei muß nicht ausschließlich an dilettantische Wiedergaben gedacht werden – das Niveau der Musikalität, häufig verbunden mit spieltechnischer Fähigkeit auf einem Instrument, war, hält man sich an die Aussagen der biographischen Literatur, respektabel, der Begriff des "Dilettanten" war, in musikalischem Kontext, erst auf dem Weg zu einer in Rückgriff auf die klassizistische Kunsttheorie eindeutig pejorativen Verwendung, er umfaßte noch "wertneutral" die Menge der nicht-professionellen Ausübenden. (Vgl. Erich Reimer, 1974) Die Liebhaber waren Förderer von namhaften Künstlerinnen und Künstlern: Marie Fillunger, später mit Leopoldine Wittgenstein befreundet und häufig im Hause zu Gast (vgl. Leopoldine an Ludwig Wittgenstein, 13.5.1918, und Hermine an Ludwig Wittgenstein, 1.6.1919), brachte ab 1872 mehrere Brahms-Lieder zur Uraufführung (vgl. Hofmann, 1983, 247); 1879 lernte Brahms in Pörtschach die 16jährige Marie Soldat kennen, deren Violinspiel ihn veranlaßte, sie Joachim für seine Meisterklasse zu empfehlen (vgl. Geiringer, 1935, 118; Moser, 1910, Bd. 2, 273) – sie brachte am 19.12.1905 in einem eigenen Konzert das Violinkonzert G-dur von Labor zur Uraufführung (Kundi, 1962, 20), das Soldat-Röger Quartett, eines der bedeutenden Kammermusikensembles dieser Zeit, hielt seine Generalproben im Hause Wittgenstein ab (Flindell, 1969, 309) und wurde von Clara Wittgenstein gefördert (vgl. Walter, 1950, 215f.); Brahms spielte mit Richard Mühlfeld, dem Klarinettisten des Meininger Orchesters, am 23. September 1894 bei Anna Franz in Berchtesgaden zwei eben abgeschlossene Werke – es sollten seine letzten Kammermusikwerke bleiben –, die beiden Klarinettensonaten, op. 120, f-moll und Es-dur (McCorkle, 1984, 479), die später auch in Karl Wittgensteins Haus in der Alleegasse in privatem Kreis aufgeführt wurden (Flindell, 1969, 309); das Klarinettenquintett h-moll, op. 115, war kurz nach der Uraufführung durch das Joachim-Quartett mit Mühlfeld (Berlin, 12.12.1891) in der Alleegasse vom Rosé-Quartett mit dem Klarinettisten F. Steiner gegeben worden (ebd.), mit diesem neben dem Joachim-Quartett wohl berühmtesten Kammermusikensemble der Zeit musizierte später auch Paul Wittgenstein (vgl. Koder-Briefwechsel, Nr. 44; für weitere Belege der personalen Verwobenheit des Musikbetriebes am Beispiel der Familie Wittgenstein vgl. McGuinness, 1988; Flindell, 1969 und Sjögren, 1989.) – Auch für Labor wurden durch solche "vorteilhafte Bekanntschaften" (Kundi, 1962, 44) die Wirkungsmöglichkeiten erweitert. Anfang 1885 wirkte er, auf Einladung des Brahms-Verehrers Heinrich von Herzogenberg, als Orgelspieler in einem Kirchenkonzert des Leipziger Bachvereins in der Thomaskirche mit. (Ebd., 16) Im Sommer 1887 konzertierte Labor mit Joachim gemeinsam in der evangelischen Kirche in Gmunden, außerdem musizierten sie in privatem Kreis bei Freunden von Brahms und Joachim: Auf Wunsch von Prof. Theodor Billroth (1829–1894), dem angesehenen Chirurgen, wurde Brahms gegeben. Joachim berichtete an ihn: "Wir haben uns neulich hier einen schönen Brahms-Morgen bereitet; die beiden Sonaten und dazwischen das Violin-Konzert mit Labor und Epstein musiziert; es war nicht zu viel, sondern zu wenig!" (Gmunden, etwa 10.9.1887; in: Brahms-Briefwechsel VI, 239. Vgl. zu dieser Episode aus Labors Erinnerung auch Kundi, 1962, 17) – Labor war nicht nur als Interpret und Komponist, sondern auch als Lehrer geschätzt: Eine seiner Schülerinnen, Marie Baumayer (1851–1931), die uns auch im Koder-Briefwechsel begegnet, spielte im Sommer 1892 anläßlich der Internationalen Ausstellung für Musik und Theaterwesen in Wien unter der Leitung von Hermann Grädener u.a. Labors Konzertstück für Klavier und Orchester h-moll. (Ebd., 18) Alma Schindler, ab 1902 mit Gustav Mahler verheiratet, studierte in ihrer frühesten Jugend bei Labor Kontrapunkt. (Mahler-Werfel, 1996, 20) Nachweisbar ist seine Lehrtätigkeit für Orgel 1894 bis 1899 an der Lehranstalt für kirchliche Tonkunst des Ambrosius-Vereins in Wien, zwischen 1909 und 1914 am Neuen Wiener Konservatorium. (Kundi, 1962, 19 u. 21) Von Leopoldine Wittgenstein, selbst Schülerin Labors und bis an sein Lebensende in engstem Kontakt mit ihm (Grüße von und Nachrichten über ihn sind in beinahe jedem überlieferten Korrespondenzstück der Mutter an Ludwig Wittgenstein aus der Zeit von 1914 bis 1924 zu finden), erhielt er 1908 eine Hausorgel geschenkt, was seine Übersiedlung aus der Rosengasse in die Siebensterngasse nötig machte. (Zur Disposition der Orgel vgl. ebd., 21) Auch ihr Sohn Paul wurde (außer von Theodor Leschetitzky) von Labor unterrichtet, er debütierte, relativ spät, 26jährig in Wien. (1.12.1913 im Großen Musikvereinssaal; vgl. Flindell 1971b, 126) Durch eine Kriegsverletzung verlor er Ende August 1914 den rechten Arm. (Vgl. Leopoldine an Ludwig Wittgenstein, 7.10.1914) "Ich hatte im Winter 1913/14 meine ersten beiden Konzerte in Wien gegeben, im Sommer eingerückt, noch beim ersten Vormarsch in Russisch-Polen verwundet, mit dem Spital in Krasnostar in russische Gefangenschaft geraten, nach dem Transport durch verschiedene Spitäler hindurch im Spital in Omsk und dann im
Gefangenenlager in Omsk gelandet (...) Im Oktober 1915 über Schweden nach Österreich ausgetauscht". (Von Paul Wittgenstein verfaßter Bericht in den Wittgenstein-Archiven, zit. bei Kroß, 1994, 303) "I at once decided to become a one-armed pianist. Piano-playing being the only talent I have got, I so to say had no choise!" (Paul Wittgenstein an Joseph Wechsberg, 5.2.1958) Sein intensives Eintreten für den ehemaligen Lehrer, der in der Folge elf Werke mit einhändigem Klavierpart komponierte (Auflistung bei Kundi, 1962, 61), dokumentiert sich in zahlreichen Aufführungen vor allem zu Lebzeiten Labors. Die öffentlichen Konzerte fanden aber teilweise schwachen Anklang beim Publikum, weswegen im Freundes- und Verwandtenkreis Karten vergeben wurden, um die Reihen zu füllen. (Vgl. Paul an Ludwig Wittgenstein, September 1920: "Am Anfang des Winters [27.11.] veranstalte ich einen Laborabend. Wenn ich nur Leute finde, die hineingehen, & von diesen wieder wenigstens nicht mehr als die Hälfte einschlafen! Du wirst uns dabei fehlen, denn eine überzeugte Claque ist es, die man brauchte." Vgl. auch Hermine Wittgenstein an Ludwig Hänsel, [Oktober 1923], im Hänsel-Briefwechsel, 77.) Zum 70. Geburtstag – Gratulanten und Ehrungen kamen zahlreich, u.a. die große goldene Salvatormedaille der Stadt Wien und die päpstliche Auszeichnung "Bene merenti" (Kundi, 1962, 22) – veranlaßte die Familie Wittgenstein die Drucklegung ausgewählter Werke und die Übernahme der schon im Druck erschienenen Werke von Labor durch die Universal-Edition. (Ebd.) Die eigenen Auftritte wurden seltener, am 19.10.1919 markierte ein ausschließlich Buxtehude gewidmetes Orgel-Konzert im Großen Musikvereinssaal noch einmal "ein bedeutendes Ereignis in der Geschichte der Orgelkunst in Wien". (Ebd., 41f.) Sein im hohen Alter noch umfangreiches kompositorisches Schaffen wurde dem Publikum, wie erwähnt, v.a. in Konzerten auf Initiative Paul Wittgensteins vorgestellt. "Erna Otten Attermann, eine von Pauls Klavierschülerinnen, berichtet, daß er bereits Ende 1916 wieder Konzerte gab. Bei insgesamt fünf Auftritten spielte er Werke von Josef Labor." (Kroß, 1994, 304) Im Konzertindex des Wiener Musikvereins findet sich ein Auftritt mit dem Wiener Tonkünstlerorchester unter Oskar Nedbal im Großen Saal am 12.12.1916. (Das Programm liegt nicht vor. Dieses Konzert war ursprünglich am 23.11. angesetzt gewesen, wurde aber wegen Kaiser Franz Josefs Tod am 21. November verschoben. Vgl. Leopoldine an Ludwig Wittgenstein, 21. und 29.11.1916) Ein Kammerkonzert fand am 9.1.1917 im Kleinen Saal des Wiener Konzerthauses statt. Solistisch spielte Paul Wittgenstein im Mittelteil zwei Lieder ohne Worte (F- und H-dur) von Mendelssohn, die Fantasie d-moll von Mozart, Teile aus den Kinderszenen von Schumann und zwei Impromptus (Ges- und As-dur) von Schubert. Den Rahmen bildeten zwei Labor-Uraufführungen: zusammen mit Marie Soldat-Röger, Klara Nigrin und Paul Grümmer brachte Wittgenstein das Quartett c-moll (zwischen Juni und September 1916 niedergeschrieben; vgl. Kundi, 1962, 53), über dessen Entstehung Leopoldine Wittgenstein an Ludwig am 29.6.[1916] (Feldpostkarte) geschrieben hatte: "es sollte ein Trio werden, aber, wie er sagt hat ihn die Viola so gebeten sie mitzunehmen daß er nicht wiederstehen konnte." Weiter auf dem Programm stand die Violinsonate E-dur (zwischen April und Juni 1916 diktiert; vgl. Kundi, 1962, 53). Die Generalprobe tags zuvor in der Alleegasse dürfte schlecht gelaufen sein: "Ich glaube Du wärst nicht sehr zufrieden gewesen. Es klang alles so furchtbar schwach; die vielen Menschen im Musikzimmer, das war das Unglück. Paul und wir alle hatten uns speciell vom Quartett einen großen Erfolg versprochen. Zu diesem Zweck, um gute Stimmung zu machen, wurde auch, auf Minings [d.i. Hermines] Anraten, mit dem Quartett begonnen und die Sonate nach der Jause gespielt. Der Erfolg aber blieb leider aus und Labor war außerdem über den ohne sein Wissen gemachten Strich äußerst entrüstet. Dieser Strich bleibt nun beim Konzert weg, was, wie ich von ganzem Herzen hoffe, Labor und seine ganze Gemeinde wieder versöhnen wird." (Leopoldine an Ludwig Wittgenstein, 7.1.[1917]) "Das Conzert scheint aber Alles wieder gut gemacht zu haben und, soviel ich durch Mama gehört habe, zur Freude aller ausgefallen zu sein." (Hermine an Ludwig Wittgenstein, 12.1.[1917]) Über diese Uraufführungen schrieb Max Kalbeck, der Brahms-Biograph, im Neuen Wiener Tagblatt (15.1.1917): "In der E-dur-Sonate wird der strenge Geist der gebundenen Form anmutig in freie Melodie aufgelöst; die Romantik erscheint bei der Klassik zu Besuch und verführt sie zu einem gemeinsamen Spaziergang. Es gibt artige Auseinandersetzungen in Zwiegesängen, denen man Worte unterlegen könnte, neckisch fugierte Durchführungen, fast dramatische Episoden und mancherlei harmonische und rhythmische Überraschungen. [...] Noch entschiedener als die Sonate geht das Quartett auf Charakteristik eines idealen Schauplatzes aus und weckt den Neid des Malers und Dichters. Mit Grazie werden die Zuhörer aus der mondbeglänzten Zaubernacht eines reizenden A-Moll-Scherzos in das kleinstädtische bunte Jahrmarktstreiben des Finales versetzt, um sich beim Dudelsack von allen leidenschaftlichen Emotionen zu befreien; das in Moll getauchte Adagiothema bietet sich zum Führer an – das ist der Humor von der Sache." Leopoldine Wittgenstein sandte diese Rezension am 16.1. an Ludwig: "Labor wird sich, trotz seiner Verachtung der Journaille, wie er sie immer nennt, gewiß sehr freuen." Bereits im Jahr zuvor hatten in der Alleegasse vor mehr oder weniger großem Kreis Hauskonzerte stattgefunden. Am 11. März 1916 spielte Paul das Konzertstück D-dur (mit einem Frl. Pavlis am zweiten Klavier im Orchesterpart), das Labor zwischen 13.4. und 15.6.1915 diktiert hatte (Kundi, 1962, 53; vgl. auch die Briefe von Leopoldine an Ludwig Wittgenstein vom 24.4.1915 und 3.5.[1915].) Paul erinnert sich an die Entstehungsgeschichte dieses Werks: Er habe Labor aus Omsk den Wunsch nach einem Konzert für die linke Hand vortragen lassen. "Einige Wochen später
bekam ich die Nachricht: Er arbeite ja schon längere Zeit daran! Wir hatten also beide unabhängig von einander denselben Gedanken gehabt. Dieses Werk ist soviel ich weiß das erste Konzert für eine Hand mit Orchester, das öffentlich gespielt worden ist. Ich habe es noch während des 1. Weltkrieges in Wien öffentlich vorgetragen." (Paul Wittgenstein, 1958) – Nur vier Tage später gaben Marie Baumayer und Marie Soldat-Röger in einer öffentlichen Soiree eine "neue" Violinsonate von Labor (vermutl. nicht die E-dur-, sondern die A-dur-Sonate, die im Juli/August 1914 entstanden, aber wahrscheinlich noch nicht aufgeführt worden war). Über beide Aufführungen informierte die Mutter Ludwig am 17.3.[1916]: "Diese Komposition [Konzertstück in D] hat wirklich bei uns riesig gefallen dagegen scheint das bei der Violinsonate, die vorgestern im Baumayer-Röger Abend zur Aufführung kam nicht der Fall gewesen zu sein. Paul schiebt die Schuld auf die Baumayer und war froh Labor im Konzert nicht gesehen zu haben und hoffen zu können, daß er überhaupt nicht dabei war." – Zum Einstudieren des c-moll-Quartetts hatte Rosine Menzel, die bei Labor Orgelspiel gelernt hatte und seit ca. 1900 seine Kompositionen in Notenschrift übertrug (worin sie Labors Schwester Josefine ablöste), eine Fassung für 2 Klaviere arrangiert, die Paul mit der Menzel bereits am 28.10.1916 in der Alleegasse vor geladenen Gästen aufführte. Hermine berichtete darüber tags darauf an Ludwig: "wirklich ein ausserordentlich schönes Stück das sofort sehr gefiel. Paul spielte es auch sehr schön, mit grosser Wärme u. Feuer. Auch zwei kl. Stücke von Mendelssohn spielte er sehr schön und mit Empfindung zu meiner grossen Freude, denn natürlich geht der Fall ‘Paul’ mir doch sehr nahe u. so wie ich wegen mancher Rohheiten ihm das Recht absprechen möchte Musik zu betreiben, so freudig spreche ich ihm das Recht zu, um eines empfundenen Stückes willen." Über die Bedenken der Familie gegenüber Pauls Spiel führt McGuinness aus: "Sie hörten [...] etwas Gewaltsames heraus, das sich nur teilweise durch die Erfordernisse der linkshändigen Ausführung erklären ließ. Sie, die Joachim gehört und über Sarasate die Nase gerümpft hatten, waren argwöhnisch gegenüber jedem Effekt, der nicht ausschließlich von der Musik selbst bedingt war." (McGuinness, 1988, 64. Vgl. diesen Tenor im Brief von Margarete Stonborough an Ludwig Wittgenstein, [Ende 1942], in dem die Schwester von einem Konzertbesuch berichtet: "[...] his playing has become much worse. I suppose that is to be expected, because he insists on trying to do, what really cannot be done. It is eine Vergewaltigung." (Familienbriefe, 180)) Eine leichte Entfremdung von Pauls Spieltechnik deutete sich bereits in Hermines erster Reaktion auf Pauls Verletzung an. Sie hatte damals an Ludwig geschrieben (20.4.1915): "wenn ich auch fürchte daß er jetzt noch ausschliesslich Virtuose sein wird, so bin ich doch froh für ihn dass er nicht ein ganz neues Feld suchen muss." Sehr viel später, 1936, erzählte Ludwig Maurice Drury vom exzellenten musikalischen Gedächtnis Pauls und von den Probespielchen dieser Kenntnisse. "Dagegen hatte er für die musikalischen Interpretationen seines Bruders nicht viel übrig. [...] Er hielt zwar nicht viel von der Spielweise seines Bruders, respektierte jedoch seine ‘phänomenale Technik’". (Rhees, 1992, 190) Ähnlich berichtet auch John King, der einige musikalische Details aus der ersten Zeit seiner Bekanntschaft mit Ludwig Wittgenstein ab Herbst 1930 erinnert (ebd., 107–116), von dessen "Mißfallen über die öffentlichen Auftritte seines Bruders Paul"; die Leute gingen, "nach Wittgensteins Gefühl", in Pauls Konzerte, "um sich das Schauspiel anzusehen, als wäre es eine Zirkusnummer." (Ebd., 108) Eine indirekte Äußerung über die in der Familie herrschende Einstellung gegenüber Pauls Spiel finden wir im Brief von Hermine an Ludwig vom 20.3.1917: "Neulich sprach übrigens eine Dame zu mir mit Thränen in den Augen über sein ergreifendes Spiel, wer hätte das je gedacht! Das lassen wir uns aber gerne gefallen, dass wir uns darin getäuscht haben!" Daß er damals in Berlin, allerdings mit "weder Orchester noch Kammermusik, nur Salonnummern" (Leopoldine an Ludwig Wittgenstein, 14.3.1917), einen großen Erfolg erzielt hatte – "ohne jegliche Reclame" (Hermine an Ludwig Wittgenstein, 20.3.1917) –, wurde mit Stolz registriert. Aber sowohl der Hinweis auf Pauls "Virtuosentum" (wieder im Brief Hermines an Ludwig vom 18.2.1918) als auch Hermines Verknüpfung von Pauls Spielweise mit Charaktereigenschaften des Vaters – "das Übertriebene Unruhige des Papa [... kommt] in seinem Klavierspiel zum Vorschein, ach nicht ein Tact ist nach meinem Sinn u. Gefühl wenn ich ihn oben spielen höre und das ist eine [immense] Qual und ein nachhaltiger Kummer", schreibt sie am 11.7.1918 an Ludwig – zeigen eine unterschiedliche Gewichtung der Empfindung im Musizieren; das Klavierspiel der Mutter scheint in dieser Richtung prägend gewesen zu sein: "Jeder der mit ihr spielt ist entzückt von ihrer musikalischen Empfindung." (Hermine an Ludwig, 1.6.1919) Freilich ist hier v.a. von Hermines Gewichtung die Rede. Am 6.8.1919 erzählt sie in einem Brief an den Bruder: "Samstag gehe ich wieder zum Labor, der mir immer herrlich vorspielt, dabei sprechen wir jedesmal von Dir. Das sei Dein Lieblingsstück, sagte er neulich bei der Bach Toccata. Er ärgert sich immer ein bischen über mich, weil ich es nicht lassen kann Auslegungen von Stellen zu versuchen und von Stimmungen bei Musikstücken zu sprechen, aber im Ganzen stimmen wir ganz überein." (Familienbriefe, 64f.) Die Hinwendung Paul Wittgensteins zu einem "gemäßigten Modernismus" (Flindell, 1971a, 424), seine Arbeit mit Komponisten, deren Werk in der Familie sonst nicht gepflegt wurde, kann als Ausdruck seiner Absonderung von der musikalischen Auffassung seiner Familie wie als Zeichen seiner starken Individualität gelten: Mit Richard Strauss, den Ludwig später zum Nichtanhören fand (vgl. eine Episode mit David Pinsent in Birmingham, 4.10.1912: Ludwig wartete während eines Konzerts bei Ausschnitten aus der "Salome" vor dem Saal; Pinsent, 1994, 73), spielte er vierhändig und entwickelte Interesse an Louis Spohrs (1784–1859) Kammermusik. (Vgl. Flindell, 1969, 309) Für Näheres zu Wittgensteins teilweise engem Kontakt in der Arbeit mit
zeitgenössischen Komponisten – R. Strauss, Erich Wolfgang Korngold, Paul Hindemith, Sergej Prokofiew und Franz Schmidt (1874–1939) – sei hier auf Flindell, 1971a, verwiesen. (Dort abgedruckt Briefe der Genannten aus der Sammlung des Pianisten.) Josef Labor stand also am Beginn einer ganzen Reihe von Komponisten, die für Paul Wittgenstein Werke für die linke Hand schrieben. (Zu ergänzen sind: Maurice Ravel, Hans Gál, Ernest Walker und Benjamin Britten. Eine Liste der von Wittgenstein in Auftrag gegebenen Werke hat Flindell, 1971b, 127, zusammengestellt.) Er selbst lieferte dafür das plausible Argument: "Ich konnte die klassischen Konzerte nicht spielen; ich mußte, wenn ich mit Orchester spielen wollte, neue Konzerte haben; ich war auf neue Werke angewiesen." (Paul Wittgenstein, 1958) Diese "neuen Werke" hatten sich aber am romantisch geprägten Klangbild zu orientieren. Paul Wittgenstein agierte, u.a. in seiner Verehrung des "auch in seiner Heimat weit unterschätzten Komponisten" Labor (Liess, 1951, 77) sowie Franz Schmidts, als sehr engagierter Künstler aus jenem musikalischen Verständnis, das "Klassik und Romantik" weitgehend unberührt von den Entwicklungen des späten 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts in die Gegenwart hereinretten wollte. Nicht allerdings im Sinne der kontemplativen Musikauffassung der Familie, sondern, sozusagen in exponierter Lage, als Auftraggeber für und Interpret von Zeitgenossen. Allzu neue Bahnen freilich waren auch seine Sache nicht, besonders wo es um den Zusammenklang von Soloinstrument und Orchester ging. "He worked hard at trying to assimilate the twentieth-century styles and actually succeded (with the exception of Schönberg’s atonalism). He felt fully entitled, even obliged and fully justified, when changing the scores of Ravel, Britten and R. Strauss." (Flindell, 1971b, 119. – Vgl. die Einschätzung von Matthias Kroß, der sich an Sergej Prokofjews Bedenken hält: "J’espère qui du point de vue pianistique, ainsi que de la combinaison du piano avec l’orchestre, ce Concerto vous donnera satisfaction. Je me casse la tête pour deviner, quelle impression il vous fera comme musique. Problème difficile! Vous êtes un musicien du XIX siècle, moi – du XX-e." (Prokofjew an Paul Wittgenstein, 11.9.1931, abgedruckt bei Flindell, 1971a, 428; Kroß, 1994, 313f.) Auch für Labors Schaffen ist eine Mittlerstellung zwischen "Klassik und Romantik" charakteristisch – Karl Lafite nannte es in einer Würdigung "Eklektizismus" (Neue Freie Presse, 6.5.1928) –; daß sie nicht nur Zustimmung finden sollte, wo die Grenzen der Form die Grenzen des Geschmacks bildeten, hatte Hanslick, der ihm sonst wohlgesinnt war, bereits anläßlich des kammerkompositorischen Debüts mit Josef Hellmesberger, Sigmund Bachrich, Heinrich Röwer und dem Komponisten selbst mit einem Klavierquartett (verschollen; Konzert am 23.2.1875 im Bösendorfersaal statt; vgl. Kundi, 1962, 13 und 52) deutlich gemacht: "Sein Quartett entbehrt der selbständig schöpferischen Kraft, des klaren Flusses und der festen, sich organisch entwickelnden Form. [...] Im Styl lehnt sich Labors Quartett unverkennbar an den letzten Beethoven, auch in der übergroßen Ausdehnung der Sätze verräth sich dieses für schwächere Kräfte so gefährliche Vorbild." (Zit. ebd., 56) Die Schwierigkeiten des Unterfangens, mit Laborschen Werken im Wiener Konzertbetrieb der beginnenden 20er Jahre Anklang zu finden, mögen die liebhaberische, ja elitäre Argumentation in der Familie gerade f ü r Labor gefördert haben. Die Mutter schrieb an Ludwig nach einer Aufführung des Bläserquintetts, D-dur (entstanden 1920, vgl. ebd., 53), in einem Konzert der Vereinigung "Arbeitsjahr der deutsch-völkischen Studentenschaft" im Großen Musikvereinssaal (24.5.1921): "Verstanden wurde es natürlich ebenso wenig als bei seiner ersten Aufführung, einigen Beifall hatte es aber doch und Labor hat sich sehr gefreut." (Brief vom 26.5.[1921]) Bemerkenswert auch Hermines Äußerung über den Labor-Abend von Paul am 27.11.1920 – auf dem Programm: beide Klarinettentrios mit Klavier linker Hand (e-moll, mit Cello, entstanden im Herbst 1917, und g-moll, mit Viola, entstanden im Spätsommer 1919), die Kanons für Frauenstimme (von insgesamt sechs waren zwei schon im Juli 1905 entstanden; vgl. Kundi, 1962, 52) und die Fantasie fis-moll (entstanden im Sommer 1920) –: "Das Conzert war wohl recht traurig, lauter Labor, das ist unerträglich, er braucht Schlechtes zur Folie (wie voriges Jahr) oder Gutes zur Abwechslung; mit bestem Wollen und besten Mitwirkenden war es alles eher als ein Genuss, ich glaube aber Labor hatte doch eine grosse Freude und das ist natürlich die Hauptsache." (Hermine an Ludwig Wittgenstein, 28.11.1920; Familienbriefe, 75f.) Paul selbst hatte dieses Programm in dem ihm eigenen Sarkasmus "ein vegetarianisches Diner von vier Gängen" genannt. (Paul Wittgenstein an Ludwig, 17.11.1920; Familienbriefe, 71) Die Verwobenheit von persönlichem Engagement für die Künstler und kunstsinnigem Genießertum, seit je charakteristisch für die Wittgensteins, zeigt sich in einem Brief von Hermine an Ludwig vom [5.5.1921]: "Gestern ist das Quintett von Labor aufgeführt worden, der dritte Satz mit dem Canon gefiel mir sehr, die anderen nicht. Dagegen freute ich mich, wieder die Hornvariationen zu hören, die glaube ich, auch dem Publikum gefielen. Paul spielte schön und entzückte mich u. alle Leute hauptsächlich durch die liebe Art wie er sich für Labor einsetzt, trotz des verlorenen Postens." (Das Bläserquintett, D-dur, war als Abschluß des Labor-Abends am 4. Mai im Kleinen Konzerthaussaal von Marie Baumayer (Klavier), Alexander Wunderer (Oboe), Viktor Polatschek (Klarinette), Karl Stiegler (Horn) und Carl Strobl (Fagott) gespielt worden. Auch in den frühen Variationen für Horn und Klavier, op. 10 (bereits 1896 nachgewiesen; vgl. Kundi, 1962, 52), spielte Baumayer den Klavierpart. Paul Wittgenstein interpretierte die Fantasie fis-moll und brachte mit Paul Grümmer die Sonate für Klavier und Cello, C-dur, zu Uraufführung.) Wieder in obigem Tenor erklärte Hermine in einem Brief an Ludwig Hänsel [15.10.1923], warum sie ihm zwei Karten für das an diesem Abend im Großen Musikvereinssaal stattfindende Konzert unter Mitwirkung ihres Bruders beigelegt hatte:
"Ich persönlich bewundere viele Labor-Compositionen sehr, ich weiss aber genau dass sie in grosser Menge ertötend wirken und dass sie überhaupt sehr gut gekannt sein müssen." (Hänsel-Briefwechsel, 77) Dieses Konzert war von dem am 26.4.1923 gegründeten (vgl. ebd., 287) "Labor-Bund" veranstaltet worden, von dem sich Hermine im gleichen Brief deutlich distanzierte. Bei Kundi (1962, 333f.) sind zwei Gedichte von Moritz Schadek abgedruckt, eines davon, "Labor – Bund", auf den Gründungstag datiert, das zweite "zum Gedenken" an den "dahingegangenen blinden Meister". Der "Labor-Bund", dessen Vorsitzender (zumindest bis 1928) Gustav Petrovicki war (vgl. Kundi, 1962, 26), ließ vier Jahre nach Labors Tod von Fritz Hänlein eine Büste des Tonsetzers anfertigen, die vor dem Wiener Konzerthaus aufgestellt wurde. An dieser prominenten Stelle, allerdings wegen des rundum fließenden Verkehrs schwer zugänglich, steht dieses so unprominente Denkmal noch heute. – In den letzten Lebensjahren, ab 1922, boten den intimen Rahmen, der in der Familie Wittgenstein stets für die optimale Wirkung seiner Werke reklamiert wurde, sonntäglich veranstaltete Hauskonzerte bei Labor (im August 1915 hatte er ein letztes Mal Wohnung gewechselt: er war mit seiner Schwester Josefine David, die nach dem Tod seiner Mutter 1889 die Betreuung übernommen hatte, sozusagen ums Eck in die Kirchengasse gezogen). Dazu kamen die Ehrungen zum Achtzigsten, u.a. die Uraufführung seiner Messe in A-dur (entstanden 1918) am Geburtstag in der Kirche St. Josef ob der Laimgrub (Mariahilf) und schon vorher, am 25.4.1922 im Zeremoniensaal der Hofburg, ein Huldigungs-Konzert mit eigenen Kompositionen und Werken seiner Schüler Julius Bittner (1874–1939) und Robert Braun, veranstaltet vom I. Österreichischen Blindenverein (mitwirkend u.a. Paul Wittgenstein, Marie Baumayer und Adele Radnitzky-Mandlick). Zwei Tage zuvor hatte Paul in einem Abonnement-Konzert des Wiener Frauen Symphonie-Orchesters (Leitung: Julius Lehner) Labors Konzertstück in Form von Variationen (jenes erste vom Sommer 1915, D-dur) "sehr schön" gespielt, wie Hermine an Ludwig berichtete: "Leider ist Labor wieder schlechter dran und konnte natürlich nicht im Conzert sein. ‘Zu spät’ wird er sagen!" (Brief vom 23.4.1922; Familienbriefe, 90) Das Leiden, das Labor im Frühjahr 1922 zu schaffen machte, konnte auskuriert werden. Am 15. Mai meldete Hermine an Ludwig: "Labor geht es wieder gut! Es war wirklich eine acute Krankheit, hervorgerufen durch einseitige Ernährung und mit der Ursache zu beseitigen. Er sieht wieder gut aus und spielt! das ist doch fabelhaft!! Nie hätte ich es geglaubt nach dem wie ich ihn schon gesehen habe." Und auch Mutter Leopoldine staunte: "Labor [ist] wirklich fast ganz der Alte. Das Wunder das in diesem Falle dem Homöopaten gelungen ist kann man nicht genug preisen. Die vollständig veränderte Ernährung hat sofort das physische und moralische Befinden gehoben und Labor ist wieder der Alte, der jugendliche Musiker geworden." (Brief an Ludwig, 23.5.[1922]) Am 13.5.1923 spielte Labor in einer Gedächtnisfeier für Johann Wilhelm Klein, den Begründer der deutschen Blindenbildung, im Mittleren Konzerthaussaal seine Fünf Klavierstücke, op. 8. Auch kompositorisch war er noch produktiv: im Sommer 1923 entstand das Konzertstück Es-dur für die linke Hand (dessen Notentext nicht greifbar ist; Kundi, 1962, 50, vermutet die Handschrift im Nachlaß Paul Wittgenstein), das der Widmungsträger am 10. November 1923 im Großen Konzerthaussaal im Rahmen eines Statuarischen Mitglieder-Konzerts mit dem Wiener Symphonie-Orchester (Leitung: Rudolf Nilius) erstaufführte. Das Konzert wurde am 14.11. wiederholt. Programmgenossen von Labor waren dabei Brahms (Akademische Festouvertüre), Schumann (Erste Symphonie, B-dur) und Beethoven (Fünfte Symphonie, c-moll). Am 29.3.1924, vier Wochen vor seinem Tod, scheint Labor in einem Konzertprogramm des Volksbildungshauses Stöbergasse noch als Interpret von Schuberts Impromptu, op. 142/Nr. 1, auf. (Kundi, 1962, 24). Josef Labor stirbt am 26. April - Wittgensteins Geburtstag - 1924 infolge einer Grippeerkrankung. Er ist am Wiener Zentralfriedhof beigesetzt. (Vgl. ebd., 24-26, die Berichte über die Beisetzungsfeierlichkeiten.)
"Jetzt brach ein ander Licht heran, ..." - Über Aspekte des Musikalischen in Biographie und Werk Ludwig Wittgensteins. "Dieses 14, das ist sehr schwer, das kann ich nicht dirigieren. [...] Es gibt so eine knisternde Spannung da – weil: Sie wollen, daß es zusammengeht – ich auch, aber – nicht so ums Verrecken; daß es zusammengeht, ist mir nicht so wichtig, als daß es sehr verstohlen ist – sehr schweinisch – – [singt vor]." (Carlos Kleiber bei einer Probe der Fledermaus-Ouvertüre mit dem SDR-Sinfonieorchester, Stuttgart, 1970) "Man weiß, daß Brahms bei seiner sonst so bescheidenen Lebensführung sich einen Luxus gern gestattete: eine geräumige Junggesellenwohnung von drei bis vier Zimmern. [...] Er hatte Angst vor einer musizierenden Nachbarschaft. Die Musik, zitierte er aus Kant, ist eine zudringliche Kunst." Das berichtet Eduard Hanslick in seiner 1900 publizierten Glosse über Gemeine, schädliche und gemeinschädliche Klavierspielerei, und er setzt fort: "Gewiß, erlaubte ich mir zu bemerken – sie ist aber noch mehr eine egoistische. Wir selber wollen musizieren, viel
und nach Herzenslust – daß aber unser Nachbar dieselbe Passion hege, das finden wir empörend." (Hanslick, 1989, 232f.) Ludwig Wittgenstein notiert am 1.11.1930 in seinem Tagebuch: "Was mich im Schlafen stört stört mich auch im Arbeiten. Pfeifen & Sprechen aber nicht das Geräusch von Maschinen oder doch viel weniger." (Denkbewegungen, 36) Im Frühjahr 1947 schreibt er an seine Schwester Helene: "Leider spielt zwei Stockwerke unter meinem Zimmer jemand Klavier und ich werde von dem elenden Geklimper (meist Beethoven) sehr gestört. Seltsamerweise hindert es mich geradezu am Atmen; es ist ein abscheuliches Gefühl. ‘Es stinkt Musik herauf’ hat der Labor gesagt, aber ein wirklicher Gestank wäre mir weit lieber." (Datiert mit 4.2.47, vermutlich aber 4.3.47; Familienbriefe, 189) Hanslicks Schatten auch hier: Er hatte diese Synästhesie 1881 in seiner famosen Kritik eines Philharmonischen Konzerts verewigt: "Friedrich Vischer behauptet einmal bei Besprechung lasziver Schildereien, es gebe Bilder, ‘die man stinken sieht’. Tschaikowskys Violinkonzert bringt uns zum erstenmal auf die schauerliche Idee, ob es nicht auch Musikstücke geben könne, die man stinken hört." (Hanslick, 1989, 30) Die folgenden Überlegungen beschäftigen sich mit der Rolle der Musik in der Biographie und im Werk Ludwig Wittgensteins. Nicht so sehr das Selber-Musizieren tritt hier ins Blickfeld – das Klarinettenspiel, das Wittgenstein Anfang der 20er Jahre betrieb, blieb Episode, das Pfeifen war seine einzige lebenslang beibehaltene Musikpraxis. (Das Pfeifen nicht nur von Schubertliedern - doch Schubert war einer der bevorzugten Komponisten; seinem Lied Am Fenster, D 878, nach einem Text von Johann Gabriel Seidl, ist der Titel dieser Arbeit entnommen.) "He used to be annoyed when he heard people walking about whistling bits of symphonies etc. for no reason other than their own pleasure! His whistling was no better, but he always did it for a reason, such as to tell or remind one of something." (Timothy Moore an Martin Alber, 20.10.1996) Die Musik – wir werden sehen, auf einen wie kleinen Ausschnitt aus dem Überlieferten ihn seine Vorlieben sich konzentrieren ließen – war in einem anderen, "zudringlichen" Sinn bedeutungsvoll: der Umgang mit Musik war Teil des Umgangs mit sich selbst, also auch Teil seines Philosophierens. Rein mengenmäßig gesehen, kommt den (in engerem Sinne) musikrelevanten Stellen in Wittgensteins Äußerungen kaum Bedeutung zu. Meine Überlegungen zielen darauf, einerseits die vorhandenen "moments musicaux" auf ihren zeitgenössischen Kontext hin zu entfächern, anderseits anhand von ihnen Querverbindungen zwischen Briefwechsel und philosophischem Werk, aber auch in der sich entfaltenden Begrifflichkeit innerhalb des letzteren selbst aufzuzeigen. Zugleich Mahnung, auf der falschen Spur, und Bestätigung, auf der richtigen zu sein, ist mir Timothy Moores Einschätzung: "The only connection I can imagine between his attitudes to music & Philosophy are that he had very strong opinions, forcefully expressed, about both." (Im zitierten Brief.) 1. "Es kommt drauf an, wer’s sagt." "Jeder Tempel muß enden im Raum, um Tempel zu sein, jede Statue muß abtastbar sein, jedes Licht erschaubar, jedes Wort die Grenze eines Symbols. Was wir noch unerlöst am Boden suchen auf ausgetretenen Grabplatten, das Todahnende, das Himmelverkündende, neben der unbewußten Starrheit, das Verhaltene in uns – das ist das Mittel der Musik. Uns packt ein Sturm, der nicht mehr im Geheul des Seewinds einen Bruder hat." (Hans Henny Jahnn) Gehen wir zunächst aus von dem nun vorliegenden Briefwechsel zwischen Ludwig Wittgenstein und Rudolf Koder und dem bislang aufgetauchten – veröffentlichten und unveröffentlichten – Familienbriefwechsel. Was erfahren wir zu unserem Thema aus diesen Textzeugen? Vor allem, daß in der Familie Wittgenstein häufig und vorzüglich in einer besonderen Gefühlsstimmung musiziert wurde; einiges über das bevorzugte Repertoire; sehr wenig zu bestimmten Aufführungen, Interpreten, in späten Jahren zu Schallplattenaufnahmen. Die Musikausübung, meist Klavierspiel, war Anlaß, den abwesenden Ludwig herbeizusehnen, zu den immer wieder gespielten Stücken sollte sich ein gemeinsames Empfinden oder besser: ein Gemeinsam-Empfinden einstellen. Diesen Tenor finden wir schon in der äußerst umfangreich überlieferten Korrespondenz der Mutter Leopoldine mit Ludwig aus den Jahren ab 1914. Ludwig fungierte einerseits als Hörer, dessen Wunschprogramm einstudiert wurde, anderseits als Urteilsinstanz. (Vgl. auch die Beispiele im Kapitel über Labor.) "Ich habe es schon oft gesagt aber ich wiederhol’s doch: Solltest Du einmal meinen Besuch wollen um die Laborsche Phantasie oder sonstetwas zu hören, ich bin immer bereit." – schreibt Bruder Paul am 4.6.1921 nach Trattenbach. Und die Mutter ins Feld: "Auch ich übe jetzt wenns mein Quälgeist [Schmerzen am Bein] nur halbwegs erlaubt, um Dir, wenn wir Dich nur erst wieder hier haben, mit Frau Roeger einen wunderbaren Beethoven vorzuspielen. Ob Du wohl jetzt je zum Pfeifen kommst? zu diesem meinen Lieblingsinstrument auf dem Du Meister bist. Wie sehne ich mich danach es wieder zu hören!"
(4.4.1918) Fünf Tage später: "Auch mit Mining präparieren wir ein paar Vorspielstückerln feinster Sorte." Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Der gemeinschaftsbildenden Absicht, nicht nur im eigenen Musizieren, sondern auch im Musikhören, kam die Beschränkung auf wenige Komponisten zugute: Brahms und Bruckner finden wir öfter im Koder-Briefwechsel erwähnt; Schubert, Schumann und Mendelssohn erweitern das Spektrum und grenzen die bevorzugte Epoche ab: "Ich denke oft darüber, ob mein Kulturideal ein neues, d.h. ein zeitgemäßes oder eines aus der Zeit Schumanns ist. Zum mindesten scheint es mir eine Fortsetzung dieses Ideals zu sein, und zwar nicht die Fortsetzung, die es damals tatsächlich erhalten hat. Also unter Ausschluß der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ich muß sagen, daß das rein instinktmäßig so geworden ist, und nicht als Resultat einer Überlegung." (VB, 453; (1929)) Wie jene Epoche der musikalischen Romantik in Deutschland (vgl. die Darstellungen vom Beginn unseres Jahrhunderts bei Istel, 1909, und Riemann, 1901) von Beethovens Werk überschattet war, steht auch in der Familie Wittgenstein Beethoven außer Konkurrenz da. Anknüpfungspunkt für die Wertschätzung ist vor allen Dingen das Genialische als Künstlerelement, das diesem Komponisten anhaftete oder zugeschrieben wurde – und das dann von Weininger so theatralisch exekutiert wurde. In seinem Tagebuch notiert Wittgenstein am 1.3.1931: "Beethoven ist ganz & gar Realist; ich meine, seine Musik ist ganz wahr, ich will sagen: er sieht das Leben ganz wie es ist & dann erhebt er es. Er ist ganz Religion & gar nicht religiöse Dichtung. Drum kann er in wirkliche[n] Schmerzen trösten wenn die Andern versagen & man sich bei ihnen sagen muß: aber so ist es ja nicht. Er wiegt in keinen schönen Traum ein sondern erlöst die Welt dadurch daß er sie als Held sieht, wie sie ist." (Denkbewegungen, 42) In einer weiteren Bemerkung aus dieser Zeit erscheint Beethoven eingenebelt von durchaus konventionellen Heroismen: "Es gibt Probleme, an die ich nie herankomme, die nicht in meiner Linie oder in meiner Welt liegen. Probleme der abendländischen Gedankenwelt, an die Beethoven (und vielleicht teilweise Goethe) herangekommen ist, und mit denen er gerungen hat, die aber kein Philosoph je angegangen hat (vielleicht ist Nietzsche an ihnen vorbeigekommen). Und vielleicht sind sie für die abendländische Philosophie verloren, d.h., es wird niemand da sein, der den Fortgang dieser Kultur als Epos empfindet, also beschreiben kann. Oder richtiger, sie ist eben kein Epos mehr, oder doch nur für den, der sie von außen betrachtet, und vielleicht hat dies Beethoven vorschauend getan (wie Spengler einmal andeutet). Man könnte sagen, die Zivilisation muß ihren Epiker voraushaben." (VB, 462; (1931)) Ins Allgemeine gewendet: "Die Werke der großen Meister sind Sonnen, die um uns her auf- und untergehen. So wird die Zeit für jedes große Werk wiederkommen, das jetzt untergegangen ist." (VB, 471; (1931)) Hier scheint Schopenhauers Auffassung von Genialität als "vollkommenste[r] Objektivität" (Die Welt als Wille und Vorstellung, 3. Buch, § 36; Werke 1, 266) durch, die dort der Erkenntnis der Ideen in der Kontemplation zugeordnet war: "Das reine Subjekt des Erkennens tritt ein, indem man sich vergißt, um ganz in den angeschauten Gegenständen aufzugehn, so daß nur sie im Bewußtsein übrigbleiben." (Parerga und Paralipomena II; Werke 5, 491) Das so isolierte Objekt der Anschauung lasse das Genie zum Repräsentanten für die allgemeine Idee werden, indem es nicht an der Einzelbetrachtung haften bleibe, sondern durch die Phantasie darüberhinweg ins Allgemeine ziehe, "um in den Dingen nicht das zu sehen, was die Natur wirklich gebildet hat, sondern was sie zu bilden sich bemühte". (Werke 1, 267) Unter diesen Auspizien von genialischer Meisterung nicht näher zu bestimmender Fragen fällt naturgemäß auf andere Komponisten ein anderes Licht: Mendelssohn, dessen Lieder ohne Worte in der Familie Wittgenstein immer und immer wieder gespielt wurden (wie Frau Margarete Bieder aus Erzählungen ihres Vaters Rudolf Koder erinnert), erscheint als Meister der "musikalische[n] Arabesken". (VB, 417; (1931)) "Wenn man das Wesen der Mendelssohnschen Musik charakterisieren wollte, so könnte man es dadurch tun, daß man sagte, es gäbe vielleicht keine schwer verständliche Mendelssohnsche Musik." (VB, 482; (1932–1934)) "Mendelssohn ist nicht eine Spitze, sondern eine Hochebene. Das englische an ihm." (VB, 452; (1929)) Diese Einschätzung steht in Einklang mit jener der stets Beethoven als Maßstab heranziehenden Musikkritik und -historie des ausgehenden 19. Jahrhunderts, sowohl der an der Wiener Klassik orientierten als auch der von Wagner eingenommenen. "[M]an würde bei Mendelssohn vergebens nach so tiefgreifenden Unterschieden zwischen Werken seiner früheren und seiner späteren Schaffenszeit suchen wie bei Beethoven und selbst bei Mozart und Haydn. Mehr als irgend ein anderer Komponist bleibt Mendelssohn sich selbst gleich; wenn auch Seelenschmerz ihm naturgemäß nicht ganz erspart blieb, so war doch sein ganzes Leben derart vom Glück erhellt, daß man nicht mit Unrecht auf das Omen hingewiesen wird, welches in seinem Vornamen Felix lag. Sein Kunstideal war ein strahlendes, die Schatten des Erdendaseins erhellendes; er hielt es für einen Mißbrauch der Kunst, Wunden aufzureißen." (Riemann, 1901, 260) Eduard Hanslick, Brahms’ kritischer Schatten und Freund des Hauses Wittgenstein, befand schon anläßlich eines Konzerts der Singakademie, 1858: "Daß Mendelssohn die Kraft und den Aufschwung Beethoven’s nicht besitzt, daß seine
sanfte, feine Natur manchmal dem Weichlichen verfällt, das wird ebensowenig Jemand läugnen, als damit etwas Neues sagen. Wir glauben sogar, daß die meisten seiner Clavier-Compositionen noch immer überschätzt sind: in ihnen wuchert wirklich jener oft gerügte Formalismus, welcher mit der stereotypen Ausdrucksweise äußerlicher Leidenschaft den Mangel an innerer Kraft verdeckt." (Hanslick, 1897, 169) Riemann wieder sah den "eigenartigen Eindruck" der Mendelssohnschen Musik bedingt durch "die Sonderbeschaffenheit seiner Themen, besonders de[n] glückliche[n] Wurf der Einsatzmotive seiner Themen und Sätze. In diesen liegt fast immer das eigentlich Schöpferische, spontan Erfundene, während die Weiterspinnung das Ergebnis seiner Kunstbildung, seiner guten Schulung ist und selten neue primäre Wirkungen bringt." (Riemann, 1901, 258f.) Weniger wohlmeinend ordnet Edgar Istel (durch die Wagner-Brille) den Komponisten in die Reihe der Romantiker ein: "In Mendelssohn war allmählich die Neigung zu klassischer, vollendeter Formschönheit so stark geworden, daß ihr gegenüber der leidenschaftlich-romantische Inhalt zurücktrat, und seine Kunst, die lieber die Kraft und Unmittelbarkeit des Stimmungsgehaltes abschwächte, statt der Eurhythmie der Gestaltung auch nur das geringste zu vergeben, in gewissem Sinne einen retrospektiven Charakter annahm." (Istel, 1909, 53) Gegen Schumann also zu wenig einfallsreich und zu selten originell – gegen Brahms dann? "Zwischen Brahms und Mendelssohn herrscht entschieden eine gewisse Verwandtschaft", und zwar könne man sagen, "Brahms tue das mit ganzer Strenge, was Mendelssohn mit halber getan hat. Oder: Brahms ist oft fehlerfreier Mendelssohn." (VB, 479; (1931)) "Die musikalische Gedankenstärke bei Brahms." (VB, 482; (1932–34)) Mendelssohn erscheint Wittgenstein – im Kontext ideologischer Versatzstücke (vgl. dazu Monk, 1992, 300ff.) – als zu sehr assimilationsgeneigt: "Die Tragödie besteht darin, daß sich der Baum nicht biegt, sondern bricht. Die Tragödie ist etwas unjüdisches. Mendelssohn ist wohl der untragischste Komponist." (VB, 452; (1929)) Diese Ideologie wurde nicht nur außermusikalisch genährt, sondern hatte in Richard Wagner bekanntlich einen "Fachkollegen" als Propagandisten besessen. "Gewiß ist so manche Eigentümlichkeit des Mendelssohnschen Schaffens in seiner jüdischen Abstammung begründet, und nichts ist törichter, als diese Tatsache ableugnen zu wollen." (Istel, 1909, 47) Doch nahm Istel in diesem Fahrwasser Mendelssohn in Schutz gegen die Anfechtungen Wagners: es sei hier kein Vorwurf zu schmieden. Wagner hatte in seinem auf "das unwillkürlich Abstoßende" (Schriften 5, 67) am "Wesen der Juden" gründenden antisemitischen Geifer nachzuweisen vorgegeben, daß die Tragik des "Judentums in der Musik" einerseits in seiner notwendigen Fremdheit dem "Volke" als dem "natürlichen Boden" aller Kunstarten gegenüber, anderseits in seiner Unfähigkeit zu wahrhaftem Gefühlsausdruck liege: "Je nachdem seine Laune, oder ein außerhalb der Kunst liegendes Interesse es ihm eingab, konnte er so, oder auch anders sich äußern; denn nie drängte es ihn, ein Bestimmtes, Nothwendiges und Wirkliches auszusprechen; sondern er wollte gerade eben nur sprechen, gleichviel was, so daß ihm natürlich nur das Wie als besorgenswerthes Moment übrig blieb." (Ebd., 74f.) Von Mendelssohn, sagt Wagner, konnte er sich "nur dann gefesselt fühlen [...], wenn nichts Anderes unserer, mehr oder weniger nur unterhaltungssüchtigen Phantasie, als Vorführung, Reihung und Verschlingung der feinsten, glättesten und kunstfertigsten Figuren, wie im wechselnden Farben- und Formenreize des Kaleidoskopes, dargeboten wurde, – nie aber da, wo diese Figuren die Gestalt tiefer und markiger menschlicher Herzensempfindungen anzunehmen bestimmt waren". (Ebd., 79f.) Istel korrigiert auf seine Art: "Das, was Wagner fälschlich bei Mendelssohn, dieser so wunderbar harmonisch ausgeglichenen Persönlichkeit, nachzuweisen versuchte, einen völlig ‘tragischen Konflikt in der Natur, dem Leben und Kunstwirken’, das finden wir tatsächlich bei Heine, dessen Deutschtum sich niemals so rein wie das Mendelssohns mit dem jüdischen Geiste amalgamiert hat." (Istel, 1909, 52) Über die Äußerungen zu Komponistennamen (die hier nicht vollständig angeführt sind) lassen sich einige über das Musikalische hinausgehende Zusammenhänge herstellen: von Beethoven her zum Geniegedanken, von Mendelssohn zu ideologischen Komplexen (vgl. noch 1939–40, wenn Wittgenstein sich fragt, ob, was der Mendelssohnschen Musik fehle, eine "‘mutige’" Melodie sei (VB, 498)), von Brahms zum Gewicht des "Könnens" in der Materialverarbeitung (vgl. VB, 484; (1934)) – doch letztlich ist dieser Zugang zur Musikauffassung wenig ergiebig. Es ließe sich nur sagen, daß Wittgenstein durchaus konventionelle Zuschreibungen wiederholt und seinen eigenen Beobachtungen und Überlegungen einverleibt, d.h. sie seinen Vergleichen dienstbar macht. Ein gutes Beispiel dafür ist die folgende Bemerkung: "In den Zeiten der stummen Filme hat man alle Klassiker zu den Filmen gespielt, aber nicht Brahms und Wagner. Brahms nicht, weil er zu abstrakt ist. Ich kann mir eine aufregende Stelle in einem Film mit Beethovenscher oder Schubertscher Musik begleitet denken und könnte eine Art Verständnis für die Musik durch den Film bekommen. Aber nicht ein Verständnis Brahmsscher Musik. Dagegen geht Bruckner zu einem Film." (VB, 485; (1934 oder 1937)) Bruckner, häufig angesprochen im Briefwechsel mit Rudolf Koder, taucht in den überlieferten Zeugnissen erst relativ spät auf: erst ab 1929 finden wir gelegentlich Hinweise. (Bei McGuinness (1988), dessen Biographie bis 1922 reicht, wird er nur zweimal, anhand späterer Bemerkungen, erwähnt.) Im früheren Familienbriefwechsel kommt dieser Komponist nicht vor. Er mußte, so scheint es, in der Brahminen-Familie Wittgenstein erst Fuß fassen; wie ihm das
gelang, ist nicht zu ermitteln, doch spiegelt dieser Gewinn an Wertschätzung die Rezeption von Bruckner wider. (Vgl. stellvertretend die geraffte Darstellung bei Karl Grunsky, 1902, 60–71; weiters Arthur Seidl, 1926, Band 1, 39f.) Die Charakteristika der Brucknerschen Kompositionsweise, den Gegnern immer schon "Argumente" für die Ablehnung, den Anhängern für die Verehrung, spricht Wittgenstein in vereinzelten Stellen an: "Kompositionen, die am Klavier, auf dem Klavier, komponiert sind, solche, die mit der Feder denkend und solche, die mit dem inneren Ohr allein komponiert sind, müssen einen ganz verschiedenen Charakter tragen und einen Eindruck ganz verschiedener Art machen. Ich glaube bestimmt, daß Bruckner nur mit dem inneren Ohr und einer Vorstellung vom spielenden Orchester, Brahms mit der Feder, komponiert hat. Das ist natürlich einfacher dargestellt, als es ist. Eine Charakteristik aber ist damit getroffen." (VB, 466; (1931)) Einerseits die Betonung der Fülligkeit des Brucknerschen Orchesterklangs, anderseits der oben zitierte Hinweis auf Brahms’ Abstraktheit. Bei Guido Adler heißt es: "Äußere Sinnlichkeit tritt nie in Wirksamkeit. [Brahms’] Charakter widerspricht dieser Aspiration. Aber Innigkeit bei keuscher Zurückhaltung ist dort und da ergreifend, die Herbheit ist stellenweise packend. [...] Seine Harmonik ist kernig, nie weichlich und so unsentimental wie seine Melodik." (Adler, 1933, 17) "Für koloristische Verbindungen im Zusammenhang mit motivischen Überleitungen war sein sonst feiner Klangsinn nicht eingestellt. Der dramatische Klangzauber der Wagneroper hatte ebensowenig Reiz für ihn wie die orchestralen Verführungskünste der Programmatiker." (Ebd., 21) Eine Art von Abstraktheit hatte wohl schon Richard Wagner im Ohr, als er von der "kammermusikalischen Arbeit" in Brahms’ symphonischem Werk sprach (zitiert bei Adler, ebd., 20) – Adler läßt diesen "Vorwurf" (ebd.) nur für die Mittelsätze gelten. Mehr auf die Instrumentierung umgelegt und – wie stets – auf die momentane empfindungsmäßige Zugänglichkeit bezogen, äußert der alternde Wittgenstein in einem Brief an die Schwester Helene (20.2.1948) zu seiner bevorzugten (vgl. Rhees, 1992, 160) Brahms-Symphonie, der Dritten: "Eigentlich der einzige Satz, der jetzt zu mir spricht, ist der vierte. Ich würde ihn sehr gerne hören. Ich glaube, er klingt viel mehr wie für's Orchester geschrieben, als die beiden Mittelsätze, besonders. Und es kommt mir vor, er hat keinen dürren Klang. Woran das liegt weiß ich natürlich nicht." (Vgl. Familienbriefe, 194) Indirekt nahm Wittgenstein ein ander Mal Brahms’ Klangeigenheit gegen eine vermutlich zu dramatische, üppig-pathetische (oder: falsch-pathetische) Interpretation in Schutz: "Es tut mir leid, daß die Aufführung des Brahms Requiems nicht besser war. Ob wohl derselbe elende Paukist gespielt hat, den ich gehört habe? Aber freilich hat die Hauptschuld der Dirigent. Ich kann mir vorstellen, daß ein sehr keuscher Brahms dem Karajan nicht liegt. Aber vielleicht ist es gar nicht so." (Brief an Helene Salzer, [Herbst 1947]; Familienbriefe, 192. Die Interpretation des Deutschen Requiems unter Herbert von Karajan vom Oktober 1947 (Wiener Philharmoniker, Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Elisabeth Schwarzkopf, Hans Hotter) wurde die erste Schallplattenaufnahme dieses Stücks überhaupt. Sie liegt bei EMI (CDH 7 61010 2) auf CD überspielt vor. – Nebenbei bemerkt: Die Zusätze, mit denen Wittgenstein seine noch so spärlichen Äußerungen zu musikalischen Angelegenheiten immer wieder zurücknimmt, relativieren, wie ich meine, weniger das Geäußerte, als daß sie der intellektuellen Redlichkeit halber angefügt sind.) Auf die Versuche einer Rückführung des Brahmsschen Klanges auf seine norddeutsch-protestantische Herkunft sowie auf die daraus resultierende metaphorische Einkleidung seiner Musik gehe ich hier nicht ein: sie tauchen in allen Darstellungen jener Zeit mehr oder weniger betont auf. Stellvertretend zitiere ich Walter Niemann: "Die Unsinnlichkeit aller norddeutschen Künstler hat die Gotik des Brahmsischen Tonsatzes – so nennt Hugo Riemann glücklich sein fein durchbrochenes Filigran – gezeitigt. Die kristallklare Zeichnung überwiegt die sinnliche üppige Klangfarbe". (Niemann, 1913, 37) Entsprechendes bei Bruckner, der als (ober)österreichisch-katholischer "Musikant Gottes" gehandelt wurde. (Vgl. Orel, 1926) Noch 1939 wies Wilhelm Furtwängler in einem Vortrag in Wien solche schlagwortartigen Vereinnahmungen Bruckners zurück. Nicht ohne eine weitere hinzuzufügen: "Er war gar kein Musiker. Dieser Musiker war in Wahrheit ein Nachfahre jener deutschen Mystiker, jener Ekkehardt, Jakob Böhme usw." (Furtwängler, 1939, 33) Welchen neuen Weg hatte Bruckner in seinem symphonischen Bau beschritten? Mit seinem physiognomischen Bonmot, Bruckners Musik habe "nichts mehr von dem langen und schmalen (nordischen?) Gesicht Nestroys, Grillparzers, Haydns etc., sondern hat ganz und gar ein rundes, volles (alpenländisches?) Gesicht, von noch ungemischterem Typus als das Schuberts war" (VB, 480; (1931)), deutet Wittgenstein schon Einiges an – das man wegen der Nähe zum bekanntermaßen tatsächlich runden Brucknerschädel freilich belächeln kann. Aussagefähiger ist die Bemerkung in einem Brief an Hermine, [Anfang November 1931]: "Ich will nur schreiben daß auch mir den großen Eindruck am Scherzo der IIIten nur das Scherzo gemacht hat & zwar besonders die ersten – sagen wir – 16 Takte des Themas nach den ich glaube 8 Takten der Introduktion. Diese Takte (des Themas) sind auch primitiv, aber grandios. – Ja, ganz gewiß zeigt sich diese selbe Primitivität auch in der Aneinanderreihung der Themen; auch an dem gänzlichen Mängel einer Überleitung vom ersten Gedanken zum zweiten in den ersten Sätzen (ähnlich wie bei Schubert & ganz entgegengesetzt der Brahms’schen Weise)." (Vgl. Familienbriefe, 132f.) Wittgenstein reagiert hier auf die Äußerung Hermines (Brief vom 1.–5.11.1931), die auf sein Geheiß mit Koder das Scherzo der Dritten spielte (vgl. Koder-Briefwechsel, Nr. 57): "Ich habe es schon mit der Staake [einer mit der Familie bekannten Pianistin]
versucht, es ist verflixt schwer, so merkwürdig heiklig, besonders das Trio. Das Scherzo gefällt mir sehr aber das Trio erscheint mir noch gar zu primitiv; ich bin neugierig ob ich da auch noch auf den Geschmack kommen werde? Es erscheint mir verknüpft mit den sonderbaren, und primitiven Anekdoten, die von Bruckner erzählt werden und die mir auch immer zu umständlich sind! Ich begreife aber auch dass sie mit dem Teufel in den Scherzi und, ich glaube, auch mit der primitiven An-einander-reihung der Themen zu tun haben." (Familienbriefe, 131), Was bei Hanslick, dem gefürchtetsten journalistischen und akademischen Brucknergegner, unter "Formlosigkeit" lief – in seiner Rezension zur Dritten, 1890, rätselte er, wie es möglich sei, daß Bruckner, "dieser sanfteste und friedfertigste aller Menschen, [...] im Moment des Komponierens zum Anarchisten wird" (Hanslick, 1989, 53f.); die Achte faßte er im Eindruck: "Alles fließt unübersichtlich, ordnungslos, gewaltsam in eine grausame Länge zusammen." (Ebd., 59; vgl. dazu den begründeten "Verdacht", "Brahms selber [habe] seinen Anhängern alle Argumente für die Verurteilung Bruckners geliefert", bei Floros, 1980, 33) –, die formalen Unerhörtheiten erfuhren erst allmählich Umwertungen mancherlei Art. Der Wagnerianer Niemann nennt Bruckner "de[n] größte[n] Gefühlsmusiker moderner Zeit" (Niemann, 1913, 131), die "Schwäche" (ebd., 135) wird zu Gunsten reicherer Empfindungsäußerung ausgelegt: "Es fehlt Bruckner die symphonische Entwicklung. Er entwickelt nicht die einzelnen Teile eines Symphoniesatzes auseinander, sondern er reiht sie aneinander. [...] So muß man beim Hören Brucknerscher Symphonien völlig des norddeutschen architektonischen Sinns, der norddeutschen Konzentrationskraft und Knappheit sich entschlagen und vorübergehend zum Österreicher werden. Man muß sich tief in jeden einzelnen Teil hineinleben [...]; man darf nicht daran denken, daß aus der Vielheit erst die Einheit erstehen soll." (Ebd., 135f.) Bruckner also, "ein naiv schaffender Künstler" (ebd., 130, eine gängige Meinung zitierend), dessen Musik "keine Reflexion" kenne, umso mehr aber der "Zersetzung und Zerstörung anheimfallenden Zeit" (ebd., 130) "Ehrfurcht" lehren könne, "Ehrfurcht vor dem tiefsten, durch keinen Geist, keine Überfeinerung der Kultur, keine bewußte Verstandesarbeit, keinen noch so scharfen Kunstverstand zu ersetzenden oder zu erringenden Wesen der Musik als Herzenssprache, als unmittelbarstem Ausdruck des Unbewußten, des Unsagbaren, des Unbegreiflichen, das den Quellen eines urkräftigen und alle Empfindungswelten umspannenden Gefühlslebens entströmt." (Ebd., 130f.) Ernst Kurth dagegen (1925, 233–251) hebt die Neuartigkeit, ja vermeintliche historische Voraussetzungslosigkeit des Brucknerschen Konstruktionsprinzips hervor: er sei "Dynamiker der Form", diese sei "kein Ruhe-, sondern ein Spannungsbegriff [...], ‘der das Werden ständig in sich lebendig trägt’." (Floros, 1980, 68f., kursiv die Zitate aus Kurth.) Grundlage für diese Richtung der Brucknerexegese war August Halms formanalytische Untersuchung Die Symphonie Anton Bruckners (1914), die den Symphoniker von der ihm bislang anhaftenden "Wagnerei" befreite. (Vgl. diese Einschätzung bei Seidl, 1926, Bd. 1, 50–58, hier: 51) Bruckners "Kunst der formalen Harmonik" fordere einen neuen "Begriff von Kompositionslehre". (Halm, 1914, 189) Die "zwei Prinzipe" (wie Beethoven die Bauelemente seiner Sonaten nannte) verbinden sich bei Bruckner, für Halm dem Vollender der Sonatenform, nach der "Logik der zwar im Verlauf entstehenden, aber virtuell vorbeschlossenen, in den Themen, mehr noch in ihrem Gegensatz wirkenden, über dem Thematischen schwebenden, über dessen Leben verhängenden Idee der Sonate, ihrer Geschichte; des Dramas von Sonate." (Ebd., 77) Diese beabsichtigte Synthese könne "musikalisch gar nicht erscheinen", sondern immer erst "entstehen". (Ebd., 78) – Hier sehen wir uns an das von Halm als Motto über sein Buch gestelltes Talmud-Zitat verwiesen: "Willst Du das Unsichtbare erkennen, so sieh sehr genau auf das Sichtbare!" – "Dem Gebot der gesteigerten Realität folgt Bruckner, wenn er die einzelnen Einheiten zueinander in auch äußerlich größere Distanz bringt, als es vorher erhört war. Seine Generalpausen wurden, wie man denn das Äußerliche zunächst wahrzunehmen pflegt, als Charakteristikum seines Stils berühmt, ehe man ihre tiefe Logik (die formale Logik!), ja sagen wir ruhig: ihre tiefe Ehrlichkeit erkannte, leider zum Teil auch ohne vom äußerlich Wahrgenommenen zu dem tieferen Grund vorzudringen: womit wir den freilich kläglichsten Fall des Anstoß-nehmens an Bruckners Form berühren – oder sollte ich fehl gehen, wenn ich vermute, daß vielfach nur dieser äußere Eindruck, das Ungewohnte der Zäsuren zu dem Eindruck des innerlich Lockeren der Konzeption, des Mangels an Spannkraft und Straffheit führte? Bruckner verzichtet zumeist auf die Überleitungen oder überleitende Gruppen; einmal im Vertrauen auf die Synthese; sodann, dürfen wir wohl sagen, aus Scheu und Achtung vor diesem Vorgang, den in Tönen nachzuzeichnen er für gefährlich, ja den nachzeichnen zu wollen er vielleicht beinahe für unrecht hält; möglich, daß ihn das Gefühl dafür leitet, wie eben diese Seite des Geistes Funktion bleiben, wie der Geist der Synthese nicht selbst körperlich erscheinen und Gestalt gewinnen, sondern als Fluidum zwischen den Gestalten entstehen und weben will." (Ebd., 87f.) Seidl wieder zieht zur "Anbahnung eines besseren Verständnisses" den facettenreichen Vergleich heran, "daß sich Bruckner zu Brahms letzthin verhalte, so etwa wie Anzengruber’sche zu Hebbel’scher ‘Dramaturgie’; und damit meinte ich natürlich nicht die Erinnerung gleichsam an das Heimisch-Mundartliche bei unserem Meister [...], vielmehr dachte ich an den alten, gar tief greifenden Unterschied von Süd und Nord, des technischen ‘post’ (von an einander gereihten ‘Bildern’, nach einander aufgerollt) und des ‘propter’ (einer Verknotung und Entwicklung in- wie aus-, mit-, durch- und wegen einander)". (Seidl, 1926, Bd. 2, 48) "Brahms glättet, Bruckner vermeidet nicht Kanten und Ecken, fügt gleichsam in entfernter Analogie mit dem Zyklopenstil
Quader auf Quader an- und aufeinander, nur mit dem Unterschied, daß die Steine seines Baues nicht unbehauen waren." (Adler, 1924, 13) "[P]rimitiv, aber grandios" – Wittgensteins Urteil orientiert sich am unmittelbaren Gefühlsausdruck. Das bestätigt sich, wenn er in einer von ihm selbst als "spenglerisch" erkannten (morphologischen) Betrachtung 1931 Bruckner gegen Mahler ausspielt; ich paraphrasiere: Naturhaftigkeit gegen formalen Eklektizismus. "Das genaueste Bild eines ganzen Apfelbaumes hat in gewissem Sinne unendlich viel weniger Ähnlichkeit mit ihm als das kleinste Masliebchen mit dem Baum hat. Und in diesem Sinne ist eine Brucknersche Symphonie mit einer Symphonie der heroischen Zeit unendlich näher verwandt, als eine Mahlerische. Wenn diese ein Kunstwerk ist, dann eines gänzlich andrer Art. (Diese Betrachtung ist selbst eigentlich Spenglerisch.)" (VB, 477. Auch hiezu vgl. die Einschätzung von Mahler bei Niemann, 1913, 136ff.) John King gegenüber äußerte Wittgenstein in dieser Zeit einmal, "man [müsse] viel von Musik, ihrer Geschichte und ihrer Entwicklung verstehen [...], um Mahler zu begreifen." (Rhees, 1992, 111) Die historische Einbettung in das gesammelte musikalische Wissen – es klingt in diesem Fall nach einer Pflichtübung, Mahler bot nicht die Möglichkeit zu gefühlvoller Versenkung, blieb also rationale Abschirmung? Mahlers Musik, könnte man sagen, war für Wittgenstein einfach kitschig (dies freilich in annähernd jenem Sinn, in dem Hermann Broch den Kitsch in der Kunst als das Böse hinstellte). In Sequenzen ohne größere harmonische Komplikationen, also an eingängigen Stellen, da "die späten unter den großen Komponisten [...] sich zu ihrer Stammutter [bekennen]", "(wenn die Andern am stärksten ergreifen)", scheint ihm Mahler "besonders unerträglich & ich möchte dann immer sagen: aber das hast Du ja nur von den Anderen gehört, das gehört ja nicht (wirklich) Dir." (Tagebucheintrag 6.5.1931; Denkbewegungen, 47) Einen innerlichen Gegensatz zwischen den beiden Komponisten hob auch Adler hervor: "Mahler strebte gleich mit der Ersten Symphonie Vergeistigung des Gehaltes an. Bruckner wollte zeitlebens nur sein Empfindungs- und Gefühlsleben, seine Anbetung Gottes und seine Freude am irdischen Dasein mit all ihren Trübungen, soweit er dies erlebte, in seiner Musik zum Ausdruck bringen." (Adler, 1924, 16) Doch beiden gemein sei "ein tiefes, echtes Ethos: Bruckner fand es in seinem Bekenntnis, Mahler suchte es auf Umwegen, selbst mit Darbietung und Überwindung der Alltäglichkeiten als höchstes Gut in seiner Sprache zum Ausdruck zu bringen." (Ebd.) Mit Bruckner und Brahms immerhin "Zugehörige[r] einer ausgedehnten Stilperiode", komme bei Mahler zu allen Gegensätzen dazu, "daß er mehr die Stilübergänge zur allerneuesten Kunst begünstigte. Nie hätten die beiden Tonsetzer solche Ungebundenheit in der Stimmführung gewagt, wie dies Mahler bewußt anwendete". (Ebd., 17f.) Auf gesellschaftlich-repräsentativer Ebene konnte der zeitweilige Hofoperndirektor und Dirigent der "Philharmonischen" nicht übergangen werden. Auch er war freilich Gast in der Alleegasse. (Vgl. Flindell, 1969, 309. – In einem von Helene Salzer zusammengestellten Photoalbum findet Mahler sich auf einer Seite mit Josef Labor. Und auch Ludwig besaß, wie John King überliefert (Rhees, 1992, 111), "ein besonders frappierendes Porträt" von Mahler.) Doch seine Musik wurde abgelehnt. Und gleichsam als Kehrseite der Abschirmung kommt in dieser Ablehnung bei Wittgenstein der Selbstbezug zum Tragen (– was bei Bruckner z.B. nie der Fall ist –): "Sich über sich selbst belügen, sich über die eigene Unechtheit belügen, muß einen schlimmen Einfluß auf den Stil haben; denn die Folge wird sein, daß man in ihm nicht Echtes von Falschem unterscheiden kann. So mag die Unechtheit des Stils Mahlers zu erklären sein, und in der gleichen Gefahr bin ich. Wenn man vor sich selber schauspielert, so muß der Stil davon der Ausdruck sein. Er kann dann nicht der eigene sein. Wer sich selbst nicht kennen will, der schreibt eine Art Betrug." (Rhees, 1992, 238; vgl. Wittgenstein's Nachlass, MS 120, 19.2.1938) Den ethischen Tenor, freilich weniger radikal, finden wir schon in Besprechungen aus der Zeit, da Mahler als Komponist sich erst durchsetzen mußte. Wilhelm Kienzl etwa konstatierte Mahler 1906 – nachdem ihn 1901 dessen Erste noch zum Lachen gebracht habe – mit der Dritten eine komplizierte, "vielleicht auch eine nicht völlig abgeklärte Persönlichkeit", sein Persönliches sei "mehr ein allgemein künstlerisches als spezifisch musikalisches". Kienzl meint weiter, "daß seinem reinen Tonleben, d.i. seiner Melodik und Harmonik, eine ausgeprägte, von weitem erkennbare Physiognomie nicht eigen ist, wie sie sogar viel kleinere Persönlichkeiten unter den Tonsetzern besitzen. Das stempelt ihn als Musiker zu einem Eklektiker. Ja, ich möchte ihn ob seiner außerordentlichen Fähigkeit, Anempfundenes in völlig selbständiger Weise zu verwerten, im schönsten Ernste das Ideal eines Eklektikers nennen". (Kienzl, 1908, 52) Auffallend ähnlich der Grundzug, bemerkenswert eigen die Zielrichtung in Wittgensteins später Bemerkung: " Wenn es wahr ist, wie ich glaube, daß Mahlers Musik nichts wert ist, dann ist die Frage, was er, meines Erachtens mit seinem Talent hätte tun sollen. Denn ganz offenbar gehörten doch eine Reihe sehr seltener Talente dazu, diese schlechte Musik zu machen. Hätte er z.B. seine Symphonien schreiben und verbrennen sollen? Oder hätte er sich Gewalt antun, und sie nicht schreiben sollen? Hätte er sie schreiben, und einsehen sollen, daß sie nichts wert seien? Aber wie hätte er das einsehen können? Ich sehe es, weil ich seine Musik mit der der großen Komponisten vergleichen kann. Aber er konnte das nicht; denn, wem das eingefallen ist, der mag wohl gegen den Wert des Produkts mißtrauisch sein, weil er ja wohl sieht, daß er nicht, sozusagen, die Natur der andern großen Komponisten
habe, – aber die Wertlosigkeit wird er deswegen nicht einsehen; denn er kann sich immer sagen, daß er zwar anders ist, als die übrigen (die er aber bewundert), aber in einer andern Art wertvoll. Man könnte vielleicht sagen: Wenn Keiner, den Du bewunderst, so ist wie Du, dann glaubst Du wohl nur darum an Deinen Wert, weil Du’s bist. – Sogar wer gegen die Eitelkeit kämpft, aber darin nicht ganz erfolgreich ist, wird sich immer über den Wert seines Produkts täuschen. Am gefährlichsten aber scheint es zu sein, wenn man seine Arbeit irgendwie in die Stellung bringt, wo sie, zuerst von einem selbst und dann von Andern mit den alten großen Werken verglichen wird. An solchen Vergleich sollte man gar nicht denken. Denn wenn die Umstände heute wirklich so anders sind, als die frühern, daß man sein Werk der Art nach nicht mit den früheren Werken vergleichen kann, dann kann man auch den Wert nicht mit dem eines andern vergleichen. Ich selbst mache immer wieder den Fehler, von dem hier die Rede ist." (VB, 544f.; (1948)) Mahler, der Anlaß der Betrachtung, verschwindet bald im Eigenen, das zeigt der Aufbau dieser Bemerkung recht gut. Über Musik ist dabei wenig gesagt. Deshalb hier noch kurz eine zeitgenössische Würdigung des Mahlerschen Werks von Guido Adler; an ihr läßt sich ablesen, gegen welche Widerstände in der Hörerschaft sie anformuliert ist: "Seine Tonsprache ist eindringlich, allein in ihren höchsten und letzten Äußerungen nicht leicht zugänglich. Die sonderbare Mischung des Naiven und Sentimentalen gibt Rätsel, die nicht leicht zu lösen sind. Seine Kunst wirkt beim ersten Eindruck da anziehend, dort abstoßend und muß liebevoll umworben werden. Das Groteske, Bizarre, Ironische, Parodistische in einzelnen Stellen und Sätzen kann leicht mißverstanden werden. Das hohe Pathos, der befreiende Humor, die zarte Heiterkeit heben über die Schroffheiten hinweg, die vielleicht einer kommenden Generation nicht als solche erscheinen. Diese edlen, vornehmen Eigenschaften sind ein Palladium, eine Schutzwehr gegenüber der in einzelnen Stellen und Teilen von manchen bisher empfundenen Überreizung und dem dort und da sich geltend machenden, in unserer Zeit im allgemeinen hervortretenden Hypersubjektivismus." (Adler, 1916, 92f.) Wir haben bisher die Wittgensteinsche Musikauffassung anhand der Vorlieben für bzw. Abneigungen gegen bestimmte Komponisten betrachtet. Das könnte als oberflächliche Annäherung an das Thema verworfen werden – doch hat sich herausgestellt, daß sich aus den subjektiven Stellungnahmen ein Zeithorizont erschließen läßt, der in ihnen widerscheint. Das deutet auch McGuinness an, wenn er für den Umgang der Familie mit Musik schreibt: "Die Betonung lag stets auf dem Ausdruck der musikalischen Idee, und über sie diskutierte man mit einem Minimum an Fachterminologie und dem Wortschatz gebildeter und aufmerksamer Zuhörer bei den langen Besprechungen, die in der Alleegasse auf jedes Konzert der Wiener Philharmoniker folgten." (McGuinness, 1988, 48.) Dort wird auch im Zusammenhang mit den Konzertbesuchen in Manchester 1908–11 der "Enthusiasmus" erwähnt, "mit dem [Wittgenstein] anschließend über die Musik redete." (Ebd., 127) Über eben erlebte Musik reden? – Die "Kennerschaft", von der Wittgenstein in den Vorlesungen über Ästhtetik (1938) meinte, sie zeige sich nicht an – mehr oder weniger – genußvollen Ausrufen, sondern an überlegten Stellungnahmen (VLÄ, 18) zum Musikstück, hat die Betonung freilich nicht auf der sprachlichen Äußerung dieser Überlegungen. Die sozusagen extravertierte ist nur eine Art der Kennerschaft, eine andere wäre die sozusagen introvertierte: "Jemand ist sehr allgemein gebildet, aber weder tief noch umfassend, ein anderer sehr eng, konzentriert und eingegrenzt." (Ebd., 21) Der Ausdruck der Kennerschaft wird entsprechend unterschiedlich sein. (Vgl. zu diesem Punkt Lewis, 1977, bes. 113) David Pinsent notiert in seinem Tagebuch von 1912/13 zwar die zahlreichen in Cambridge gemeinsam gehörten Konzerte (leider nur selten die Programmpunkte), doch nie werden anschließende Gespräche darüber erwähnt. Dreimal ist die Rede von einer angeregten Diskussion bzw. einer wilden Debatte über moderne Musik – nichts darüber, welche "Moderne" das war (vgl. auch McGuinness, 1988, 206) –, allerdings sozusagen in Abwesenheit des Materials; Pinsent und Wittgenstein waren sich einig in ihrer Ablehnung, ihr jeweiliges Gegenüber (W. M. Lindley bzw. K. A. J. McClure) verteidigte heftig. (Vgl. Pinsent, 1994, 84, 89 und 100) Auch ein Brief von Adele Jolles (27.12.1915) läßt an Wittgensteins Gesprächigkeit im Anschluß an musikalischen Erlebnissen zumindest zweifeln: "Meine Tochter hat mir – in Vertretung – die Tragische Ouverture geschenkt. Das Klavier gibt leider den Bläserklang nicht wieder, der so besonders charakteristisch u schwermütig ist. Uebrigens – manchesmal reiner "Manfred" u manchesmal sogar Wagneranklänge – eine Seltenheit bei Brahms. Aber schön! u Wassagensie dazu. – Wer weiss, wie Sie Musikbetrachtungen anmuten!" In Paul Engelmanns Erinnerungen an die Olmützer Zeit wird einiges von gemeinsam genossener Musik erzählt, nichts von Gesprächen darüber. Engelmann reflektiert einmal über Wittgensteins "Entzücken" über Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag und hier "besonders die Stellen, wo musikalische Wirkungen in Worten wiedergegeben sind": "Es ist sonst etwas Gewagtes, wenn versucht wird, das, was der Musik gelungen ist, in Worten anzudeuten. Aber wo es ausnahmsweise gelingt, ist es, wie hier, ein selten erreichter Gipfel der dichterischen Sprache und damit des sprachlichen Ausdrucks überhaupt. Hier war eine der großen Stellen der Dichtung, die Wittgensteins innerstes Sprachproblem berührte: das der Grenze zwischen dem Unaussprechbaren und dem doch möglichen Ausdruck." (Engelmann, 1970, 65f.; vgl. zur Musik auch 44f.) Gerade Engelmann gegenüber betonte Wittgenstein (Brief vom 24.2.1925) den Erfahrungswert des Sprechens: "Ich muß über vieles sprechen, was mir wichtig ist und halte das Reden darüber selbst für wichtig und nicht für Geschwätz. [...] Über ernste Dinge ausführlich zu schreiben wäre
natürlich Zeitvergeudung." (Die "ernsten Dinge", die damals zur Rede standen, waren Überlegungen, ob Wittgenstein mit Engelmann nach Palästina auswandern sollte.) Die Musik war ihm zweifellos ebenso ein "ernstes Ding", ein "Nahrungsmittel", wie er Koder [Ende November 1929] schrieb, aber eines, worüber zu reden ihm weniger gelegen (oder weniger gegeben) war. Sie war ihm eine Erfahrung von eigenem Wert. – Drury überliefert einzelne Gesprächsteile zu Musikalischem, doch lassen sie wenig Enthusiastisches erkennen, Wittgensteins Stellungnahmen sind hier mehr apodiktischer Natur. (Rhees, 1992, 142–235) Bezeichnend, wenn nicht gar in unserem Zusammenhang eine Schlüsselaussage, ist die Bemerkung von 1949: "Ich finde es unmöglich, in meinem Buch auch nur ein einziges Wort zu sagen über alles das, was die Musik für mich in meinem Leben bedeutet hat. Wie kann ich dann darauf hoffen, daß man mich versteht?" (Ebd., 220) Eine neue Fragestellung könnte lauten, ob bzw. inwiefern die gedankliche Ausarbeitung und Präzisierung einzelner Begriffe seines Denkens mit der musikalischen Auffassung Wittgensteins verknüpfbar ist. Dabei ist es, denke ich, hilfreich, Wittgensteins lebenslanges Philosophieren weniger als Entwicklung denn als Entfaltung zu betrachten. Pointiert: Nicht neue Themen tauchen auf, sondern neue Aspekte alter Themen werden wahrgenommen. So heißt es 1948: "Das Verständnis der Musik ist eine Lebensäußerung des Menschen." (VB, 550) Der gipfelbetonte Standpunkt des schillernden Geniegedankens verliert an Bedeutung, der Maßstab wird nicht aufgegeben, er wird situativ. "In Beethovens Musik findet sich zum ersten Mal, was man den Ausdruck der Ironie nennen kann. Z.B. im ersten Satz der Neunten. Und zwar ist es bei ihm eine fürchterliche Ironie, etwa die des Schicksals. – Bei Wagner kommt die Ironie wieder, aber in’s Bürgerliche gewendet. Man könnte wohl sagen, daß Wagner und Brahms, jeder in andrer Art, Beethoven nachgeahmt haben; aber was bei ihm kosmisch war, wird bei ihnen irdisch. Es kommen bei ihm die gleichen Ausdrücke vor, aber sie folgen andern Gesetzen. Das Schicksal spielt ja auch in Mozarts oder Haydns Musik keinerlei Rolle. Damit beschäftigt sich diese Musik nicht." (VB, 565; (1949)) Sehr beschäftigte sich, wie es scheint, Wittgenstein zu dieser Zeit gerade mit Haydn – der früher kaum ein Thema war, in den Erinnerungen der englischen Freunde (Rhees, 1992) überhaupt nicht vorkommt. (Vgl. die Episode bei Monk, 1992, 239f.: Frank Ramsey, im März 1924 in Wien zu Gast bei einer Soiree bei Stonboroughs, wird von jemandem nahegelegt, "er solle sich nichts anmerken lassen", da ihm von den gebotenen Streichquartetten von Haydn und Beethoven ersterer besser gefiel.) Ludwig schickte im Sommer 1949 "zwei Pakete Grammophonplatten" an Helene, "10 Haydn Quartette". (Brief an Helene Salzer, 17.7.1949; Familienbriefe, 199) Diese Auswahl für Helenes Bestellung ging vermutlich von ihm aus, am 3.7.1949 hatte er geschrieben: "ich werde Dir die Platten kaufen, die mir die geeignetsten scheinen". Und am 17.7. fügte er hinzu, die Sammlung sei "weitaus das Beste, was ich finden konnte. Ich wollte dir das Adagio und Fuge von Mozart schicken wovon es eine sehr schöne Aufführung unter Busch gab. Aber es ist nicht mehr im Druck; dafür aber eine Aufführung von Karajan mit allen den charakteristischen abscheulichen Fehlern. – Du wirst auch manches an den Haydn Quartetten auszusetzen haben, aber im Ganzen wirst Du, glaube ich, zufrieden sein." (Ebd., 198) Zwei Bemerkungen von 1946, Variationen des gleichen Themas, lassen erkennen, mit welcher Zielrichtung Wittgenstein nun Beispiele aus der Musik in seine Überlegungen einbrachte: "Die Ironie in der Musik. Bei Wagner z.B. in den ‘Meistersingern’. Unvergleichlich tiefer im ersten Satz der IX. im Fugato. Hier ist etwas, was in der Rede dem Ausdruck grimmiger Ironie entspricht." Anschließend: "Ich hätte auch sagen können: das Verzerrte in der Musik. In dem Sinne, in dem man von gramverzerrten Zügen spricht. Wenn Grillparzer sagt, Mozart habe in der Musik nur das ‘Schöne’ zugelassen, so heißt das, glaube ich, daß er nicht das Verzerrte, Gräßliche zugelassen habe, daß in seiner Musik sich nichts findet, was diesem entspricht. Ob das ganz wahr ist, will ich nicht sagen; aber angenommen, es ist so, so ist es ein Vorurteil Grillparzers, daß es von Rechts wegen nicht anders sein dürfe. Daß die Musik nach Mozart (besonders natürlich durch Beethoven) ihr Sprachgebiet erweitert hat, ist weder zu preisen, noch zu beklagen; sondern: so hat sie sich gewandelt. In Grillparzers Verhalten ist eine Art von Undankbarkeit. Wollte er noch einen Mozart haben? Konnte er sich etwas vorstellen, was so einer nun komponieren würde? Hätte er sich Mozart vorstellen können, wenn er ihn nicht gekannt hätte? Hier hat auch der Begriff ‘das Schöne’ manchen Unfug angestellt." (Beide: VB, 528) Drei Punkte möchte ich aus diesen Bemerkungen herausgreifen und im folgenden weiterführen: – Jeglicher irgendwie gearteten Rangfolge von musikalischen Geistern (ähnlich einer normativ grundierten Musikgeschichte) wird die Legitimation entzogen, die ästhetische Wertung macht der Beobachtung des historischen Verlaufs Platz. Grillparzer kriegt einen Verweis für die Strophe aus seinem Mozart-Gedicht: "Dem großen Meister in dem Reich der Töne, / Der nie zu wenig that und nie zu viel, / Der stets erreicht, nie überschritt sein Ziel, / Das mit ihm eins und einig war: das Schöne!" (Werke III, 22) Gleiches schreibt Grillparzer in seinen Studien zur Musik, auf die Wittgenstein sich in der obigen Bemerkung bezieht. Den Kontext bildet dort die Unterscheidung von Dichtkunst und Musik (vgl. unten, Kapitel 2): In dieser komme, da sie das Gefühl unmittelbar
anspreche, die "Billigung des Verstandes" nicht zum Tragen. "Daher darf Shakespeare bis zum Gräßlichen gehen, Mozarts Grenze war das Schöne." (Werke XV, 114) – Mit der Übersetzung von Ausdrucksformen (etwa hier der musikalischen in mimisch-gestische) ist ein zentrales Thema des Wittgensteinschen Denkens ausgesprochen (vgl. unten Kapitel 3). – Der Hinweis auf Mozarts – selbstverständliche – Einzigartigkeit birgt einen Schlüssel für Wittgensteins Überlegungen zum "Verständnis" überhaupt. (Vgl. die Gedanken dazu unten, Kapitel 4 und 5.) Was die Gerechtigkeit gegenüber dem historischen Wandel der Musiksprache anbelangt, so haben wir oben bereits den Kanon gesehen, der die Grenzen des musikalischen Verständnisses für Wittgenstein absteckte. Die romantische, innerlich-empfindungsbetonte Vorliebe schottet sich gegen den spätromantischen Ausdruck bei Mahler oder, in den Übergängen zur Atonalität, Schönberg ab. (Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Aussage Paul Wittgensteins, auch Schönberg sei Gast in der Alleegasse gewesen und sei von Karl Wittgenstein unterstützt worden. Vgl. Flindell, 1969, 309) Die musikalischen Ausdruckselemente im Wandel der Zeiten sind Variationen des Gefühlslebens, das Zuwächse im Gang der Geschichte nicht zu kennen scheint. Gefühlsensembles, die die "Untergänge" (VB, 562; (1949)) der neuen Zeit einbeziehen, widerspiegeln, indem etwa Harmonien fragwürdig werden, nicht zu reden von Zerstreuung, Isolation oder Ekel, finden in Wittgensteins Musikauffassung keine Ausdrucksmöglichkeiten. Auf eine Änderung der Ausdrucksweise, die in einer philosophischen Verwirrung die Erlösung von einem "Problem" bringen kann, läßt Wittgenstein sich im Musikalischen nicht ein: Die Tonalität ist ihm kein Filter, der Bestimmtes wahrnehmen läßt, Anderes nicht. Bilden für ihn die vom tonalen Musiksystem her als dissonant zugleich definierten und deklassierten Tongestaltungen keine Ausdrucksmittel des "menschlichen Wertes" mehr? (VB, 459) Zumindest weiß er sich fremd diesen zeitgenössischen (nicht nur musikalischen) Entwicklungen gegenüber, vermutet, "[d]aß diese Zivilisation vielleicht die notwendige Umgebung dieses [d.i. seines] Geistes ist, aber daß sie verschiedene Ziele haben." (VB, 460) "Du schreibst, daß ihr jetzt Musik mit starken Kontrasten gewöhnt seid. Ich glaube, mir wäre das ungemein zuwider. Ich glaube, ich hätte das größte Mißtrauen gegen so eine Auffassung. Aber vielleicht auch nicht; & vielleicht verstehe ich auch die neuere Zeit nicht." (An Helene Salzer, 15.3.1948; vgl. Familienbriefe, 195) In nichts kann er also der von Krenek am Beispiel von Schönberg nur als "Steigerung der Ausdrucksmittel früherer Zeit" charakterisierten neuen Musik folgen: "Der Ausdruckswille, also die Intention, mit welcher das Mittel ergriffen wird, bleibt bis in die späte atonale Musik hinein im Wesentlichen gleichgerichtet mit dem der Romantik, ja eben diese Willensgleichheit zwingt zur Wandlung des Mittels, wenn Neues, Persönliches gesagt werden soll." (Krenek, 1937, 8. Dieses Buch sammelt im Herbst 1936 in Wien gehaltene Vorträge.) Das Weitertreiben der "Espressivo-Haltung" (ebd., 15) in der Neuen Wiener Musik, die "Bereicherung des Wortschatzes der Tonsprache zum Zwecke der Intensivierung ihrer emotionalen Wirkungsmöglichkeiten" (ebd., 16), waren für Wittgenstein kein Thema, wiewohl er Kreneks Motiven der Ablehnung gewisser restaurativer Tendenzen in Ausprägungen der neuen Musik vielleicht zugestimmt hätte: Die "Materialverwandlung" (ebd., 13) durch den Espressivo-Stil sei zu rehabilitieren gegen die motorische Musik und die Affektfreiheit der Neuen Sachlichkeit, gegen die komische Montage und die "Ernsthaftigkeit des Clowns" des Surrealismus sowie gegen die fehlende "Intention aufs Ganze" und die Tendenz zur Geschichtslosigkeit des Neoklassizismus. (Ebd., 10) – Der von Christian von Ehrenfels’ Aufsatz Über Gestaltqualitäten (wieder in: Weinhandl, 1960, 11–43) beeinflußte Gedankengang von Krenek scheint sich einerseits in einzelnen Punkten mit Gedanken Wittgensteins zu treffen, seine systematisierende Intention, unter der v.a. der musikalische Schaffensprozeß starke Idealisierungen erfährt, zeigt anderseits deutliche Entfernungen. Wenn Krenek für die menschlichen Geistestätigkeiten "Einheitlichkeit und Gleichstimmigkeit" feststellt (Krenek, 1937, 18) und dies weder im Sinne von Spenglers Symbolismus noch im Sinne der programmusikalischen Ausdrucksästhetik des 19. Jahrhunderts verstanden wissen will, sondern aus der grundlegenden Erkenntnis der Musik als Form des Denkens in musikalischen Zusammenhängen (ebd., 20f.), rückt er die musikalischen Äußerungen jenen "Grundelemente[n] des Sprachlichen" nahe, die die Äußerung überhaupt erst zu einer sprachlichen machen: Das ganzheitliche Objekt seiner Betrachtung, der "musikalische Gedanke", ist, "was im musikalischen Medium vollständig enthalten ist und nur durch dieses zu unserer Kenntnis gelangt, ohne jede Zwischenschaltung von außermusikalischen Überlegungen, ohne Übersetzung in ein anderes Medium. Zum Sprachgedanken, der durch seine begriffliche Fixierung als solcher gekennzeichnet ist, verhält sich der musikalische Gedanke wie das Urbild des Unmittelbaren zu seinen konkreten Ausprägungen im Bereich des Logischen; in jener prälogischen Sphäre aber vollzieht sich seine Verwirklichung in der selben Weise wie die des Sprachgedankens in der logischen, weshalb uns die Parallelen zur Wortsprache so wichtige Aufschlüsse geben können." (Ebd., 26f.) Sieht man über die Selbstverständlichkeit hinweg, mit der hier Krenek in nur scheinbarer Klarheit über mentale Vorgänge spricht, denen Wittgenstein Zeit seines Lebens nachdachte und deren Möglichkeit einer klaren sprachlichen Wiedergabe er durch die Art seines Philosophierens die notwendige Absage erteilt, so entdecken wir doch Ähnliches: Der musikalische Gedanke sei das, "was eine musikalische Gestalt bedingt und erfüllt." Die Gestalt sei die "Erscheinungsform des Gedankens im musikalischen Material", aber nicht im Sinne von Abbild, Symbol oder Ausdruck, sondern eben
"identisch". (Ebd., 28) Ihre Erkenntnis sei nicht synthetisch, etwa von Einzeltonempfindungen ausgehend, sondern nur analytisch, etwa von Intervallen oder Reihen her, zu leisten. (Ebd., 24) Bei Wittgenstein nun: "Es ist falsch, das Verstehen einen Vorgang zu nennen, der das Hören begleitet. (Man könnte ja auch die Äußerung davon, das ausdrucksvolle Spiel, nicht eine Begleitung des Hörens nennen.)" (Z 163) "Das Verstehen der Musik ist weder eine Empfindung, noch eine Summe von Empfindungen. Es ein Erlebnis zu nennen, ist aber dennoch insofern richtig, als dieser Begriff des Verstehens manche Verwandtschaften mit andern Erlebnisbegriffen hat." (Z 165) Die Fortsetzung dieser Bemerkung macht ihren abgegrenzten Geltungsbereich deutlich, oder doch die Schwierigkeit, in diesem Zusammenhang von einer von den materialen Grundlagen her neuen Erfahrung zu sprechen: "Man sagt ‘Ich habe diese Stelle diesmal ganz anders erlebt’. Aber doch sagt dieser Ausdruck ‘was geschah’ nur für den, der in einer besondern, diesen Situationen angehörigen Begriffswelt zu Hause ist." (Z 165) Ist es aber vonnöten, daß derjenige, der mich verstehen soll, Ähnliches kennen muß wie ich, der ihm etwas schildert – so ist für das Verstehen der musikalischen Entwicklung der Tonsprache das Ausklammern einer ganzen Übergangsepoche, wie es die Spätromantik eine war, fatal: Krenek gibt dem Eindruck, der viele die neue Musik ablehnen läßt, teilweise recht, "sie sei häßlich, mißtönend, chaotisch, unverständlich, entrate der geschlossenen Formgebung, sie sei dürr und klangarm". (Krenek, 1937, 90) Verkannt werde aber, daß sie wahrhaft sei, insoweit sie bei aller technischer Vollkommenheit der Konstruktion fragmentarisch sei. (Vgl. ebd., 91) Soziologisch: "Die neue Musik, durch ihren radikalen Expressionismus zur äußersten konstruktiven Konsequenz getrieben, spricht in der Aufhebung der alten Form mit voller Wahrhaftigkeit den Zustand der Gesellschaft aus. Die Entfremdung ist das charakteristische Kennzeichen dieses Zustandes; die Entfremdung als Schicksal der Musik, welche ihn ausspricht, eine Folge davon, daß sie es tut. [...] Eine Kunst, die, was immer ihre Stoffe sein mögen, diese Wahrheit rein existenziell, durch die Beschaffenheit ihrer Erscheinungsform ausspricht, muß in die Isolierung gelangen, denn sie erfüllt nicht die Funktion, die man in dem gegebenen Zustand der Dinge von der Kunst zu erwarten pflegt: in erhebender Weise über die Wahrheit zu täuschen." (Ebd., 92) Hier ist das Auseinanderdriften des theoretischen und praktischen Verfechters der neuen Musik, Krenek, und des Systemfragmentierers Wittgenstein greifbar. Jener sieht "in der fortgeschrittensten Form der Musik die fortgeschrittenste Verwirklichung des wahren Menschen ausgesprochen" (ebd., 107), dieser eben nicht. Zumindest nicht, insofern damit nur einem Fortschrittsmodell genüge getan ist. Jener spricht von der "eigenartigen Verwandtschaft" (ebd., 86) zwischen Mathematik und Musik im Sinne der kompositionstechnischen Nähe der Neuen Wiener Musik zur (Hilbertschen) Axiomatik, der Autonomie in der Setzung der Axiome in den Äußerungen des musikalischen Gedankens, d.i. im Musikstück. (Ebd., 82f.) Das Verständnis neuer Musik finde z.B. in Vergleichen mit jüngsten Entwicklungen in der Physik, so im Strukturwandel des Materials Unterstützung: wie hier die Materie langsam das Materialhafte verliere und "Erscheinungsform von Energie" werde, seien aus den statischen harmonischen Blöcken "die kinetisch charakterisierten, beweglichen Reihenelemente" entwickelt worden. (Ebd., 86f.) Für Wittgenstein liegt die "seltsame Ähnlichkeit einer philosophischen Untersuchung (vielleicht besonders in der Mathematik) mit einer ästhetischen" (VB, 485; (1936)) wohl eher in einer ihnen gemeinsamen Motivation, vergleichbar jener, die E.T.A. Hoffmann einem Komponisten für eine mit rechtem Effekt gesetzte Oper mitgibt: "Lies das Gedicht, richte mit aller Kraft den Geist darauf, gehe ein mit aller Macht deiner Fantasie in die Momente der Handlung; du lebst in den Personen des Gedichts [...]. Die technische Übung durch Studium der Harmonik, der Werke großer Meister, durch Selbstschreiben bewirkt, daß du immer deutlicher und deutlicher deine innere Musik vernimmst, keine Melodie, keine Modulation, kein Instrument entgeht dir, und so empfängst du mit der Wirkung auch zugleich die Mittel, die du nun, wie deiner Macht unterworfene Geister, in das Zauberbuch der Partitur bannst." (Hoffmann, Kreisleriana; Werke 1, 312) Diese gemeinsame Motivation, im morphologischen Blick festgehalten, ließ für Wittgenstein in neuerer Zeit erst gar keine aussagefähige Musik entstehen: "Die Musik der vergangenen [Variante: aller] Zeiten entspricht immer gewissen Maximen des guten & rechten der selben Zeit. So erkennen wir in Brahms die Grundsätze Kellers etc etc. Und darum muß gute [Variante: eine] Musik die heute oder vor kurzem gefunden wurde, die also modern ist, absurd erscheinen, denn wenn sie irgend einer der heute ausgesprochenen Maximen entspricht so muß sie Dreck sein. Dieser Satz ist nicht leicht verständlich aber es ist so: Das Rechte heute zu formulieren dazu ist so gut wie niemand gescheit genug & alle Formeln, Maximen die ausgesprochen werden sind Unsinn. Die Wahrheit würde allen Menschen ganz paradox klingen. Und der Komponist der sie in sich fühlt muß mit seinem Gefühl im Gegensatz stehen zu allem jetzt Ausgesprochenen & muß also nach den gegenw[ä]rtigen Maßstäben absurd, blödsinnig, erscheinen. Aber nicht anziehend absurd (denn das ist das was doch im Grunde der heutigen Auffassung entspricht) sondern nichtssagend. Labor ist dafür ein Beispiel dort wo er wirklich bedeutendes geschaffen hat wie in einigen, wenigen, Stücken." (Tagebucheintrag 27.1.1931; Denkbewegungen, 38) Was sich hier als epochale Betrachtung anhört (und, wie alles Epochale, ungreifbares Konstrukt bleibt), hat einen faßbaren Ursprung: Die "neue Musik", aber auch Wagner, Mahler und Richard Strauss wurden von Wittgenstein weniger nach musikgeschichtlichen Maßstäben aus dem Repertoire der Vorlieben ausgeschieden, als nach einfachen
(oder komplizierten) Empfindungsmaßstäben. – Zu Wittgensteins v.a. auf die Meistersinger bezogene Annäherung an Wagners Musik während der Berliner Studienzeit vgl. McGuinness, 1988, 102f. Eine bezeichnende Nebensächlichkeit dazu ist, daß Stanislaus Jolles seinen ehemaligen Untermieter einmal in bezug auf dessen Hang, seine Fragen unbeantwortet zu lassen, als den "reine[n] Lohengrin" apostrophierte. (Feldpostkarte an Wittgenstein, 20.2.1915) Im Olmützer Kreis um Engelmann "gab es immer wieder Verfluchungen des Musik- und Kulturzerstörers Richard Wagner, der damals noch der unangreifbare Musikpapst war. Wittgenstein fluchte nicht, hatte aber auch nicht viel dagegen." (Engelmann, 1970, 45) – Wagner war, muß hier wohl eingewendet werden, Papst nur für diejenigen, die ihn als solchen anerkannten oder fürchteten. – Mit der Bemerkung gegenüber Drury (1930), "Wagner [sei] der erste der großen Komponisten [gewesen], die einen unangenehmen Charakter hatten" (Rhees, 1992, 160), scheint die Sache abgetan zu sein. "Ich glaube, um einen Dichter zu genießen, dazu muß man auch die Kultur, zu der er gehört, gern haben. Ist die einem gleichgültig oder zuwider, so erkaltet die Bewunderung." (VB, 570; (1950). Vgl. hier, bemerkenswert ähnlich und anders zugleich, Wittgensteins schon oben zitierte Äußerung über Mahler. (Rhees, 1992, 111)) Offensichtlich ersetzte ihm den Eindruck des Neuen die – unendliche – Variationsfähigkeit des vertrauten Materials. Oder, wie McGuinness (1988, 68) paraphrasiert: "Die Notwendigkeit eines Wandels sah er nicht, und Bergs Werke etwa fand er skandalös. Das klassische Repertoire enthalte mehr als genug, worüber man sein ganzes Leben lang nachdenken könne." In einer frühen Fassung des gedruckten Vorworts zu den Philosophischen Bemerkungen formuliert Wittgenstein: "Jeder Satz, den ich schreibe, meint immer schon das Ganze, also immer wieder dasselbe und es sind gleichsam nur Ansichten eines Gegenstandes unter verschiedenen Winkeln betrachtet." (VB, 459, (1930)) Das Evidenzgefühl der Echtheit, das nicht zuletzt aus der musikalischen Prägung durch die romantische Musik stammt, kommt von dieser nicht los. Es sei denn in experimentierender Fantasie: "‘Du verstehst ja nichts!’ so sagt man, wenn Einer bezweifelt, daß das echt sei, was wir klar als echt erkennen. ‘Du verstehst ja nichts’ – aber wir können nichts beweisen. Der seelenvolle Ausdruck in der Musik, – er ist doch nicht nach Regeln zu erkennen. Und warum können wir uns nicht vorstellen, daß er’s für andere Wesen wäre? Schon das würde uns einen fremden und tiefen Eindruck machen, wenn wir zu Menschen kämen, die nur Spieluhrenmusik kennten. Wir würden uns vielleicht eine Art Gebärden erwarten, die wir nicht verstünden, auf die wir nicht zu reagieren wüßten." (BPP II 694–696) Das Einzigartige der musikalischen Empfindung, das Unübersetzbare, ebenso wie das bei den Romantikern aufs "Unendliche" gerichtete Gefühl - eine Formulierung, die Unfaßbarkeit signalisiert, nicht Zielrichtung –, das die Musik hervorruft, ist bei Wittgenstein, ins Methodische gewendet, in die grammatische Analyse eingegangen: "Das ‘wirklich Unendliche’ ist ein ‘bloßes Wort’. Besser wäre, zu sagen: dieser Ausdruck schafft vorläufig bloß ein Bild, – das noch in der Luft hängt; dessen Anwendung du uns noch schuldig bist." (Z 274) "Man kann auch vom Verstehen einer musikalischen Phrase sagen, es sei das Verstehen einer Sprache. Ich denke an eine ganz kurze von nur zwei Takten. Du sagst ‘Was liegt nicht alles in ihr!’ Aber es ist nur, sozusagen, eine optische Täuschung, wenn du denkst, beim Hören gehe vor, was in ihr liegt. (Denk doch daran, daß wir manchmal sagen, und ganz mit Recht: ‘Es kommt drauf an, wer’s sagt.’) (Nur im Fluß der Gedanken und des Lebens haben die Worte Bedeutung.)" (BPP II 503 und 504) 2. Die "Akustik der Seele" - Bausteine der musikalischen Romantik "Der Anfangsakkord dieses langsamen Satzes hat die gleiche Farbe wie dieser Himmel". (Ludwig Wittgenstein über den 2. Satz der Siebten Symphonie von Ludwig van Beethoven) "Und du singst, was ich gesungen, Was mir aus der vollen Brust Ohne Kunstgepräng erklungen, Nur der Sehnsucht sich bewußt." (Alois Isidor Jeitteles/Ludwig van Beethoven: An die ferne Geliebte) Das bevorzugte musikalische Repertoire in der Familie Wittgenstein (wir müssen hier wohl Paul ausnehmen) führte uns bereits in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, ebenso Wittgensteins Überlegung zu seinem "Kulturideal" von 1929. Zwanzig Jahre später notiert er: "Mein eigenes Denken über Kunst und Werte ist weit desillusionierter, als es das der Menschen vor 100 Jahren sein konnte. Und doch heißt das nicht, daß es deswegen richtiger ist. Es heißt nur, daß im Vordergrund meines Geistes Untergänge sind, die nicht im Vordergrund jener waren." (VB, 562; (1949)) Was den Vordergrund des romantischen Denkens ausmacht – abgesehen davon, daß hier mit einer
"vordergründigen" Betrachtung wenig getan ist –, lassen wir uns, auf die Musik bezogen, von Hoffmann, dem Musiker unter den romantischen Dichtern, sagen: "Der Musiker, das heißt, der, in dessen Innerem die Musik sich zum deutlichen klaren Bewußtsein entwickelt, ist überall von Melodie und Harmonie umflossen. Es ist kein leeres Bild, keine Allegorie, wenn der Musiker sagt, daß ihm Farben, Düfte, Strahlen, als Töne erscheinen, und er in ihrer Verschlingung ein wundervolles Konzert erblickt. So wie, nach dem Ausspruch eines geistreichen Physikers, Hören ein Sehen von innen ist, so wird dem Musiker das Sehen ein Hören von innen, nämlich zum innerlichsten Bewußtsein der Musik, die mit seinem Geiste gleichmäßig vibrierend aus allem ertönt, was sein Auge erfaßt. So würden die plötzlichen Anregungen des Musikers, das Entstehen der Melodien im Innern, das bewußtlose oder vielmehr das in Worten nicht darzulegende Erkennen und Auffassen der geheimen Musik der Natur als Prinzip des Lebens oder alles Wirkens in demselben sein." (Hoffmann, Kreisleriana; Werke 1, 321) Um im Bild, das "kein leeres Bild" ist, zu bleiben: Wittgensteins "Untergänge" sind – nicht zu reden von jenem der österreichisch-ungarischen Monarchie, des Abendlandes, der Kultur und sonstiger nur hohler Begriffe – vielleicht alle jene Bruchlinien, die ihn in einer "Verschlingung" kein "wundervolles Konzert" mehr erblicken lassen, sondern nur mehr ein Spiel in kleinen Gruppen. Im Tagebuch notiert er am 4.10.1930 – in der Zeit, da die Klärung seines Verhältnisses zu Marguerite Respinger akut war –: "Ich sollte mich nicht wundern wenn die Musik der Zukunft einstimmig wäre. Oder ist das nur, weil ich mir mehrere Stimmen nicht klar vorstellen kann? Jedenfalls kann ich mir nicht denken daß die alten großen Formen (Streichquartett, Symphonie, Oratorium etc) irgend eine Rolle werden spielen können. Wenn etwas kommt so wird es – glaube ich – einfach sein müssen, durchsichtig. In gewissem Sinne nackt. Oder wird das nur für eine gewisse Rasse, nur für eine Art der Musik gelten?" (Denkbewegungen, 31) Die Wahrnehmung der "Untergänge" nicht als Verlust oder Gewinn zu beurteilen, sondern aus ihr eigene Gestaltungskraft zu entwickeln, ist die Leistung dieses Philosophierens. Einige weitere Bausteine der (musikalischen) Romantik werden den Zusammenhang mit vielem schon oben Dargestellten konkreter machen: * Der verklärende Blick auf einen "Geist des Ganzen" in früherer Zeit, wie wir ihn in Wittgensteins Entwurf zu einem Vorwort zu den Philosophischen Bemerkungen (VB, 458f.; (1930)) finden, der Hinweis auf den gegenwärtigen zersplitterten Zustand der großen Organisation Kultur, deren Einzelkräfte nicht mehr an einem Gesamt mitwirkten, sondern in separaten Bestrebungen ohne erkennbares Ziel auseinandertrieben; die Kulturverfallsklage ist schon ein romantischer Topos – im neuplatonischen Geschichtsbild von ursprünglicher Einheit, Trennung und Wiederherzustellendem aber stark auf "Regeneration" gerichtet, auf die Romantisierung der Welt. "Niederem einen hohen Sinn geben, Gewöhnlichem Geheimnisvolles abgewinnen, in Endlichem Unendliches erscheinen lassen." (Wiora, 1965, 19) – Durch die "Untergänge" ernüchtert, äußert sich die Tendenz der Verklärung als Streben nach Unverfälschtheit des Blicks. Paul Engelmann spricht davon, wie sehr Wittgensteins "Begeisterung [...] dem (im hohen Sinne des Wortes) Banalen [gilt]. Die Bedeutung dieser Banalität, mit der die innerste Problematik des moralisch-ästhetischen Zeitgeschehens, der Grenze zwischen dem seelisch Echten und Falschen aufs engste verbunden ist, wurde von Kraus entdeckt und behandelt. (Es ist das Problem von Loos in der Architektur.) Und es ist immer das Einfachste, das, wenn es gelingt, allein ins Schwarze trifft." (Engelmann, 1970, 66) * Der Niedergang der Musik wurde z.B. von Achim von Arnim im Bereich des Volksliedes an dessen Banalisierung zum Gassenhauer konstatiert: gefordert wurde nun Wahrhaftigkeit, Echtheit, Verbundenheit mit dem Ursprung. (Vgl. Wiora, 1965, 27) Ähnlich lautete der Befund über die Kirchenmusik: Mit der Aufklärung sei "Ernst und Würde" aus ihr verbannt worden. "In keinem Phänomen, sagt Friedrich Schlegel, zeige sich der tiefe Verfall der jetzigen Zeit so sehr wie im Wandel der Musik zur äußersten Irreligiosität." (Ebd., 20; Wiora zitiert die Philosophie-Vorlesungen Schlegels.) Die im Cäcilianismus allmählich erstarrende "Pflege guter alter Kirchenmusik" (Adler, 1924, 15) bzw. das von allerlei "Pächter[n]" gepflegte Volkslied (Brahms an Philipp Spitta, 3.4.1894; Brahms-Briefwechsel XVI, 97) kamen in den Werken von Bruckner bzw. Brahms – verwandelt – wieder zum Vorschein. Die Religiosität der Brucknerschen Musik wurde allerdings nicht mehr kirchengebunden interpretiert – obwohl gerade Bruckners strenger Katholizismus unleugbar ein tragendes Element seiner Persönlichkeit war, was Brahms ja bekanntlich auf den Punkt brachte, Bruckner sei "ein armer, verrückter Mensch, den die Pfaffen von St. Florian auf dem Gewissen haben" (Kalbeck, Bd.3, 408) –, sondern als überkonfessionell empfundene. (Vgl. Adler, 1924, 19; Halm, 1914, 212; aufschlußreich besonders der Hinweis auf das Orgelspiel als Voraussetzung für Bruckners symphonisches Schaffen bei Orel, 1926, 40.) Die Brahmssche "Volksverbundenheit" klang nicht anbiedernd, sondern, konzentriert auf das Wesentliche, kunstmusikalisch aufgehoben: "Brahms vermochte es [...], eine Melodie zu schreiben, die bis in die kleinsten Biegungen hinein sein Eigentum war und doch wie ein Volkslied klang. Oder – umgekehrt gesagt: eine Melodie, die ein wirkliches, echtes Volkslied – und doch von Brahms war." (Furtwängler, 1931, 14f.) – Der Komponist selber äußerte über seine späten Volksliedbearbeitungen, die "musikalische Version seiner Streitschrift" (Fellinger, 1965, 115) gegen den Deutschen Liederhort, herausgegeben zuerst von Ludwig Erk (1856), erweitert von Magnus Böhme (1893f.): "Diese meine Beispiele sprechen jedoch nur
von dem einen: daß ich mich für die gar so philiströsen Texte und Melodien, wie sie seit Erk so gepflegt werden, nicht interessieren kann; ich zeige solche Gedichte und Melodien, die mir schön und gut erscheinen und seit längster Zeit lieb und wert sind". (Brahms an Hermann Deiters, 29.6.1894; Brahms-Briefwechsel III, 126; zit. bei Fellinger, 1965, 115) Früher schon hatte er an Clara Schumann geschrieben (27.1.1860): "Das Lied segelt jetzt so falschen Kurs, daß man sich ein Ideal nicht fest genug einprägen kann. Und das ist mir das Volkslied." (Litzmann, 1927, Bd. 1, 294) Nun verdeutlicht er, wieder an Clara Schumann (6.7.1894): "Mit wie wenig Worten und Tönen ist oft das Tiefste gesagt, jede Stimmung ganz ausgeschöpft." (Litzmann, 1927, Bd. 2, 557; zit. bei Fellinger, 1965, 115) Im Falle der über Musik vermittelten, aus Musik empfundenen Religiosität entfällt der kirchlich-rituelle Kontext: Gerade das Deutsche Requiem, in dem Brahms, "ein sehr keuscher Brahms" (Ludwig Wittgenstein an Helene Salzer, [Dezember 1947]; Familienbriefe, 192), eine eigene Auswahl aus Bibelstellen vertonte, finden wir in der Biographie von Wittgenstein auffallend häufig – was immer noch heißt: selten – erwähnt: David Pinsent berichtet am 4.10.1912 vom Schlußkonzert des Birmingham-Festivals, bei dem Henry Wood u.a. das Requiem dirigierte, Wittgenstein habe es "noch nie so genossen – dabei hatte er es schon ziemlich oft gehört." (Pinsent, 1994, 73) Ernestine Engelmann schreibt am [12.4.1919]: "Zu Ostern führt Fritz Zweig hier das ‘Deutsche Requiem’ von Brahms auf, wie gerne hätten wir Sie auch dabei!" Guido Adler (1933, 22) brachte das Werk auf den Nenner: "Höchste religiöse Offenbarung ohne konfessionelle Mystik und Einordnung [... –] eine Emanation im Dienste der Menschheit". Bezeichnend im Zusammenhang von Musik und empfundener Religosität ist eine briefliche Äußerung von Hermine Wittgenstein (an Ludwig, 16.4.1916): "Gestern war ich in der Hohen Messe von Bach, beinahe hätte ich mich nieder gekniet so überwältigend ist das. Es ist so merkwürdig dass so etwas doch nur entstehen kann durch den intensivsten Gottesglauben. Glaube Fantasie und Kunst sinken vielleicht gleichmässig." (Familienbriefe, 28) Auch das "Sprechen der Musik" (Z 160), zu dem Wittgenstein öfters Überlegungen anstellt – so, wenn er sich erinnert, daß man über Labors Spiel gesagt hat: "Er spricht." (VB, 538; (1947)) –, ist weniger ein dramatisches Moment als ein romantisch gestimmtes, wie umgekehrt die musikalischen Elemente der Wortsprache, die als Beispiel dienen, deutlich machen: "(Ein Seufzer, der Tonfall der Frage, der Verkündigung, der Sehnsucht, alle die unzähligen Gesten des Tonfalls.)" (Z 161) Als ein Beispiel für dezidiert dramatische "Erscheinungen mit sprachähnlichem Charakter in der Musik" (VB, 497; (1938)) erwähnt Wittgenstein einmal – naheliegend – die Rezitative der Bässe im Schlußsatz der Neunten von Beethoven; ein andermal – in anderem Zusammenhang – hebt er den langsamen Satz aus Beethovens Viertem Klavierkonzert, den famosen Dialog zwischen Soloinstrument und Orchester, in heroische Höhen: "Was Beethoven hier schreibt, ist nicht nur für seine eigene Zeit oder Kultur bestimmt, sondern für das ganze Menschengeschlecht." (Rhees, 1992, 164) Doch schon was Wittgenstein an Bachs Musik als "sprachähnlicher" (ebd.) jener Mozarts oder Haydns ansieht, geht, meine ich, in Richtung des empfundenen Ausdrucks (Engelmann nennt die "Wahrhaftigkeit, diese völlige Angemessenheit des Ausdrucks an das Empfinden", auch den "Motor seines [d.i. Wittgensteins] Philosophierens"; Engelmann, 1970, 66), was noch eine spätere Bemerkung zu Bach nahelegt: "Bach hat gesagt, er habe alles nur durch Fleiß geleistet. Aber ein solcher Fleiß setzt eben Demut und eine ungeheure Leidensfähigkeit, also Kraft, voraus. Und wer sich dann vollkommen ausdrücken kann, spricht eben zu uns die Sprache eines großen Menschen." (VB, 550; (1948)) Dem Polyphoniker Bach gelten schließlich Wittgensteins letzte brieflich überlieferten Äußerungen über Musikalisches. Am 15. März 1951 schreibt er an Helene Salzer: "Neulich las ich, es gebe jetzt eine Aufnahme des C-dur Konzerts von Bach für 3 Klaviere, ich bin nicht sicher, welches von den beiden das ist. Ich höre nur den Anfang des einen dreiklavierigen Konzerts in meinem innern Ohr, weiß aber nicht die Tonart." (Familienbriefe, 203) Edwin Fischer hatte bei einer Aufführung dieses Konzerts (Nr. 2, BWV 1064) am 11. Mai 1950 anläßlich von Bachs 200. Todestag in der Londoner Royal Albert Hall, zusammen mit Ronald Smith und Denis Matthews im Klavierpart, das Philharmonia Orchestra geleitet. Fünf Tage danach entstand eine Studioaufnahme, die hier vermutlich angesprochen ist. (Im Beiheft zur CD, auf der diese Aufnahme vom 16.5.1950, neben anderen Bachwerken mit Fischer, bei EMI (CDH 7 64928 2; 1993) vorliegt, wird allerdings als Erstveröffentlichungsjahr 1954 angegeben, doch halte ich es für unwahrscheinlich, daß damals innerhalb von wenigen Jahren das gleiche Stück vom gleichen Musiker mehrmals eingespielt wurde. – Ronald Smith, einer der Pianisten, erinnert sich im erwähnten CD-Beiheft an die Probe: "Wir spielten alle nach der Orchesterpartitur, damit wir den Parts der anderen folgen und spontan auf eine sich entwickelnde und impulsive Konzeption reagieren konnten. Ich muß betonen, daß Fischer die bloße Vorstellung von einer vollendeten Aufführung fremd war. Er verwendete die improvisierte Verdopplung gewisser Leitmotive, damit deren Sequenz deutlicher abgegrenzt werden konnte, die gelegentliche Verstärkung des Basses, das drohende Staccato, das Zurücknehmen einer Stimme und das Hervorheben einer anderen, um ein Gefühl kontinuierlicher Entwicklung zu fördern." Und über die Aufnahme meint Smith: "Während der Pausen zwischen den 78 U/min.-Takes trafen wir an Ort und Stelle Entscheidungen über Verzierungen, Dynamik und Struktur. [...] Für Ohren, die an den silberhellen Klang von Cembalos gewöhnt sind, könnte Fischers gesamter Ansatz, Bach zu spielen, zu monumental erscheinen. Der herrliche Höhepunkt des Adagio könnte wohl einige Puristen zum
Stirnrunzeln veranlassen, doch er wird reichlich gerechtfertigt, wenn er in die nachfolgende Stille ausklingt." Der Ereignischarakter, den Fischer seinem Musizieren gab, kommt in seinem Rat an Smith zum Ausdruck: "Sie dürfen nie die Sünde begehen, heute genauso zu spielen wie gestern".) Wittgenstein hörte sich das Konzert in einem Plattengeschäft an: "es ist wunderbar aufgeführt. (Eine einzige Stelle im ersten Satz kommt mir nicht gut vor.) Ich habe das Gefühl, Fischer sei ein großer Künstler." (Brief an Helene Salzer, 17.3.1951) Im April schickte er dann Helene die Platten. (Brief vom 10.4.1951; beide: Familienbriefe, 204) Das Kriterium der Angemessenheit: Auch die (musikalische) Dramatisierung des Mythos fällt ihm zum Opfer: "Merkwürdig zu sehen, wie ein Stoff sich einer Form widersetzt. Wie der Nibelungenstoff sich der dramatischen Form widersetzt. Er will kein Drama werden & wird kein’s & nur dort ergibt er sich wo der Dichter oder Komponist sich entschließt episch zu werden So sind die einzigen bleibenden & echten Stellen im ‘Ring’ die epischen, in denen Text oder Musik erzählen. Und darum sind die eindrucksvollsten Worte des ‘Rings’ die der Bühnenweisungen." (Tagebucheintrag 13.10.1931; Denkbewegungen, 52) * Die am "Hervorleuchten des ganzen Menschen" (Grillparzer, Werke XV, 15) orientierte Energieaufwendung zum "Werden eines großen Kulturwerks" (VB, 459; (1930)), der Geniegedanke und die damit verbundene Grundeinstellung des schaffenden Ernstes verbanden sich in der Reaktion auf eine die Lebenswelt nach Maßstäben der Effizienz aufspaltende Argumentation, Musik sei ein Mittel der Zerstreuung im bürgerlich-geschäftigen Alltag. "Es erschien als Abfall vom göttlichen Wesen der Musik, wenn man sie zu grobsinnlichem Zeitvertreib, zum Ausdruck ‘kleinlicher Leidenschaften’ (Tieck) oder zu äußerlicher Tonmalerei brauchte." (Wiora, 1965, 23) Staunen mußte wieder erlernt werden, wo man sich ans Wunderwerk Musik schon gewöhnt hätte. Das ursprünglich kultisch-religiös motivierte Erstarren vor dem Phänomen geht bei Wittgenstein entmystifiziert in die Wahrnehmung ein: "‘Sieh’ es so an, und Du wirst nicht mehr erstaunt sein.’ Man staunt eben nicht nur, weil das Niedagewesene geschieht; Ich staune immer wieder bei dieser Wendung des Themas; obwohl ich es unzählige Male gehört habe und es auswendig weiß. Es ist vielleicht sein Sinn, Staunen zu erwecken." (Wittgenstein's Nachlass, MS 118, 10.9.1937) Das Staunen hat nichts mit einem Geheimnis zu tun, in das nicht einzudringen wäre. Es ist vielmehr "[d]em Aspektwechsel wesentlich" (BPP III 565), läßt mich etwas als etwas wahrnehmen: eine Tonfolge als Melodie etwa, oder eine Melodie als empfundene. Es ist das "Klicken" (VLÄ, 33f.), an dem man eine Übereinstimmung erkennt. "Wir gebrauchen den Ausdruck ‘Ein Mensch ist musikalisch’ nicht so, daß wir jemanden musikalisch nennen würden, der ‘Ah!’ sagt, wenn ein Musikstück gespielt wird, genausowenig wie wir einen Hund musikalisch nennen, der mit dem Schwanz wedelt, wenn Musik gespielt wird." (VLÄ, 18; dazu die Fußnote 1, die Taylors Notat bringt: "Vgl. den Menschen, der gerne Musik hört, aber nicht darüber sprechen kann und in dieser Hinsicht ziemlich unwissend ist. ‘Er ist musikalisch’. Wir würden das nicht sagen, wenn er beim Hören von Musik nur glücklich ist, die anderen Aspekte aber nicht vorhanden sind.") * Die Musik galt, mit E.T.A. Hoffmanns Worten, als "die romantischste aller Künste, beinahe möchte man sagen, allein echt romantisch, denn nur das Unendliche ist ihr Vorwurf." (Hoffmann, Kreisleriana; Werke 1, 37) Dem Status der Unmittelbarkeit, mit der Musik den Geist der Romantik ausspreche, war die begriffliche Unfaßbarkeit beigesellt. Novalis notierte: "Unsere Sprache war zu Anfang viel musikalischer und hat sich nur nachgerade so prosaisiert – so enttönt ... Sie muß wieder Gesang werden". (Zit. nach Istel, 1909, 11) In den "seltsam beschränkten Auslassungen Schopenhauers über Musik" (Riemann, 1901, 477) wird ihr als "Nachbild eines Vorbildes, welches selbst nie unmittelbar vorgestellt werden kann" (Die Welt als Wille und Vorstellung, 3. Buch, § 52; Werke 1, 358) die höchste Stellung innerhalb der Aufreihung der Künste zugewiesen. Mit dem Bestreben einer Klassifizierung der Künste steht die Frage ihrer Vergleichbarkeit an: In der romantischen Auffassung dominiert das Ineinanderwirken der Ausdrucksmedien Sprache und Musik (und, wie in Wagners Gesamtkunstwerk, szenischer Gestaltung), die Vereinigung der schöpferischen Tätigkeiten zu einem Gesamtausdruck. Ihr entsprechen die gesuchten Analogien von musica humana, mundana und coelestis in den "transmusikalischen" Urbildern (Wiora, 1965, 27): Die Musik als "Sinnbild der ewigen Harmonie" (ebd., 22f.) stelle diese "Urformen des zeitlichen Mit- und Nacheinander" dar (ebd., 28), Harmonie und Melodie werden zu allumfassenden Kategorien. "So verstand Novalis sogar die Wissenschaft musikalisch. Alle Methode ist ihm Rhythmus. Hat man den Rhythmus in der Gewalt, so hat man die Welt in der Gewalt. Jeder Mensch hat seinen individuellen Rhythmus. Rhythmischer Sinn ist Genie. Alle Künste und Wissenschaften beruhen auf partiellen Harmonien." (Istel, 1909, 10) Auch Grillparzer betont das Gefühl der Ganzheit, die Unendlichkeit des Schönheitsgefühls in der enthusiastischen Stimmung: "du denkst auch leichter in diesem Zustande; alle Wahrheiten – höchstens die mathematischen ausgenommen, die eben die strengste Sonderung fordern – sind dir einleuchtender, selbst die philosophische Abstraktion gelingt besser". (Grillparzer, Werke XV, 16f.) Doch redet Grillparzer keineswegs einer Mischung der Künste das Wort: Poesie, an den Begriff gebunden, ist ihm "Verkörperung des Geistigen", dagegen Musik, unmittelbar den Sinnen zugängig, "Vergeistigung des Körperlichen". (Ebd., 113) Der
wesentliche Unterschied dieser Künste liege also in der Wirkungsrichtung: Worte wirken mit der "Schärfe des Begriffes" über den Verstand auf die Sinne; Töne, "nur höchst allgemein und vag" Gefühle bezeichnend, über die Sinne auf den Verstand. (Ebd., 114) Deshalb ist Häßlichkeit wohl in der Dichtung möglich, wo die Zweckmäßigkeit der Verstandestätigkeit sie einzuordnen vermag; in der Musik aber – wie Mozart zeigt – darf Unschönes nie auftreten, denn "die Billigung des Verstandes kommt zu spät". (Ebd., 113f.; auf diese Stelle geht Wittgenstein in VB, 528, ein. Vgl. oben, in Kapitel 1. Er gab – nebenbei – einiges auf Grillparzers Blick auf die "Schwesterkunst". John King überliefert: "Als wir uns über Beethoven unterhielten, fragte ich ihn nach einer guten Biographie, und er antwortete, Grillparzers kurze Erinnerungen seien die beste." (Rhees, 1992, 113) Die Erinnerungen, ein 1844–45 verfaßter Abriß der wenigen – und immer skurrilen – Zusammenkünfte der beiden und die Darstellung des Nichtzustandekommens einer gemeinsamen Oper, zusammen mit zwei Reden Grillparzers am Grabe Beethovens in Werke XX, 203–216.) Ganz außer sich war Grillparzer anläßlich der Euryanthe (1823) geraten, mit deren Komposition Carl Maria von Weber für ihn als "Unkünstler" feststand. (Werke XV, 130) "Diese Musik ist scheußlich. Dieses Umkehren des Wohllautes, dieses Notzüchtigen des Schönen würde in den guten Zeiten Griechenlands mit Strafen von Seite des Staates belegt worden sein. Solche Musik ist polizeiwidrig, sie würde Unmenschen bilden, wenn es möglich wäre, daß sie nach und nach allgemeinen Eingang finden könnte." (Ebd., 131) Eine derart rabiate Abfuhr findet durch die zwei Jahre später formulierte Erkenntnis mildernde Umstände: "Ist denn nur das im Menschen etwas, was dem andern nützt? Ist denn nicht jede Realität ein Vorzug?" (Ebd., 121) Auch im Freischütz fand Grillparzer zu viele übelklingende Stellen, die der "natürlichen Einrichtung unsers Gehörgangs" widersprächen bzw. allzu unkaschiert "Gemütszustände" bewirkten. (Vgl. seine Besprechung von 1821 in Werke XV, 126–129.) Nicht zuletzt dürfte hier der "Lärm in der Wolfsschlucht" gemeint sein. "Gerade komme ich aus dem Freischütz, in den mich Greti mitgenommen hatte und bin noch ganz begeistert! Da Du mich auf den Lärm in der Wolfsschlucht aufmerksam gemacht hattest stellte ich meine Ohren ganz auf das Orchester ein und überhörte den Lärm vollständig auch sonst war ich gar nicht kritisch sondern nur beglückt wieder einmal diese herrliche lebendige Musik zu hören. Keine einzige unempfundene Note!" (Hermine an Ludwig Wittgenstein, [Ende Jänner 1922]) Die Stelle mit dem "Lärm" ist zu sehr mit einer Absprache zwischen den Geschwistern verwoben, als daß sie uns deutlich werden könnte. Ich verweise auf sie wegen der pointierten Gewichtung des empfundenen Ausdrucks. Disharmonien galten dem romantischen Verständnis als unangebrachte Formen, einzig die letztliche Auflösung der Spannungen in harmonischem Klang schien dem "harmonischen Sein" gerecht zu werden. Stellt die Melodie also den "allein bedeutungsvollen, absichtsvollen Zusammenhang vom Anfang bis zum Ende" dar, erzählt sie im – wenn auch stellenweise dissonanten – Verlauf die "geheimste Geschichte, malt [sie] jede Regung, jedes Streben, jede Bewegung des Willens, alles das, was die Vernunft unter den weiten und negativen Begriff Gefühl zusammenfaßt und nicht weiter in ihre Abstraktionen aufnehmen kann", ihr Schluß hat doch "immer auch [...] das endliche Wiederfinden einer harmonischen Stufe, und noch mehr des Grundtones, die Befriedigung" zu bringen. (Schopenhauer, Werke 1, 362f.) * Die Musik galt als "Spiegel der Innenwelt des Menschen": "Nach Wackenroder ist die Tonkunst der Sprache und Dichtung darin überlegen, daß sie den Gefühlsstrom nicht mit Zeichen benennt und beschreibt, sondern unmittelbar vorführt; sie ‘strömt ihn uns selber vor’". (Wiora, 1965, 34) Damit innig verbunden ist der Topos, das Seelenleben in musikalische Terminologie zu übersetzen, der "Akustik der Seele" nachzuhorchen. Mit der Metapher ist schon die gewandelte Blickrichtung angegeben: nicht eine "Mechanik der Seele" (VLÄ, 46) nach Ursache und Wirkung "erklären" zu wollen, sondern aus den (sinnlichen) Erscheinungen des Seelenlebens Konsonanzen und Dissonanzen herauszuhören. Der Mensch erscheint entweder als (aktiver) Musikant oder als (passives) Instrument. "Unermeßliche Mannigfaltigkeit der Windharfentöne und Einfachheit der bewegenden Potenz. So mit dem Menschen – der Mensch ist die Harfe; soll die Harfe sein". (Novalis: Werke, Briefe, Dokumente. Hrsg. v. Ewald Wasmuth I–IV, Hdlbg 1953–57, hier: III, 316; zit. nach Wiora, 1965, 35) In Grillparzers Aphorismen zur Musik heißt es einmal: "Wenn eine Violinsaite gestrichen wird, so klingen die Saiten einer daneben liegenden unberührten Geige mit. Wie, wenn ein ähnliches Nachleben unserer Nerven Ursache an der so großen Wirkung der Musik wäre? Bei mir wenigstens liegt gewiß so etwas zu Grunde; denn ich darf nur einen Ton hören, ohne noch Melodie zu unterscheiden, so gerät schon mein ganzes Wesen in eine zitternde Bewegung, deren ich nicht Herr werden kann." (Werke XV, 121) * Um sich von der Geistlosigkeit in Kunstproduktion und -konsum abzuheben, wird die positive Voreingenommenheit, die Stimmung, in der Musik erst verwirklicht werden kann, hervorgehoben. Über spieltechnische Kenntnisse wird zwar der Notentext wiedergegeben, mit diesem Automatismus ist aber nichts getan. "Was nun die Schwierigkeit betrifft, so gehört zum richtigen, bequemen Vortrag Beethovenscher Komposition nichts Geringeres, als daß man ihn begreife, daß man tief in sein Wesen eindringe, daß man im Bewußtsein eigner Weihe es kühn wage, in den Kreis der magischen Erscheinungen zu treten, die sein mächtiger Zauber hervorruft: Wer diese Weihe nicht in sich fühlt, wer die heilige Musik nur als Spielerei, nur zum Zeitvertreib in leeren Stunden, zum augenblicklichen Reiz stumpfer Ohren, oder zur eignen Ostentation tauglich betrachtet, der bleibe ja davon."
(Hoffmann, Beethovens Instrumental-Musik; Werke 1, 44) Wer sich auf diese Weise der Kunst nähert, wird aus ihr eine Vergnügung höherer Art ziehen: "Rechnet man für nichts die Erhebung des Geistes, die Erhöhung des ganzen Daseins, das Thätigwerden von Gefühlen, die oft im ganzen wirklichen Leben eines Menschen nicht in Anregung kommen? Den Ueberblick über das Ganze des Lebens, die Einsicht in die eigene Brust, in das Getrieb eigener und fremder Leidenschaften? Das Wacherhalten des Enthusiasmus jeder Art, den die engen Verhältnisse der Bürgerwelt so leicht einschläfern?" (Grillparzer, Werke XV, 11) Ist die Musik derart ins Leben eingelassen, eine Lebensform, die nur unter Berücksichtigung aller Umstände, in der sie Gestalt annimmt, zu beschreiben wäre, so ist auch das – erworbene und durchs Lernen der Regeln verfeinerte – Urteilsvermögen über sie eine über den Anlaß hinausgehende Angelegenheit: "Jemand mit Urteilsvermögen entwickelt sich durch das, was wir die Künste nennen, weiter. [...] Wenn wir von ästhetischen Urteilen sprechen, denken wir unter tausend anderen Dingen an die Künste. [...] Wir unterscheiden zwischen Leuten, die wissen, wovon sie sprechen, und solchen, die das nicht tun." (VLÄ, 17; dazu die Fußnote 5, Taylors Notat: "Er [der mit Urteilsvermögen] muß über einen langen Zeitraum in gleichförmiger Weise reagieren, muß alles mögliche wissen.") Methodische Konsequenz dieser Überlegung ist: "Um dir über ästhetische Begriffe klar zu werden, mußt du Lebensweisen beschreiben." (VLÄ, 23) Wenn nun eine Art Verwandtschaft von Wittgensteins Philosophieren mit einzelnen der oben skizzierten Inhalte romantischer Musikauffassung feststellbar ist, so läßt sich aber auch, mit gleichem Recht, behaupten, daß die Auffälligkeit dieser Verwandtschaft in der Seltenheit der sie erkennbar machenden Einstreuungen liegt. Will man nicht schon den Zugang zum Objekt der Beschreibung, in den Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie etwa dem Seelenleben, mit der Erkenntnis, daß es sich ständig entzieht, ein romantisches Bemühen nennen, so können doch deutlichere Stellen herangeschafft werden, diese "Seelenverwandtschaft" zu belegen. (Vgl. BPP I 1079) Diese Einsicht finden wir bereits 1929 formuliert: "Die Betrachtungsweise die gleichsam in einen Talkessel hinunter führt aus dem kein Weg in die freie Landschaft führt ist die Betrachtung der Gegenwart als des einzig [R]ealen. Diese Gegenwart in ständigem Fluß oder vielmehr in ständiger Veränderung begriffen läßt sich nicht fassen. Sie verschwindet ehe wir daran denken können sie zu erfassen. In diesem Kessel bleiben wir in einem Wirbel von Gedanken verzaubert stecken. Der Fehler muß sein daß wir versuchen die fliehende Gegenwart mit der wissenschaftlichen Methode zu erfassen. [...] Dieses Unmögliche zu versuchen, davor muß uns die Erkenntnis retten daß wir Unsinn reden wenn wir versuchen unsere Sprache in diesem Unternehmen zu verwenden." (Wittgenstein's Nachlass, MS 107, 1.9.1929) Wieder findet sich dieser Umstand in den Vorlesungen über Ästhetik (1938): "Einer der interessantesten Punkte, der mit der Frage des Nicht-Beschreiben-Könnens verbunden ist, [ist, daß] der Eindruck, den ein bestimmter Vers oder ein paar Takte eines Musikstückes erzeugen, unbeschreibbar ist." (VLÄ, 56) "Vergiß nicht, daß ein Gedicht, wenn auch in der Sprache der Mitteilung abgefaßt, nicht im Sprachspiel der Mitteilung verwendet wird." (Z 160) Quasi eine Adaption dies des Grillparzerschen Aphorismus: "Es ist die eigentliche Aufgabe, wieviel Unsinn ein Gedicht nicht nur enthalten kann, sondern muß; denn der Sinn ist die Prosa. Weh dem Gedicht, das sich völlig durch den Verstand erklären läßt!" (Werke XV, 24; (1839)) Um die "Beschreibung" der musikalischen Empfindung oder des Verständnisses, auch wenn diese eine gestische Übersetzung ist, kann es also nicht gehen, sondern darum, daß diese Empfindung oder dieses Verständnis nicht anders geäußert werden kann. Das Musikalische, soviel wird deutlich, ist mehr als bloßer Metaphernlieferant für die Analyse des Sprachgebrauchs. "Die Schwierigkeit ist, sich unter den Begriffen der ‘psychologischen Erscheinungen’ auszukennen. [...] D.h., man muß die Verwandtschaften und Unterschiede der Begriffe beherrschen. Wie Einer den Übergang von jeder Tonart in jede beherrscht, von der einen in die andere moduliert." (BPP I 1054) Die Tonart, in die – nach dem System der Tonalität nicht ohne Gesetzmäßigkeit – moduliert wird, entspräche dann dem neuen Sprachspiel, in dem neue Regeln den Begriffen ihre neue Rolle zuweisen. Ein anderer Hauptbegriff, der des "Aspekts" in der Wahrnehmungsanalyse, wird ähnlich eingeführt: "Wir werden uns des Aspekts nur im Wechsel bewußt. Wie wenn sich Einer nur des Wechselns der Tonart bewußt ist, aber kein absolutes Gehör hat." (BPP I 1034. – Relevant in diesem Vergleich ist der Hinweis auf die Wirkung des Aspektwechsels; seine Grenze findet er, wenn in der Wahrnehmung ein Äquivalent für den absolut Hörenden konstruiert werden soll, der also, rein aufgrund seiner Gedächtnisleistung, stets angeben könnte, in welcher Tonart er sich gerade befindet.) Im Kontext der Empfindungsanalyse erfahren Töne und Farben eine bezeichnende Hervorhebung: "Ist es nicht eine wichtige Tatsache, daß das Theater uns Farben und Töne vorführt, aber nicht Tastempfindungen? Man könnte sich etwa die Verwendung von Gerüchen und von Temperaturempfindungen vorstellen, aber nicht die von Tastempfindungen." (BPP I 773) Die Macht der Töne – die "Dauer der Empfindung. Vergleiche die Dauer einer Tonempfindung mit der Dauer einer Tastempfindung, die dich lehrt, daß du eine Kugel in der Hand hältst". (BPP I 948)
Im "Stammbaum der psychologischen Phänomene" strebt Wittgenstein "Übersichtlichkeit" an, "[n]icht Exaktheit". (BPP I 895) Hier scheinen auch synästhetische Empfindungen einen gewissen Reiz auszuüben, denn an ihnen lassen sich Fixierungen, die unsere Sprache leistet, aufbrechen. "Manche Leute assoziieren mit unsern Vokalen gewisse Farben; manche können die Frage beantworten, welche Wochentage fett und welche mager sind. Diese Erfahrungen spielen in unserm Leben eine sehr untergeordnete Rolle; ich kann mir aber leicht Umstände ausdenken, in denen, was uns unwichtig ist, große Wichtigkeit erhielte." (BPP I 100) Der Versuch einer Einordnung solcher sinnesübergreifender Erlebnisse in "unser Leben" führt zur Möglichkeit, andere Sichtweisen, andere Sprachspiele, andere Welten zu schaffen: "Könnte man sich denken, daß bei einem Menschen ein bestimmter Gesichtseindruck derselbe wäre, wie ein bestimmter Gehörseindruck? so daß er diesen einen Eindruck durch’s Auge und durch’s Ohr erhalten könnte? Würde dieser etwa auf ein Bild zeigen und einen Ton am Klavier anschlagen und uns sagen, diese beiden seien identisch? Und würden wir ihm das glauben? Und warum nicht? Würden wir ihm glauben, daß die ‘Affektion der Seele’ in beiden Fällen dieselbe sei? Und wenn wir’s glaubten, wie könnten wir das Faktum verwenden?" (BPP I 894) "Es interessiert uns etwa, festzustellen, daß in unserer Umgebung gewisse Formen nicht an gewise Farben gebunden sind. Daß wir z. B. nicht grün immer in Verbindung mit der Kreisform, rot mit der Quadratform sehen. Stellt man sich eine Welt vor, in der Formen und Farben immer in solcher Weise mit einander verknüpft sind, so fände man ein Begriffssystem verständlich, in welchem die grundlegende Einteilung – Form und Farbe – nicht bestünde." (BPP I 47) Der Reiz synästhetischer Phänomene ist hier sozusagen methodisch nutzbar gemacht. Faszination übte er offensichtlich auch auf die ganzheitsgestimmten Romantiker aus. Grillparzer notierte 1819/20: "Manche Eindrücke des Geruchsinns haben mit denen des Gehörs (wenn es in einzelnen, gehaltenen Tönen affiziert wird) eine auffallende Ähnlichkeit hinsichtlich der Art ihrer Wirkung auf das Gemüt (nämlich unmittelbar als Nervenreiz)." (Werke XV, 116) Und E.T.A. Hoffmann schwelgt in den Kreisleriana in der Einheit der Empfindungen: "Nicht sowohl im Traume, als im Zustande des Delirierens, der dem Einschlafen vorhergeht, vorzüglich wenn ich viel Musik gehört habe, finde ich eine Übereinkunft der Farben, Töne und Düfte. Es kömmt mir vor, als wenn alle auf die gleiche geheimnisvolle Weise durch den Lichtstrahl erzeugt würden, und dann sich zu einem wundervollen Konzerte vereinigen müßten. – Der Duft der dunkelroten Nelken wirkt mit sonderbarer magischer Gewalt auf mich; unwillkürlich versinke ich in einen träumerischen Zustand und höre dann, wie aus weiter Ferne, die anschwellenden und wieder verfließenden tiefen Töne des Bassetthorns." (Werke 1, 46) Es geschieht bei Wittgenstein nicht nur zu illustrativen Zwecken (wie Lewis, 1977, 111, sagt), daß seelische Vorgänge aus der Selbstbeobachtung bzw. psychologische Begriffe anhand musikalischer Beispiele aufgegriffen werden: "Eine Melodie ging mir durch den Kopf. War es willkürlich, oder unwillkürlich? Eine Antwort wäre: Ich hätte es auch lassen können, sie mir innerlich vorzusingen. Und wie weiß ich das? Nun, weil ich mich für gewöhnlich unterbrechen kann, wenn ich will." (BPP I 842) Diese Stelle findet in einem Brief an Helene Salzer (15.3.1948) eine sozusagen aus dem Leben gegriffene Entsprechung: "Etwas seltsames geschieht mir seit etwa 2 Monaten: Es geht mir beinahe gar keine Musik mehr durch den Kopf, außer dem Scherzo aus dem Sommernachtstraum! Es ist natürlich sehr schön, aber gewiß nicht eine Musik, die mir sehr nahe geht; & sie entspricht nicht meiner Stimmung. Es muß also außer-musikalische Gründe haben, daß sie mir so ständig einfällt. Freud würde vielleicht sagen, & vielleicht mit Recht, daß ich mir damit immer sagen will ‘Ich bin ein Esel’; weil mir besonders oft der Teil durch den Kopf geht, in welchem der Esel schreit." (Vgl. Familienbriefe, 194) Für die sichtende Klärung, Durchleuchtung psychischer und mentaler Prozesse oder Zustände besitzt die Partitur einen großen Reiz der Vergleichbarkeit: "Ich habe gesagt, ‘sie ist nicht zuhause’ habe aber dabei gewußt, daß sie zuhause war. Wie geht dieses Wissen zeitlich mit dem Sagen des Satzes zusammen? Wie eine kontinuierliche Begleitung, ein Orgelpunkt, zu einem Thema? Hast Du es in jedem Augenblick gewußt, und braucht das Wissen keine Zeit? Ein falsches Bild verführt uns." (Wittgenstein's Nachlass, MS 111, 7.7.1931) Anderseits dient auch in einem zunächst mechanistischen Gedankengang, der alles Komplexe wieder tilgt und sich auf einfachste Abläufe konzentriert, die Musik als Metaphernlieferantin: "Wir sagen ‘der Satz ist keine bloße Lautreihe, er ist mehr’; wir denken daran daß ein chinesischer Satz für uns eine bloße Lautreihe ist, daß das eben heißt, daß wir ihn nicht verstehn und wir sagen, das kommt daher daß wir beim chinesischen Satz keinen Gedanken haben [...]. Der Satz ist wie ein Schlüsselbart dessen einzelnen Auszahnungen so angeordnet Hebel der Seele in gewisser Weise bewegen. Der Satz spielt gleichsam auf dem Instrument der Seele ein Thema (den Gedanken). Wozu aber soll ich jetzt außer dem systematischen Spiel der Worte noch ein mit diesem parallel laufendes Spiel geistiger Elemente annehmen? Es vermehrt ja nur die Sprache um etwas Gleichartiges." (Wittgenstein's Nachlass, MS 114, 5.6.1932) Dieses Pianolaverständnis ist öfters Ausgangspunkt von Regelbetrachtungen, die simplen Mechanismen nach dem Modell: Befehl – Befolgung wandeln sich unter Zuwachs an Komplexität, die gedanklichen Modelle münden
letztlich in die lebensweltliche Verwobenheit der Sprachspiele und einen ihnen adäquaten Verstehens-Begriff. Der Abschluß dieser Überlegungen führt uns zum Anfang zurück: "Der Begriff des ‘Fragments’. Es ist nicht leicht, die Verwendung dieses Worts auch nur beiläufig zu beschreiben. Wenn wir den Gebrauch eines Wortes beschreiben wollen, – ist es nicht ähnlich, wie wenn man ein Gesicht porträtieren will? Ich sehe es deutlich; der Ausdruck dieser Züge ist mir wohl bekannt; und sollte ich's malen, ich wüßte nicht, wo anfangen. Und mache ich wirklich ein Bild, so ist es gänzlich unzulänglich." (BPP I 943 und 944) Die Form von Wittgensteins Philosophieren ist fragmentarisch schlechthin. Wo eine Frage auftaucht, woran sie sich knüpft, wo sie fallen gelassen wird, wie sie weitergeführt wird – alle Umstände sind durchaus variabel. Gleich dem Fragment liegt nichts abgeschlossen da – freilich: "abgeschlossen" in welcher Hinsicht? –, aber jedesmal ist etwas in neuem Licht eröffnet. Und kann nicht die permanente Frageform, in der Wittgenstein seine Überlegungen äußert, eine Form der romantischen Ironie genannt werden? Sein produktives Selbstverständnis notiert er im Tagebuch (28.4.1930) als eine Art gescheiterter Synthese, die ihm in der musikalischen Gestaltung als Möglichkeit vorschwebt: "Ich denke oft das Höchste was ich erreichen möchte wäre eine Melodie zu komponieren. Oder es wundert mich daß mir bei dem Verlangen danach nie eine eingefallen ist. Dann aber muß ich mir sagen daß es wol unmöglich ist daß mir je eine einfallen wird, weil mir dazu eben etwas wesentliches oder das Wesentliche fehlt. Darum schwebt es mir ja als ein so hohes Ideal vor weil ich dann mein Leben quasi zusammenfassen könnte; und es krystallisiert hinstellen könnte. Und wenn es auch nur ein kleines schäbiges Krystall wäre, aber doch eins." (Denkbewegungen, 20) 3. Aspekte des "Übersetzens" "Was bis zur Erkenntnis der Polyphonie geschieht, ist vielleicht in der Einfachheit erschütternd; aber es gilt noch Land zu beschreiten, das ohne Gegenbild ist." Hans Henny Jahnn "Gerade die einfache Melodie genießt Freiheiten und Vorzüge, die undenkbar sind, wo fortwährend auf den Zusammenklang mehrerer Stimmen Rücksicht genommen werden muß." Erich Moritz von Hornbostel, 1905 Ich habe oben das "Übersetzungs"-Problem als ein wichtiges Thema in den Überlegungen Wittgensteins sowohl zum Ausdruck als auch zum Verständnis desselben angeführt. "Wir reden vom Verstehen eines Satzes in dem Sinne, in welchem er durch einen andern ersetzt werden kann, der das Gleiche sagt; aber auch in dem Sinne, in welchem er durch keinen andern ersetzt werden kann. (So wenig wie ein musikalisches Thema durch ein anderes.) Im einen Fall ist der Gedanke des Satzes, was verschiedenen Sätzen gemeinsam ist; im andern, etwas, was nur diese Worte, in diesen Stellungen, ausdrücken. (Verstehen eines Gedichts.)" (PU 531) Die beiden von Wittgenstein vorgegebenen Richtungen ähneln den Grund-Sätzen der in einzelnen Repräsentanten sich arg befeindenden Musikrichtungen (auf produktiver wie auf theoretischer Seite) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Hie die auf Darstellung bzw. assoziative Evokation von Außermusikalischem zielende Programmusik; hie die sich als subjektiver Empfindungsausdruck (und sonst nichts) verstehende "absolute Musik". Die Programmusik, von Grillparzer als "Nachtreterin" der Poesie im vorhinein diskreditiert (Werke XV, 118; (1821)), von E.T.A. Hoffmann auf ihr notwendiges Scheitern hingewiesen, wenn sie "bestimmte Empfindungen, ja sogar Begebenheiten darzustellen" trachte (Sonnenaufgänge, Gewitter usf.), und als Verwirrung definiert (Hoffmann, Werke 1, 37), hatte seit ihrem Beginn in Berlioz’ Werken nie einen leichten Stand. In Grillparzers Ansätzen zu einer Kunstlehre ist das (theoretische) Rüstzeug ihrer Gegner vorgezeichnet. Die Emanzipation der Betrachtungsweise der Welt von rationalistischen Versuchen, sie über eine (logische) Abbildung dingfest zu machen, die Annäherung stattdessen an die künstlerische, kontemplative, bringt einen umfassenderen Gestaltungsaspekt ins Spiel: Die Musik – hier v.a. mit Blick auf Webers Freischütz, in dem Grillparzer die Grenzen von Poesie und musikalischer Gestaltung allzusehr verwischt sieht – hat nicht ein Nebenher zum Text zu sein (das immer auch ein Anderssein bedeuten könnte), ihre Werke werden vielmehr nach eigenen Gesetzmäßigkeiten geschaffen, die nun gefallen, "ohne etwas Genaubestimmtes zu bezeichnen, rein durch ihre innere Konstruktion und die sie begleitenden dunkelnGefühle." (Grillparzer, Werke XV, 128) In dieser Rettung der kontemplativen (beschaulichen) Weltsicht vor der vereinnahmenden "wissenschaftlichen" können wir ein Element jenes "gute[n] Österreichische[n]" vermuten, das Wittgenstein – er nennt neben Grillparzer Lenau, Bruckner und Labor – "besonders schwer zu verstehen" nennt. "Es ist in gewissem Sinne subtiler als alles
andere, und seine Wahrheit ist nie auf Seiten der Wahrscheinlichkeit." (VB, 454; (1929)) Es ist jenes frühere "Hervorleuchten des ganzen Menschen", auf das Grillparzer hinweist und von dem es herrühre, "daß selbst die Scharfsinnigsten der Alten uns so wenig schließend scheinen" (Werke XV, 15); jener "Protest", als den Wittgenstein die Brucknersche Neunte ansieht: "Sie verhält sich zur Beethovenschen sehr ähnlich, wie der Lenausche Faust zum Goetheschen, nämlich der katholische Faust zum aufgeklärten, etc. etc." (VB, 497; (1938)); jener "Mut" der Gestaltung, "nicht die Geschicklichkeit", der Wittgenstein an Labors – und, wohl als fehlender, an Mendelssohns – Orgelmusik denken läßt: "Soviel Mut, soviel Zusammenhang mit Leben und Tod." (VB, 504; (1940)) Hanslick konnte in der zweiten Auflage seines Furore machenden Buches Vom Musikalisch-Schönen (zuerst 1854) auf Grillparzer rekurrieren, um die Autonomie der Musik von aller programmatischen Unterminierung rein zu erhalten. (Vgl. auch Hanslicks Aufsatz Grillparzer und die Musik in seinen Musikalischen Stationen (Berlin: 1878, 331ff.)) Riemann schließlich kanzelte alles im Gefolge von Berlioz und Liszt Entstandene als "‘abstrahierte’ Musik" ab, "eine Musik, welche aus der Verbindung mit dem Worte und der Scene herausgelöst ist, eigentlich aber dieser Verbindung ihre Entstehung und ihre Existenzberechtigung verdankt." (Riemann, 1901, 450) Diese Wendung ist insofern interessant, als wir hier eine durch Wagners Konzeption des Gesamtkunstwerks sozusagen hindurchgegangene Ablehnung der Programmusik haben. Wagners Musik sei zwar auch um Assoziationen bemüht, darin Beethoven fremd, doch diene dies bei ihm der Vertiefung des poetischen Gehalts der Szenen und mittels leitmotivischer Gestaltung letztlich der Gesamtanlage auf eine einheitliche Wirkung hin, auf einen Gesamtausdruck in der "effektive[n] Verbindung der Schwesterkünste". (Ebd., 449; vgl. auch 493f.) – Eine umfassende Zusammenstellung nach systematischer Unterscheidung von Heteronomie- und Autonomieästhetik mit kritischer Einleitung bringt Felix M. Glatz in seinem "Quellenbuch der deutschen Musik-Ästhetik von Kant und Frühromantik bis zur Gegenwart" (so der Untertitel) Musik-Ästhetik in ihren Hauptrichtungen (1929). Seinem "Begriff einer jenseits von Form und Inhalt seienden Musik" entsprechend schreibt er: "So ist jegliche Musik, es gibt nur eine Art von Musik, alle Musik ist autonom. Es gibt nicht Musik als Zeichen, Sprache, Ausdruck für ein Außerklangliches, sondern es gibt lediglich eine Betrachtung der Musik unter dem Gesichtspunkt der Inhaltlichkeit. Es gibt eine Inhaltsästhetik der Musik, aber es gibt nicht wirklich Musik, die Inhalte darstellt. Es gibt eine Zweiheit der Ästhetik der Musik: Heteronomieästhetik und Autonomieästhetik, aber es gibt nur Eine Musik!" (Glatz, 1929, 47) Einen weiteren Aspekt der "Übersetzung" bildet die Rückführung des musikalischen Ausdrucks auf einen umfassenderen, eine Gesamtgebärde. Der Topos der musikalischen Sprachähnlichkeit (vgl. dazu insgesamt Reckow, 1979) ist ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in besonderem Maße unter Verabsolutierung dieses Teilmoments "zur Verteidigung bzw. Durchsetzung oder zur Bekämpfung von Positionen herangezogen worden." (Ebd., 2) Die aufklärerische These, von Rousseau über Herder in die deutsche Musikästhetik eingegangen, "daß Musik und Sprache einen gemeinsamen Ursprung in der unmittelbaren Äußerung des Gefühls haben" (Holland, 1990, 33), verlor einerseits durch (musik)ideologische Indienstnahme ihre weltmusikalische, universelle Orientierung (vgl. Reckow, 1979, 2f. und 5) – auf die Krenek für die neue Musik wieder zurückgreifen wird. (Krenek, 1937, 106) Anderseits wurde sie, verwandelt, in der Debatte um den musikalischen Formbegriff – mit Beethoven am Scheideweg – bei den "Zukunftsmusikern" (Liszts und Wagners Parteinehmer) als dynamisch-prozeßhaftes Prinzip wieder wirksam. (Vgl. als heutiges Beispiel dieser Tradition die Einschätzung des Beethovenschen Formbegriffs bei Holland, 1990, 36f.) Friedrich Hausegger (1837–1899), Grazer Musikwissenschaftler und Antipode Hanslicks, lieferte mit seinem Hauptwerk Die Musik als Ausdruck (1885, im ff. zit. nach ²1887) eine Zusammenführung von Darwins Entwicklungsmodell, Schopenhauers Metaphysik der Musik und Wagners Konzeption des Gesamtkunstwerks. Wissenschaftstheoretische Ausgangslage: Da nicht das sich forschendem Fragen entziehende Wesen der (Ton)Empfindung Basis der Wissenschaft sein könne (dies gegen Helmholtz gerichtet), müsse sich in historischer Betrachtung die Gesetzmäßigkeit der Verbindung von körperlichen (Erregungs-)Zuständen und deren Ausdrucksformen herauskristallisieren lassen. (Hausegger, 1887, 3–7) Mit Darwin wird das Mitempfinden als "angeborene Aufmerksamkeit" (ebd., 20) zum konstitutiven, primären Faktor des Verstehens eines Ausdrucks. "Ursprünglich wurde der den ganzen Körper erfassende Gemüthsausdruck durch eine adäquate Mitbewegung des ganzen Körpers verstanden. Geberde, Miene und Lautäußerung wirkten zusammen." (Ebd., 32) Auf den Gebärdencharakter der Musik verweist auch Grillparzer einmal, freilich unter dem Vorzeichen der – mit Schopenhauer (vgl. Werke 2, 576; Werke 5, 509–514) – als Verirrung abzulehnenden Gattung der Oper: "Sämtliche Künste, wenngleich aus gemeinschaftlicher Wurzel entsprossen, sind streng geteilt in ihren Gipfeln. Wo die Poesie aufhört, fängt die Musik an." (Grillparzer, Werke XV, 118) Die Idee einer Ursprungseinheit läßt ihn aber doch feststellen: "Ballettmusik wäre eigentlich der Triumph der Tonkunst, wenn sie einmal aus sich herausgeht, vorausgesetzt, daß wir nämlich eigentliche Ballette hätten und nicht Gauklersprünge." (Ebd., 115) Der Kunst sei, so Hausegger, im Laufe der entwicklungsgeschichtlich verschieden bedingten Ausdifferenzierungen, die einzigartige Rolle zugekommen, auf empathischem Wege ein "gesteigerte[s] Daseinsgefühl" (Hausegger, 1887,
57) zu vermitteln, die Kunstausübung des – wesentlich – impulsiven Menschen wirke auf den ganzen Organismus ein (ebd., 154), Musik als "tönende Form" zu betrachten (dies gegen Hanslick gerichtet), sei ein Spezialblickwinkel wie der, das "Wesen der Musik" in ihrer Wirkung auf die Physiologie zu suchen. (Ebd., 149ff.) Das dem künstlerischen Gesamtausdruck adäquate Verständnis ist nun, da Ausdrucksmittel nicht (mehr) gleich Verständigungsmittel, Musik nicht (mehr) gleich Sprache ist, nur durch "Sammlung", "Steigerung der Empfänglichkeit und Zurückhaltung alles Störenden" (ebd., 97) zu erreichen. Auf produktiver Seite bilde, nach Bachs Durchbruch zu dem – mit allen Regeln der Kunst verwobenen – empfundenen Tonsetzen (vgl. ebd., 132f.), Beethovens Gestaltung des "lebendigen Rhythmus" den musikgeschichtlichen Höhepunkt der Rückführung des Tonausdrucks auf die Gebärde: "Beethoven’s große That ist es, diesem [dem lebendigen Rhythmus] ohne Zerstörung der überlieferten Form die Alleinherrschaft gesichert zu haben. Bei ihm erscheinen alle Glieder der Form fortgerissen von der Fluth eines mächtig strömenden Melos. Gewaltigen Impulsen entsprungen und in ihnen ihre einheitliche Gestaltung gewinnend sind diese Formen; so werden sie uns verständlich als unsern Körper zur Mitbewegung hinreißende Ausdrucksformen; diesen melodischen Strom, diese lebendige Gliederung glauben wir wieder an dem ursprünglichen Apparate alles Ausdrucks, an den menschlichen Ausdrucksorganen zu treffen, von den [ihre] Thätigkeit bestimmenden Einflüssen bewegt; sie werden vor unseren Sinnen zum erhabenen oder von tiefer Leidenschaft bewegten Tanz, der uns zu gleicher Bewegung erregt und damit rückwirkend gleiche Empfindungen in uns wachruft." (Ebd., 146) Die biologistische Rückführung sieht, wo Musik wirksam, heißt: gelungen ist, im Takt den Herzschlag, in den Sequenzen der Melodie die Atemlänge, im Rhythmus die Körperbewegungen zu ihrer "charakteristischen" Ausprägung gelangt. (Ebd., 161 und 172) Auch die Gesetze der Melodieführung ließen sich auf "Gesetze des Lautausdruckes oder Grenzen desselben im menschlichen Organismus zurückführen". (Ebd., 161, im Original alles gesperrt.) Freilich sei dem musikalischen Genie dadurch keine Entfaltungsgrenze gezogen, die unendliche Mannigfaltigkeit des Ausdrückbaren wird durch einen geradezu lebensphilosophischen Kraftakt gewährleistet: "Die Natur gewinnt in Tönen Sprache [...]. Theilt sie sich unserem Auge als ein Gewordenes mit, so gewinnt sie im Tone ein Mittel, sich im Processe des Werdens zu offenbaren. Von neuer Seite enthüllt sie sich, dasjenige, was wir als unsere Welt zu erkennen gewohnt waren, zersetzend, ihre Erstarrung lösend, in neu gewonnener Werdethätigkeit eine neue Welt vor unsere Sinne zaubernd und uns in ihr Leben mit hineinziehend, so daß vor der lebensvollen Wahrheit dieser Welt die äußere sich als bloßer Schein darstellt." (Ebd., 150) Als Ausdrucksmittel einer Körpergebärde verstanden, verflüssigt sich freilich auch die musikalische Form: "In ihrer Lebendigkeit ist die Form Rhythmus." (Ebd., 201) "Jede Form ist berechtigt, wenn sie der wahrhafte Ausfluß eines Bewegungsimpulses ist, als dessen nothwendige Stadien sich ihre Theile darstellen; keine Form ist berechtigt, die sich nur als Ausfüllung eines Schemas zeigt." (Ebd., 202f.) Musikalische Äußerungen als "biologische Funktionsäußerungen" (Lach, 1924, 11) zu verstehen und entsprechend unter Aufgebot einer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise der Musikgeschichte ihre naturgesetzliche Basis nachzuweisen, waren in ihren Anfängen leitende Perspektiven der vergleichenden Musikwissenschaft. (Vgl. dazu insgesamt die Übersicht bei Lach, 1924.) Schon 1905 formulierte allerdings Erich Moritz von Hornbostel (1877–1935), einer der Väter dieses Faches, seine Fragestellungen weniger als evolutionsbiologische denn als kulturwissenschaftliche. (Und in diese Richtung ist die Disziplin, v.a. im englischen Sprachraum, bis heute auch weiterentwickelt worden.) Die Herausgeber der Opera Omnia von Hornbostel charakterisieren seine Forschungshaltung: "Die Verbindung von systematischem, klassifikatorischem Bemühen, das vor allem danach trachtet, nomologische Aussagen über die Aspekte der Musik zu gewinnen, mit dem psychologischen, speziell dem gestaltpsychologischen Ansatz, der gerade auf dem Gebiet der Musik besondere Attraktivität besaß." (Hornbostel, 1975, XIII) Der phylogenetische Faden, an dem er die ethnologischen Detailergebnisse auffädeln wollte, war ihm mehr idealer Grundgedanke, trat angesichts der zu leistenden Bestandsaufnahme, der Kenntnisnahme fremder Kulturen in den Hintergrund. (Vgl. Hornbostel, 1905, 270) Die "Vergleichung", das "vornehmste Mittel wissenschaftlicher Erkenntnis" (ebd., 249), will er nicht summativ verstanden wissen, sondern als "Einführung einer bestimmten Betrachtungsweise", als "Querschnitt durch das ganze Gebäude". (Ebd., 250) Als Hauptproblem der Musikethnologie erkennt Hornbostel die Tendenz der Forscher, die Musik der Völker "europäisch zu hören". (Ebd., 251) Harmonische Prägung und Hörgewohnheiten überhaupt seien erst zu überwinden, um die faszinierende Ausweitung des Spektrums der Möglichkeit musikalischer Gestaltung erfahren zu können. Am Beispiel der Konsonanz heißt das, "daß jede Konsonanztheorie, die Anspruch auf allgemeine Gültigkeit erhebt, die Ergebnisse der vergleichenden Musikwissenschaft mitberücksichtigen muß. Es geht durchaus nicht an, die Erlebnisse innerhalb unserer simultanharmonischen Musik als letzte psychische Tatsachen anzusprechen und ohne weiteres auf die ganze Menschheit zu verallgemeinern. Schon die weitverbreitete Ansicht, daß die Intervalle reiner Stimmung nicht nur in dem Sinne ‘natürlich’ sind, daß sie z.B. in Klängen als Obertöne auftreten (bei Blasinstrumenten als ‘Naturtöne’) – sondern daß sie auch der menschlichen Natur besonders angepaßt wären, bedarf der Revision." (Ebd., 260) Die methodisch zukunftsweisende Einsicht, ein wissenschaftlich brauchbares Volkabular erst aus der Beobachtung
gewinnen zu können, verdeutlicht Hornbostel anhand der "erstaunliche[n] Fülle neuer, ungewohnter Erscheinungen" rhythmisierender Akzentuierung u.a. durch Stärke, Dauer, Höhe oder Klangfarbe des Tones: "Diese verschiedenen Betonungsmöglichkeiten können nun sehr verschiedene Grade der Wirksamkeit haben, je nachdem wir gewöhnt sind, auf dieses oder jenes Moment der Gesamtempfindung besonders zu achten. Wir müssen also bei fremdländischen Musikern nicht nur mit einer größeren Übung der rhythmischen Auffassung, sondern eventuell mit einer ganz anderen Art dieser Auffassung rechnen." (Ebd., 265) Wie eng verbunden das Bewußtsein des Ethnographen, aus Hörgewohnheit verfälschend zu beobachten und zu interpretieren (vgl. Myers, 1912, 123), einherging mit dem Hang zu eurozentrischer Wertung, zeigt das Resümee von Charles S. Myers Aufsatz A Study of Rhythm in Primitive Music (1905), der sich gerade mit der bei Hornbostel zuletzt angesprochenen rhythmischen Vielfalt beschäftigt: "While the later advances in choral singing in Europe required a more regular and a more frequent accent than was necessary in earlier stages of European culture, primitive music, unhampered by the demands of harmony and polyphony, has evolved complications of succession rather than of simultaneity, – complications of measure rather than of tone. In the early mediaeval music and among the existing folk-songs of many parts of Europe, curious irregularities or even defects of rhythm are met with. Within relatively modern times our composers have successfully obtained novel and striking effects by departures from the uniform and more conventional rhythms. Whether they will ever adopt such complex rhythms as are in use among certain primitive peoples, must depend on the gradual education of their audience and on the limiting value of the strain of attention which is compatible with aesthetic pleasure." (Myers, 1905, 406. – Zu den von Wittgenstein in seinem ersten Cambridger Jahr an Myers Psychologischem Labor durchgeführten Experimenten zum "Phänomen der subjektiven Akzentuierung" vgl. McGuinness, 1988, 207–212; außerdem Pinsent, 1994, 27–30, 33. George E. Moore schrieb 1953 an E. A. Hayek über diese Versuche: "During this year (1912) Wittgenstein undertook, in collaboration with B.[ernard] Muscio, a piece of psychological experiment at the Psychological Laboratory. He told me long afterwards, in the Lectures in 1933, that he undertook these experiments, which were on rhythm, in the hope that they would throw some light on questions of Aesthetics, but of course they threw none; but they did, however, establish one point of some interest, namely that, in some circumstances, all the subjects of the experiment heard an accent on certain notes which were in fact not accented by the machine which was being used." (8.3.1953; zit. in Nedo, 1983, 84)) Die Gebärde übte als Ausdrucksform einer ursprünglich gedachten Einheit einigen Reiz auch auf Wittgenstein aus. Weniger vielleicht im (natur)historischen Sinn, wie sie bei Hausegger zentrale Idee war, nicht auch im musiktheatralischen Sinn der Einholung der Ausdrucksformen im Wagnerschen Gesamtkunstwerk; vielmehr kommt sein Interesse von der unmittelbaren Verständlichkeit, heißt: vom Ineinsfallen von "Meinen" und "Sagen" in der Zeigegebärde her. "Es liegt in der menschlichen Natur das Zeigen mit dem Finger so zu verstehen. Und so ist die menschliche Gebärdensprache primär in einem psychologischen Sinne." (Wittgenstein's Nachlass, MS 112, 15.11.1931) Mit den Überlegungen zur "Gebärdensprache" gewinnen die "Übergänge" von der Wortsprache in eine der "vielen möglichen Sprachen" (ebd.), mit ihnen die Frage der Angemessenheit von Ausdruck und Verstehen, zuletzt auch das Evidenzerlebnis an Gewicht. Beim "Finden" des "richtigen" Worts gehe z.B. etwas vor, das sich der Beschreibung, ja sogar der introspektiven Beobachtung entzieht, das aber sozusagen nachstellbar ist, "auch wenn es sich nicht wirklich zuträgt ... Und wie? – Ich spiele es. – Aber was kann ich auf diese Weise erfahren? Was mache ich denn nach? – Charakteristische Begleiterscheinungen. Hauptsächlich: Gebärden, Mienen, Tonfall." (PU, 561) Der Abbildcharakter geht der Gebärde – allerdings verwandelt zum Ausdruck – nicht verloren: "Der menschliche Körper ist das beste Bild der menschlichen Seele." Und: "Wie ist es aber mit so einem Ausdruck: ‘Als du es sagtest, verstand ich es in meinem Herzen’? Dabei deutet man auf’s Herz. Und meint man diese Gebärde etwa nicht?! Freilich meint man sie. Oder ist man sich bewußt, nur ein Bild zu gebrauchen? Gewiß nicht. – Es ist nicht ein Bild unserer Wahl, nicht ein Gleichnis, und doch ein bildlicher Ausdruck." (PU, 496) – Als körperlich-gebundene, kreatürliche Reaktion läßt die Gebärde Wittgenstein sogar an Aufrichtigkeit denken: "Zur unwägbaren Evidenz gehören die Feinheiten des Blicks, der Gebärde, des Tons. [...] Verstellung ist natürlich nur ein besonderer Fall davon, daß einer, z. B., eine Schmerzäußerung von sich gibt und nicht Schmerzen hat. Wenn dies überhaupt möglich ist, warum sollte denn dabei immer Verstellung statthaben; – dieses sehr spezielle Muster auf dem Band des Lebens? Ein Kind muß viel lernen, ehe es sich verstellen kann. (Ein Hund kann nicht heucheln, aber er kann auch nicht aufrichtig sein.) Ja es könnte ein Fall eintreten, in welchem wir sagen würden: ‘Dieser glaubt, sich zu verstellen.’" (PU, 576f.) Der Konnex zwischen den hier angeführten Aspekten der "Übersetzung" liegt, wie mir scheint, in der Frage der Betrachtungsweise: Solange der Abbildcharakter (der Musik wie der Sprache) im Vordergrund steht, rebelliert die vom Standpunkt der Eigengesetzlichkeit des musikalischen wie des Sprach-Spiels ausgehende Auffassung. Mit dem Wandel der Blickrichtung lösen sich hier hartnäckige Probleme auf. 1940 notiert Wittgenstein kurz, gleich einer gängigen Meinung: "Zweck der Musik: Gefühle zu vermitteln." Und daran anschließend, gleichsam als zweites
Thema: "Verbirg dir nie: daß du in Schwierigkeiten bist." (Wittgenstein's Nachlass, MS 122, 1.2.1940) Dem Nachweis von Seiten "autonomer" Musikästhetiker, die Übersetzung außermusikalischer Sachverhalte, Stimmungen usf. in Töne (– und die Forderung an die Hörer, diese wiederzuerkennen –) bleibe dem musikalischen Material immer ein auferlegtes Fremdes, entspricht das im Laufe der Jahre immer klarer hervortretende analytische Bemühen Wittgensteins, die Bedeutung in den Äußerungen zu verankern, die Regelhaftigkeit von ihren Realisierungen her zu fassen, das Verstehen vom Erleben her. Die Übersetzung, etwa von Gehörtem in einen Ganzkörperausdruck, ist immer unvollständig, unbefriedigend. Aus dieser banalen Einsicht können weitreichende Konsequenzen gezogen werden: "Unser Fehler ist, dort nach einer Erklärung zu suchen, wo wir die Tatsachen als ‘Urphänomene’ sehen sollten. D.h., wo wir sagen sollten: dieses Sprachspiel wird gespielt." (PU 654) Die "Erklärung" ist ein bemühter Vergleich, er kann Facetten eröffnen, Zusammenhänge herausstellen, führt aber, als Vergleich, stets nur zu einem "Wenn-Gefühl". Die "Erklärung" ist ein Produkt des ursächlichen Blicks und als solches ein eindimensionales Sprachspiel. "Das Verstehen eines Satzes der Sprache ist dem Verstehen eines Themas in der Musik viel verwandter, als man etwa glaubt. Ich meine es aber so: daß das Verstehen des sprachlichen Satzes näher, als man denkt, dem liegt, was man gewöhnlich Verstehen des musikalischen Themas nennt. Warum sollen sich Stärke und Tempo gerade in dieser Linie bewegen? Man möchte sagen: ‘Weil ich weiß, was das alles heißt.’ Aber was heißt es? Ich wüßte es nicht zu sagen. Zur ‘Erklärung’ könnte ich es mit etwas anderem vergleichen, was denselben Rhythmus (ich meine, dieselbe Linie) hat. (Man sagt: ‘Siehst du nicht, das ist, als würde eine Schlußfolgerung gezogen’ oder: ‘Das ist gleichsam eine Parenthese’, etc. Wie begründet man solche Vergleiche? – Da gibt es verschiedene Begründungen.)" (PU 527) Ein Rest an Unbefriedigtheit bleibt in der so gerichteten Bedeutungsanalyse immer zurück. Konzentriert sich nun, wie es bei Wittgenstein mit der Einführung des Aspektsehens der Fall ist, die Betrachtung auf die Situationsverwobenheit eines Phänomens: nehmen wir das Musizieren – so ist die Blickrichtung schon geändert. Wird das Erleben von Musik, sei es ausübend oder rezipierend, als unverwechselbar mit der Situation der Realisierung verwoben erkannt, also als je einzigartig, entfällt die Relevanz einer irgendwie gearteten präzisen Beschreibung dieses Erlebnisses. "Wir sagen, diese Stelle gibt uns ein ganz besonderes Gefühl. Wir singen sie uns vor, und machen dabei eine gewisse Bewegung, haben vielleicht auch irgendeine besondere Empfindung. Aber diese Begleitungen – die Bewegung, die Empfindung – würden wir in anderem Zusammenhang gar nicht wiedererkennen. Sie sind ganz leer, außer eben, wenn wir diese Stelle singen. ‘Ich singe sie mit einem ganz bestimmten Ausdruck.’ Dieser Ausdruck ist nicht etwas, was man von der Stelle trennen kann. Es ist ein anderer Begriff. (Ein anderes Spiel.) Das Erlebnis ist diese Stelle, so gespielt (so, wie ich es etwa vormache; eine Beschreibung könnte es nur andeuten)." (PU, 502f.) Darauf ist wohl die weitgehende Absenz von so gearteten Äußerungen über musikalische Erlebnisse in Korrespondenz und Werk Wittgensteins zurückzuführen. Daß sie eben "nicht zu sagen" sind, wie Wittgenstein einmal anläßlich einer Eroica-Aufführung im Wiener Burggarten (Brief an Hermine Wittgenstein, [vermutl. Ende August 1922]) bemerkte, war als gefühlsmäßige Einsicht sozusagen früher da, ihre Nutzbarmachung für erkenntnistheoretische Fragestellungen kommt in den Sprachspielen zur Entfaltung. Freilich verfällt die Phänomenologie nicht der Einzigartigkeit der Erlebnisse in dem Sinne, daß der Fluß der Zeit jede Gesetzmäßigkeit als Nonsens entlarven müßte. Ist erst einmal die qualitative Unterscheidung von additiver Beschreibung eines Ausdrucks anhand seiner Elemente einerseits und Bedeutung desselben aus seiner Realisierung heraus anderseits zugestanden, so braucht nicht mehr gefolgert werden, "das Verstehen sei eben ein spezifisches, undefinierbares Erlebnis. Man vergißt [...], daß, was uns interessieren muß, die Frage ist: Wie vergleichen wir diese Erlebnisse; was legen wir fest als Kriterium der Identität des Geschehnisses?" (PU 322) Doch weist diese Fragestellung zu sehr aus dem näheren Gebiet des Musikalischen hinaus, wird also hier nicht weiter verfolgt. (Joachim Schulte (1987, 55) hebt diesen Punkt hervor: "Das Spezifische liegt im Sprachspiel". Seine Betonung der Dominanz des Sozialen, der Kontexteinbettung des Erlebnisses, nimmt, wie mir scheint, der von Wittgenstein vorgeschlagenen neuen Denkweise einiges von ihrem Irritationspotential. Vgl. ebd., bes. Kap. 4 (44-58), das sich auch mit einigen musikbezogenen Äußerungen beschäftigt.) Ich halte fest: Läßt sich auch sagen: "Du mußt diese Melodie so hören, und dann auch entsprechend spielen." (BPP I 995) – so wird damit stets nur ein Aspekt des Musikerlebens realisiert. Diese Offenheit spricht Wittgenstein in den Ästhetik-Vorlesungen 1938 an: "Es gibt folgendes Phänomen: Wenn du mir ein Musikstück angibst und mich fragst, in welchem Tempo es gespielt werden soll, dann mag ich oder mag ich nicht absolut sicher sein. ‘Vielleicht so... Ich weiß nicht.’ Oder ‘So!’ und ich sage genau, welches Tempo es sein soll. Ich bestehe immer auf einem Tempo, nicht notwendigerweise demselben. Im anderen Falle bin ich unsicher." (VLÄ, 59) Die Aufführungspraxis also – wird sie einer apriorisch normativen Festsetzung entzogen, haben wir den
Sprachspiel-Begriff. Beobachten lassen sich z. B. die Verwandlung des Charakters eines Themas, "wenn es in (sehr) verschiedenen Tempi gespielt wird [...]. Übergang von der Quantität zur Qualität." (VB, 554; (1948)) Aber auch kompositionstechnisch lassen sich die Charakteränderungen beobachten: nicht anhand der so häufig "an sich" assoziativ unterschiedenen Tongeschlechter Moll und Dur, sondern am Satz ein und desselben Themas in ihnen, also am Gebrauch im Regelsystem. "(Bei Schubert klingt das Dur oft trauriger als das Moll.)" (VB, 570; (1950)) Der gelungene Ausdruck ist zu erreichen, die Kombination der Mittel dazu jedesmal eine andere, die angemessene eben. Ein Beispiel dafür liefert das Tagebuchnotat vom 24.10.1931: "Wenn der Brahmsschen Instrumentierung Mangel an Farbensinn vorgeworfen wird, so muß man sagen daß die Farblosigkeit schon in der Brahmsschen Thematik liegt. Die Themen schon sind schwarz-weiß, wie die Brucknerschen schon färbig". Die "Schwäche der Brahmsschen Instrumentation" liege nun gerade darin, daß "sie nämlich vielfach doch nicht ausgesprochen schwarz-weiß ist. Dadurch entsteht dann der Eindruck der uns oft glauben macht, wir vermissten Farben, weil die Farben, die da sind, nicht erfreulich wirken. In Wirklichkeit vermissen wir, glaube ich, Farblosigkeit. Das zeigt sich auch oft deutlich z.B. im letzten Satz des Violinkonzerts wo es sehr merkwürdige Klangeffekte gibt (einmal als blätterten die Töne wie dürre Blätter von den Violinen ab) & wo man das doch als einen einzelnen Klangeffekt empfindet, während man die Klänge bei Bruckner als die selbstverständliche Umkleidung der Knochen dieser Themen empfindet. (Ganz anders ist es beim Brahmsschen Chorklang der der Thematik ebenso angewachsen ist wie der Brucknersche Orchesterklang der Brucknerschen Thematik.) (Die Harfe am Schluß des ersten Teils des Deutschen Requiems.)" (Denkbewegungen, 55f.) Was als über die "Dimensionierung" (ebd.; vgl. auch die handschriftliche stichwortartige Auflistung von Koder zu seinen Erinnerungen an Ludwig Wittgenstein: "Universell, vielseitig begabt, Musik, Gefühl f. richtiges Tempo, richtige Dimension, richtige Kleidung", im Koder-Manuskript) hinausgehend empfunden wird, ist Effekt, eine Vokabel für Verabscheuungswürdiges in der Familie Wittgenstein, nicht nur im Musikalischen, wie in der Musikkritik, die in Berlioz, Wagner und Mahler – aus je verschiedenen Gründen – rote Tücher sah. Das Kriterium der Angemessenheit ist der Maßstab, der bei aller Offenheit der Aufführungssituation gegenüber bleibt. Er kommt über die Regelhaftigkeit auch in der Betrachtung der Lebensform zum Tragen, er ist jene strikte Betonung des "So!". Dieses "So!", das im Musikverständnis der Familie Wittgenstein die notwendige Stimmung ausdrückte, in der ein quasi werktreues Musizieren möglich sei, verliert seine inhaltlich bestimmte Stellung als Kriterium für die Wiedergabe, behält aber als Forderung von Authentizität, nach Maßgabe der Umstände, Geltung: "Der seelenvolle Ausdruck in der Musik, – er ist doch nicht nach Regeln zu erkennen." (Z 157) "Was gehört also dazu? Eine Kultur, möchte man sagen. – Wer in einer bestimmen Kultur erzogen ist, – dann auf Musik so und so reagiert, dem wird man den Gebrauch des Wortes ‘ausdrucksvolles Spiel’ beibringen können." (Z 164) – Nebenbei: Wittgenstein konnte der Musik englischer Komponisten nichts abgewinnen (Rhees, 1992, 208) und lieferte im Tagebuch (Eintrag nach 6.5.1931) eine Begründung dafür: "Ein englischer Architekt oder Musiker (vielleicht überhaupt ein Künstler), man kann beinahe sicher sein, daß er ein Humbug ist! [...] Die Rohstoffe sind hier immer ausgezeichnet aber die Fähigkeit fehlt sie zu formen. D.h.: Die Menschen haben Gewissenhaftigkeit, Kenntnisse & Geschick aber nicht Kunst, noch feine Empfindung." (Denkbewegungen, 49) – Daß der Umgang mit Musik als Lebensform gefaßt ist, kein isolierbares Phänomen also von dem, was der Mensch sonst "aufführt", hindert nicht, daß, insofern die Möglichkeit "gedankenlosen und nicht gedankenlosen Spielen[s] eines Musikstücks" gegeben ist (PU 341), für das verständnisvolle Musizieren grundlegend die Intention des Hörers oder Spielers bzw. überhaupt die Fähigkeit dazu bleibt, das "musikalische Gehör" – "Aspektblindheit wird verwandt sein mit dem Mangel des ‘musikalischen Gehörs’." (PU, 552) Was dann einschließt, "daß die ästhetische Erklärung keine kausale Erklärung ist; oder daß sie eine kausale Erklärung von dieser Art ist: Daß die Person, die mit dir übereinstimmt, die Ursache sofort erkennt." (VLÄ, 32, Fn 4) Einerseits das Festhalten an der Selbst-Aussage der Musik (und der darin angelegten Auffassung des Verstehens als Akt der Realisierung), anderseits die Betonung ihres regelhaften Aspekts (dazu siehe unten); beides zeigt die Nähe zu einer Auffassung, die auf "Selbstgenugsamkeit" der Musik besteht (vgl. Glatz, 1929, 265, in seiner Einführung zu Schopenhauer): "‘Das Bild sagt mir sich selbst’ – möchte ich sagen. D.h., daß es mir etwas sagt, besteht in seiner eigenen Struktur, in seinen Formen und Farben. (Was hieße es, wenn man sagte ‘Das musikalische Thema sagt mir sich selbst’?)" (PU 523) "Die Musik scheint manchem eine primitive Kunst zu sein, mit ihren wenigen Tönen und Rhythmen. Aber einfach ist nur ihre Oberfläche, während der Körper, der die Deutung dieses manifesten Inhalts ermöglicht, die ganze unendliche Komplexität besitzt, die wir in dem Äußeren der anderen Künste angedeutet finden, und die die Musik verschweigt. Sie ist in gewissem Sinne die raffinierteste aller Künste." (VB, 462; (1931)) Denn sie entfaltet sich, kommt zu ihrer Wirksamkeit, in einer existenziellen Sphäre: "Die Probleme des Lebens sind an der Oberfläche unlösbar, und nur in der Tiefe zu lösen. In den Dimensionen der Oberfläche sind sie unlösbar." (VB, 555; (1948))
Die erkenntnistheoretische Wendung der Kunstauffassung, die aus "Tolstois schlechtem Theorisieren, das Kunstwerk übertrage ‘ein Gefühl’" (VB, 533; (1947)) die Lehre gezogen hat, vom "gefühlten Ausdruck" (ebd.) zu sprechen, indem das Kunstwerk "nicht etwas anderes übertragen [will], sondern sich selbst" (ebd.), zielt im Verstehen auf die "Absicht eines Schöpfers", aufs "System" (VB, 486; (1937)): "Nur so nämlich können wir unsere Behauptungen der Ungerechtigkeit – oder Leere unserer Behauptungen entgehen, indem wir das Ideal als das, was es ist, nämlich als Vergleichsobjekt – sozusagen als Maßstab – in unsrer Betrachtung ansehen statt als das Vorurteil, dem Alles konformieren muß. Hierin nämlich liegt der Dogmatismus, in den die Philosophie so leicht verfallen kann." (Ebd.; in leicht variierter Form vgl. PU 131.) Im Sprachspiel ist ja jeder "Schöpfer", was dem Begriff viel Mystisches nimmt und viel Alltägliches zukommen läßt. (Darauf komme ich im Kapitel 5 noch zurück.) 4. Regel und Variation "Wollt ihr nach Regeln messen, was nicht nach eurer Regeln Lauf – sucht davon erst die Regeln auf!" (Hans Sachs in den Meistersingern) Die Verwandtschaft, die Wittgenstein für sprachliche und musikalische Äußerungen feststellt – abgesehen davon freilich, daß diese Ähnlichkeit nur einen Teil der Musik betrifft und auch in diesem Teil nur einen Aspekt (vgl. VB, 538; (1947)) –, legt es nahe, beide Formen unter dem Gesichtspunkt der Regelhaftigkeit, der Regelbefolgung zu betrachten. Kennzeichen einer Spielregel ist ja, daß sie den Spielverlauf offen lassen muß, ihre Wirksamkeit ist gleichsam auf den internen Ablauf bezogen, auf Einzelzüge bzw. mögliche Kombinationen. Hier finden wir einige Entsprechungen im Musikalischen. Am 19.2.1930 notiert Wittgenstein nach einem Abschnitt über Permutationen und Kombinationslehre: "Ist nicht Harmonielehre wenigstens teilweise Phänomenologie also Grammatik?" (MS 108) Und fünf Tage später: "Die Harmonielehre ist nicht Geschmacksache." (Wittgenstein's Nachlass, MS 108, 24.2.1930) Das Erkennen der Gesetzmäßigkeit ist z. B. das Hören einer Kirchentonart "als ein charakteristisches Ganzes". (Ebd.) Dieser Denkschritt, der ihn etwas "als etwas Bestimmtes", als Gestalt wahrnehmen läßt, wird anhand von zahlreichen Beispielen aus Farb-, Ton- und Raumwahrnehmung durchgespielt und herauskristallisiert. In dieser experimentellen Phase der Phänomenologie haftet der analysierende Blick stark an isolierten Phänomenen, was gleichzeitig als unbefriedigende Lösung erkannt wird. "Wenn man frägt ob die Tonleiter eine unendliche Möglichkeit der Fortsetzung in sich tr[ä]gt so ist die Antwort nicht dadurch gegeben daß man Luftschwingungen die eine gewisse Schwingungszahl überschreiten nicht mehr als Töne wahrnimmt denn es könnte ja die Möglichkeit bestehen höhere Tonempfindungen auf andere Art und Weise hervorzurufen. Die Endlichkeit der Tonleiter kann vielmehr nur aus ihren internen Eigenschaften hervorgehen. Etwa so indem man es einem Ton selber an[er]kennt daß er der Abschluß ist daß also dieser letzte Ton oder die letzten Töne innere Eigenschaften zeigen die die mittleren nicht haben." (Ebd.) Die Isolierung der Phänomene muß erst überwunden werden. "Jedes Phänomen erscheint uns tot im Gegensatz zum lebenden Gedanken." (Wittgenstein's Nachlass, MS 114, 5.6.1932) Doch geschieht das zuerst nur scheinbar: Die "Intention" als Wahrnehmungseinstellung, gleich einer Versenkung ins Betrachtete, öffnet diesem über den Betrachter einen Zugang zum Leben. "‘Nur das intendierte Bild reicht als Maßstab an die Wirklichkeit heran. Von außen betrachtet steht es gleich tot und isoliert da.’ Es ist als hätten wir ein Bild erst so angeschaut, daß wir in ihm leben und die Gegenstände in ihm uns als wirkliche umgeben, und dann träten wir zurück und wären nun außerhalb, sähen den Ra[h]men und das Bild wäre eine bemalte Fläche. So, wenn wir intendieren, umgeben uns die Bilder der Intention und wir leben unter ihnen. Aber wenn wir aus der Intention heraustreten, so sind es bloße Flecke auf einer Leinwand, ohne Leben und ohne Interesse für uns." (Ebd.) Das Deuten hat im Intendieren ein "psychologisches Ende" erreicht, "kein logisches". (Ebd.) "Ich deute nicht, weil ich mich in dem gegenwärtigen Bild natürlich finde. Wenn ich deute, so schreite ich auf meinem Gedankenweg von Stufe zu Stufe." (Ebd.) Die Richtung dieser Gedankenfolge ist von einem (idealen) Maßstab vorgegeben, auf ihn hin höre ich, wenn ich es verstehe, ein bestimmtes Musikstück. "Warum müssen diese Takte gerade so gespielt werden? Warum bringe ich den Rhythmus der Stärke und des Zeitmaßes gerade auf dieses ganz bestimmte Ideal? man möchte sagen: ‘weil ich weiß, was das alles heißt’, – aber was heißt es denn?" (Ebd.) Wir kennen diese Stelle schon, aber anders, aus den Philosophischen Untersuchungen (Nr. 527; s.o. Kapitel 3); in MS 116, 1.9.1937, finden wir wieder eine leicht veränderte Version, auch hier ist der allgemein-normative Impetus verschwunden, die den eben zitierten Sätzen entsprechende Formulierung lautet: "Warum will ich den Wechsel der Stärke und des Tempos
gerade auf diesen Rhythmus bringen, warum gerade diese Linie zeichnen?" (Wittgenstein's Nachlass) – Diese Stelle zum Verständnis des musikalischen Ausdrucks ist besonders ergiebig für eine minutiöse Betrachtung des Wittgensteinschen Stils, zumal sie in noch einer weiteren Variation vorliegt, der frühesten, die "lebensnah" und poetisch daherkommt: "Warum pfeife ich das gerade so? warum bringe ich den R[h]ythmus der Stärke und des Zeitmaßes gerade auf dieses ganz bestimmte Ideal? Ich möchte sagen: ‘weil ich weiß, was das alles heißt’ – aber was heißt es denn? Ich wüßte es nicht zu sagen, außer durch eine Übersetzung in einen Vorgang von gleichem R[h]ythmus. Ich könnte nur sagen: wohnt dieses Musikstück in mir, diesen Platz nimmt dieses Schema in meiner Seele ein. So als gäbe mir jemand ein Kleidungsstück und ich legte es an meinen Körper an und es nähme also dort eine ganz bestimmte Gestalt an, indem es sich da ausdehnte, dort zusammenzöge und nur dadurch und so für mich Bedeutung gewönne. Diese Gestalt nimmt dieses Thema als Kleid meiner Seele an." (Wittgenstein's Nachlass, MS 112, 10.11.1931) Man darf, glaube ich, nicht außer Acht lassen, daß das "Verstehen", von dem hier die Rede ist, aus dem Umgang mit einem wohlbekannten, sehr begrenzten Repertoire von Musik erwachsen ist; fast könnte man sagen: Wittgensteins Vorliebe präjudiziert einen Teil dieser Auffassung von "Verstehen". Jenen statischen nämlich, der in der Wiedergabe, der Nachbildung v.a. den Vollzug einer Vorlage sieht. "‘Ja in gewisse[m] Sinne ist alles was beim [N]achbilden der Vorlage geschieht daß diese Vorlage an uns vorüberzieht und wir sie besser oder weniger gut treffen. D.h. es ist das Ende der Kopiermaschine da[s] unserer Vorlage entlangläuft was wir beobachten, die ganze übrige Maschine nehmen wir als gegeben hin. Wir merken sozusagen nur was sich ändert nicht was gleichbleibt. Der Abbildungsweise haben wir durch eine Einstellung die gleichbleibt (ein für alle mal) Rechnung getragen. – Und was wir spüren ist nur das Modell.’ ‘Darum, wenn wir falsch nach Noten singen oder spielen – so verschieden diese Abbildung der Art nach von ihrem Vorbild ist – fühlen wir es als einen Verstoß gegen das Modell.’" (Wittgenstein's Nachlass, MS 109, 28.11.1930) Mit der Realisierung des Wohlbekannten ist der Ernst, ein gewichtiger Teil der Intention, als Wahrnehmungsart verbunden, zu dem Wittgenstein Koder anhält und den er sich selbst auferlegt: "Heute Nachmittag h[ö]rte ich Koder der mir vorspielte. Ich redete ihm ins Gewissen, er solle das Klavierspiel ernst nehmen, sein Spiel war mir nicht ernst genug. Dann ging ich zu Helene und pfiff mit ihrer Begleitung Schubertlieder und meine Gedanken waren nie wirklich kon[z]entriert ich dachte immer an mich selbst und konnte mich nicht wirklich einf[ü]hlen oder der Sache hingeben. Es war nie wirklicher Ernst. Ich tat immer irgendetwas aber es war nie oder beinahe nie das [R]ichtige. Ich sagte mir vor da[ß] die Sache ernst sei aber [es] flog alles an mir vor[ü]ber. Ich f[ü]hlte da[ß] ich ein Schwein bin weil ich auch [E]chtes mit [U]nechtem mische. Möchte mir Gott Reinheit und Wahrheit schicken!" (Wittgenstein's Nachlass, MS 108, 28.12.1929) Dieser Ernst erst scheint den surplus zu bringen, ohne ihn spielt das Pianola, mit ihm wird musiziert. Am wechselnden Gebrauch des Begriffs der "Intention" läßt sich gut der Wandel der Blickrichtung vom statischen Maßnehmen am "Ideal" zum situativen Aspektsehen verfolgen: die Regelhaftigkeit gewinnt dadurch ebenfalls eine andere Gewichtung. Die unbefriedigende Grammatik des "Vorgangs" der Intention, in dem Sinne also gedacht, "daß sie noch am ehesten leisten kann, was sie soll, wenn sie ein äußerst getreues Bild von dem enthält, was sie intendiert" (Z 236), eine Vorstellung, die Maß und Realisierung trennt und dabei mit dem Jonglieren mit den beiden Bällen nicht zurecht kommt, löst sich auf in der Einsicht: "Absicht, Intention, ist weder Gemütsbewegung, Stimmung, noch Empfindung, oder Vorstellung. Sie ist kein Bewußtseinszustand. Sie hat nicht echte Dauer. Die Absicht kann man eine seelische Disposition nennen." (BPP II 178; bis "... Dauer." auch Z 45) Die aber nicht durch (Selbst)Erfahrung wahrnehmbar ist, nicht als "Ursache" von etwas abtrennbar vorliegt, sondern als "Motiv" in der Äußerung enthalten ist. (Vgl. BPP II 175) Intendiert heißt: mit Verständnis gelesen, gespielt; das Gegenteil ist: automatisch, gedankenlos. Die Intention trifft sozusagen den Kern des Gebrauchs, alle anderen Anwendungen eines Worts (oder Realisierungen von Musik) sind "Anbau an den Begriff", Auswüchse (BPP II 246) – unernstes Musizieren, Hintergrundmusik. Die Fragmentarisierung des Regelsystems in der Pragmatik erst läßt der Situation Gerechtigkeit widerfahren: "Verstehen eines Musikstücks – Verstehen eines Satzes. Man sagt, ich verstehe eine Redeweise nicht wie ein Einheimischer, wenn ich zwar ihren Sinn kenne, aber, z. B., nicht weiß, was für eine Klasse von Leuten sie verwenden würde. Man sagt in so einem Falle, ich kenne die genaue Schattierung der Bedeutung nicht. Wenn man nun aber dächte, man empfände beim Aussprechen des Wortes etwas anderes, wenn man diese Schattierung kennt, so wäre dies wieder unrichtig. Aber ich kann z.B. unzählige Übergänge machen, die der Andere nicht machen kann." (BPP I 1078) Mit dem Aspektsehen, sozusagen auf der Wahrnehmungsseite dem Sprachspiel zu vergleichen, ist die Eindimensionalität der Regelhaftigkeit aufgehoben: "Da fällt mir ein, daß in Gesprächen über ästhetische Gegenstände die Worte gebraucht werden: ‘Du muß es so sehen, so ist es gemeint’; ‘Wenn du es so siehst, siehst du, wo der Fehler liegt’; ‘Du mußt diese Takte als Einleitung hören’; ‘Du mußt nach dieser Tonart hinhören’; ‘Du mußt es so phrasieren’ (und das kann sich auf’s Hören wie
auf’s Spielen beziehen)." (PU, 534) "Die Umdeutung eines Gesichtsausdrucks ist wohl [aber] zu vergleichen mit der Umdeutung eines Akkordes in der Musik, wenn wir ihn einmal als Überleitung in diese einmal in jene Tonart empfinden [‘hören’]. (Vergleiche auch den Unterschied Mischfarbe, Zwischenfarbe.)" (Wittgenstein's Nachlass, MS 115, 14.12.1933; Varianten in eckigen Klammern.) Wir bemerken: die Vergleiche beziehen sich stets aufs tonale System, innerhalb dessen variantenreich zwischen den Ausdrucksweisen gewechselt werden kann. Analog der sprachlichen Natur philosophischer Probleme: "[D]er Frager [wird] durch eine bestimmte Änderung seiner Ausdrucksweise von seinem Problem erlöst". (Ebd.) Das konservative Element dieser Auffassung liegt auf der Hand: "‘Sprache’ das ist ein Wort wie ‘Tastatur’. [...] Und eine Tastatur erfinden könnte heißen etwas erfinden was die gewünschte Wirkung hat; aber auch neue Formen ersinnen die den alten auf mannigfache Weise analog sind." (Ebd.) Insofern sind Ausdrucksmittel für Gleiches variabel, Aspekte immer Neuerkanntes an Altbekanntem. Man könnte es als Seitenhieb auf atonale Musik lesen, was Wittgenstein, immer am 14.12.1933, als ein "dem philosophischen analoges Problem, oder eine Beunruhigung" notiert, die dadurch entstehen könne, "daß jemand auf allen Tasten des Manuals spielte, daß das Ergebnis nicht wie Musik klänge, und daß er doch versucht wäre zu denken [glauben], es müsse Musik sein. etc." (Ebd.; Variante in eckiger Klammer.) Mit dem Aspekt taucht einerseits die Erinnerung auf, ein Rekurs auf Voriges, anderseits wieder die Regel, diesmal nicht kausal, sondern als Variationsregel. "Ich höre Variationen über ein Thema und sage: ‘Ich sehe noch nicht, [inwiefern] das eine Variation des Themas ist, aber ich merke eine gewisse Ähnlichkeit (Analogie).’ Bei gewissen charakteristischen Punkten der Variation ‘wußte ich, wo ich im Thema bin’; und diese Erfahrung konnte darin bestehen, daß mir blitzartig die betreffende Stelle des Themas einfiel, oder es schwebte mir ihr Notenbild vor, oder ich machte die gleiche Geste, wie an jener Stelle, etc." (Wittgenstein's Nachlass, MS 115, 25.8.1936) Die Regelhaftigkeit bot uns ein Kriterium für die Betrachtung der Verwandtschaft von Sprache und Musik, mit dem Thema der Variation haben wir wieder so einen übergreifenden Komplex. "Würden wir also nach dem Wesen der Strafe gefragt, oder nach dem Wesen der Revolution, oder nach dem Wesen des Wissens, oder des kulturellen Verfalls, oder des Sinnes für Musik, – so würden wir nun nicht versuchen, ein Gemeinsames aller Fälle anzugeben, – das, was sie alle eigentlich sind, – also ein Ideal, das in ihnen allen enthalten ist; sondern statt dessen Beispiele, gleichsam Zentren der Variation." (Ebd.) In die allgemeine Analyse der Begriffe gewendet: "denken wir über sie [die Begriffe] nach, so denken wir zuerst an den Teil ihrer Ausdehnung, in dem wir, man könnte sagen, zu Hause sind. Von dort zieht es uns in die Weite; und wir werden nicht gewahr, daß Alles sich nun nach und nach, g[ä]nzlich ändert. Und zu sagen: im Grunde ist es ja immer dasselbe, – heißt jetzt vielleicht nur mehr: von dort komme ich her, auf diesen Zustand will ich alles beziehen." (Ebd.) Hier trifft sich die philosophische Methode wieder mit einer musikalischen Vorliebe Wittgensteins: "‘Brahms hat alles herausgebracht, was in dem Thema liegt.’ Aber wäre es in dem Thema gewesen, wenn er's nicht herausgebracht hätte? – D.h.: wenn das Ganze da ist, so ist es als hätte die Entwicklung in dem Thema gelegen." (Wittgenstein's Nachlass, MS 121, 10.5.1938) Brahms’ "überwältigende[s] Können" (VB, 484; (1934)) liegt, wie vielfach betont, in der regelgeübten Entwicklung der Themen einerseits, in der Variationskunst anderseits. "Bei Brahms überwiegt manchmal die Gedankenarbeit. [...] Nach seiner Anschauung war nicht die ‘Erfindung’ (der Einfall) das Hauptbestimmende, sondern die Verwendung und Ausarbeitung. [...] Der logische Aufbau der Formen war sein Hauptbestreben [...]. Immer höher steigt seine Kunst in der Verbindung von Sonatensatz und Variation, die in seiner letzten Periode die Vollendetste ist und in alle Sätze der Instrumentalzyklen übergreift. Nicht mit Unrecht wird Brahms von Hermann Kretzschmar ‘Der Großmeister der Variationenkunst’ genannt." (Adler, 1933, 14f.) Adler, immer freundschaftlich, bemerkt sogar Vereinseitigungen in Richtung thematisch-motivischer Arbeit, die "Verbindungen [nehmen,] dort und da verkünstelt, den Charakter von Verkleisterungen an [...] – das Aeußerlich-Konstruktive überwuchert manchmal das Innerlich-Motorische." (Ebd., 16f.) – Eine ähnliche Einschätzung durch Wittgenstein, 1930, zitiert Drury einmal: "Bei Brahms ist die Musik an einen Schlußpunkt gelangt; und selbst bei Brahms kann ich schon etwas Maschinenartiges heraushören." (Rhees, 1992, 160) Ein Übergewicht des "Könnens", das Komponieren "mit der Feder" (Tagebuch 6.5.1931; auch VB, 466), eine Art Distanz im Klangbild bemerkt weiter der Tagebucheintrag vom 6.5.1931: "Bei Brahms die Farben des Orchesterklanges Farben von Wegmarkierungen." (Denkbewegungen, 44) – Die Detailuntersuchung von Viktor Urbantschitsch zur Entwicklung der Sonatenform bei Brahms (1927) bringt gleichlautende Ergebnisse wie Adlers Aufsatz, durch "Konzentrierung und untrennbar festes Zusammenfügen" erreichte Brahms allmählich eine Dichte in der Verarbeitung, in der er nicht mehr nur "heterogene thematische Elemente kontrapunktisch miteinander verflocht und amalgamierte", sondern nun "seine Themen von vornherein aus demselben thematischen Material, sei es als Varianten eines Grundthemas oder als verschiedene Fortspinnungen ein und desselben Motives [baute]." (Urbantschitsch, 1927, 274f.) In der Lösung der formalen Probleme durchaus "absoluter Musiker", wird Brahms den "Strömungen seiner Zeit, der Zeit des ‘Gesamtkunstwerkes’ und der Programmusik" entgegengehalten. Doch "stand
Brahms nicht in jeder Beziehung auf dem Boden der Klassik. Nur seine künstlerischen Anschauungen und die Form seiner Werke ist klassizistisch. Ihr stofflicher Gedankengehalt entstammt zum überwiegenden Teil dem subjektiv gefärbten, romantischen Ideenkreis seiner Zeit, was wir überall durchfühlen müssen, sofern wir darauf hinhorchen." (Ebd., 284f.) Wir brauchen nicht in die Diskussion um Brahms’ romantische Ader einzusteigen – Imogen Fellinger hat in seinem Aufsatz Grundzüge Brahmsscher Musikauffassung (1965) gerade an der verstärkten Hinwendung zur Variationsform Brahms’ "endgültige Abkehr von romantischen Vorstellungen" und die Annäherung an Barock und Klassik festgemacht. (Ebd., 118ff.) In unserem Zusammenhang bedeutsam ist eine Äußerung Wittgensteins gegenüber Rush Rhees von 1939, die einerseits zeigt, wie sehr verhaftet er dem "romantischen Ideenkreis" war, anderseits, welche Folgerungen daraus sich in seinem Denken über Zeitgemäßheit des Ausdrucks und das Übesetzungsproblem niederschlugen: Ausgangspunkt des Gesprächs war die Schwierigkeit, "heutzutage Brahms zu spielen. Myra Hess spielte Brahms in genau der Weise, die zur Zeit Brahms’ die richtige war. Aber wenn man ihn jetzt so spielte – mit ebender emotionalen Betonung, die den emotionalen Reaktionen der Menschen von damals entsprochen hatte –, wurde die Musik für uns dadurch sinnlos. Es gab nur einen Menschen, den er in den letzten Jahren gehört hatte, nur einen Pianisten, der wirklich gewußt hatte, was diese Musik bedeutete, und sie entsprechend gespielt hatte – ‘und das war eben der große Brahms’. Er hatte einen Riecher dafür, was Musik und was Rhetorik war. So, wie Myra Hess die Sachen spielte, wäre es zu Brahms’ Lebzeiten wirklich Musik gewesen, doch jetzt war es nichts weiter als Rhetorik; und was immer dadurch vermittelt wurde, es war nicht Brahms." (Rhees, 1992, 268f.) Abgesehen von dem amüsant-eitlen Tenor (– man höre einen sagen, was "zu Brahms’ Lebzeiten wirklich Musik gewesen [sei]"! –) fällt hier die Verlagerung des Unproblematischen in die Vergangenheit auf. Freilich ist der Rekurs auf eine "entsprechende" Interpretation durch den Komponisten ein trivialer, nicht weiterführender Einwand gegen neue Realisierungen. Doch finden wir ihn, umgewandelt, wieder in der Überlegung zur "natürliche[n] Entwickelung" (Wittgenstein's Nachlass, MS 121, 10.5.1938) eines musikalischen Themas: diese vergleicht Wittgenstein mit dem Fall, in dem man feststellt: "‘Ja, das war das Wort, das ich damals sagen wollte’, ‘Ich habe damals das gemeint’." (Ebd.) Hier nun aber ist das Beispiel methodisch nutzbar gemacht: Durch Vergleichung der "Entwicklungen anderer musikalischer Themen" könne die Frage beantwortet werden, inwieferne in dem bestimmten Fall eine "natürliche Entwicklung" vorliegt. (Ebd.) – Die Entfaltung eines Themas – man muß sie nicht "natürlich" nennen – ist in der Variationenform, sei sie strenger oder freier gehandhabt, mehr am melodiösen Verlauf des Themas orientiert oder mehr am Baß, besonders gut nachvollziehbar. Freilich ist es nicht das, was von Wittgenstein hier angesprochen ist; er denkt vielleicht eher an die "innere Eigenschaft" einer Melodie (Wittgenstein's Nachlass, MS 118, 16.9.1937) im Sinne eines "organisch verbundenen Satz[es], dessen einzelne Teile einander musikalisch-notwendig bedingen", wie Grillparzer es formulierte. (Kritik zur Euryanthe, 1823; Werke XV, 130f., hier 130) Bezeugt finden wir aber auch Wittgensteins Interesse für die (musikalische) Variationsform: Am 9.4.1917 teilt er, gewohnt kurz, in einem Brief an Paul Engelmann dessen Begeisterung für die Brahmsschen Variationen über ein Thema von Händel, op. 24, (1861): "Die Händel-Variationen von Brahms kenne ich. Unheimlich –" Mit diesem Werk hat, Fellinger zufolge, Brahms sich von den "Phantasie-Variationen" Schumannscher Prägung (Brahms selbst bezeichnete so die freie Behandlung eines Themas ähnlich seinem opus 9) verabschiedet und "eine strengere Auffassung von Variationentechnik" entwickelt, die der Komponist in einem Brief an Alfred Schubring so beschreibt: "... bei einem Thema zu Variationen bedeutete mir eigentlich, fast, beinahe nur der Baß etwas. Aber dieser ist mir heilig, er ist der feste Grund, auf dem ich dann meine Geschichten baue. Was ich mit der Melodie mache, ist nur Spielerei oder geistreiche - Spielerei. [...] Über den gegebenen Baß erfinde ich wirklich neu, ich erfinde ihm neue Melodien, ich schaffe." (Zitiert bei Fellinger, 1965, 119) Bach und Beethoven zieht er als Vorbilder heran. "Neben der Betonung des Basses ist ihm die Gesamtheit der Charakteristika eines Themas bei der Variierung wesentlich." (Ebd.) Zu Brahms’ Variationen über das Thema "Chorale St. Antoni" von Haydn, op. 56a – "(opus 56b, Arrangement für zwei Klaviere, bringt, wie Brahms sagt, eine ‘Version’)" (Adler, 1933, 21) – ist eine begeisterte Tagebucheintragung von David Pinsent überliefert, mit dem Wittgenstein eine Art musikalische Seelenverwandtschaft verbunden haben dürfte. In einem der vielen 1912 und 1913 gemeinsam besuchten Konzerte in Cambridge stand dieses Werk auf dem Programm: "[Es] war hinreißend – das Wunderbarste, das ich seit langem gehört habe. Das Thema selbst ist unbeschreiblich und die Variationen typisch für den Brahms auf dem Höhepunkt seines Schaffens, und wenn zum Schluß hin das Thema noch einmal – unverziert, fortissimo und in kolossalen Harmonien – wiederkehrt, ringt man unwillkürlich nach Luft und hält sich am Stuhl fest! Ich kann nicht beschreiben, wie sehr es mich aufgewühlt hat." (9.5.1913; Pinsent, 1994, 97f.) Und aus einem Brief von Margarete Stonborough ([Ende 1942], Familienbriefe, 178f., hier 179) erfahren wir eine Einschätzung Ludwigs zu diesem Stück: "Do you remember what you once said about the Haydn Variations that go so near me. You said: ‘In the highest & cleanest cell’." – Die Begeisterung für die Dritte Symphonie von Beethoven – "Ja, der zweite und der vierte Satz! Ich hatte sie nicht mehr in Erinnerung. Es ist nicht zu sagen!" (an Hermine Wittgenstein, [Sommer 1923?]) – zeigt mit der Hervorhebung des vierten Satzes ebenfalls das Interesse für die Variationenform. (Am zweiten Satz könnte die Polyrhythmik und damit zusammenhängend die Frage der Transparenz das Faszinosum gewesen sein.) Schließlich ist in diesem Zusammenhang wohl noch auf das Werk Josef
Labors zu verweisen, das in nicht geringem Umfang der Variationstechnik verschrieben war: von den frühen Czernyvariationen, op. 4, für Klavier über die Hornvariationen, op. 10, zu den Chopinvariationen (1914), doch "[a]uch die als ‘Phantasie’ bezeichneten Tonstücke sind mehr oder weniger Variationswerke." (Kundi, 1962, 80) Was für die Entfaltung des Themas in der Variation sozusagen innermusikalisch gilt, der Zusammenhalt in den Aspekten, macht für Wittgenstein auch die Bedeutung der Musik im Lebenszusammenhang aus. Wo nicht sie Variationen liefert, liefert sie die je einmalige Situation des Hörens. "Diese musikalische Phrase ist für mich eine Gebärde. Sie schleicht sich in mein Leben ein. Ich mache sie mir zu eigen. Die unendlichen Variationen des Lebens sind unserm Leben wesentlich. Und also eben der Gepflogenheit des Lebens. Ausdruck besteht für uns [in] Unberechenbarkeit. [...] Stimmt das aber? – Ich kann mir doch ein Musikstück, das ich (ganz) auswendig weiß, immer wieder anhören; und es könnte auch von einer Spieluhr gespielt werden. Seine Gebärden blieben für mich immer Gebärden, obgleich ich immer weiß, was kommen wird. Ja, ich kann sogar immer wieder überrascht sein. (In einem bestimmten Sinne.)" (VB, 553f.; (1948)) 5. Denk- und Lebensstil "– he [Wittgenstein] has the artist’s feeling that he will produce the perfect thing or nothing –" (Bertrand Russell an Ottoline Morrell, 5.9.1912) Die "ästhetische Relevanz der Philosophie Wittgensteins" hat Jörg Zimmermann (1978) anhand der zu diesem Thema sehr ergiebigen Vermischten Bemerkungen hervorgehoben, um einer vereinseitigenden Rezeption dieses Philosophen dessen Ausgangspunkt in einer "existenziell motivierte[n] Selbstreflexion" (ebd., 539) entgegenzuhalten. Auf diesen Zusammenhang hat in seinem kleinen Beitrag Recollections of Wittgenstein (in Fann, 1967, 79-88) schon Wolfe Mays, 1940-42 Teilnehmer an Wittgensteins Kursen, hingewiesen: "His approach to philosophical problems was essentially aesthetic in the widest sense. He had a very strong, almost abnormal imagery, and this came out in the bizarre examples he used to produce in class to illustrate his arguments." (Ebd., 80) Und er zieht Parallelen zu Kierkegaard: "the emphasis in both kinds of philosophizing on the expressive aspects of language, the comparison of linguistic expression to musical expression, and the stress on behavior and social context as determiners of meaning. Wittgenstein’s interest in the particular case rather than the general one has also something in common with the existentialist position, with its dislike of general principles and norms." (Ebd., 84. Vgl. die Ausarbeitung dieser und weiterer Parallelen zwischen Wittgenstein und Kierkegaard, insbesondere anhand der Beziehung von Lebensstil, Arbeitsstil und philosophischen Ideen, bei Creegan, 1989.) "Wissenschaftliche Fragen können mich interessieren, aber nie wirklich fesseln. Das tun für mich nur begriffliche und ästhetische Fragen. Die Lösung wissenschaftlicher Probleme ist mir, im Grunde, gleichgültig; jener andern Fragen aber nicht." (VB, 563; (1949)) Die "ästhetische Thematik", so Zimmermann (1978, 539; er verweist hiezu auf seine frühere Arbeit Wittgensteins sprachphilosophische Hermeneutik. Frankfurt, 1975), äußere sich im Tractatus in der Nähe zu Schopenhauers ästhetischer Kontemplation der Welt sub specie aeternitatis als "Voraussetzung der solipsistischen Erfahrung der Welt als eines ‘begrenzten Ganzen’". Schopenhauer "in die logisch-ontologische Sprache des Tractatus übersetzt" (Birnbacher, 1978, 542), ergibt den Status der Melodie als "eine Art Tautologie, sie ist in sich selbst abgeschlossen; sie befriedigt sich selbst." (Tagebücher, 4.3.1915; Werkausgabe 1, 130) Die "Unaussprechlichkeit" der Musik sei in diesem Zusammenhang ausgesprochen verständlich. (Vgl. Birnbacher, 1978, 542) "[Die] späte Schreibweise und Argumentationsform ist Ausdruck eines pointiert ‘ästhetischen’ Denkens" (Zimmermann, 1978, 540) – die Anführungszeichen signalisieren vielleicht schon das Unbehagen, ein "ästhetisches" von einem "sonstigen" Denken unterscheiden zu wollen. Merkmale dieses "Ästhetischen" sind alles Individualisierende in der Betrachtung, was letztlich in das Aspekt-Sehen und in den Sprachspiel-Begriff mündet (ebd.), sowie Wittgensteins Einschätzung des eigenen Philosophierens im Vokabular aus verschiedenen Künsten: "Mein Stil gleicht schlechtem musikalischen Satz." (VB, 505; (1941)) Zu Schillers "poetischer Stimmung" (Brief an Goethe, 17.12.1795) schreibt Wittgenstein: "Ich glaube, ich weiß, was er meint, ich glaube sie selbst zu kennen. Es ist die Stimmung, in welcher man für die Natur empfänglich ist und in welcher die Gedanken so lebhaft erscheinen, wie die Natur. Merkwürdig ist aber, daß Schiller nicht besseres hervorgebracht hat (oder so scheint es mir) und ich bin daher auch gar nicht sicher überzeugt, daß, was ich in solcher Stimmung hervorbringe, wirklich etwas Wert ist. Es ist wohl möglich, daß meine Gedanken ihren Glanz dann nur von einem Licht, das hinter ihnen steht, empfangen. Daß sie nicht selbst leuchten." (VB, 543; (1948)) "Und ich bin im Grunde doch ein Maler, und oft ein sehr schlechter Maler." (VB, 567; (1949)) Birnbacher sieht die Rolle der musikalischen Beispiele und Analogien in der "Spätphilosophie" als "die von Korrektiven gegenüber Mißverständnissen der Semantik der Begriffe geistiger
Tätigkeiten". (Birnbacher, 1978, 543) Schon im Kontext der Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik hätte die "Analogisierung von mathematischen und musikalischen Sinnbeziehungen" (ebd., 542) eine gegenseitig explikative bzw. sprachspieltheoretisch relativierende Funktion erfüllt. "Die genaue Entsprechung eines richtigen (überzeugenden) Übergangs in der Musik und in der Mathematik." (BGM, 192) Birnbachers Schluß, diese Bemerkung müsse "angesichts der extremen kulturellen und historischen Relativität von musikalischen Übergängen (etwa Akkordfortschreitungen) als wesentlicher Beleg für die extrem konventionalistische Interpretation von Wittgensteins Bemerkungen zu den Grundlagen der Mathematik gewertet werden, nach der bei Wittgenstein in keinem Sinne von einer Anerkenntnis absoluter mathematischer Wahrheit die Rede sein kann" (Birnbacher, 1978, 543), wird, meine ich, von dieser Seite nicht gestützt, wenn man sich Wittgensteins extrem konservativen Standpunkt zu musikalischen Übergängen bzw. zur Harmonielehre vergegenwärtigt: "Die Harmonielehre ist nicht Geschmacksache." (Wittgenstein's Nachlass, MS 108, 24.2.1930) "Die Regeln der Harmonielehre, kann man sagen, drückten aus, wie sich die Leute die Akkordfolgen wünschten – ihre Wünsche kristallisierten sich in den Regeln. (Das Wort ‘Wünsche’ ist viel zu vage.) Die größten Komponisten schrieben in Übereinstimmung mit den Regeln. [Antwort auf Einwand:] Man kann sagen, daß jeder Komponist die Regeln geändert hat, aber diese Änderungen waren sehr gering, und nicht alle Regeln wurden geändert. Die Musik war noch immer nach sehr vielen der alten Regeln gut. – Das gehört aber nicht hierher.)" (VLÄ, 17) – Doch erübrigt sich dieser Schluß schon vom Begriff des Sprachspiels her. Das individualisierende, einer subsumptiven Begrifflichkeit entgegenstehende Konzept der Analyse prägt die "Reflexionen zum Problem der Übersetzung, die den irreduziblen ‘ästhetischen’ Charakter vieler Sprachspiele betonen". (Zimmermann, 1978, 540) Wittgensteins "Vorstellung einer prinzipiellen Autonomie sprachlichen Sinnes" ist nur vom "Paradigma des ästhetischen Verstehens" her verständlich. (Ebd.) Die Frage ist freilich, ob ein solches "ästhetisches Verstehen" als eigenständiges Paradigma überhaupt – sinnvollerweise – aufrechterhalten werden kann. "Was wir wirklich wollen, um ästhetische Rätsel zu lösen, sind gewisse Vergleiche – die Zusammenführung von bestimmten Fällen". (VLÄ, 46) "Wenn deine Erklärung kompliziert ist, wird sie abgelehnt, besonders, wenn du selbst nicht sehr hinter der Sache stehst." (VLÄ, 55) Zimmermann streicht die "innovative Dimension des Sprachspiel-Begriffs – als Möglichkeit, neue Sprachspiele zu erfinden und reflexiv auf schon existierende zu beziehen" heraus, fruchtbringend sowohl für neue "Formen der Erfahrungsartikulation" (Zimmermann, 1978, 540) als auch für eine sprachanalytische Ästhetik. (Ebd., 541) Ich bezweifle, daß mit der Rückführung der am Wittgensteinschen Philosophieren erkannten "ästhetischen Thematik" in die hergebrachterweise so bezeichneten ästhetischen Bereiche unseres Lebens (also der bloß künstlerischen Nutzbarmachung des Sprachspiel-Begriffs) etwas Sinnvolles getan ist. – Wäre das nicht eine neue Form der "Romantisierung der Welt"? – "Wieviel von dem, was wir tun, besteht darin, den Stil des Denkens zu ändern, und wieviel von dem, was ich tue, besteht darin, den Stil des Denkens zu ändern, und wieviel tue ich, um andere davon zu überzeugen, ihren Denkstil zu ändern." (VLÄ, 45) Diesen Denkstil, der sich bei Wittgenstein in der Form seines Philosophierens äußert, in der frühen sentenzartigen wie in der späten fragmentarisch-variierenden, finden wir in vielen Aspekten in R. G. Collingwoods Principles of Art beschrieben, das im selben Jahr (1938) in Oxford erschien, in dem Wittgenstein in Cambridge über Ästhetik las. Die beiden haben vielleicht außer ihrer Außenseiterrolle im universitären Betrieb nichts gemein. (Collingwood war bei Wittgensteins Bestellung zum Nachfolger Moores Vorsitzender der Professorenjury.) Collingwoods Fragen und Antworten - er war im "Hauptberuf" Historiker, Philosoph mehr nebenher - waren ideengeschichtlich orientiert, wissenschaftstheoretisch motiviert. (Vgl. auch seine Autobiographie (1939), bes. die methodologischen Ausführugen in Kapitel 5.) Einzelne Zielrichtungen der Principles of Art, z.B. Kunst von Nicht-Kunst zu unterscheiden oder im Rahmen einer bestimmten Theorie der Vorstellungen das Kunstwerk als "imaginäres" zu bestimmen, gehen mit Wittgensteins Denkansatz in nichts überein. Und doch: Was Collingwood über das künstlerische Tätigwerden, den Ausdruck, das (Selbst)Bewußtsein des Künstlers sagt, läßt an eine in der Motiviertheit der Überlegungen gegründete Verwandtschaft mit Wittgenstein denken. (Die Prägung durch Schopenhauer ist teilweise markant, aber bei Collingwood nicht ausgesprochen.) Die "Kunst als solche" (Collingwood nennt sie so, um sie von der Kunst als Handwerk oder als Magie zu unterscheiden) entsteht nicht aus einer zu bestimmten Zwecken angewandten Technik, hat also nicht als Wesentliches eine Wirkung, die im Verfolgen jener Zwecke erfolgreich wäre. (Collingwood, 1938, 29) Der zentrale Aspekt der Kunstbetrachtung ist das Werden des Ausdrucks: Die künstlerische Tätigkeit individualisiert ihren Gegenstand (ebd., 113), rückt ihn nicht in ein gegebenes System – wie es etwa die Beschreibung tue –: "The artist proper is a person who, grappling with the problem of expressing a certain emotion, says, ‘I want to get this clear.’ It is no use to him to get something else clear, however like it this other thing may be." (Ebd., 114) Ohne ausgedrückt zu sein, ist dieses Gefühl nicht da: "Until a man has expressed his emotion, he does not yet know what emotion it is. The act of expressing it is therefore an exploration of his own emotions." (Ebd., 111) Der Künstler macht zunächst sich selber etwas klar, für das Publikum fällt diese Klärung in der Rezeption sozusagen als
Nebenher ab: "As Coleridge put it, we know a man for a poet by the fact that he makes us poet. We know that he is expressing his emotions by the fact that he is enabling us to express ours." (Ebd., 118) Der Künstler hat, drückt er sich aus, keine Wahl, er ist es nur, insofern er "candid" ist. Er überlegt nicht, welche Gefühle ausdrückbar sind, sondern er realisiert sein Werk, oder nicht. (Ebd., 115) "The artist never rants." (Ebd., 122) Im Gesamtausdruck fügen sich die Elemente zur Einheit, und: "The characteristic mark of expression proper is lucidity or intelligibility". (Ebd.) Das geht einher mit einer Entmystifizierung der Person des Künstlers: Er tritt nicht als Mystagog oder Missionar auf, nicht als Erklärer (Hegel), sondern "he will be a humbler person, imposing upon himself the task of understanding his world, and thus enabling it to understand itself." (Ebd., 312) Der Geniekult stirbt ab, das Künstlerische wird zur Einstellung, zur seelischen Disposition einerseits, zur Aktion, Äußerung anderseits. Das "ästhetische Gefühl" ist nicht ein abrufbares im Künstler, sondern es tritt in der geglückten Realisierung des Ausdrucks auf, und nur dort. "It resembles the feeling of relief that comes when a burdensome intellectual or moral problem has been solved. [...] It is an emotional colouring which attends the expresssion of any emotion whatever." (Ebd., 117) Es ist nicht nach "psychologischen" Kategorien von Ursache und Wirkung zu analysieren: "The aesthetic experience is an autonomous activity. It arises from within; it is not a specific reaction to a stimulus proceeding from a specific type of external object." (Ebd., 40) Beispiele zweckdienlicher Kunst wären ein Kriegerdenkmal, Marschmusik oder ein Hochzeitsfest. (Ebd., 69ff.) Das Kunstwerk – oder: alles dahingehend Verwandelte – ist eine "total activity" (ebd., 149), mehr energeia als ergon, um mit Herder zu sprechen. "Every genuine expression must be an original one." (Ebd., 275) "Art falsely so called is, therefore, the utilization of ‘language’ (not the living language which alone is really language, but the ready-made ‘language’ which consist of a repertory of clichés) to produce states of mind in the person upon whom these clichés are used." (Ebd., 276) Dem ausgreifenden Werk-Begriff entspricht ein moralischer Rigorismus, der im "korrupten Bewußtsein" die Gefahr sieht, zu verkennen oder zu verdrängen, daß das Bewußtmachen des Gefühls im Kunstwerk immer nur einen Teil des sinnlich-emotionalen Komplexes trifft. "A bad work of art is the unsuccessful attempt to become conscious of a given emotion: it is what Spinoza calls an inadequate idea of an affection." (Ebd., 282) Das hat Konsequenzen für den gesamten Lebensstil: "Every utterance and every gesture that each one of us makes is a work of art. It is important to each one of us that in making them, however much he deceives others, he should not deceive himself. [...] Bad art, the corrupt consciousness, is the true radix malorum." (Ebd., 285) Die Rigorosität des Denkens und Formulierens ist charakteristisch für Collingwood. So, wenn er illustriert, daß die künstlerische Tätigkeit Gefühle nicht kopiert, sondern über den Ausdruck evoziert: "The pianoforte accompaniment of Brahms’s song Feldeinsamkeit does not make noises in the least degree resembling those heard by a man lying in deep grass on a summer’s day and watching the clouds drift across the sky; but it does make noises which a man feels on such an occasion. The erotic music of a modern dance-band may or may not consist of noises like those made by persons in a state of sexual excitement, but it does most powerfully evoke feelings like those proper to such a state. If any reader is offended at my suggesting an identity in principle between Brahms and jazz, I am sorry the suggestion offends him, but I make it deliberately." (Ebd., 56) Es verwundert nicht, wenn die radikale Forderung nach Authentizität den künstlerischen Ausdruck überschreitet und auf das Philosophieren übergreift. "To express it [the emotion], and to express it well, are the same thing." (Ebd., 282) Die der Kunst eigene Wahrheit ist nicht eine der Relationen irgendwelcher Art, nicht die argumentierende, sondern die unmittelbar überzeugende, die auf das Individuelle, Einzelne des Aktes zielende. Schließlich: "Good philosophy and good poetry are not two different kinds of writing, but one; each is simply good writing." (Ebd., 298) Die Konsequenzen, die Collingwood aus seinen Überlegungen für den Kunstbetrieb zieht, seien nur angedeutet: Zum einen müsse der Künstler an die Öffentlichkeit, da das, was er zu sagen hat und was er sagt, so nicht von anderen gesagt werden kann. (Ebd., 313) Zum andern ist der Selbst-Ausdruck des Künstlers, wie ihn Collingwood versteht, gerade das Gegenteil eines selbstgenügsamen Individualismus, die Wirkung, die sich in einer noch so kleinen Publikumsgemeinschaft mit der künstlerischen Äußerung einstellt, ist konstitutiv für die Kunst: "we feel" ist das Movens des Künstlers. (Ebd., 315f.) Es wäre müßig, zu den hier aufgeführten Aspekten des Ästhetik-Begriffs von Collingwood "Entsprechungen" bei Wittgenstein heranzuschaffen. Sie fallen beim Lesen ebenso ins Auge, wie der Umstand, daß sie sich zumeist gar nicht auf ästhetische Belange beziehen. Ich muß – wie anders? – ein Bild bemühen: Sie scheinen in seinen Äußerungen durch, prägen seine Selbsterkundung im philosophischen Werk wie in den Tagebüchern. Hier heißt es einmal (2.5.1930): "Ich leide oft unter dem Gedanken wie sehr der Erfolg oder der Wert dessen was ich tue von meiner Disposition abhängt. Mehr als bei einem Conzertsänger. Nichts ist gleichsam in mir aufgespeichert; beinahe Alles muß im Moment produziert werden. Das ist – glaube ich – eine sehr ungewöhnliche Art der Tätigkeit oder des Lebens." (Denkbewegungen, 23) Zumindest wird dadurch der (klassische) Werk-Begriff zur Disposition gestellt. Das "Ethos" lag dort im "vollendeten" Werk beschlossen, wie (selbst)kritisch auch diese Vollendung betrachtet wurde. Brahms meinte in einem Brief an Hans von Bülow (Oktober 1884) über seine "fruchtbaren, leicht schreibenden, schnellfertigen Collegen": "Wie oft schreibt so Einer fröhlich sein Fine, das doch sagt: Ich bin fertig mit dem, was ich
auf dem Herzen habe! Wie lange kann ich das Kleinste fertig mit mir herumtragen, ehe ich ungern dies ‘fertig’ zugebe!" (Zit. bei Fellinger, 1965, 121) Das in diesem Sinn "befreite" Ethos nimmt als Betrachtungsweise prozeduralen Charakter an. "Das Kunstwerk zwingt uns – sozusagen – zu der richtigen Perspektive, ohne die Kunst aber ist der Gegenstand ein Stück Natur, wie jedes andre, und daß wir es durch die Begeisterung erheben können, das berechtigt niemand es uns vorzusetzen." (VB, 456; (1930)) Das Erkennen einer Lebensform als Lebensform, eines Sprachspiels als Sprachspiel, entläßt den, der sich darauf einläßt, wohl gewisser Zwänge tradierter Systematiken – denen etwa Collingwood nicht auskommt –, nicht aber der Gestaltung überhaupt. Die eben zitierte Bemerkung fährt fort: "(Ich muß immer an eine jener faden Naturaufnahme[n] denken, die der, der sie aufgenommen interessant findet, weil er dort selbst war, etwas erlebt hat; der Dritte aber mit berechtigter Kälte betrachtet, wenn es überhaupt gerechtfertigt ist, ein Ding mit Kälte zu betrachten.)" (Ebd.) "Kultur ist eine Ordensregel. Oder setzt doch eine Ordensregel voraus." (VB, 568; (1949)) Wittgensteins Denkweise liegt eine Motivation zugrunde, jener ähnlich, die Grillparzer der Ästhetik zuschreibt: "Wenn die Ästhetik auch keine Rechenkunst des Schönen ist, so ist sie doch die Probe der Rechnung." (Werke XV, 10) Insofern ist sie eine Denkweise.
Anhang Editorischer Bericht Der hier edierte Briefwechsel zwischen Ludwig Wittgenstein und Rudolf Koder umfaßt 122 Brief-Dokumente, wobei 70 Korrespondenzstücke von Wittgenstein und 52 von Koder stammen. Die Originale der Briefe von Ludwig Wittgenstein sind als Teil des Nachlasses von Rudolf Koder heute im Besitz von dessen Sohn Johannes Koder, mit Ausnahme eines Briefentwurfs auf der Rückseite des Briefes von Koder, datiert mit [Winter 1926/27], und eines Brieffragments, datiert mit [nach dem 21.2.1927 ?]. Diese beiden Korrespondenzstücke von Wittgenstein befinden sich gemeinsam mit fünf Briefen von Rudolf Koder bei Hermann Hänsel. Von allen genannten Briefdokumenten besitzt das Brenner-Archiv Kopien, von denen Transkriptionen angefertigt wurden, die wiederum - was den Koder-Nachlaß anbelangt - anhand der Originale kollationiert wurden. 47 Briefe von Rudolf Koder sind uns nur als maschinschriftliche Abschriften zugänglich, die Brian McGuinness auf der Grundlage der Originale dieser Korrespondenzstücke veranlaßt hat. Unsere Versuche, die Originale mit Hilfe der Wittgenstein-Trustees ausfindig zu machen, blieben bisher erfolglos. Trotz dieser editionstechnisch etwas unbefriedigenden Situation wurde nach einer längeren Zeit des Suchens und Wartens der Entschluß gefaßt, den Briefwechsel zwischen Wittgenstein und Koder auf der Grundlage der derzeit nur als Abschriften zugänglichen Korrespondenzstücke von Koder herauszugeben. Da wir die Abschriften im Besitz von McGuinness als sehr zuverlässig erachten und da diese zudem als solche gekennzeichnet sind, kann hier also von einer wissenschaftlichen Grundlagenausgabe gesprochen werden, die unveröffentlichtes Nachlaßmaterial allgemein zugänglich macht. Der hier edierte Briefwechsel ist allerdings bei weitem nicht vollständig. In ihm werden über 30 weitere Korrespondenzstücke erwähnt, die nicht überliefert sind. Aber schon die nun zugänglichen Briefe zeigen, daß der Briefwechsel zwischen Wittgenstein und Koder eine lange Zeitspanne umfaßt, nämlich von 1923-1951. Wie aus dem Briefverzeichnis ersichtlich, stammt die Mehrzahl der edierten Briefe aus dem Jahr 1949 (19; alle an Koder), gefolgt von den Jahren 1929 (15), 1930 (13) und 1931 (11). Es finden sich aber auch Jahre, aus denen keine Briefe überliefert sind (1924, 1941-44). Die Briefe, die zumeist nur eine halbe Typoskriptseite umfassen, sind chronologisch angeordnet und mit Nummern versehen. Die Chronologie wurde dadurch erschwert, daß ca. die Hälfte der Briefe undatiert ist. Aufgrund biographischer und inhaltlicher Zusammenhänge, wurden mehr oder weniger genaue Datierungen zu diesen Briefen in eckiger Klammer ergänzt. Der Brieftext wurde möglichst originalgetreu wiedergegeben, d.h. Rechtschreibung, Zeichensetzung und Absatzgliederung der Briefschreiber wurden beibehalten. Eingriffe in den Text, die nur selten vorkommen, sind markiert. Die in der Wittgenstein-Briefedition inzwischen üblich gewordenen "&"-Schreibung haben wir weitergeführt, obwohl in den vorliegenden Briefen Wittgensteins an Koder dieses Zeichen einem "+" näher kommt. Im Einzelstellenkommentar, dem ein biographischer Abriß über Koder mit einer kurzen Darstellung seines Verhältnisses zu Wittgenstein vorangestellt ist, werden die im Briefwechsel erwähnten Personen, Orte, Ereignisse sowie literarische und musikalische Anspielungen aufgeschlüsselt. Die Kurzbiographien werden bei der ersten Erwähnung der jeweiligen Person im Briefwechsel an der entsprechenden Stelle im Kommentar eingefügt. Durch die kursiv geschriebene Seitenangabe im Namensregister ist die Kurzbiographie zu einer bestimmten Person leicht zu finden. Die beiden dokumentarischen Essays von Martin Alber, die an den Einzelstellenkommentar anschließen, sind als
Flächenkommentar zu verstehen, d.h. sie stellen eine breitere Form der Kommentierung dar, wobei Alber, ausgehend von dem immer wiederkehrenden Thema "Musik" in den Briefen, versucht, den musikalischen Spuren in der Familie Wittgenstein im allgemeinen und in Leben und Philosophieren Ludwig Wittgensteins im besonderen nachzugehen. Wenn auch die Korrespondenz zwischen Wittgenstein und Koder nur den Anstoß zu diesen beiden Aufsätzen gegeben hat, die inhaltlich nicht mehr viel mit dem Briefwechsel zu tun haben, so stellen sie doch einen interessanten Hintergrund für diese Korrespondenz und das darin immer wiederkehrende Thema "Musik" dar. Zudem wird hier Wittgensteins engem Verhältnis zur Musik, das schon öfters bemerkt, aber noch nirgends gründlich erforscht wurde, erstmals in solch umfassender Zusammenschau nachgegangen. Der Titel des einen Essays kann künftiger Wittgensteinforschung in diesem Bereich Programm sein: "Jetzt brach ein ander Licht heran, ..." Die Publikation des kommentierten Briefwechsels zwischen Wittgenstein und Koder ist Teil eines umfangreicheren Projekts am Brenner-Archiv, welches die Edition des gesamten Briefwechsels von Ludwig Wittgenstein zum Ziel hat. In Zusammenarbeit mit dem Wittgensteinarchiv in Bergen, wo die elektronische Edition des philosophischen Nachlasses von Wittgenstein bereits fertiggestellt wurde, werden am Brenner-Archiv – sozusagen als kulturgeschichtliche Ergänzung zum philosophischen Nachlaß – die Briefe Wittgensteins in maschinenlesbarer Form ediert. Bisher wurden ca. 2000 Briefe von und an Wittgenstein in die Datenbank eingegeben. Diese Computeredition geschieht mit Hilfe des Programms "Folio Views", welches neben dem großen Vorteil der Suchbarkeit auch eine sehr gute Handhabbarkeit des Materials bietet (insbesondere durch die Sprungverknüpfungen und die Möglichkeit, jederzeit in das Inhaltsverzeichnis zu wechseln). Neben der maschinenlesbaren Erfassung des gesamten Briefwechsels von Wittgenstein sollen aber im Rahmen dieses Projekts auch Einzelkorrespondenzen in Buchform erscheinen, so wie dies hier beim Briefwechsel zwischen Wittgenstein und Koder der Fall ist. Buchedition und Computeredition werden also beide mit ihren unterschiedlichen Möglichkeiten genützt und sind auch mit unterschiedlichen Zielsetzungen verbunden: Bei der Veröffentlichung einer Einzelkorrespondenz kann ein in sich geschlossener, gut lesbarer Text und Kommentar geboten werden, wofür das Buch als Medium sehr gut geeignet ist. Ein kommentierter Gesamtbriefwechsel einer bekannten Persönlichkeit, wie dies bei Wittgenstein der Fall ist, ist unweigerlich mit einer umfangreichen Ansammlung von Daten verbunden, die elektronisch besser strukturiert werden können und dadurch auch besser handhabbar sind. Zudem bleibt eine gewisse Offenheit erhalten, wodurch jederzeit Informationen ergänzt und neue Briefe eingefügt werden können. Dem Arbeitscharakter des "work in progress", der mit der Herausgabe eines Gesamtbriefwechsels notwendig verbunden ist, kann also elektronisch besser entsprochen werden. Jedoch hat der Briefwechsel zwischen Wittgenstein und Koder als integrierter Bestandteil des Gesamtbriefwechsels in maschinenlesbarer Form ein ganz ein anderes Gesicht, als er hier in Buchform erhält. Eine elektronische Edition macht also – abgesehen von persönlichen Präferenzen – das Edieren in Buchform keineswegs überflüssig, sondern beide Editionsweisen können einander sehr gut ergänzen.
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Chronologisches Verzeichnis der Briefe Wittgensteins von und an Rudolf Koder 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39
AN RUDOLF KODER, [vor 2. 4. 1923] AN RUDOLF KODER, [Anfang 1925] AN RUDOLF KODER, [9. 2. 1925] AN RUDOLF KODER, 24. 4. 1925 AN RUDOLF KODER, [1925/26] AN RUDOLF KODER, [1925/26] AN RUDOLF KODER, 19. 4. 1926 VON RUDOLF KODER, [Mitte Mai 1926] AN RUDOLF KODER, [3. 6. 1926] AN RUDOLF KODER, [Herbst 1926] VON RUDOLF KODER, [Winter 1926/27 ?] AN RUDOLF KODER, [Winter 1926/27 ?] VON RUDOLF KODER, 21. [2. 1927 ?] AN RUDOLF KODER, [nach dem 21. 2. 1927 ?] VON RUDOLF KODER, [nach dem 21. 2. 1927 ?] VON RUDOLF KODER, [Frühjahr 1927 ?] VON RUDOLF KODER, [Winter 1927/28 ?] AN RUDOLF KODER, [1928 ?] VON RUDOLF KODER, 9. 1. [1929] VON RUDOLF KODER, [vor 1. 2. 1929] AN RUDOLF KODER, [zw. ca. 10. u. 24. 2. 1929] VON RUDOLF KODER, [vor 20. 3. 1929] VON RUDOLF KODER, 10. 5. 1929 VON RUDOLF KODER, [Juni 1929] AN RUDOLF KODER, [Juni 1929] VON RUDOLF KODER, [nach 18. 6. - Anf. Juli 1929] VON RUDOLF KODER, [vor ca. 20. 7. 1929] VON RUDOLF KODER, 13. 10. 1929 AN RUDOLF KODER, [zw. 13. u. 29. 10. 1929] VON RUDOLF KODER, 29. 10. 1929 AN RUDOLF KODER, [zw. 11. 11. u. 15. 11. 1929] VON RUDOLF KODER, [nach 17. 11. 1929] AN RUDOLF KODER, [Ende November 1929] VON RUDOLF KODER, 21. 1. 1930 AN RUDOLF KODER, [nach 21. 1. 1930] AN RUDOLF KODER, [zw. 21. 1. u. 28. 2. 1930] AN RUDOLF KODER, [zw. 21. 1. u. 28. 2. 1930] VON RUDOLF KODER, [Februar 1930] VON RUDOLF KODER, 28. 2. 1930
40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96
VON RUDOLF KODER, [Mai 1930] VON RUDOLF KODER, [Ende Mai 1930] AN RUDOLF KODER, [ca. 1. 6. 1930] VON RUDOLF KODER, [Anfang September 1930] VON RUDOLF KODER, 25. 10. 1930 AN RUDOLF KODER, [zw. 25. 10. u. 14. 11. 1930] VON RUDOLF KODER, 14. 11. 1930 VON RUDOLF KODER, 14. 1. 1931 VON RUDOLF KODER, 26. 1. 1931 VON RUDOLF KODER, [zw. 26. 1. u. 15. 3. 1931] VON RUDOLF KODER, [vor 15. 3. 1931] VON RUDOLF KODER, 12. 4. 1931 VON RUDOLF KODER, [nach 12. 4. 1931] VON RUDOLF KODER, 21. 4. 1931 AN RUDOLF KODER, [zw. 21. 4. u. 18. 5. 1931] VON RUDOLF KODER, [zw. 21. 4. u. 18. 5. 1931] AN RUDOLF KODER, 18. 5. 1931 VON RUDOLF KODER [November 1931] VON RUDOLF KODER, 23. 1. [1932] VON RUDOLF KODER, [zw. 23. 1. u. 13. 2. 1932] VON RUDOLF KODER, [Mitte Mai 1932] VON RUDOLF KODER, 25. 5. 1932 VON RUDOLF KODER, [Oktober 1932] VON RUDOLF KODER, [Anfang Dezember 1932] VON RUDOLF KODER, [ca. 23. 5. 1933] VON RUDOLF KODER, 4. 11. [1934] VON RUDOLF KODER, 22. 11. [1934] AN RUDOLF KODER, [2. 12. 1934] AN RUDOLF KODER, [vor Weihnachten 1934?] AN RUDOLF KODER, [vor Sommer 1935] AN RUDOLF KODER, [Mitte Juli 1935] AN RUDOLF KODER, 4. 9. 1935 AN RUDOLF KODER, [Juli 1936] AN RUDOLF KODER, [vor dem 13. 8. 1936] AN RUDOLF KODER, [nach dem 18. 8. 1936] VON RUDOLF KODER, 10. 9. [1936] AN RUDOLF KODER, [nach dem 10. 9. 1936?] VON RUDOLF KODER, 20. 11. [1936] AN RUDOLF KODER, [April 1937 ?] VON RUDOLF KODER, 18. 12. 1938 VON RUDOLF KODER, [vor dem 25. 12. 1939] VON RUDOLF KODER, 15. 5. 1940 AN RUDOLF KODER, 13. 8. 1940 VON RUDOLF KODER, 19. 11. 1945 AN RUDOLF KODER, 10. 12. 1945 VON RUDOLF KODER, 31. 1. 1946 VON RUDOLF KODER, 1. 7. 1946 AN RUDOLF KODER, 14. 10. 1946 VON RUDOLF KODER, 7. 11. 1946 VON RUDOLF KODER, 21. 6. 1947 AN RUDOLF KODER, [Ende September 1948] AN RUDOLF KODER, [Oktober 1948] AN RUDOLF KODER, 2. 2. 1949 AN RUDOLF KODER, 8. 2. 1949 AN RUDOLF KODER, 17. 2. 1949 AN RUDOLF KODER, 22. 2. 1949 AN RUDOLF KODER, 24. 2. 1949
97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122
AN RUDOLF KODER, 25. 2. 1949 AN RUDOLF KODER, 2. 3. 1949 AN RUDOLF KODER, 9. 3. 1949 AN RUDOLF KODER, 28. 3. 1949 AN RUDOLF KODER, [Mitte Mai 1949] AN RUDOLF KODER, 4. 6. 1949 AN RUDOLF KODER, 11. 6. 1949 AN RUDOLF KODER, 24. 7. 1949 AN RUDOLF KODER, 6. 8. 1949 AN RUDOLF KODER, 23. 8. 1949 AN RUDOLF KODER, 22. 9. 1949 AN RUDOLF KODER, 1. 10 1949 AN RUDOLF KODER, 12. 11. 1949 AN RUDOLF KODER, 25. 11. 1949 AN RUDOLF KODER, 22. 4. 1950 AN RUDOLF KODER, 22. 5. 1950 AN RUDOLF KODER, 16. 6. 1950 AN RUDOLF KODER, 13. 7. 1950 AN RUDOLF KODER, 26. 8. 1950 AN RUDOLF KODER, 22. 9. 1950 AN RUDOLF KODER, 1. 12. 1950 AN RUDOLF KODER, 2. 1. 1951 AN RUDOLF KODER, [vor dem 19. 2. 1951] AN RUDOLF KODER, 19. 2. 1951 AN RUDOLF KODER, 6. 3. 1951 AN RUDOLF KODER, 30. 3. 1951
Register Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret Anzengruber, Ludwig Arnim, Bettina von Bach, Johann Sebastian Bachrich, Sigmund Backhaus, Wilhelm Bärenscherer, ? Baumayer, Marie Beethoven, Ludwig van Behrends, Franz Beinum, Eduard van Berg, Alban Berlioz, Hector Bevan, Edward Billroth, Theodor Bismarck, Otto von Bittner, Julius Böhm, Joseph Böhm, Karl Brahms, Johannes Braun, Robert Braun, Rudolf Britten, Benjamin Brommer, ? Bruckner, Anton Busch, ? Busch, Fritz Buxtehude, Dietrich
Chopin, Frédéric Collingwood, ? Collingwood, Robin George Czermak, Emmerich Darwin, Charles Davies, Fanny Deneke, Margaret Drobil, Michael Drury, Maurice Eichendorff, Joseph von Engelmann, Ernestine Engelmann, Paul Epstein, Julius Erk, Ludwig Farrell, Charles Ffennell, George Figdor, Fanny Fillunger, Marie Fischer, Edwin Franz Josef I, Kaiser von Österreich Franz, Anna Franz, Emil Franz, Robert Freud, Sigmund Furtwängler, Wilhelm Gál, Hans Garbo, Greta Gaun, Betty Gaynor, Janet Geiger, Ernst Georg V, König von Hannover Glöckel, Otto Goethe, Johann Wolfgang Goldmark, Karl Grädener, Hermann Grillparzer, Franz Grümmer, Paul Haas, ? Habert, Johann Evangelist Händel, Georg Friedrich Hänisch, Alois Hänlein, Fritz Hänsel, Ludwig Hanslick, Eduard Hausegger, Friedrich Haydn, Joseph Hebbel, Friedrich Hebel, Johann Peter Heider, Karl Heine, Heinrich Hellmesberger, Joseph Helmholtz, Hermann von Herzogenberg, Heinrich von Hess, Myra Hindemith, Paul Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus Hornbostel, Erich Moritz von
Indrasé, Erich Joachim, Amalie Joachim, Joseph Jochum, Eugen Jolles, Adele Jolles, Stanislaus Karajan, Herbert von Kauders, Otto Keller, Gottfried Keynes, John Maynard King, John Koder, Elisabeth Koder, Johannes Georg Koder, Julius Philip Koder, Margarete (verehel. Bieder) Konrath, Anton Korngold, Erich Wolfgang Kraus, Karl Krauss, Clemens Krenek, Ernst Krummböck, ? Kügelgen, Wilhelm von Kund, Wilhelm Kupelwieser, Bertha Labor, Josef Labor, Josefa Labor, Josefine (verehel. David) Labor, Joseph sen. Labor, Therese Lehnert, Julius Lenau, Nikolaus Leschetitzky, Theodor Lichtenegger, ? Liszt, Franz Loos, Adolf Mahler Werfel, Alma Mahler, Gustav Malcolm, Norman Mendelssohn Bartholdy, Felix Menzel, Rosine Mooney, Louise Moore, George E. Mörike, Eduard Moscheles, Ignaz Mozart, Wolfgang Amadeus Mühlfeld, Richard Müller-Hermann, Johanna Muscio, Bernard Myers, Charles Nähr, Moritz Nedbal, Oskar Nestroy, Johann Nietzsche, Friedrich Nigrin, Klara Nilius, Rudolf Oser, Josefine Oser, Lydia
Paganini, Niccolò Palestrina, Giovanni Pierluigi Palma, Wilhelm Pavlis, ? Petrovicki, Gustav Pinsent, David Pirkhert, Eduard Polatschek, Viktor Postl, Heinrich Prokofiew, Sergej Radnitzky, Franz Radnitzky-Mandlick, Adele Ramsey, Frank Plumpton Ravel, Maurice Reinecke, Carl Reményi, Eduard Rendel (oder Rendl), Josef Respinger, Marguerite Reuter, Fritz Rhees, Jean Richards, Ben Rosé, Alma Maria Rosé, Arnold Rosner, Norbert Rothberger, ? Röwer, Heinrich Russell, Bertrand Salzer, Helene Salzer, Max Schadek, Moritz Schalk, Franz Schiller, Friedrich Schlick, Moritz Schliemann, Heinrich Schmidt, Franz Schönberg, Arnold Schopenhauer, Arthur Schrottenholzer, Franz Schrottenholzer, Hans Schrottenholzer, Theresia Schubert, Franz Schulze, Hedwig Schumann, Clara Schumann, Robert Sechter, Simon Shakespeare, William Siegl, ? Sjögren, Arvid Sjögren, Clara Sjögren, Hermine Skinner, Francis Soldat-Roeger, Marie Spengler, Oswald Spohr, Louis Staake, ? Steinbauer, Otmar Steiner, F.
Steiner, Josef Stickler, Johann Stickler, Peter Stiegler, Karl Stockert, Fritz von Stockert, Marie von Stonborough, Helen Stonborough, Jerome Stonborough, Margarete Stonborough, Pierre Stonborough, Thomas Straßer, ? Strauss, Richard Strobl, Carl Thomson, Catherine Tolstoi, Leo Toscanini, Arturo Uhl, Alfred Vaugoin, Carl Wagner, Richard Walker, Ernest Walter, Bruno Weber, Carl Maria von Weinberger, ? Wittgenstein, Clara Wittgenstein, Hermann Christian Wittgenstein, Hermine Wittgenstein, Karl Wittgenstein, Leopoldine Wittgenstein, Louis Wittgenstein, Paul Wittgenstein, Viktor Wlach, Leopold Wollheim, Oskar Wood, Henry Wright, Georg Henrik von Wunderer, Alexander Zastrow, Wedigo von Zweig, Fritz
Endnotes 1 (Popup) 1
Fickers Essay ist im letzten Brenner, 18. Folge, 1954, S. 234-248 unter dem Titel Frühlicht über den Gräbern erschienen, wo neben
Wittgenstein auch Carl Dallagos und Georg Trakls gedacht wird. Von Walter Methlagl auf den Wittgenstein-Aufsatz angesprochen, sagte Ficker, "alles das habe ihn sehr langes Nachdenken gekostet. Noch niemand habe er gesagt, daß er über diesen Aufsätzen in „Frühlicht über den Gräbern“ 3 Jahre lang ununterbrochen intensiv nachgedacht habe. Deshalb sei auch der letzte Brenner mit fast zweijähriger Verzögerung erschienen." (Walter Methlagl: Brenner-Gespräche. Aufgezeichnet in den Jahren von 1961 bis 1967. Typoskript. Innsbruck: Brenner Archiv, S. 53). Hauptinformationsquelle für Ludwig von Ficker waren die persönlichen und brieflichen Mitteilungen von Ludwig Hänsel, mit dem er seit 1923 in brieflichem Kontakt stand. Anfang der 50er Jahre machte Hänsel regelmäßig Urlaub in Götzens, einem Ort in der Nähe von Innsbruck und traf sich regelmäßig mit Ludwig von Ficker. Von Wittgenstein ist in der Korrespondenz allerdings erst nach dessen Tod die Rede. Hänsel schrieb Ficker am 6. Mai 1951: "Vor einigen Tagen bekam ich die telegraphische Nachricht, daß Ludwig Wittgenstein gestorben ist (am 29. April). Ein großer Verlust auch für mich. - Er hat von seiner Krankheit (Krebs) seit gut einem Jahr gewußt, auch von ihrer voraussichtlichen Dauer." Am 2. Dezember 1953 teilte Hänsel Ficker Lebensdaten Wittgensteins aus der Zeit von 1919 bis 1926 mit, die Ficker in seinen Essay eingearbeitet hat. Ficker sind mehrere Erinnerungsfehler unterlaufen, die in den folgenden Fußnoten berichtigt werden. Ansonsten wird der Text genau nach dem Erstdruck im Brenner wiedergegeben.
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Ficker besuchte Wittgenstein vom 23. bis 24.7.1914. Vgl. Ludwig von Ficker an Hugo Neugebauer, 27.7.1914: "[...] ich war Donnerstag und
Freitag in Wien, und zwar in einer völlig unerwarteten privaten Angelegenheit, die mir so nahe ging, daß ihrem Eindruck jede andere Besinnung meinerseits erlag [...]." (Bd. 1, Nr. 263, S. 238) Ficker war am Samstag, den 25.7., wieder in Innsbruck, an dem Tag, als das Ultimatum an Serbien ablief. In der Erinnerung hat Ficker dieses Ereignis mit der Kriegserklärung an Serbien (28.7.) verwechselt.
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Wittgensteins erster Kontakt mit Moritz Schlick (und in der Folge mit Mitgliedern des Wiener Kreises) datiert erst auf Ende 1924.
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Wittgenstein hatte zwar im Frühjahr 1914 mit dem Bau der Blockhütte begonnen, aber erst im Sommer 1921 bewohnte er sie erstmals.
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Richtig müßte es heißen: Dallago und Trakl. Zu diesem Zeitpunkt stand noch nicht fest, ob Rilke überhaupt bedürftig war, wie ja überhaupt erst
die Hälfte der Spende fix verteilt war.
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Ficker muß hier wohl Wittgensteins einzigen Besuch vom Jahre 1922 meinen. Vgl. Wittgensteins Brief aus Innsbruck an Paul Engelmann, 10.
August 1922: "Hier habe ich auch Ficker besucht der - um mich eines seiner Lieblingswörter zu bedienen - ein sehr fragwürdiger Mensch ist. D. h., ich weiß wirklich nicht, wie viel an ihm echt und wieviel Charlatan ist. Aber, was geht das mich an!" (Briefe, Nr. 150, S. 124)
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Aber auch Tolstois Kurze Darlegung des Evangelium.
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Auch hier verwechselt Ficker offenbar Wittgensteins Treffen mit Russell in Den Haag im Dezember 1919 mit jenem im August 1922 in Innsbruck,
als Wittgenstein auch Ficker besuchte.
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George Edward Moore war 1939 emeritiert worden, gestorben ist er erst 1958.
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Hier muß es sich um einen Satzfehler handeln; Wittgenstein betätigte sich als Krankenpfleger.
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