Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters
Trends in Medieval Philology Edited by Ingrid Kasten · Niklaus Largier Mireille Schnyder
Editorial Board Ingrid Bennewitz · John Greenfield · Christian Kiening Theo Kobusch · Peter von Moos · Uta Störmer-Caysa
Volume 13
Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters Herausgegeben von Mireille Schnyder
◯ ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISSN 1612-443X ISBN 978-3-11-020315-8 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin Satzherstellung: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
Inhaltsverzeichnis Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Peter von Moos: Vom Nutzen der Philologie für den Umgang mit anonymen Liebesbriefen. Ein Nachwort zu den Epistolae duorum amantium . . . .
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Stephan Müller: Sprechende Bücher – verschwundene Schrift. Probleme und Praktiken der Kodifizierung von Intimität in der Volkssprache im Früh- und Hochmittelalter. Zugleich eine These zur Spätüberlieferung des Minnesangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bruno Quast / Monika Schausten: Amors Pfeil. Liebe zwischen Medialisierung und Mythisierung in Heinrichs von Veldeke Eneasroman . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Astrid Bußmann: ‚her sal mir deste holder sîn, / swenner weiz den willen mîn’. Variationen des Liebesgeständnisses in Heinrichs von Veldeke Eneasroman . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christoph Huber: Minne als Brief. Zum Ausdruck von Intimität im nachklassischen höfischen Roman (Rudolf von Ems: Willehalm von Orlens; Johann von Würzburg: Wilhelm von Österreich) . . . . . . . . . . . . . 125 Margreth Egidi: Schrift und ‚ökonomische Logik‘ im höfischen Liebesdiskurs: Flore und Blanscheflur und Apollonius von Tyrland . . . . . . . . . . . . . 147 Barbara Kuhn: Körperzeichen, Zeichenschrift, Schriftkörper: die Liebe der Schrift in Dantes Vita nuova . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
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Inhaltsverzeichnis
Ludger Lieb: Minne schreiben. Schriftmetaphorik und Schriftpraxis in den ‚Minnereden‘ des späten Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . 191 Susanne Reichlin: Gescheiterte Liebeserziehung – gelungene Beschriftung: Sprache und Begehren im Märe Des Mönchs Not . . . . . . . . . . . . 221 Andreas Kraß: Ein sehr herrlich Gestalt eins Weibsbilds. Helena als Figur des Begehrens in der Historia von D. Johann Fausten . . . . . . . . . . 243 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Einführung Der vorliegende Sammelband verortet sich im Schnittpunkt einer Technikund Materialgeschichte der Kommunikation, einer historischen Medienforschung, einer Geschichte der Gefühle sowie der Geschlechtergeschichte und hat zum Ziel, die von einerseits psychologischen, anderseits performativitätstheoretischen Ansätzen geprägte historische Emotionalitätsforschung durch die Perspektivierung auf die Mediengeschichte um eine bisher in diesen Forschungen weitgehend vernachlässigte Dimension zu erweitern.1 Am Beispiel der sich an der Schriftkultur ausbildenden spezifischen Wahrnehmung von Sexualität und der darüber ermöglichten Erotik wird paradigmatisch aufgezeigt, wie sich der Körper in seiner physischen Befindlichkeit und Präsenz erst in seiner medialen Übersetzung in die wirklichkeitskonstituierende (Selbst)Wahrnehmung drängt. Die sich in diesem Prozess herausbildenden Liebeskonzepte sind entsprechend wesentlich medial bestimmt. Die Thematik von Medialität und Emotionalität, in deren größeren Rahmen die Frage nach dem Verhältnis von Schrift und Liebe steht, hat sich erst seit gut 20 Jahren als eigenes Forschungsfeld etabliert. Die Frage nach Liebeskommunikation und Liebesausdruck stand dabei von Anfang
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Zur Emotionalitätsforschung siehe das Berliner Forschungsprojekt „Emotionalität in der Literatur des Mittelalters“, SFB „Kulturen des Performativen“. In diesen Forschungen steht der Handlungscharakter von Emotionsdarstellungen im Vordergrund, als Teil sozialer Interaktion und Kommunikation. Dabei spielen mediale Aspekte zum Teil eine Rolle, ohne aber die Fragestellung zu prägen. Für einen Forschungsüberblick zur mediävistischen Emotionalitätsforschung vgl. den umfassenden Bericht von RÜDIGER SCHNELL: Historische Emotionsforschung. Eine mediävistische Standortbestimmung. In: Frühmittelalterliche Studien 38 (2004), S. 173-276. In diesem Forschungsüberblick fehlt die hier vorgeführte Perspektivierung des Medialen vollkommen. Das ist nicht nur auf die tatsächlich für diesen Bereich lückenhafte Forschungslage zurückzuführen, sondern auch auf ein etwas eingeschränktes Verständnis von „Medialität“. Wenn in diesem grossangelegten Forschungsbericht von „Medialität“ die Rede ist, ist damit die „Rhetorizität“ gemeint („Medium der Rhetorik“), oder das Medium der „Literatur“, wenn nicht eine Gleichsetzung von Medialität und Kommunikation impliziert ist (S. 181, 223, 238, 249, 259).
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an im Vordergrund.2 Neben grundlegenden Arbeiten zur Neuzeit, die die medientheoretischen und -geschichtlichen Fragen eng mit Diskursgeschichte verbinden,3 sind es vor allem die aus der kulturgeschichtlichen beziehungsweise sozialgeschichtlichen Tradition kommenden Richtungen der genuin mediävistischen New Philology sowie der Kommunikationswissenschaft, die Ansatzpunkte bieten für eine medientheoretisch arbeitende historische Anthropologie.4 Für die Frage nach der Text-Erotik, der über die Schrift geformten Sexualität und den von Schriftlichkeit bestimmten 2
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Zur Diskursgeschichte: RÜDIGER SCHNELL: Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur. Bern, München 1985 (Bibliotheca Germanica 27); R. HOWARD BLOCH: Medieval Misogyny and the Invention of Western Romantic Love, Chicago, London 1991; C. STEPHEN JAEGER: Ennobling Love. In Search of a Lost Sensibility, Philadelphia 1999; R. BOASE: The origin and meaning of courtly love. A critical study of European scholarship, Manchester 1977. Zu medialen Aspekten des Liebesdiskurses vgl. u. a.: WERNER RÖCKE: Schriftliches ,gedencken‘ und paradoxe Verneinung. Aspekte von Verschriftlichung und Affektkultur in der Novellistik des Spätmittelalters. In: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelater. Hrsg. von HORST WENZEL, Berlin 1997 (Philologische Studien und Quellen 143), S. 226-243; WERNER RÖCKE: Liebe und Melancholie. Formen sozialer Kommunikation in der ,Historie von Florio und Blanscheflur‘ (1499). In: GRM 45 (1995), S. 177-191; WERNER RÖCKE: Liebe und Schrift. Deutungsmuster sozialer und literarischer Kommunikation im deutschen Liebes- und Reiseroman des 13. Jahrhunderts. (Konrad Fleck: Florio und Blanscheflur; Johann von Würzburg: Wilhelm von Österreich). In: Mündlichkeit – Schriftlichkeit – Weltbildwandel. Hrsg. von W. RÖCKE/ U. SCHAEFER, Tübingen 1996 (ScriptOralia 71), S. 85-108; HANS-JÜRGEN BACHORSKI: Posen der Liebe. Zur Entstehung von Individualität aus dem Gefühl im Roman Paris und Vienna. In: Mündlichkeit – Schriftlichkeit – Weltbildwandel. Hrsg. von W. RÖCKE/U.SCHAEFER, Tübingen 1996 (ScriptOralia 71), S.109-146; HENNING WUTH: was, strâle unde permint. Mediengeschichtliches zum Eneasroman Heinrichs von Veldeke. In: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelater. Hrsg. von HORST WENZEL, Berlin 1997 (Philologische Studien und Quellen 143), S. 63-76.; THOMAS CRAMER: Nabelreibers Brief. In: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelater. Hrsg. von HORST WENZEL, Berlin 1997 (Philologische Studien und Quellen 143), 212-225; WALBURGA HÜLK: Schrift-Spuren von Subjektivität. Lektüren literarischer Texte des französischen Mittelalters. Tübingen 1999 (Beihefte zur Zs für Romanische Philologie 297); BURGHART WACHINGER: Liebe und Literatur im spätmittelalterlichen Schwaben und Franken. Zur Augsburger Sammelhandschrift der Clara Hätzlerin. In: DVjS 56 (1982), S. 386-406; HELMUT BRACKERT: Da stuont daz minne wol gezam. Minnebriefe im späthofischen Roman. In: ZfdPh 93 (1974) Sonderheft, S. 1-18; zum Thema des Briefes vgl. auch unten, Anm. 5 Vgl. die grundlegende Arbeit von ALBRECHT KOSCHORKE: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999. Nicht zuletzt im Blick auf dieses Buch zeigt sich die Notwendigkeit der hier verfolgten Fragestellung, um die historische Anschlussfähigkeit und Anknüpfung, damit aber auch Historisierung vieler der in dieser diskursgeschichtlichen Arbeit differenziert beschriebenen Phänomene deutlich zu machen. Vgl. auch: Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme. Hrsg. von FRIEDRICH KITTLER, Berlin 2002; REINHART MEYER-KALKUS: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001; Schrift. Hrsg. von ULRICH GUMBRECHT/ K. LUDWIG PFEIFFER, München 1993 (Materialität der Zeichen, Reihe A, 12). HORST WENZEL: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995; MICHAEL CURSCHMANN: Hören – Lesen – Sehen. Buch und Schriftlichkeit
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Liebeskonzeptionen gibt es, neben einzelnen Arbeiten, die die Problematik vor allem unter gattungs- oder motivgeschichtlichem Aspekt angehen,5 in jüngerer Zeit vor allem im Bereich der kulturwissenschaftlich ausgerichteten amerikanischen Mediävistik Vorarbeiten.6 In den älteren kulturgeschichtli-
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im Selbstverständnis der volkssprachlichen literarischen Kultur Deutschlands um 1200. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 106 (1984), S. 218-257; JANDIRK MÜLLER: Der Körper des Buchs. Zum Medienwechsel zwischen Handschrift und Druck. In: Materialität der Kommunikation. Hrsg. von H. U. GUMBRECHT/K. L. PFEIFFER, Frankfurt a. M. 1988, S. 203-217; DENNIS H. GREEN: Medieval Listening and Reading. The primary reception of German literature 800-1300, Cambridge 1994. Dass der mediale Aspekt in der Historischen Anthropologie erst in neuerer Zeit verstärkt in den Blick genommen wird, zeigt auch der einschlägige Forschungsüberblick von CHRISTIAN KIENING: Anthropologische Zugänge zur mittelalterlichen Literatur. Konzepte, Ansätze, Perspektiven. In: Forschungsberichte zur Germanistischen Mediävistik 5/1, Bern u. a. 1996, S. 11-129. Die Thematik der Textlichkeit der Kultur sowie die Text-Kontext-Problematik, das Feld der MündlichkeitSchriftlichkeits-Forschung, die Frage nach dem Textbegriff sowie die Differenzierung der Text- und Bildmedien sind da als zentrale Forschungsfelder und -probleme benannt. Die konkrete Verbindung von Medialität und Emotionalität ist noch nicht Thema. Der Liebesbrief findet schon seit längerem das Interesse der Forschung. Vgl. u. a. ERNSTPETER RUHE: De amasio ad amasiam. Zur Gattungsgeschichte des mittelalterlichen Liebesbriefes. In: Beiträge zur romanischen Philologie des Mittelalters 10 (1975), S. 68-81; DIETER SCHALLER: Probleme der Überlieferung und Verfasserschaft lateinischer Liebesbriefe des hohen Mittelalters. In: Mlat. Jb. 3 (1966), S. 25-36; DIETER SCHALLER: Zur Textkritik und Beurteilung der sogenannten Tegernseer Liebesbriefe. In: ZfdPh 101 (1982), S. 104-121; JÜRGEN SCHULZ-GROBERT: Deutsche Liebesbriefe in spätmittelalterlichen Handschriften. Untersuchungen zur Überlieferung einer anonymen Kleinform der Reimpaardichtung, Tübingen 1993 (Hermaea 72); in grösserem Zusammenhang: PETER VON MOOS: Briefkonventionen als verhaltensgeschichtliche Quelle. In: DERS.: Rhetorik, Kommunikation und Medialität. Gesammelte Studien zum Mittelalter, Bd. II, Münster 2006 (Geschichte: Forschung und Wissenschaft 15), S. 173-203; KONRAD KRAUTTER: Acsi ore ad os … Eine mittelalterliche Theorie des Briefes und ihr antiker Hintergrund. In: Antike und Abendland 28 (1982), S. 155-168; ULRICH ERNST: Formen der Schriftlichkeit im höfischen Roman des hohen und späten Mittelalters. In: Frühmittelalterliche Studien 31 (1997); CHRISTINE WAND-WITTKOWSKI: Briefe im Mittelalter. Der deutschsprachige Brief als weltliche und religiöse Literatur, Herne 2000 (Mikrokosmos 57). Vor allem in Studien zur mittellateinischen Liebeslyrik wird der hier interessierende Aspekt der Schriftkultur Thema. Vgl. u. a. PETER DRONKE: Medieval Latin and the Rise of European Love-Lyric. 1: Problems and Interpretations. 2: Medieval Latin Love-Poetry. Texts, Oxford 1965 und 1966; HENNIG BRINKMANN: Geschichte der lateinischen Liebesdichtung im Mittelalter. 2.Aufl., Darmstadt 1979; HENNIG BRINKMANN: Entstehungsgeschichte des Minnesangs, Halle/Saale 1926; JEAN LECLERCQ: Monks and love in twelfth-century France. Psycho-Historical Essays, Oxford 1979. MICHAEL CAMILLE: The Book as Flesh and Fetish in Richard de Bury’s ,Philobiblon‘. In: The Book and the Body; Hrsg. von D. WARWICK FRESE/K. O’BRIEN O’KEEFFE, Notre Dame, Indiana 1997, S. 34-77; MICHAEL CAMILLE: Manuscript Illumination and the Art of Copulation. In: Constructing Medieval Sexuality. Hrsg. von KARMA LOCHRIE u. a., Minneapolis, London 1997 (Medieval Cultures 11), S. 58-90; MICHAEL CAMILLE: Obscenity under Erasure. Censorship in Medieval Illuminated Manuscripts. In: Obscenity. Social Control and Artistic Creation in the European Middle Ages. Hrsg. von JAN M. ZIOLKOWSKI, Leiden, Boston, Köln 1998, S. 139-154; JAN M. ZIOLKOWSKI: Obscenity in the Latin Grammatical and Rhetorical Tradition. In: Obscenity. Social Control and Artistic Creation in the European Middle
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chen Studien zur höfischen Liebe ist der mediale Aspekt zwar immer mit bedacht, nie aber in seiner konstitutiven Relevanz gesehen.7 Eine engere Verknüpfung von historischer Emotionalitätsforschung und medientheoretischen Fragestellungen ist, trotz entsprechender Tendenzen in neueren Arbeiten, noch Desiderat.8 Hier setzt der vorliegende Band an, der auf ein im Oktober 2005 in Konstanz veranstaltetes Kolloquium zurückgeht.9 Die Zeit des 11. bis 15. Jahrhunderts ist die Zeit der Verschriftlichung der Volkssprachen und des Eindringens der Schrift in die Bereiche von Verwaltung, Rechtswesen und Herrschaftsausübung. Dieser Prozess der ‚Verschriftung‘10 der europäischen Kultur bildet seit längerer Zeit einen Schwerpunkt des Forschungsinteresses, wobei in erster Linie die dadurch sich verändernden politischen Handlungsmöglichkeiten (Herrschafts-, Verwaltungs- und Kommunikationspraktiken) interessieren.11 Gleichzeitig gibt es aus religions- und philosophiegeschichtlicher Perspektive Arbeiten, Ages. Hrsg. von JAN M. ZIOLKOWSKI, Leiden, Boston, Köln 1998, S. 139-154; JAN M. ZIOLKOWSKI: Alan of Lille’s Grammar of Sex. The Meaning of Grammar to a Twelfth-Century Intellectual, Cambridge 1985; CAROLYN DINSHAW: Chaucer’s Sexual Poetics, Madinson 1989; ERIC JAGER: The Tempter’s Voice: Language and the Fall in Medieval Literature, Ithaca, N.Y. 1993, v. a. S. 61-75, 244-51. 7 WILHELM WATTENBACH: Das Schriftwesen im Mittelalter, Leipzig 1875; ERNST ROBERT CURTIUS: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern, München 101984; HARTMUT HOFFMANN: Zur mittelalterlichen Brieftechnik. In: Spiegel der Geschichte. Festschrift Max Braubach. Hrsg. von KONRAD REPGEN/STEPHAN SKALWEIT, Münster 1964, S. 141-170. 8 Es sind nicht zuletzt die neuen Medien, die die Notwendigkeit dieser Verknüpfung deutlich werden lassen. Hingewiesen sei nur auf ein paar der neusten Studien: Mediale Emotionen. Zur Lenkung von Gefühlen durch Bild und Sound. Hrsg. von OLIVER GRAU u. a., Frankfurt a. M. 2005; Die Massen bewegen. Medien und Emotionen in der Moderne. Hrsg. von FRANK BÖSCH/MANUEL BORUTTA, Frankfurt a. M. 2006; Homo medialis. Perspektiven und Probleme einer Anthropologie der Medien. Hrsg. von MANFRED L. PIRNER, München 2003. Wie eng diese zwei Erkenntnisfelder zusammengeführt werden können, zeigt sich auch in den gerade auch für diese Fragestellung grundlegenden und vielfältig weiterführenden Überlegungen der Systemtheorie. Vgl. dazu: NIKLAS LUHMANN: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997, v. a. S. 249-291 und 316-393; NIKLAS LUHMANN: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. 1982. Zum Desiderat in der Mediävistik vgl. oben, Anm. 1. 9 Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Konstanz, 13.-15. Oktober 2005. In Zusammenarbeit mit Christian Kiening und dem Nationalen Forschungsschwerpunkt „Medienwandel – Medienwissen – Medienwechsel“ der Universität Zürich. Die Veranstaltung wurde ermöglicht durch: Gerda-Henkel-Stiftung, Stiftung Landesbank Baden-Württemberg, Sparkasse Bodensee, Universitätsgesellschaft Konstanz e. V., Star-Minen. Ihnen sei hier herzlich gedankt. 10 Zum Begriff der Verschriftung vgl. WULF OESTERREICHER: Verfschriftung und Verschriftlichung im Kontext medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit. In: Schriftlichkeit im frühen Mittelalter. Hrsg. von URSULA SCHAEFER, Tübingen 1993 (ScriptOralia 53), S. 267-292. 11 Vgl. die durch die DFG unterstützten Sonderforschungsbereiche, die sich in grösserem Rahmen dem Problem der Verschriftung der Lebenswelt widmeten: SFB 231 „Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter“, Universität Münster sowie SFB 321 „Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“, Universität Freiburg. Dazu u. a. Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen.
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welche die sich im 12. und 13. Jh. herausbildende ‚Textkultur‘ in Zusammenhang bringen mit einer intensivierten Erforschung der Beziehung von Sprache und Realität in dieser Zeit, dem Entstehen eines „Inventars interpretierter Erfahrung“ (Stock), sowie einer Veränderung von Bewusstseinsstrukturen und Interpretationsmodellen, die unter anderem – als Folge des Versuchs, logische und natürliche Veränderungen zu parallelisieren sowie dem wachsenden Interesse an der Natur in der Scholastik – zu einer ‚Entsakralisierung‘ des natürlichen Universums führten.12 Dabei wird auf die enge Verbindung dieser Entwicklung eines neuen Intellektualismus mit sozialgeschichtlichen und religionspolitischen Veränderungen hingewiesen. Zu der herausragenden Bedeutung der Grammatik (ars grammatica) für die sich in der Auseinandersetzung mit Schrift konstituierende mittelalterliche Kultur sowie die Wirkung dieser Kunst auf die Wahrnehmungsstrukturen gibt es verschiedene Untersuchungen.13 Einzelstudien
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Hrsg. von HAGEN KELLER/KLAUS GRUBMÜLLER/NIKOLAUS STAUBACH, München 1992 (MMS 65), S. 131-156; HAGEN KELLER: Vom ‚heiligen Buch‘ zur ‚Buchführung‘. Lebensfunktionen der Schrift im Mittelalter. In: FMSt 26 (1992), S. 1-31; vgl. auch: ROLF KÖHN: Latein und Volkssprache, Schriftlichkeit und Mündlichkeit in der Korrespondenz des lateinischen Mittelalters. In: Zusammenhänge, Einflüsse, Wirkungen. Kongressakten zum 1. Symposium des Mediävistenverbandes in Tübingen, 1984. Hrsg. von J. O. FICHTE u. a., Berlin 1986, S. 340-356; ROSAMOND MCKITTERICK: The Carolingians and the Written Word, Cambridge 1989; GERT MELVILLE: Zur Funktion der Schriftlichkeit im institutionellen Gefüge mittelalterlicher Orden. In: Frühmittelalterliche Studien 25 (1991), S. 391-417; KLAUS SCHREINER: Verschriftlichung als Faktor monastischer Reform. Funktionen von Schriftlichkeit im Ordenswesen des hohen und späten Mittelalters. In: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen. Hrsg. von HAGEN KELLER/ KLAUS GRUBMÜLLER/NIKOLAUS STAUBACH, München 1992 (Münstersche Mittelalter-Schriften 65), S. 37-75. BRIAN STOCK: The Implication of Literacy: Written Language and Models of Interpretation in the 11th and 12th Centuries, Princeton 1983; BRIAN STOCK: Schriftgebrauch und Rationalität im Mittelalter. In: Max Webers Sicht des okzitanischen Christentums. Interpretation und Kritik. Hrsg. von WOLFGANG SCHLUCHER, Frankfurt a. M. 1988 (stw 730). S. 165-183; IVAN ILLICH: Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand, Frankfurt a. M. 1991; MARIE-DOMINIQUE CHENU: Grammaire et théologie. In: DERS.: La théologie au douzième siècle, Paris 1957 (Études de la philosophie médiévale 45), S. 90-107. Vgl. u.a. die wegweisende Studie von MARTIN IRVINE: The Making of Textual Culture. ,grammatica‘ and Literary Theory 350-1100, Cambridge 1994, sowie KARIN MARGARETA FREDBORG: Universal Grammar according to some 12th-Century Grammarians. In: Historiographia Linguistica VII (1980), S. 69-84; MALCOLM BECKWITH PARKES: Pause and Effect. An Introduction to the History of Punctuation in the West, Aldershot 1992; GREGOR VOGTSPIRA: Vox und Littera. Der Buchstabe zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der grammatischen Tradition. In: Poetica 23 (1991), S. 295-327. In diesen Kontext gehören auch Einzelstudien zu der lateinischen gelehrten Dichtung, wie z. B. zu Baldrich von Bourgueil: Qua intentione scripserat. In: Lateinische Lyrik des Mittelalters. Ausgew., übers. und komm. von PAUL KLOPSCH, Stuttgart 1985, S. 262-267; Carmina burana. Hrsg. von Benedikt Konrad Vollmann, Frankfurt a. M. 1987 (Bibliothek des Mittelalters 13), [Nr. 82, 88, 92, 95, 98, 138, 164, 177]; Dum transirem Danubium. In: Medieval Latin and the Rise of European Love-Lyric.
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Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Einführung
zur Geschichte der Schrift und des Schreibens, zu mittellateinischer Liebesdichtung, Schreiberversen und Briefkultur gehen von rhetorik-, gattungs-, sozial-, technik- und motivgeschichtlichen Fragen aus und stehen in der kulturgeschichtlichen und philologischen Tradition, die sich seit langem für die medialen Bedingungen des mittelalterlichen Literaturbetriebs interessiert und zu grundlegenden Forschungen geführt hat.14 Die eigentlich anthropologische Frage nach dem Einfluss dieser Entwicklung auf die Welt- und Selbstwahrnehmung des Menschen, hat aber bisher mit Ausnahme von Veränderungen im Bereich der Wissenstradierung und -konstituierung (Gedächtniskonzepte und verschriftlichte Wissensordnungen), wozu auch die ausgeprägte Schrift- und Schreibmetaphorik im theologischen Denken (Gott als Schreiber der Welt; liber naturae), der Sprache der artes und der gelehrten Dichtung gehören, wenig Aufmerksamkeit gefunden.15 Über die Schrift(praxis) wurden nicht nur die technischen und materiellen Deutungsgrundlagen sowie die darauf gründende Metaphorik für die volkssprachliche literarische Welt zugänglich, sondern auch die der lateinischen Schriftkultur impliziten theologischen Deutungsstrategien vermittelt. Über die „neue“ Schriftkultur kam es so auch in der volkssprachlichen Literatur zu einer Amalgamierung theologisch-religiöser Denkmuster mit säkularen Handlungsmustern, die zu einer Formung menschlicher Selbstdefinition und Selbstwahrnehmung führte, die anthropologisches Denken
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Bd.1. Hrsg. von PETER DRONKE, Oxford 1965, S. 282f.; Erotischer Grammatikbetrieb (Scribere clericulis). In: Parodie im Mittelalter. Hrsg. von PAUL LEHMANN, 2. Aufl. Stuttgart 1963, S. 223f.; Walther von Châtillon: Declinante frigore. In: Vagantendichtung. Lateinisch und deutsch. Hrsg. und übers. von KARL LANGOSCH, Bremen 1968, S. 84-87. Man kann in der mlat. Gelehrtenerotik von einem eigentlichen Fetischismus der Schreibutensilien reden. Vgl. u.a. Das Klagelied eines Abtes und Erzbischofs im 12. Jahrhundert über die alte Wachsschreibtafel in der Übersetzung von Dr. Moser. In: Vom Wachs. Wachs als Beschreib- und Siegelstoff. Wachsschreibtafel und ihre Verwendung. Hrsg. von R. BÜLL, Frankfurt a. M., Hoechst 1968 (Höchster Beiträge zur Kenntnis der Wachse, Bd. 1.9), S. 876f.; Richard de Bury: Philobiblon. In: Das Buch vom Buch. Mit einer Übersetzung des Philobiblons von LUTZ MACKENSEN. Hrsg. von HELMUT PRESSER, Bremen 1962, S. 279-360. Vgl. dazu Anm. 7. Zu Gedächtniskonzepten und Wissensordnungen: MARY CARRUTHERS: Reading with Attitude, Remembering the Book. In: The Book and the Body. Hrsg. von D. WARWICK FRESE/K. O’BRIEN O’KEEFE, Notre Dame, Indiana 1997, S. 1-33; MARY CARRUTHERS: The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture, Cambridge 1990; Friedrich Ohly: Zum Buch der Natur. In: Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung. Hrsg.von UWE RUBERG/DIETMAR PEIL. Stuttgart, Leipzig 1995, S. 726-843; RICHARD H. ROUSE: L‘évolution des attitudes envers l’autorité écrite: le développement des instruments de travail au XIIIe siècle. In: Culture et travail intellectuel dans l’Occident médiéval. Bilan des ,Colloques d’humanisme médiéval‘. Hrsg. von GENEVIÈVE HASENOHR/ JEAN LONGÈRE, Paris 1981, S. 115-144; PAUL SAENGER: Space Between Words. The Origins of Silent Reading, Stanford 1997.
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grundlegend bis in die Neuzeit bestimmt. Zu denken ist hier unter anderem an die Geschlechtergeschichte in Bezug auf Kreativität und Intellekt, an die Wahrnehmung des Körpers und seiner „richtigen“ Handlungsweisen, an Konzepte der Geist- und Körper-Thematik, an eine Umkehr und Umdeutung der Schreib- und Sprachmacht im Rahmen der Rhetorik(geschichte) und Literatur(geschichte).16 Indem dabei die Liebe – im Sinne einer kulturellen Formung der menschlichen Sexualität – in den Blick genommen wird, bietet sich die Möglichkeit, die sich im Medium artikulierende und darin artikulierte Körperlichkeit des Menschen, wie sie gerade im Liebesdiskurs gern als „Natur“ (im Gegensatz zu Kultur) definiert wurde, in ihrer medialen Bedingtheit und Formung zu thematisieren. Im Bereich des sexuellen Begehrens, da, wo unter anderem von einer ‚orthographia Veneris‘ (Alanus ab Insulis) die Rede ist,17 lässt sich exemplarisch fragen, wie durch die Schriftpraxis geprägte Denk- und Wahrnehmungsmuster die Deutung und darin Konstituierung „natürlicher“ Vorgänge leiten und es zu einer Literarisierung der „Natur“ kommt. So soll dieser Band auch Teil einer noch zu schreibenden „Mediengeschichte der Emotionen“ sein. Interessant ist aber, dass es gerade das Thema der Liebe ist, das die Fragestellung in einer Art zuspitzt, die immer wieder neu erregt und reichlich Zündstoff bietet. Denn wenn eine kultur-konstruktivistische Lesart davon ausgeht, dass es durch einen medialen Wandel zu Neucodierung und Neuorganisation von Denkstrukturen, Deutungsmustern und Sinnordnungen kommt, wird die emphatisch aufgeladene Authentizität und Unmittelbarkeit des Gefühls zweifelhaft. Authentizität und Unmittelbar-
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Der Gedanke einer Inkompatiblität von physischer und geistiger Zeugungskraft/Kreativität, die nachhaltig zu einer Exklusion des weiblichen Geschlechts aus der Gesellschaft der Gelehrten und Künstler führte, geht wohl auf im schriftliterarischen Denken gründende Metaphern und Konzepte zurück. Einzelne Aspekte dieser Thematik sind in der Forschung schon angedeutet, eine eingehende Studie zu diesem Zusammenhang fehlt aber noch. Vgl. z. B. RÜDIGER SCHNELL: Geschlechtergeschichte, Diskursgeschichte und Literaturgeschichte. Eine Studie zu konkurrierenden Männerbildern in Mittelalter und Früher Neuzeit. In: Frühmittelalterliche Studien 32 (1998), S. 307-364, hier: S. 312 und Anm. 14,15; ZIOLKOWSKI: Alan of Lille’s Grammar of Sex (Anm. 6); ZIOLKOWSKI: Obscenity in the Latin Grammatical and Rhetorical Tradition (Anm. 6); MIREILLE SCHNYDER: Schreibmacht vs Wortgewalt. Medien im Kampf der Geschlechter. In: Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Hrsg. von MARK CHINCA/TIMO REUVEKAMP-FELBER/CHRISTOPHER YOUNG. (ZfdPh Beiheft), Berlin 2005, S. 108-121. Auf spätere Ausformungen und Konsequenzen dieser in der Medialität legitimierten und konstituierten Differenzierungen der Geschlechter in Bezug auf Kreativität weist auch KOSCHORKE hin (wie Anm. 3). Alanus ab Insulis: De Planctu Naturae. Hrsg. von J.-P. MIGNE. In: PL 210, Sp. 431A-482C. Alanus ab Insulis: De Planctu Naturae. The Plaint of Nature. Transl. by JAMES J. SHERIDAN, Toronto 1980 (Medieval Sources in Translation 26).
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keit sind aber gerade die Kriterien, die in jedem Liebesdiskurs das Ideal bestimmen.18 Hier liegt eine grundlegende Schwierigkeit der medienanthropologischen Forschungsdiskussionen zum Verhältnis von Medialität und Emotionalität. Es ist ein neuralgischer Punkt, der bei entsprechenden Untersuchungen zur „Trauer“ kaum schmerzt, der sich aber bei der Frage nach der „Liebe“ regelmäßig entzündet. Selbst da, wo grundsätzlich die kulturelle Bedingtheit von sozialen Handlungsweisen und damit verbundenen Emotionen anerkannt wird, gibt es einen leisen Vorbehalt, wenn es um die Liebe geht. Denn dieses Gefühl will man sich als authentisches nicht nehmen lassen, das heißt immer auch: genuin eigenes, voraussetzungsloses und reines. Aus dem Liebesdiskurs ist der Essenzialismus nicht wegzudenken.19 Der vorliegende Band will nicht in diese Debatte einsteigen, sondern hat zum Ziel, in der präzisen Fokussierung der medialen Aspekte das Thema der Liebe exemplarisch für historische Emotionalitätsforschung unter medialen Aspekten anzugehen. Entsprechend stehen medientheoretische Kategorien im Vordergrund der Analyse.20
1. Schrift als Medium der Abstraktion Die Schrift ist nicht nur in dem Sinn ein Medium der Abstraktion, als sich darin eine Exkarnation vollziehen kann,21 sondern sich über sie auch die 18
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Dass die Problematik von Authentizität an die Differenzierung von Innen und Außen gekoppelt ist, wird immer wieder betont. Dass dies mit Denkstrukturen, die durch Schriftlichkeit ermöglicht werden, zusammenhängt, zeigt sich auch in den vorliegenden Studien. Evolutionspsychologische Thesen, wie „die Entdeckung der Innerlichkeit“ um 1200 (oder je nach Forschungshorizont: um 1800), können so in ihrer Problematik entschärft werden. Denn wenn die Trennung einer innerlichen und äusserlichen Welt als Folge von in der Schriftlichkeit sich ausprägenden Denkstrukturen gesehen wird, erstaunt nicht mehr, dass dieses Phänomen in der lateinischen Literatur schon früher auftaucht als in der volkssprachlichen. Zu diesem Staunen und der entwicklungspsychologischen These vgl. SCHNELL (Anm. 1), S. 251ff. Diese Schwierigkeit der Debatte, die auch im Beitrag von PETER VON MOOS reflektiert ist, zeigt sich nicht zuletzt bei den engagierten Beiträgen von RÜDIGER SCHNELL in Reaktion auf entsprechende medienanthropologische Forschungsansätze. U. a. RÜDIGER SCHNELL: Medialität und Emotionalität. Bemerkungen zu Lavinias Minne. In: GRM 55 (2005), S. 267-282. Es handelt sich dabei um eine Art Gegenschrift zu MIREILLE SCHNYDER: Imagination und Emotion. Emotionalisierung des sexuellen Begehrens über die Schrift. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Hrsg. von C. STEPHEN JAGER/INGRID KASTEN, Berlin, New York 2003 (Trends in Medieval Philology 1), S. 237-250. Vgl. zu diesen grundlegenden Kategorien der Schriftlichkeitsforschung u. a. WALTER J. ONG: Orality and Literacy. The Technologizing of the Word, London, New York 1982. Zu diesem Begriff vgl. ALEIDA ASSMANN: Exkarnation. Gedanken zur Grenze zwischen Körper und Schrift. In: Raum und Verfahren. Hrsg. von JÖRG HUBER/ALOIS MARTIN MÜLLER, Basel 1993 (Interventionen 2), S. 133-155.
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Möglichkeit einer Systematisierung der Sprache ergibt. Die Einordnung des Liebeshandelns in die Grammatikkultur, als Überformung physischer Handlungen durch geistig-abstrakte Strukturen und Regeln, ist in Bezug auf die lateinische erotische Literatur des 12. Jh.s schon verschiedentlich aufgezeigt worden, wobei sich das Phänomen genauso in stilistischen Momenten wie in ethischer Argumentation fassen lässt.22 Damit wird das physische Begehren auf einen übergreifenden, geiststrukturierten Horizont hin geordnet. In dieser Sinngebung steckt gleichzeitig die Möglichkeit einer Erotik, indem die Präsenz des Körperlichen auf ein Muster hin arrangiert und zum Objekt intellektueller Spielereien wird. So ist die Konsequenz dieser „Orthographie des Körperhandelns“, was nicht zuletzt eine „Orthographie der Natur“ heißt, eine Geist-Erotik in den entsprechend gebildeten – zumeist klerikalen – Kreisen. Die sich in der Geist-Erotik der Grammatikkultur ausbildende Schriftmetaphorik in erotischen Texten sowie deren Äquivalent, die Sexualmetaphorik in Texten des trivium, sind Ausdruck einer sich über die Schriftkultur bildenden Substruktur des Denkens (Blumenberg), die von nachhaltiger Wirkung auf Liebeskonstellationen und Liebeskonzepte ist. Die über die Metaphorik in eine subkutan wirkende Bildlichkeit gebrachten Hierarchisierungen, Regelungen und Wertungen genauer in den Blick zu nehmen, ist gerade im Bezug auf Genderfragen, aufschlussreich.23 Über die Schrift wird eine Kommunikation möglich, die nicht mehr an einen festen Kontext gebunden ist, von der Einzelperson gelöst, anonymisiert und übertragbar ist, damit aber auch verallgemeinerbar wird. Diese Abstrahierung durch die Schrift ermöglicht die Überlieferung und Traditionsbildung, so dass der schriftlich fixierte Ausdruck immer schon Teil einer Tradition ist, was die Frage nach der Authentizität aufwirft (vgl. Beitrag VON MOOS). Eine Frage, die sich gerade bei Liebesbriefen immer neu stellt. Denn im Augenblick, in dem die Rhetorizität ins Spiel kommt, das Spiel mit der Intertextualität und der Anspruch auf stilistische und sprachliche Korrektheit, konzipiert sich die Liebesäußerung auf eine Allgemeinheit und Korrektheit hin und verliert die Intimität ihre Geschlossenheit. Liebesbriefe, die in literarischen Texten oder in Sammlungen
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Vgl. dazu u. a.: ZIOLKOWSKI: Alan of Lille’s Grammar of Sex. (Anm. 6); ZIOLKOWSKI: Obscenity in the Latin Grammatical and Rhetorical Tradition (Anm. 6); JOHN A. ALFORD: The Grammatical Metaphor. A Survey of Its Use in the Middle Ages. In: Speculum 57 (1982), S. 728-760. Zur grammatischen Erotik vgl. auch die Untersuchungen zu einzelnen Texten. PAUL LEHMANN: Die Parodie im Mittelalter, 2. Ausg., Stuttgart 1963; ROBERTA KRUEGER: Constructing Sexual Identities in the High Middle Ages. The Didactic Poetry of Robert de Blois. In: Paragraph 13 (1990), S. 105-131; C. STEPHEN JAEGER: Ennobling Love. In Search of a Lost Sensibility, Philadelphia 1999.
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überliefert sind, zielen immer auch auf eine Partizipation einer literarischen Öffentlichkeit, die an diesem intimen Diskurs Teil haben soll und dadurch zu Empathie angeleitet wird. Die Intimität der Briefe ist immer auch eine öffentliche, damit eine rhetorisch-poetologisch zugerichtete (HUBER, VON MOOS). Gleichzeitig bietet diese Möglichkeit der Abstrahierung vom präsenten Körper und der konkreten Situation, über die das Physische aus dem Diskurs ferngehalten werden kann, auch die Möglichkeit einer Radikalisierung des Affekts, wie sie im physischen Vollzug nicht eingeholt werden kann/ muss. Über die Schrift erschließt sich eine Welt jenseits des Erträglichen, jenseits des Todes und jenseits des Körpers (HUBER, BUßMANN, KUHN). So ermöglicht die Schrift im Liebesdiskurs ein Reden da, wo im konkreten Erlebnis die Sprache versagt und setzt sich an die Stelle, wo die Erfahrung im Überwältigtsein sich selber auslöscht. Damit wird die körperliche Liebe im Schriftdiskurs zur Aporie. Anders als im auf orale Performanz angelegten Minnesang, wo die Liebe den Liebenden verstummen lässt, ist es hier der Körper, der sich dem Liebenden verweigert, während die Schrift zum Instrument der Liebe wird (KUHN, LIEB). Als solches funktioniert sie aber nur, weil darüber auf den durch die Schrift vermittelten Diskurs der Liebe zurückgegriffen werden kann. Dass aus dieser Rationalisierung der Liebe über die Schrift immer wieder neu Auswege gesucht werden, um dem Ideal einer unfassbaren, die Ratio gerade übersteigenden Emotion als Signum „wahrer Liebe“ nahe zu kommen, wird nicht zuletzt da deutlich, wo die Schrift in einer Re-Mythisierung der im Schriftdiskurs allegorisierten mythischen Figuren überwunden werden soll auf den Bereich eines unaussprechlich Besonderen hin (QUAST/SCHAUSTEN). Damit zeigt sich die authentische Liebe deutlich als Sehnsuchtsziel schriftliterarischer Diskurse sowie die Unbegreiflichkeit der Liebe als ihr imaginäres Konstituens. Indem in der Schrift das aus dem Kontext gelöste Wort möglich ist, kann über Rekontextualisierung, Verschiebung, Neucodierung eine grundsätzliche Reflexion der Begrifflichkeit, Sprachlichkeit und damit kulturellen Ordnung vorgenommen werden, worüber auch die sich in diesen Ordnungen konstituierenden Liebesdiskurse irritiert werden (REICHLIN, KUHN). Gleichzeitig erzeugen diese Verschiebungen im schriftliterarischen Verfahren ein textuelles Begehren. Damit wird der schriftliterarische Text zum Mittel der Erzeugung von Liebe als rhetorischem Effekt. Die Figur der begehrten Frau wird zur Begehrenswerten durch die Tradition der schriftlichen Überlieferung und die Mimesis des früheren Begehrens. Das Liebesobjekt wird zum Produkt des schriftgelehrten Wissens (KRAß, VON MOOS, LIEB).
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2. Schrift als Medium des Auges und der Anschaulichkeit (Präsenz) Schrift ist in einem ganz konkreten Sinn Medium des Auges, indem die Abstraktion des Körpers in der Schrift mit einer Präsentation des Absenten im Zeichen einhergeht, so dass im rezipierenden Blick die Materialität des Schriftlichen (das Pergament, die Tinte, der Codex) wieder zu einer neuen Verkörperung des im Zeichen Abstrahierten werden kann. Die Schrift erhält eine Präsenz, wie sie in der mündlichen Kommunikation das physisch präsente Du hat. So ist die Gestik gegenüber dem Brief als Gestik gegenüber dem Körper des Andern zu sehen (HUBER, BUßMANN). Die Materialität des Briefes wird zum Medium des Körperlichen und die Schrift wird zum Mittel der Präsenzstiftung. Dabei ist nicht zu übersehen, dass die Schrift in dieser Funktionalisierung auch Teil eines magischen Weltverständnisses sein kann (Beitrag HUBER). Entsprechend kann die Schrift da gefährlich und verletztend werden, wo sie in ihrer nicht zeichenhaften Form, als Schriftstück, als Material, die Gegenwärtigkeit des fernen Du vorgibt (HUBER). Die Schrift als visuelles Medium, dessen ambivalente Struktur zwischen vorstellender Anschaulichkeit und über das Zeichen generierter Vorstellung nicht zuletzt in der Lexik sich ausdrückt, wo der scriptor auch der pictor ist,24 ist aber auch das Medium, das gerade über diese Ambivalenz eng mit der Imagination gekoppelt ist. Die Fiktionalitätsdebatte in der Mediävistik hat hier einen ihrer zentralen Ansatzpunkte. Liebe im Zeitalter der Schrift ist so ganz stark auch von der Potenz der Imagination geprägt. Liebe macht blind, heißt es. Gemeint ist damit die Überhöhung des Gesehehen auf ein eingebildetes Ideal hin, eine Ungenauigkeit der Wahrnehmung. Das blinde Sehen par excellence aber ist das Lesen. Die Schrift wird so zum Mittel der Blendung und der Vision – auch in Liebesdingen. Entsprechend stellt sich die Frage, inwiefern die „Unmittelbarkeit“ des Gefühls nicht im Kern dieser Liebes-Imaginationen zu finden ist, als A und O – im wahrsten Sinn: Anfang und Ende – der sich in der Schriftkultur ausbildenden Liebeskonzepte. Damit wird Schrift auch zum Medium einer imaginierten Mündlichkeit als des aus dem schriftlichen Diskurs gerade Ausgeschlossenen (VON MOOS). Mündlichkeit wäre so das mediale Äquivalent zu der im Schriftdiskurs neu imaginierten Mythizität, wie es sich in der Re-Mythisierung
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Vgl. dazu J. J. G. ALEXANDER: Scribes as Artists. The Arabesque Initial in Twelfth-Century English Manuscripts. In: Medieval Scribes, Manuscripts and Libraries. Essays presented to N. R. KER; Hrsg. von M. B. PARKES/ANDREW G. WATSON, London 1978, S. 87-116, hier: S. 87f.
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allegorisierter Figuren als Versuch, das Unfassbare zu greifen, zeigt (QUAST/ SCHAUSTEN). Wie sich schon in Bezug auf die Abstraktionskraft des Schriftlichen gezeigt hat, ermöglicht die imaginationsstimulierende Potenz der Schrift ein den Körper übersteigendes, den Tod mit einschließendes Liebeserleben, was nicht nur zu einer Radikalisierung der Affekte führt (HUBER), sondern auch einen Raum der Dichtung erschließt (KUHN). Der schriftliterarische Liebesdiskurs wird zum Liebesvollzug. Liebesdiskurs und Liebe sind so wenig zu trennen wie Schreib- und Liebesmetaphorik (KUHN, EGIDI, LIEB). Entscheidend ist dabei, dass die in der Schrift vollzogene Liebespraxis als Konstituens einer besseren Welt imaginiert wird, als utopischer Raum (LIEB). In letzter Konsequenz zeigt sich das Objekt des Begehrens, die schöne Frau, als reines Phantasma, das keine Existenz über die Vorstellungskraft des Phantasten, über seinen Tod hinaus hat – außer in der Schriftradition (KRAß).
3. Schrift als Distanz-Medium Die schriftliche Kommunikation ermöglicht eine „Liebe von Getrennten“, die – zumindest für eine gewisse Zeit – vielleicht sogar zum Ideal wird. Wobei „Liebe von Getrennten“ gerade über den medialen Aspekt von der sog. „Fernliebe“ zu unterscheiden ist. Die Fernliebe (die Liebe zu einem noch nie gesehenen Du) besteht im Ideal des Ungesehenen, nur Gehörten. Sie ist ein eigentlich politisch-gesellschaftlicher Habitus und kennt keine Erotik. In ihrer statischen Gerichtetheit ist sie nicht emotionalisiert im Sinne einer dynamisierten Subjektivität. Dieses, in der Suchspannung der schriftlichen Kommunikation aufgebaute Gefühl (der Liebe von Getrennten), ist jedoch nur in einer hochartifizierten und ästhetisierten Kunstwelt denkbar, in einer kleineren Gesellschaft von Schrifthandelnden, wie sie in der höfischen und klerikalen Welt des Mittelalters zu finden war. Denn es geht letztlich um ein Spiel mit der Distanz im Kunstwerk, so dass die eigene Empfindung (Sinnlichkeit) zum Kunstwerk werden konnte – dem literarischen Vorentwurf nachgebildet und in den bekannten, gewussten Rahmen hineingedeutet. Insofern ist die Schrift gerade als Medium der Distanz adäquates Medium der höfischen Liebeskonzeption. Der Brief, als direktes, aber auch distanziertes, die Distanz überwindendes, aber entkörperlichte Nähe schaffendes Medium, ist der passende Kommunikationsmodus. Und eine Beziehung kann gerade über die Schriftkommunikation als gefûchlîche definiert werden (BUßMANN). Die erfolgreiche Form der Liebeskommunikation, die der höfischen Reziprozität entspricht, wird erst durch das Medium der Schrift möglich. Da erst kann es zu den Verschiebungen kommen und zu der zer-
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dehnten Kommunikation, die die höfische Minne letztlich kennzeichnet (EGIDI). Dabei wird gerade in der schriftlichen Liebeskommunikation die doppelte Funktion von Schrift deutlich. Einerseits wird dadurch die Distanznahme und Reflexion der Minne möglich, anderseits wird im Schreibakt die Unterscheidung von Liebe und diskursiver Verarbeitung hinfällig und damit die Distanz gerade aufgehoben (EGIDI). In dieser doppelten Funktion von Schriftlichkeit ist auch die Intimität des Briefes zu finden. Denn erst da, wo die Schriftlogik spielt und die Liebessprache von Textstrategien getragen wird, ermöglicht sich eine Ausdrucksweise, die aus dem öffentlich-performativen Kontext hinausweist in eine Geschlossenheit der Intimität. Es braucht die Kontextualisierung des Liebesausdrucks im Schriftlichen, um einen „intimen“ Raum des Ausdrucks zu schaffen (MÜLLER, HUBER). So kann man von einem „Heimlichkeitsdiskurs“ im Liebesbriefwechsel sprechen, über den sich der Liebesentwurf konstituiert. Der Brief wird zu einem literarischen Verfahren, Intimität herzustellen in Situationen der Trennung. Nur in der Schrift entwickelt sich in den späteren höfischen Romanen die intime Kommunikation, die einerseits die seelische Intimität konstituiert und beschwört, anderseits affekterzeugend wirkt (HUBER). Bis hin, dass der Text zum vom Ich abgelösten Körper werden kann, als ein nach außen verlagertes Erzählen vom Innen, wobei Erinnern, als reflektiertes Wieder-Holen, und Imagination, als diskursgesteuertes Heran-Holen, als die zentralen Kräfte dieser Liebes-Schrift fungieren (KUHN). Auffallend ist, dass die Problematik der an die Ambivalenz der Zeichen ausgelieferten Liebe, in deren Vieldeutigkeit das Du verschwimmt, das immer unsicher und proteushaft ist, kaum eine Rolle spielt. Die Liebe von Getrennten, als Liebe des zwîvels, wo die Schrift Liebesspiele ermöglicht, die mit dem absenten Du die (Vor)Täuschung eines Du möglich machen, ist in dieser Zeit, in der sich über die Schrift erst ein intimer Innenraum konstituiert, (noch) kaum Thema (HUBER). Entsprechend stellt sich dann die Frage, seit wann diese Schriftintimität problematisch wird und wie darauf reagiert wird. Es ist möglich, dass sich genau da, wo diese Schriftintimität in Frage gestellt wird, im Blick auf die Liebe ein Konzept von Mündlichkeit entwickelt, das diese als Medium der Nähe zum Signum einer Unmittelbarkeit macht, die im Schriftlichen verloren scheint. Es wäre dann gerade die Schrift-Liebe, die den über sie konstituierten Intimitätsdiskurs in eine als Gegenwelt zu sich selber entworfene Mündlichkeit retten wollte, indem sie eine wahrhaftige, unverfälschte, authentische „mündliche“ Liebe entwirft. Was sich in den Beiträgen dieses Bandes zeigt, macht auf alle Fälle darauf aufmerksam, dass die „Entdeckung der Intimität“, wie sie gern für die Zeit um 1800 angesetzt wird – mit entsprechenden Qualifizierungen und Beurteilungen vormoderner „Intimität“ – sehr viel komplexer und
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gerade unter mediengeschichtlichen und -theoretischen Aspekten differenzierter sich darstellt.
4. Schrift als Medium der Verfestigung Die Umcodierung des in der oralen Kultur rituell gebundenen und damit gestisch-handlungsmäßig codierten Liebesausdrucks in die Schrift bietet eigene Schwierigkeiten. Die Codierung des Affekts, die in der Performanz stattfindet, muss in der Schrift eingeholt werden.25 Hier ist der Grund für die schwierigen Anfänge einer verschriftlichten Liebesrede zu sehen (MÜLLER, HUBER). Es gibt eine Art Scheu, die mündliche Tradition des LiebesLiedes zu verschriftlichen. So kann es in diesen Zusammenhängen zu einer Verdinglichung der Schrift kommen, die das Schriftstück als Teil des performativen Handelns realisiert. Schrift verliert damit ihren Zeichencharakter und somit die Potenz der Rationalisierung, Distanzierung und Abstrahierung und kann zu einem magischen Objekt werden. Sie wird sozusagen entschriftlicht (HUBER). Erst da, wo der Liebesausdruck sich den Textstrategien unterwirft, findet er in die schriftliterarische Codierung. Liebe in der Schriftkultur heißt aber auch immer Liebe in einer verschriftlichten Tradition. Das produziert die Spannung zwischen dem Erleben des Einzigen im tradierten ImmerWieder-Gleichen. Genau diese in der Schrift festgesetzte und übertragbare Liebe ermöglicht aber auch – über die Imagination – das Erlesen eines Erlebens unabhängig von der Präsenz eines scheinbar notwendigen Du. Durch die Loslösung des Begehrens von einer Präsenz des Objekts wird letztlich auch die Liebe im Sinne eines subjektiven, einsamen, da nicht mehr kommunizierbaren Gefühls möglich. Gleichzeitig stellt sich die Frage, inwiefern dieses subjektive, einsame Gefühl nicht gerade auch Ausdruck einer Eingebundenheit in eine Gemeinschaft ist, ohne die es dieses Gefühl gar nicht geben würde. Die einsame Lektüre von Liebenden bezieht sich in der Regel auf andere Liebende: das exklusive Erleben ist ein allgemeines (LIEB, HUBER, KUHN, KRAß). Über die Regelhaftigkeit der Liebesbriefe, im Sinne einer zu erlernenden Kompetenz, wird das einzige Gefühl zum allgemeinen und die an Authentizität gekoppelte Frage der Wahrhaftigkeit lässt sich nicht mehr beantworten. Der Liebesbrief wird auch zum Mittel der Affektexemplarizität für eine literarische Öffentlichkeit (VON MOOS, HUBER).
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Die divergierenden Deutungen eines solchen Phänomens der frühen Verschriftlichung (des St. Galler Spinnwirtelspruch) in den Beiträgen von MÜLLER und HUBER ist Indiz genau dieser grundlegenden Problematik.
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An diesem zentralen Punkt des individualisierten Allgemeinen, richtet sich der Blick auf den eigenen Körper, der dadurch mit seinen Reaktionen zu einem Teil des Schriftdiskurses wird und über den die Schrift autorisiert werden kann, so dass der Text zur Selbstaussage wird. Konzeptionen des Innenraums als Brief, Buch, Zettel dienen als Beweis der Authentizität der Liebe dessen, der den Text verfasst hat (LIEB, KUHN). Auffallend ist, dass in der Liebesmetaphorik die Schrift immer wieder da eine Rolle spielt, wo es um die Verstetigung und Fest-Stellung der Liebe geht. In der Schrift verwirklicht sich somit die dem Liebesdiskurs inhärente Idee einer ewigen, festen, unveränderlichen Liebe. Die Metaphorik des Einschreibens ins Herz dient einer Fest-Stellung sowie Konstituierung eines hermeneutischen Innenraums, ermöglicht aber auch einen unmittelbaren Zugang zum Herzen, der das mündliche Reden überflüssig macht. Über die Metaphorik vom „Buch der Liebe“ ist die Schrift nicht nur als Mittel der Fixierung und Legitimierung von Eigentumsverhältnissen gedacht, sondern auch als Legitimation der Liebe. Die Gemeinschaft der Liebenden konstituiert sich als eine Schriftgemeinschaft (LIEB). Interessant ist die Frage, inwiefern die Veränderung der Rolle der Schrift im politisch-sozialen Bereich auch zu einer Veränderung der über die Schrift codierten Liebeshändel führt. Mit der Verstädterung der Gesellschaft und Professionalisierung des Schrifthandelns außerhalb der klerikalen und höfischen Kultur, wird die sich im Schriftlichen konstituierende Imaginationsliebe oder auch: Spannungsliebe als Paradoxie des präsenten Absenten über die neue Schriftpraxis und Schriftprofession zur institutionalisierten Liebe, in deren Rahmen die Erotik wieder in die Sexualität umschlägt. Wurde in der lat. Gelehrtenerotik die körperliche Liebeshandlung in die grammatischen Regeln und rhetorischen wie logischen Verbindungen hineingedacht, um so im hochrationalisierten Rahmen das physische Begehren in Strukturen des Intellekts zu übersetzen, wird in späterer Zeit die Schreib- und Lektüremetaphorik im Körperlichen realisiert. Im Liebesdiskurs wandelte sich die Metaphorik der Schriftkonzepte zu einer Metaphorik der Schriftpragmatik.26 Die Spannungsliebe wird in die greifbare Liebesaktivität umgedeutet, der Schreibstift wird nicht mehr zur Geisterotik gebraucht, sondern dient, als Machtinstrument, der physischen Befriedigung.27 Der Schreiber, als 26 27
THOMAS CRAMER: Nabelreibers Brief. In: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hrsg. von HORST WENZEL, Berlin 1997 (Philologische Quellen und Studien 143), S. 212-225. Vgl. dazu u. a. die Märendichtung, exemplarisch: Das Rädlein. Ein Text, in dem sich die Prägungen der Denkstrukturen durch die Schriftkultur auf verschiedenen Ebenen manifestiert. Vgl. dazu MIREILLE SCHNYDER: Schriftkunst und Verführung. Zu Johannes von Freiberg: „Das Rädlein“. In: DVjs 80 (2006), S. 517-531.
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„neuer Ritter“, wird zum besten Liebhaber – und lässt Pfaffen und Ritter, die sich früher darum stritten, hinter sich.28 Die Liebe spielt sich nicht mehr in der Distanz der Schrift ab, sondern in der Nähe der Körper. Die hier kurz skizzierten Ergebnisse fußen auf den Beobachtungen der einzelnen Beiträge, die sich mit verschiedenen Formen der Schrift-Liebe auseinandersetzen. Dabei hat sich die Frage nach der Authentizität als eine der Kernfragen erwiesen, die in ganz verschiedener Art immer wieder auftaucht, immer neu aber auch als der imaginäre Kern dessen deutlich wird, was sich diskursiv als Liebe konstituiert. Der Beitrag von PETER VON MOOS führt exemplarisch vor Augen, wie die Frage nach der Medialität der Liebe immer wieder mit der Frage nach der Authentizität konfrontiert wird. In philologischer Genauigkeit zeigt von Moos auf, wie die in den Epistolae duorum amantium verschriftlichte Liebe Produkt ihrer medialen Darstellung und Präsentation ist, die nicht nur eng mit der Materialität der Schriftmedien zusammenhängt, sondern auch mit dem rein schriftlichen Liebesdiskurs, wie er sich aus der ars dictaminis im späteren Mittelalter als eine Art ars amandi entwickelt hat, so dass Liebe zur Briefkunst wurde und Briefkunst als Liebeskunst vermittelt wurde. Da, wo die Medialität und Materialität des Liebesausdrucks in den Blick kommen, wird die Fiktionalität dieser Briefe als geschriebene, scheinbar intime Zeugnisse eines persönlichen Ausdrucks deutlich. Authentische Gefühle sind in den stilisierten Texten und der vervielfältigten, kopierten, gekürzten, veränderten und überarbeiteten Schrift nicht zu haben. Das macht Projektionen dieser angelesenen Gefühle auf ein als authentisch definiertes Fühlen eines scheinbar identifizierbaren Liebespaars problematisch. Dass dieser Blick auf das Mediale als konstituierendes Moment in der Figuration der Liebe für Zündstoff sorgt, zeigt die im Beitrag skizzierte Debatte um eben die Zuschreibung dieser Liebesbriefe. Die Schrift als Moment der Anonymisierung und Abstrahierung sowie Mittel der Einspeisung in eine Tradition und Überlieferung wird im Bezug auf diese Briefsammlung gern negiert. Insofern ist der Beitrag von PETER VON MOOS ein idealer Einstieg in die Frage nach dem Verhältnis von Schrift und Liebe, der Konstituierung und Veränderung des Liebesdiskurses durch den Schriftgebrauch und die Einbindung des Liebesredens in das Schrifthandeln. 28
Zum Topos des Streits zwischen Pfaffe und Ritter vgl. u. a. Die Leda-Parodie (Inaspectam). In: Vagantendichtung. Lateinisch und deutsch; Hrsg. und übers. von KARL LANGOSCH, Bremen 1968, S. 258-279; Venus. In: Sterzinger Spiele. Die weltlichen Spiele des Sterzinger Spielarchivs nach den Originalhandschriften (1510-1535) von Vigil Raber und nach der Ausgabe Oswald Zingerles (1886). Hrsg. von WERNER M. BAUER, Wien 1982 (Wiener Neudrucke 6), S. 206-236.
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Anhand einzelner Beispiele von Spuren eines erotischen Ausdrucks in der frühesten volkssprachlichen Überlieferung zeigt STEPHAN MÜLLER die „Widerständigkeit der deutschsprachigen Handschriftenkultur gegen die Liebe“ auf. Deutlich wird dabei, dass die überlieferten Griffelglossen und Einträge am Rand lateinischer Texte einerseits stark auf rituelle Handlungen rekurrieren, was nicht zuletzt durch die häufige Überlieferung mit Neumen bestätigt wird, anderseits aber auch immer wieder radiert, aus dem Schriftkontext wieder eliminiert wurden. Auch hier, im Blick auf die kleinen frühen Einträge in den Handschriften, stellt sich die Frage nach der Authentizität im Sinne individueller, intimer Gefühle. Dass die hier verschriftlichten Ausdrücke in außerliterarischem rituellem Handeln codiert sind, bindet diese Einträge in überindividuelle, nicht intime, sondern öffentlich-performative Diskurse ein. Und nur in dieser Rückbindung sind sie letztlich verständlich. Erst da, wo eine eigene Schriftlogik wirksam wird und die Liebessprache durch Textstrategien getragen wird, ermöglicht sich eine Ausdrucksweise, die aus dem Öffentlich-Performativen hinausweist in eine über den Text ermöglichte Geschlossenheit der Intimität. Dies ist erst in der volkssprachlichen Epik möglich. Diese Schwierigkeit der deutschen Liebessprache in die Schrift zu finden, sieht Müller bestätigt in der sehr spät einsetzenden Überlieferung der Minnelieder. Deren Einbindung in eine höfische Aufführungspraxis hat den volkssprachigen Liebesausdruck im höfischen Ritual codiert. Die Aufführungslogik, die diese Texte prägte, widerspricht der durch Lektüreprozesse gesteuerten Schriftlogik. Im Tagelied, das in die deutschsprachige Tradition sehr spät Eingang gefunden hat, sieht Müller die These bestätigt, dass der Liebesausdruck erst über eine Episierung des Lieds in die Schrift übernommen werden konnte. Das höfische Ritual der Aufführung und die Verschriftlichung des Tagelieds sind somit als zwei verschiedene Formen der Kodifizierung des Liebesausdrucks in der volkssprachigen Tradition anzusehen. Die in der Schriftlichkeit neu kontextualisierte Liebe braucht in dieser rationalisierenden und abstrahierenden Diskursivierung eine Konzeption des Unbegründbaren und Irrationalen zur Legitimation und Konstituierung ihrer Macht. BRUNO QUAST und MONIKA SCHAUSTEN weisen nach, wie die Unbegründbarkeit der Minne im Eneasroman von Heinrich von Veldeke im Rekurs auf Mythisches vorgeführt wird, um Liebe darüber als Leidenschaft zu codieren. Das magisch-mythische Gesetz der Partizipation, das die Dido-Minne prägt, wird der rationalisierenden Allegorese in der Lavinia-Minne gegenübergestellt. Und so erweist sich die Rationalisierung des Ursprungs von Minne durch die Schrift als Pendant zur allegorischen Entmachtung der Götter. Die im Schriftdiskurs rational geschwächte Minne-Macht muss dann aber durch eine sekundäre, neue Mythisierung wieder gestärkt werden. Deshalb ist der Brief Lavinias noch durch Amors Pfeil begleitet, wodurch es zu einer die Schriftrationalität brechenden Re-
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Mythisiserung kommt. In dieser Übersteigerung der Minne in einen neuen Mythos zeigt sich bei Heinrich von Veldeke eine Reflexion der medialen Rationalisierung der Minne. Als Reflexion der Medialität der Minne liest auch ASTRID BUßMANN Veldekes Eneasroman. Sie weist darauf hin, dass über die Medialität der Liebeskommunikation eine wertende Differenzierung der Liebe vorgenommen werde. Die Schriftlichkeit, als Medium, das Distanz überwindet und Distanz hält, entspricht dem höfischen Liebeskonzept und ist erfolgreich. Der Brief Lavinias, über den eine entkörperlichte Nähe geschaffen wird, ist der passende Kommunikationsmodus für die höfische Liebe, und die Lavinia-Minne wird gerade über die Schriftkommunikation als gefûchlîche definiert. Dagegen steht die Didominne. Diese kennt keine verbale Liebesäußerung, dafür aber die physische, körperliche, sexuelle Annäherung bis zur Hingabe als „Körpergeständnis“. Bußmann zeigt auf, wie Veldeke Schreiben und Lieben miteinander korreliert und die Körperlichkeit/Sexualität der Dido-Minne als Konsequenz ihres Schweigens deutlich macht. Die Liebeskommunikation ist bei Veldeke als Mittel der Interpretation und Generation des Gefühls zu sehen. Wobei die Medialität des Liebesgeständnisses grundlegend ist für das Gelingen oder Misslingen der Liebe. Die Schrift, als dem höfischen Liebeskonzept adäquates Medium der Distanz, indiziert gleichzeitig auch eine Beständigkeit des Verhältnisses, die im Mündlichen nicht gegeben ist. Auch CHRISTOPH HUBER stellt die Frage nach der Leistung des Schriftmediums für die Minnekommunikation und richtet den Blick dabei auf den nachklassischen höfischen Roman. Im ersten Liebesbriefwechsel der deutschen Literatur in Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens konstatiert er einen Heimlichkeitsdiskurs, der eng mit dem über die Briefe transportierten Minneentwurf zusammenhängt. Ist die Schrift bei Rudolf von Ems hauptsächlich Mittel zur Überwindung weiter Distanzen zwischen den Liebenden, tritt sie bei Johann von Würzburg da auf, wo die mündliche Kommunikation auch in der Nähe verunmöglicht ist. Es wird deutlich, dass sich in diesen Romanen die intime Kommunikation allein in der Schrift verwirklicht, die einerseits die seelische Intimität konstituiert und beschwört, anderseits affekterzeugend wirkt. Bezeichnenderweise wird der Brief denn auch nicht für Intrigen gebraucht, sondern ist allein Ort der Herstellung von Intimität. Gleichzeitig wird die Liebesäußerung, indem das Geschriebene korrigiert, überlesen, verbessert wird, auf eine literarische Öffentlichkeit hin konzipiert, die an diesem intimen Diskurs empathisch Teil haben soll. So kommt es zu einer Art Textgemeinschaft zwischen Primärrezipienten im Text und den Rezipienten des literarischen Textes, in der sich das hier vermittelte Minnekonzept verfestigt und bestätigt. Der Brief wird zum Mittel eines literarischen Verfahrens, Intimität (als eine „Beziehungsfigur engster personaler Nähe“) herzustellen.
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Der Status dieser Liebesbriefe in historischer Perspektive kann so folgendermaßen beschrieben werden: der Umgang mit Schrift ist als selbstverständlich vorausgesetzt, die Botenrolle zurückgedrängt und der Brief, als distanzüberwindendes Kommunikationsmittel, wird – auch für die literarische Öffentlichkeit – für Affektexemplarität gebraucht. Als „zerdehnter Liebesdialog“ weist der Briefwechsel Präsenzphänomene auf, die nicht nur affektstimulierend sein können, sondern auch durchaus destabilisierende Effekte hervorbringen können. Schriftspezifisch sind dabei die Wiederholbarkeit der Stimulation – damit auch die Übertragbarkeit auf ein literarisches Publikum – und die zeitliche Versetzung. Minne in dieser Schriftform „ist zugleich Vermittlungsinstanz einer kunstgerechten Rhetorik der Liebe und erfahrene Gegenwart mit transgressiven, anarchischen Zügen“. Im Schriftraum ist ein Raum der Intimität geschaffen, in dem sich Unmittelbarkeit der Affekte und Intellekt nicht als Gegensätze begegnen. Dass die Schrift die widersprüchlichen Implikationen der Ermöglichung von Reflexivität und der Aufhebung von Distanz hat, zeigt auch MARGRETH EGIDI in ihrem Beitrag zu Flore und Blanscheflur und dem Apollonius. Dabei legt sie in ihrer Untersuchung zum Verhältnis von Liebeskonzept und Schrift das Augenmerk auf die ökonomische Logik der Liebe und deren Äquivalent in der schriftlichen Kommunikation. Sie zeichnet den in den Texten konstituierten Weg der Minne auf, der aus dem vorreflexiven Wissen, das durch göttliches Eingreifen entsteht, in die Diskursivierung und das über Lektüre vermittelte Verstehen bis hin zu eigenem Reden und zur Verschriftlichung führt. Dabei wird die scheinbare Zeitabfolge immer wieder durch Zeitgleichheit, die Parallelität von Ungleichzeitigem, unterlaufen. Das heißt auch, dass sich Liebe und ihre Repräsentation einander annähern, so wie sich die vorbewusste und die bewusste Liebe ineinanderschieben. Darin wird auch die doppelte Logik der Funktion von Schriftlichkeit deutlich. In der Lektüre kommt es zu Distanznahme und Reflexion der Minne, im Schreiben aber wird gerade die Distanz aufgehoben und die Unterscheidung von Liebe und diskursiver Verarbeitung derselben wird hinfällig. Auffallend ist, dass in den Leseszenen, da, wo es zur Diskursivierung des vorreflexiven Zustands kommt, die Freude-Leid-Ambivalenz der Liebe und ihre Willkürherrschaft dominant ist, während es in den Situationen der erfahrenen Liebe zu einer Vereindeutigung kommt, sowohl in der vorreflexiven Liebe wie den Schreibszenen. Da, wo eine Differenz von Absender und Verfasser des Briefes vorliegt, werden Figuren des Verschiebens, des Weiterweisens als konstituierende Faktoren eines auch die Liebe prägenden ökonomischen Denkens möglich. Dabei wird deutlich, dass die erfolgreiche Form der Liebesökonomie, die der höfischen Reziprozität entspricht, erst durch das Medium der Schrift möglich wird. Erst in der Schrift kann es zu den Verschiebungen kommen
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und zu der zerdehnten Kommunikation, die die höfische Minne kennzeichnet. Die durch die Schrift provozierten und ermöglichten vielfältigen Verschiebungen beobachtet auch BARBARA KUHN in ihrem Beitrag zu Dantes Vita nuova. Sie stellt dar, wie die Schrift der Liebe zum die Grenze des Todes überschreitenden Medium stilisiert wird, indem es zu einer Inversion von Schrift und Körper kommt. Mit Bezug auf die Topik der Troubadour-Lyrik und das präsentische Reden der Liebesdichtung wird die Schrift als Ort einer möglichen Rede jenseits oder trotz der Überwältigung des Erlebens gezeigt. Durch die verschiedenen Erinnerungsebenen, die im Text eine Rolle spielen, kommt es zu Verdoppelungen und Steigerungen, die die Nicht-Unmittelbarkeit der Erinnerung sowie deren verschiedene mediale Verfasstheit ausstellen. Erinnern ist so Wieder-Holen auf verschiedenen Reflexionsstufen. Zwischen den einzelnen Texten kommt es in scheinbarer Wiederholung zu Verschiebungen des Sinns. Am deutlichsten ist das da, wo der Tod in den Blick und damit die mündliche Kommunikation an ihr Ende kommt. Am Tod, der das Supplement der Schrift fordert, wird deutlich, um welch vielfältige Überschreitungen es in der Vita nuova geht. Die Körper werden zu Zeichen und Einschreibflächen, dank deren das Ich als Text lesbar wird, die Schrift wird aber auch zum Körper, wie sich an vielen Textstellen zeigt. So kommt es zu einem nach außen verlagerten Erzählen vom Innen. Erinnern und Imagination fungieren als die zentralen Kräfte in dieser neuen Schrift der Liebe, die die Vita nuova ist. Über die verschiedenen Fremd-Körper, die sich zwischen den Liebenden und die Geliebte schieben (als Körper der falschen Frau in der Blickrichtung auf die Geliebte, als verfremdendes Reden in der Allegorie), entwickelt sich eine vom Körper unabhängige Imagination, die als Raum der (schriftliterarischen) Dichtung gesehen wird. Dabei ist der Übergang der konkret erfahrenen Situation zu ihrer Reflexion auch ein Übergang von der individuellen zu einer verallgemeinerten Erfahrung. Vieles von dem, was in Dantes Text die Schriftliebe konstituiert und in extremer Form die Schriftbedingtheit dieses Liebens deutlich macht, findet sich auch in den literarisch weniger anspruchsvollen „Minnereden“, die aber in einem ähnlich über die Schrift konzipierten Liebeserleben gesehen werden müssen. Dies wird deutlich in dem Beitrag von LUDGER LIEB. Im Blick auf die Metaphorik von Schrift und Schreiben, die in der Narratio thematisierten Formen von Schriftlichkeit und von Schreiben sowie die Praxis des Schreibens von Minnereden wird aufgezeigt, dass es sich bei den Minnereden um textuelle Selbstermächtigung eines Minnenden handelt, am Diskurs teilzuhaben, um Einübung und Benutzung symbolischer Codes. Die Schrift ist Diskurszugang. Dabei konstituiert sich über die Schrift eine Exklusivität, die in klare Opposition zu einer öffentlich verhandelbaren und ausstellbaren Liebes-
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kommunikation tritt. Dies zeigt sich nicht nur in der Konstituierung eines hermeneutischen Innenraums, sondern auch an der Rezeption und Verbreitung der Minnereden in engeren, exklusiven Kreisen. Die Textpraxis der Minnereden ist Liebespraxis. Diese aber wird als eine bessere Welt imaginiert, als utopischer Raum, wie er sich erst in einer ausgeprägteren Schriftkultur entwickeln kann. Auch hier wird deutlich, dass es über die Schriftlichkeit zu einer Ökonomisierung der Liebe und einer regelrechten Minne-Bürokratie kommt, in der sich die Liebesgemeinschaft als eine Schrift-Gemeinschaft konstituiert. Indem die Minnereden als Texte konzeptueller Schriftlichkeit gedacht werden müssen, inszenieren sie die Authentizität über die Schrift: Die Schrift (als Buch, als Zettel, als Brief) dient einerseits immer als Beweis der Authentizität des Minneleidens und ist anderseits die alleinige Möglichkeit, in die Welt der Minne einzutreten. Gleichzeitig handelt es sich um einen Prozess der Ästhetisierung der persönlichen Minne des Ich-Sprechers, die über das Produzieren von Minnereden auf Dauer gestellt wird. Die in den Herzinnenraum verlegte Minnekommunikation, die nur als schriftliche möglich ist, löst sich von dem Gegenüber ab. Es ist ein Lieben, wie es nur denkbar ist in einer rein schriftlichen Welt. Die schriftgenerierte Minne ist auch Thema des Beitrags von SUSANNE REICHLIN zu dem Märe Des Mönchs Not. Im Vordergrund der Überlegungen steht das Begehren als Produkt eines Diskurses und Effekt sprachlicher Prozesse. Dabei zeigt sich auch hier, dass im Rahmen der Schriftkultur, die das verabsolutierte, aus dem Kontext gelöste Wort erst möglich macht, über Verschiebungen und Neukontextualisierungen Diskurse reflektiert werden. Als Hintergrund der in diesem Text reflektierten Missverständnisse, die durch die fremde Kontextualisierung von einzelnen Wörtern hervorgerufen werden, ist die scholastische Schriftkultur zu sehen. Das Wort/ Zeichen erscheint von Beginn an als ein verschobenes, was das Interesse auf die Figur der Verschiebung richtet. Die Kontextlosigkeit des Einzelworts, wie es am Anfang eingeführt wird, stellt das literarische Potential der Vieldeutigkeit der Schrift aus. Damit wird in der Schriftszene am Anfang eine „poetologische Urszene“ schriftliterarischen Erzählens sichtbar. Das Begehren in Des Mönchs Not wird nicht auf der Handlungs-, sonder allein auf der Erzählebene erzeugt. Das textuelle Begehren ist jedoch kein generell hermeneutisches, sondern Schriftpraxis, die mit Zitat, Isolierung, Rekontextualisierung arbeitet. Indem das Verhältnis von Sprache und Begehren auf den unterschiedlichen Ebenen des Textes und in verschiedenen medialen Konstellationen untersucht wird, findet sich eine irritierende Kongruenz von Diskurs und Körper. Denn wenn der Minnediskurs durch den Körper eingeholt wird, dieser aber in ein dem Minnehandeln entgegengesetztes Gewaltgeschehen eingebunden ist, kommt es in den Mären zu einer Dissoziation von Körper
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und Rede, indem die Versatzstücke des Minnediskurses durch Gewalthandlungen begleitet sind. Anders als im höfischen Liebesdiskurs, wo das sprachlich Behauptete am Körper sichtbar wird, sind hier die Zeichen der Minne dann Zeichen der Gewalt. Diese Ununterscheidbarkeit führt dazu, dass Körper und Sprache zum Schluss auf der literalen Ebene wieder übereinstimmen, wodurch es zu einer ironischen Kongruenz von Körper und Diskurs kommt. Auch der Beitrag von ANDREAS KRAß zur Helenafigur in der Historia von D. Johann Fausten geht auf das textuell erzeugte Begehren als Konstituens des schriftliterarischen Liebesdiskurses ein. Er führt aus, wie die Figur der Helena abgeschrieben, kopiert, kompiliert ist und ihre Schönheit entsprechend ein Produkt des schriftgelehrten Wissens. Die überbietende Schönheit Helenas ist als überbietende Nutzung eines rhetorischen Beschreibungsmusters zu sehen. Die weibliche Schönheit Helenas ist nichts als ein rhetorischer Effekt. Damit erschließt sich aber nicht nur die begehrte Person, sondern auch das Begehren selber als Produkt intertextueller Bezüge, als grundsätzlich mimetisch. Wenn aber erst über die Schrift der Körper Helenas entsteht, ist das eigentliche Ziel des Frauenpreises die Dichtkunst. Hat der Teufel mimetisch und performativ Helena als Bild einer schönen Frau vorgestellt und sie als Objekt des Begehrens hervorgebracht, arbeitet der Text mit denselben Mitteln der Verführung und Begehrensstimulierung. Liebe in der Schriftlichkeit wird so grundsätzlich als durch die Möglichkeiten der Schrift konstituiertes und generiertes Begehren gezeigt. Liebe im Zeitalter der Schrift ist entschieden rhetorisch, mimetisch, diskursiv, intertextuell, arbiträr, absolut, imaginär. Wobei als Sehnsuchtspunkt immer die vordiskursive, unbegreifliche und zeichenlose Liebe in die Liebesrhetorik und Schriftlogik eingebunden bleibt.
PETER VON MOOS
Vom Nutzen der Philologie für den Umgang mit anonymen Liebesbriefen Ein Nachwort zu den Epistolae duorum amantium „Il n’y a point de si grand plaisir en l’amour que le discours.“ Pontus de Tyard (unten Anm. 46)
Die Aufmerksamkeit auf Mediengeschichte und Codierung von Emotionen ist genau das, was ich hier empfehlen möchte, obwohl ich dafür immer noch den vielleicht altmodischen Oberbegriff Philologie verwende. Denn das neue Interesse an der medialen und materiellen Verfasstheit von Texten, an Kommunikationsmöglichkeiten, Schreibstoffen, Schriftträgern, Sicherheits- und Geheimhaltungstechniken und vielen anderen die Botschaft filtrierenden und konditionierenden sog. ‚äußeren Umständen‘ befördert auch die Verfeinerung des methodischen Instrumentars für so elementar philologische Aufgaben wie die Datierung und Zuschreibung anonym überlieferter Werke. Dies möchte ich kurz an einem derzeit Aufsehen erregenden Fall, der Zuschreibung der bisher verfasserlosen Briefe zweier Liebenden (Epistolae duorum amantium) an Heloise und Abaelard illustrieren, wobei es mir allein exemplarisch, d. h. unpolemisch-überpersönlich um Methodenprobleme geht, die allerdings im Geiste einer offenen Streitkultur beim Namen genannt zu werden verdienen. Über das Werk selbst werden die literarischen Werturteile ebenso auseinander gehen wie über alle hochartifiziellen Codierungen der Liebe. Das Erstaunlichste an diesem brieflichen Duett ist die Unermüdlichkeit, mit der Wiederholung, Redundanz und Tautologie geradezu kunstvoll gepflegt und ausdrücklich als ein nie zu Ende kommendes Neuschreiben und Wieder-Lesen auch metasprachlich hervorgehoben werden. Man gewinnt den Eindruck eines Bravourstücks manieristischer Variationstechnik unter dem Motto von Brief 24: „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über...“ (Luc. 6, 45). Damit soll jene Monotonie, die das unersättliche Begehren in den Augen Nichtbeteiligter zu begleiten pflegt, gerade als unalltägliche Liebesberedsamkeit und Schreibseligkeit gefeiert und vergoldet werden. Für unsere Belange genügt hier
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Peter von Moos
nochmals die Feststellung, dass es sich um ein bedeutsames, bisher sträflich verkanntes literatur- und kulturgeschichtliches Dokument eines mittelalterlichen Liebesdiskurses handelt.1 Dies ist kurz zusammengefasst die wissenschaftsgeschichtliche Ausgangslage:2 In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts entdeckte DIETER SCHALLER in einer Handschrift von Troyes (1452) eine anonyme Sammlung von über 100 Liebesbriefen, die der junge, humanistisch orientierte Zisterzienser Johannes de Vepria in Clairvaux am Ende des 15. Jahrhunderts in Exzerpten (nach zeitgenössischem Katalogvermerk und Titel Deflorationes, Ex epistolis duorum amantium) ausgeschrieben hatte. Von seiner Vorlage und deren Entstehungsgeschichte ist nichts bekannt, und auch über das Ausmaß der organisatorischen Eingriffe des Abschreibers, bzw. Exzerptors (wie Überschrift, Paragraphierung, Zuteilung der blass typisierend mit Vir und Mulier signalisierten Partneranteile u. a. m.) ist das meiste noch unklar. Jedenfalls bildet die Herkunft und Datierung der Briefsammlung ein absolutes Rätsel und somit eine außergewöhnliche Herausforderung der Mediävistik. Schallers Schüler EWALD KÖNSGEN besorgte 1974 verdienstvoll die kritische Edition dieses eigenartigen Textes,3 in deren Kommentar erstmals der Gedanke probeweise erwogen 1
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Das Folgende hebt einige neue Aspekte hervor gegenüber PETER VON MOOS: Die Epistolae duorum amantium und die ,säkulare Religion der Liebe‘. Methodenkritische Vorüberlegungen zu einem einmaligen Werk mittellateinischer Briefliteratur. In: Studi Medievali 44.1 (2003), S. 1-113, und DERS.: Abaelard, Heloise und ihr Paraklet: ein Kloster nach Maß. Zugleich eine Streitschrift gegen die ewige Wiederkehr hermeneutischer Naivität. In: Das Eigene und das Ganze. Zum Individuellen im mittelalterlichen Religiosentum. Hrsg. von GERT MELVILLE/ MARKUS SCHÜRER, Münster u. a. 2002 (Vita regularis 16), S. 563-620. Auch der nachträgliche Exkurs zur Neuauflage dieses Beitrags in meinen Gesammelten Studien zum Mittelalter, Bd. I: Abaelard und Heloise, Münster 2005, S. 282-292, wird hier vertieft und erweitert. – Ohne negative Wertung scheint mir an dem Briefwechsel eine beabsichtigte stilistische Artifizialität zentral, wie ich sie ähnlich schon in Die Epistolae..., S. 40, als Gegensatz aller neuzeitlichen Ausdrucksästhetik beschrieben habe. Ich komme hier nicht mehr darauf zurück. Vgl. auch GILES CONSTABLE: Sur l’attribution des Epistolae duorum amantium. In: Académie des Inscriptions & Belles-Lettres, comptes rendus, nov.- déc. 2001, Paris 2001, S. 1679-1693, hier S. 1690: „Les références érudites, le vocabulaire élégant et la recherche de la variété […] tout a plus odeur d’huile que de pressante passion. […] ici chaque formule de salutation est différente et souvent plate, comme si la recherche d’une variété dans l’énoncé comptait plus que l’expression d’un sentiment réel.“ (Dieser französische Beitrag ist eine erweiterte Neufassung von: The Authorship of the Epistolae duorum amantium. A Reconsideration. In: Voices in Dialogue: New Problems in Reading Womens’s Cultural History. Hrsg. von LINDA OLSON/ KATHRYN KERBY-FULTON, Notre Dame 2005, S. 167-178.) Wissenschaftsgeschichtliche Hintergrundinformationen bei EWALD KÖNSGEN: „Der Nordstern scheint auf den Pol“. Baudolinos Liebesbriefe an Beatrix, die Kaiserin – oder Ex Epistolis duorum amantium. In: Mittel- und neulateinische Studien für PAUL GERHARD SCHMIDT. Hrsg. von ANDREAS BIHRER/ELISABETH STEIN, München, Leipzig 2004, S. 1113-1121. Epistolae duorum amantium, Briefe Abaelards und Heloises? Hrsg. von EWALD KÖNSGEN, Leiden, Köln 1974 (Mittellat. Studien u. Texte VIII).
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wurde, hier handle es sich um die frühen Liebesbriefe, die Abaelard und Heloise, ihren eigenen Aussagen zu Folge vor der tragischen Trennung ausgetauscht hatten. KÖNSGEN äußerte diese Annahme selbst vorsichtig in alteram partem, ohne die ihr widersprechenden Argumente zu verschweigen, und ließ das Problem schließlich unentschieden, wie dies schon das Fragezeichen hinter seinem Titel: „Briefe Abaelards und Heloises?“ bezeugt, das er gegen den Widerstand des Reihenherausgebers KARL LANGOSCH hartnäckig und mutig zu verteidigen wusste. Die ZuschreibungsHypothese fand seinerzeit in den Rezensionen ziemlich einhellige Ablehnung.4 Dass sie eines Tages wieder ausgegraben und erneut ins Gespräch gebracht würde, war abzusehen und hätte normalem Forschungsfortgang auch durchaus entsprochen. Doch es kam nicht dazu. Ohne jegliche Diskussion unter Mediävisten wurde die Zuschreibung an Heloise und Abaelard (in dieser Reihenfolge der Namen) 1999-2000 plötzlich als feste Tatsache verkündet, als gäbe es daran nichts mehr zu rütteln. CONSTANT J. MEWS und STEPHEN C. JAEGER traten in drei unmittelbar hintereinander erscheinenden und für ein eher breites englischsprachiges Publikum bestimmten Bänden mit folgenden Thesen vor die Öffentlichkeit:5 1. Die Epistolae duorum amantium stammen unbedingt aus dem frühen 12. Jahrhundert, auch wenn sie erst um 1471 exzerpiert wurden; 2. sie haben zwei verschiedene Autoren, nämlich einen verliebten Mann und eine verliebte
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EDWARD F. LITTLE in: Cahiers de civilisation médiévale 19 (1976), S. 181f.; ANKE PARAVICINI in: Francia 4 (1976), S. 844-7; HUBERT SILVESTRE in: Scriptorium 31 (1977), S. 130f.; ARNULF STEFENELLI in: Zeitschrift für Romanische Philologie 93 (1977), S. 118f.; GIOACHINO CHIARINI in: Maia 33 (1981), S. 245f.; A. PATTIN in: Tijdschrift voor Filosofie 41 (1979), S. 521 sowie die Miszellen von UDO KINDERMANN: Abaelards Liebesbriefe. In: Euphorion 70 (1976), S. 287-295, bes. 291-5 und JEAN JOLIVET: Abélard entre chien et loup. In: Cahiers
de Civilisation Médiévale 20 (1977), S. 307-322, bes. S. 312. CONSTANT J. MEWS: The Lost Love Letters of Heloise and Abelard, Perceptions of Dialogue in Twelfth-Century France (with Translations by NEVILLE CHIAVAROLI/CONTANT J. MEWS), New York 1999; DERS.: Philosophical Themes in the Epistolae duorum amantium, The First Letters of Heloise and Abelard. In: Listening to Heloise, The Voice of a Twelfth-Century Woman. Hrsg. von BONNIE WHEELER, New York 2000, S. 35-52; C. STEPHEN JAEGER: Ennobling Love. In Search of a Lost Sensibility, Philadelphia 1999, S. 160-164, 226-229. JAN ZIOLKOWSKI stellt eine – m. E. für die Internationalität der Forschung beunruhigende – geographisch-sprachliche Wasserscheide fest: Die Befürworter dieser Thesen „have been Anglophone, preponderantly in the United States of America and Australia, to a lesser extent in England. In contrast, the sceptics have been prevalently European.“ JAN ZIOLKOWSKI, Lost and Not Yet Found: Heloise, Abelard, and the Epistolae duorum Amantium. In: Journal of Medieval Latin 14 (2004), S. 169-200, hier S. 175. Diese Differenz dürfte mit dem unterschiedlichen Verbreitungstempo der ‚Internet-Kultur‘ einhergehen, die doch die wissenschaftliche Kommunikation eigentlich verbessern könnte und sollte, doch dort, wo sie zum Hauptinformationsmittel aufgestiegen ist, geradezu epidemisch beschleunigte Formen einer fama volans befördert, die alle kritische Prüfung und sorgfältige Diskussion unter Fachleuten „rechts überholt“.
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Frau; 3. die ausgetauschte Korrespondenz der beiden Liebenden ist kein Produkt des Schulunterrichts oder der literarischen Fiktion, sondern der authentische Briefwechsel von zwei Verliebten; 4. bei diesen beiden realen Personen kann es sich nur um Heloise und Abaelard handeln; 5. Johannes de Vepria hat diese Korrespondenz in der Bibliothek von Clairvaux vorgefunden oder aus dem benachbarten Nonnenkonvent Paraklet bezogen. Die Argumente für diese Behauptungen lagen nicht von Anfang an vollständig vor, sondern entwickelten sich allmählich in Reaktion auf aufkommende Zweifel. Der als Herausgeber und Kenner wissenschaftlicher Werke Abaelards anerkannte Philosophiehistoriker CONSTANT J. MEWS stellte erstmals die ‚vollendete Tatsache‘ in einem Buch mit dem Titel „The Lost Love Letters of Heloise and Abelard“ vor. Das Zuschreibungsproblem behandelt er fast nur im ersten Kapitel, das in der Hauptsache allgemein bekannte Beobachtungen über minimale biographische Ähnlichkeiten der Situation enthält, wie derjenigen, dass Abaelard und Heloise sowie das Paar der Liebesbriefe aus einem in Frankreich wirkenden, wegen seiner geistigen Überlegenheit angefeindeten Lehrer und dessen Verehrerin bestanden haben sollen, oder, dass der männliche Part eine sinnlichere, der weibliche eine geistigere Liebeskonzeption an den Tag lege. Da diese Charakteristiken ungefähr auf das berühmte Liebespaar des 12. Jahrhunderts passen, erscheint die behauptete These als „die einfachste Lösung“, die es uns erspart, nach anderen möglichen Kandidaten für eine nominelle Zuschreibung der fraglichen Liebesbriefe zwischen rund 1116 und 1471 zu suchen. Auffällig verharrt MEWS hier noch vorwiegend im Bereich eines ziemlich groben biographischen und ideengeschichtlichen Analogieschlusses. Die wenigen aus dem hinsichtlich historischer Angaben vollkommen abstrakten Werk ermittelten Daten sollen glaubhaft machen, dass während fast 400 Jahren einzig Abaelard und Heloise diesem rudimentären ‚Signalement‘ entsprochen haben können. Der weitere darstellende Teil des Buches, eine Einleitung zum Nachdruck der KÖNSGENschen Ausgabe mit englischer Übersetzung, bildet ein an sich lehrreiches Panorama des 12. Jahrhunderts. Die „Briefe eines Liebespaars“ stehen hier nicht mehr im Zentrum, sondern dienen eher hintergründig einer Art Als-ob-Geschichtsschreibung, die auf die Frage antwortet, wie das Hochmittelalter wohl aussähe, wenn diese Briefe tatsächlich von Abaelard und Heloise stammten. Diskutierbare Argumente für seine These hat MEWS später in einzelnen kleineren Beiträgen vorgebracht; sie beruhen insgesamt auf ein paar punktuellen lexikalischen Parallelen zwischen dem philosophisch-theologischen Werk Abaelards und den Liebesbriefen wie indifferenter, scibilitas, res universalis, affectus, die im Einzelnen bereits mehrfach als keineswegs zwingend verworfen worden sind, vor allem aber zusammen genommen eine viel zu schmale Ver-
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gleichsbasis für aussagekräftige Sprach- und Stilvergleiche darstellen. Insbesondere haben JAN ZIOLKOWSKI und GIOVANNI ORLANDI nun in zwei eben erschienenen Aufsätzen die acht monastischen Briefe von Heloise und Abaelard mit den „Briefen zweier Liebender“ systematisch nach Lexikon, Stil, Zitiertechnik, Cursus und Bildsprache verglichen. Sie kommen unabhängig voneinander zu dem Ergebnis, dass nach diesen literaturwissenschaftlichen Suchkriterien nichts die beiden Briefcorpora verbindet.6 Dieses Fazit leidet heute 2006 allerdings am Makel der Nachträglichkeit gegenüber den seit 1999 eilig im Internet verbreiteten Sensationsnachrichten, die dem englischsprachigen Publikum, wie ZIOLKOW-
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JAN ZIOLKOWSKI: Rez. C. MEWS, The Lost Love Letters. In: Mediaevalia et Humanistica 30 (2004), S. 152-156; DERS (Anm. 5); PETER DRONKE/GIOVANNI ORLANDI: New Works by Abaelard and Heloise? In: Filologia Mediolatina 12 (2005), S. 123-178. Vgl. auch bereits MICHAEL MECKLERs kritische MEWS-Rezension in: Speculum 78.2 (2003), S. 572-574 zu den nicht zwingenden „similarities in vocabulary“; zu einzelnen vermeintlichen Analogien s. auch die Anmerkungen in VON MOOS: Die Epistolae (Anm. 1), S. 7f., 43f., 73, 81f. Sogar MICHAEL T. CLANCHY, ein anfänglich engagierter Befürworter der These, fragt sich in der Einleitung zu seiner Neuausgabe der englischen Übersetzung in ‚Penguin Books‘: The Letters of Abelard and Heloise, übers. von BETTY RADICE, London 2003, S. LXXVII: „Is the coincidental use of a few words really significant?“ und verweist ebd. S. LXXXIV auf meinen Beitrag von 2003. Um hier nur nochmals das meist diskutierte scibilitas herauszugreifen, hat das Wort in der Stelle von Mulier (Ep. 53): De favo sapiencie si michi stillaret guttula scibilitatis, einen ganz anderen Sinn als bei Abaelard (Dialectica I 2, 3), der es passivisch auf das „Erkennbare, Wissensmögliche, was man wissen kann“ bezieht, während Mulier von einer aktiven „Fähigkeit des Erkennens, vom Wissenkönnen“ (einem „Tröpfchen Verständnis“) spricht. – Für die Ursache dieses Kurzschlusses zwischen kontext-entbundenen Einzelbegriffen hielt ich zuerst eine unkritische Verwendung elektronischer Datenbanken, doch das auf http://www.abc.net.au/rn/relig/spirit/stories/s99224.htm transkribierte Interview von MEWS (13. 2. 2000) lässt eher an eine extrem spezialistische Fixierung auf Abaelards sprachlogische Terminologie („words“) denken: „I was reading these letters again […] and I have to say that I got a cold chill down my spine, because some of the words that the man who seems to be a famous teacher, having a very literary type of relationship with a brilliant student of philosophy, these words, some of the words that he was using, I knew, because I had been studying Abelard’s logic and the development of his ideas on language for many years, in a very specialist environment.“ Die letztere Bemerkung erweckt allerdings auch den unguten Eindruck eines vor Unkundigen vorgebrachten Autoritätsarguments. Diesen Eindruck verstärkt JAEGERS vorerst noch ganz begründungslose Berufung auf das Buch von MEWS (in JAEGERS (Anm. 5), S. 275), „which places the ascription to Heloise and Abelard beyond question“, bei gleichzeitiger Mitteilung, er habe diese Arbeit erst in der letzten Phase der Drucklegung seines eigenen Buchs („when this manuscript was in its last stages“) kennen gelernt. Auch wenn der Germanist sich im Nachhinein um alle möglichen Argumente zur Abstützung dieses seines summarischen magister dixit bemüht hat (dazu s. gleich unten und Anm. 8, 23, 43, 52), scheint doch am Anfang eine beinahe publizistische Eile den Entscheid für die Zuschreibung beflügelt zu haben, als sei es darum gegangen, einen bereits fahrenden Zug nicht zu verpassen. Das ist, was ich unter ‚Internet-Kultur‘ (oben Anm. 5) verstehe.
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SKI moniert, den Fund der Liebesbriefe des berühmten Paars als eine unter Mediävisten unangefochtene „evidence“ anpriesen.7 Die für uns theoretisch interessantesten und provokantesten Aspekte steuerte der angesehene Germanist C. STEPHEN JAEGER zunächst in seinem Buch „Ennobling Love“ (1999) und in mehreren nachfolgenden Beiträgen bei,8 weil er in geradezu paradigmatischer Weise die einstige Echtheitsdebatte über die acht Klosterbriefe Abaelards und Heloises mit der jetzigen Zuschreibungsdebatte verknüpfte. Auf diesem Pfade folgte ihm der französische Historiker SYLVAIN PIRON, der kürzlich die französische Übersetzung der Epistolae duorum amantium besorgte.9 Ich fasse hier die weitgehend gleich lautende Argumentationsform beider Forscher zusammen. Ein bereits von MEWS angedeutetes „Argument“ wurde in zwei Denkschritten verschärft: Wenn die anonymen „Briefe eines Liebespaars“ nicht von Abaelard und Heloise stammen, wer sonst sollte sie dann geschrieben haben? Dies zu beantworten wäre viel komplizierter als die nahe liegende, einfache, elegante und ökonomische Annahme, sie stammen tatsächlich von dem berühmten Liebespaar. Hier werden zwei klassische Sophismen gekoppelt, die ich mit 1. ‚Umkehr der Beweislast‘ und 2. ‚facilior lectio‘ abkürze. Grundsätzlich ist niemand verpflichtet, eine unbewiesene Zuschreibung durch Alternativvorschläge zu wi-
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Die erste und einflussreichste Sensationsmeldung fand sich in der online-Rezension von BANEWMAN in: The Medieval Review (TMR) vom 6. Januar 2000 (s. hierzu die „Ideologiekritik“ von ZIOLKOWSKI, (Anm. 5), S. 177 und meinen Kommentar in: Heloise, Abaelard und ihr Paraklet 2002 (Anm.1), S. 568-77). NEWMAN äußert sich heute vorsichtiger in ihrer Besprechung der neuen Synthese von MEWS: Abelard and Heloise, Oxford 2005. In: HFrance Review 5, September 2005, Nr.102 (online): „Meanwhile, the skeptical position has been argued by Jan Ziolkowski in North America and Peter von Moos in Germany, the latter with a polemical fervor rivaling that of Abelard and his enemies. I do not wish to reenter the fray in this review, for Ziolkowski’s arguments in particular deserve a thoughtful and careful response. But in what follows I will adopt Mews’ usage and refer to the anonymous letter-writers [!] as if they were in fact Abelard and Heloise.“ Meine hier beanstandete Polemik (im Beitrag von 2002, nicht mehr jedoch in dem von 2003) richtete sich weniger gegen eine an sich diskutierbare wissenschaftliche Hypothese als gegen deren „akademisch unkorrekte“, d.h. die Diskussion gerade blockierende Propagierung als sensationelles fait accompli (so auch ZIOLKOWSKI, (Anm. 5), S. 178f. und unten bei Anm. 17). JAEGER (Anm. 5); DERS.: The Epistolae duorum amantium and the Ascription to Heloise and Abelard. In: OLSON/KERBY-FULTON (Anm. 1), S. 125-166; DERS.: A Reply to Giles Constable, ebd., S.179-186; DERS.: Epistolae duorum amantium nr. 66: A Victorious Teacher, his Conquered Rival, and his Rejoicing. Vortrag an der Medieval Academy, Seattle 2004, im Ersch. und online. Lettres des deux amants attribuées à Héloïse et Abélard, traduites et présentées par SYLVAIN PIRON, Paris 2005, bes. S. 7-28 (Présentation), S. 175-218 (Enquête sur un texte). Im übrigen ist inzwischen auch der Darstellungsteil von ‚The Lost Love Letters‘ in französischer Sprache erschienen: CONSTANT J. MEWS: La voix d’Héloïse: un dialogue de deux amants. Postface inédite, trad. par EMILE CHAMPS avec la collaboration de FRANÇOIS-XAVIER PUTALLAZ et SYLVAIN PIRON, Fribourg, Paris 2005; die „Postface“ in dem mir noch nicht zugänglichen Buch wird hier in der englischen Online-Fassung zitiert: Postscipt. The Epistolae duorum amantium and Discussions of Love in the Twelfth Century. Some Recent Debate. RABARA
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derlegen (1); die Rückkehr zur Anonymität genügt; sie ist sogar die einzige hinreichende und notwendige Gegenmaßnahme. Und ebenso grundsätzlich lassen sich Werke nicht durch einfache Gewaltstreiche einer Benennung leibhaftiger, insbesondere berühmter Autoren aus der Anonymität befreien (2), sondern nur mühsam auf dem schmalen Weg einer allmählichen, konsequent fortschreitenden Einkreisung bestimmter Textverwandtschaften unter gleichzeitiger Ausscheidung ‚falscher Verwandter‘. Sonst setzen wir das gerade im Mittelalter verbreitete unphilologisch- vorwissenschaftliche Verfahren der Zuschreibung von dubia et spuria an Kirchenväter und andere Berühmtheiten fort, nur weil wir den horror vacui der Anonymität nicht ertragen.10 Die Verteidigung der ‚facilior lectio‘ hat in diesem Fall einen wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund: Mehrfach zeichnete JAEGER das Schreckgespenst der komplizierten Fälschungshypothesen BENTONs und SILVESTREs hinsichtlich der acht berühmten Parakletbriefe an die Wand.11 Nur aus diesem Zusammenhang erklärt sich die sonst unverständliche Behauptung, eine so 10
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Vgl. in diesem Sinn auch ZIOLKOWSKI, (Anm. 5), S. 180f.: „The horror vacui that is understandable in nature must be avoided in the world of learning, where a principle comparable to ‚innocent until proven guilty‘ obtains: a text must be anonymous until the authorship has been firmly established. Otherwise our horror anonymitatis will transport us back to the Middle Ages, where poems were taken with abandon and attributed to Ovid, Walter Map, or other prestigious authors or legends.“; analog bereits VON MOOS, Die Epistolae (Anm. 1), S. 7. – Zuversichtlich stimmt jedoch in dieser Hinsicht die neue lateinisch-deutsche Ausgabe in der gediegenen Manesse Bibliothek der Weltliteratur: „Und wärst du doch bei mir“, Ex epistolis duorum amantium. Hrsg. von EVA CESCUTTI/PHILIPP STEGER, Zürich 2005, in der die Unzuschreibbarkeit des Werks ohne jegliche negative Konsequenz für dessen literarischen Wert schlicht als gegeben hingenommen wird. Über die Qualität dieser deutschen Übersetzung will ich mich hier allerdings nicht äußern. Ich danke EWALD KÖNSGEN für ein paar Bemerkungen hierzu, die in derselben Linie liegen wie seine feinsinnige Kritik bereits bestehender anderssprachiger Übersetzungen in KÖNSGEN (Anm. 2). Einzig zum Titel „Und wärst du doch bei mir“ sei angemerkt, dass er der bereits von PIRON (Anm. 9) in diesem Sinne missverstandenen preziösen Pointe des „Gute Nacht“-Wunsches aus der salutatio von Brief 15 entstammt : Cordi suo fidelissimus eius noctem candidam et utinam mecum, die CHIAVAROLI/MEWS (Anm. 5), noch richtig verstanden haben: „an unclouded night – would that it [the night] were with me.“ Zur diskurstypischen nox candida s. PAUL VEYNE, L’élégie érotique romaine, Paris 1983, S. 242. Eine Zusammenfassung dieser durch Historiker und Philosophiehistoriker (seit SCHMEIDLER und GILSON) entfachten jahrzehntelangen Debatte bietet JOHN MARENBON: Authenticity Revisited. In: WHEELER (Anm. 5), S. 19-34. Er versteht diesen Beitrag ausdrücklich als Fortsetzung meiner Arbeit ‚Mittelalterforschung und Ideologiekritik. Der Gelehrtenstreit um Heloise‘, München 1974. Dass die diesem Streit ab ovo zugrunde liegende Äquivokation von Fälschung, Fiktion und „réécriture“ – d.h. wesentlich literaturwissenschaftlich-philologischer Begriffe – heute immer noch nicht genügend durchdacht wird, habe ich in einem offenen Brief an JOHN MARENBON (Abaelard und Heloise (Anm. 1), S. 210-213) nochmals betont. Im Einzelnen bleibt nämlich nach wie vor ungeklärt, „wie, wann, durch wen, an welchen Stellen, in welcher Intention und für welches Publikum dieses echte Dossier zusammengestellt worden ist, da es auf keinen Fall eine reale im Originalzustand überlieferte Privatkorrespondenz darstellen kann.“ Auch hier liegt das letzte Wort noch lange nicht bei irgendeiner sancta simplicitas; vgl. hierzu auch unten Anm. 21.
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raffinierte ‚Fälschung‘, wie sie nötig gewesen wäre, um die Epistolae duorum amantium als Briefe Abaelards und Heloises zu fingieren, bzw. um sich als Mann in die Haut Heloises hineinzuversetzen, sei im Mittelalter ganz undenkbar. Jedem, der an der einstigen Echtheitsdebatte teilgenommen hat, fällt dabei unwillkürlich der geniale ‚Dritte‘ – bei SILVESTRE war es sogar Jean de Meun – ein, der die mit der Historia calamitatum eröffnete Briefreihe aufgrund anderer vorangehender Fälschungen oder Redaktionen gefälscht haben soll. Diese tatsächlich überkomplizierte Hypothese wurde zuletzt durch ihren ersten Urheber JOHN BENTON wieder mit dem in der Tat einfachen ‚common sense‘-Argument beseitigt, dass kein Fälscher bis in die letzten Einzelheiten den Stil Abaelards derart genau nachmachen könnte.12 JAEGER und PIRON haben bei der Neuauflage dieses Arguments allerdings übersehen, dass ihr Thema nicht eine vermeintliche Fälschung des Mittelalters, sondern eine rein mediävistische Zuschreibung der letzten Jahre darstellt13 und dass grundsätzlich Zuschreibungsprobleme auf das Gegenteil von Echtheitsproblemen hinauslaufen. FRANÇOIS DOLBEAU hat diesen Unterschied in einem meisterhaften methodenkritischen Beitrag erläutert:14 Authentizitätskritik ist ein bewährtes, bis auf die Antike zurückgehendes Prüfungsverfahren, mit dem die traditionelle Geltung einer Autorschaft akzeptiert oder verworfen wird. Erst mit der neuzeitlichen Philologie entstand das viel schwierigere Verfahren, anonyme oder unter mehreren Autornamen zirkulierende Texte durch einen komplexen Indizienbeweis ihren wahren Verfassern zurückzugeben. DOLBEAU äußert sich im übrigen zu den heutigen Chancen dieses zweiten Verfahrens eher pessimistisch: „Ich glaube nicht, dass es uns auf mittellateinischem oder anderem Gebiet gelingen wird, die Zahl der anonymen oder pseudepigraphischen Texte stark zu reduzieren“.15 Während die Beweislogik in der Echtheitskritik mit einem einfachen Entweder-Oder – ist der vermeintliche der wirkliche Autor oder nicht? – auskommt, erfordert die Zuschreibungskri12 13
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JOHN F. BENTON: The correspondence of Abelard and Heloise. In: Fälschungen im Mittelalter. Hrsg. von HORST FUHRMANN, Bd. V, Hannover 1988, S. 95-120, hier S. 98, Anm. 6 (gegen SILVESTRE gerichtet). CONSTABLE (Anm. 1), S. 1683 bemerkt dazu mit feiner Ironie: „Puisque les lettres ne sont attribuées ni à Abélard ni à Héloïse dans le texte pas plus que dans le manuscrit, ni probablement dans l’exemplar, elles ne peuvent être qualifiées de fraude, de contrefaçon ni de mystification au sens habituel du terme, à moins que les rédacteurs aient été assez subtils pour prévoir que les érudits pourraient, dans le futur, attribuer les lettres à Abélard et Héloïse“. F. DOLBEAU: Critique d’attribution, critique d’authenticité. Réflexions préliminaires. In: Filologia mediolatina VI-VII (1999-2000), S. 33-62; im übrigen ist der ganze Band dem Zuschreibungsproblem gewidmet; s. insbesondere auch PAUL GERHARD SCHMIDT: Perchè tanti anonimi nel medioevo? Il problema della personalità dell’autore nella fililogia mediolatina, ebd. S. 1-8, sowie FABIO TRONCARELLI: L’attribuzione, il plagio, il falso. In: Lo spazio letterario del Medioevo I, La produzione del testo, Bd. I, Roma 1992, S. 373-390. DOLBEAU (Anm. 14), S. 36: „je doute qu’on parvienne, dans le domaine médiolatin ou ailleurs, à réduire massivement le nombre des pièces anonymes ou pseudépigraphes.“
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tik gerade umgekehrt eine komplexe Dialektik von Spurensuche und Einkreisung des Ziels, ein Hin und Her zwischen Öffnung des Hypothesenfächers und Elimination unpassender Möglichkeiten, d. h. einen vom Allgemeineren – Milieu, Epoche, Region, Gattung – herab zum Besonderen, am Ende vielleicht sogar zu einem bestimmten Autor fortschreitenden Selektionsprozess. Selbst eine nicht bis zu diesem letzten Erfolg der Personalisierung, sondern nur bis zur approximativen Eingrenzung eines zeitlichen, geographischen und kulturellen Umfeldes (etwa einer „textual community“) gelangende Recherche, wäre ein historisch nützlicherer Beitrag als die nachträgliche, oft gar nicht mehr so ‚einfache‘ Abstützung einer fahrlässig aufgestellten Autorhypothese durch allerlei Hilfskonstruktionen. ‚Einfach‘ ist es, eine Fangfrage, wie die erwähnte, an den Anfang zu stellen: „wenn nicht Heloise, wer denn sonst?“ Dem Zweifelnden wird derart die Pistole auf die Brust gesetzt. Da ihm unmittelbar keine Alternative einfällt, soll er zustimmen. Eine in der Echtheitskritik halbwegs sinnvolle Frage wird damit in der Zuschreibungskritik zu einem bloßen Taschenspielertrick. Welche Unsicherheit die Vermengung dieser zwei Arten philologischer Kritik bei Nicht-Spezialisten erzeugen kann, zeigt ein Zeitungsartikel vom Februar 2005 über die französische Übersetzung der Epistolae beim renommierten Verleger Gallimard. Im Unterschied zu der in den Vereinigten Staaten sich wie ein Lauffeuer ausbreitenden Nachricht vom unbestreitbaren „Fund der Liebesbriefe“, stieß die These in Frankreich mehrheitlich auf Skepsis. Der Redaktor, der das Buch in „Le Monde“ anzuzeigen hatte, schrieb darum in sichtbarer Verlegenheit: „wenn die Authentitzität der Briefe auch kaum Zweifel bereitet, so zögern die Kenner doch, sie Heloise und Abaelard zuzuschreiben, auch wenn nichts dieser Hypothese radikal widerspricht.“16 Ich frage mich, was hier unter „Authentizität“ zu verstehen ist. Dass das Werk aus dem 16
Vgl. oben Anm. 5 zur unterschiedlichen Rezeption der Hypothese diesseits und jenseits des Atlantiks; PHILIPPE-JEAN CATINCHI: „Où est la très sage Héloïs“. In: Le Monde 11.2.2005: „Si l’authenticité ne fait guère de doute, les spécialistes hésitent à les attribuer à Héloïse et Abélard, même si rien ne contrarie radicalement l’hypothèse“. Der Artikel war nur zum Teil der Übersetzung von PIRON gewidmet, sondern galt in erster Linie dem neuen Buch von GUY LOBRICHON: Héloïse. L’amour et le savoir, Paris 2005, der einzig die Klosterbriefe Heloises heranzieht und die Epistolae duorum amantium als Quelle ausdrücklich ausschließt. Allein schon die gemeinsame Behandlung beider Briefkorpora kann den Nichtspezialisten in die Irre führen, wovor auch JACQUES LE GOFF in seiner Rundfunk-Sendung (Anm. 50) gewarnt hat, indem er die „vraies lettres“ von den anderen unterschied. Selbst in der mediävistischen Rezeption der Zuschreibungshypothese werden gelegentlich die echten acht Klosterbriefe des Paars und dessen vermeintlichen Liebesbriefe in verhängnisvoller Weise vermengt; besonders gravierend bei JOHN O. WARD/NEVILLE CHIAVAROLI: The Young Heloise and Latin Rhetoric: Some Preliminary Comments on the „Lost“ Love Letters and Their Significance. In: WHEELER (Anm. 5), S. 53-120, wo beide Briefwechsel unterschiedslos als biographisch-psychologische „Quellen“ nebeneinander benützt werden. Vgl. auch die sich darauf stützende Arbeit von JUANITA FEROS RUYS: Eloquencie vultum depingere: Eloquence and
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Mittelalter stammt? Dass es nicht von de Vepria oder irgendeinem modernen Hochstapler gefälscht wurde? Der vage Begriff kann beim uninformierten Leser nur Verwirrung stiften. Es braucht keine Spezialausbildung um zu wissen, was ein anonymer Text ist. Aber genau dies wird verschwiegen. Es wäre Sabotage der Marketing-Mediävistik, deren spezifische Perversion darin besteht, dem Publikum oder der „öffentlichen Meinung“ die Richterrolle über eine wissenschaftliche Streitfrage zuzuschieben, ohne die zur Diskussion stehenden Hauptpunkte auch nur anzudeuten. In Eile wird derart ein verlegerisch einträgliches Gerücht befestigt, das die Forschung hinterher nur noch mit Mühe argumentativ aus der Welt schaffen kann.17 Ich hatte ursprünglich, weder 1974 nach dem Erscheinen der Edition von KÖNSGEN noch 1999 nach der Neuauflage der Zuschreibungsthese durch MEWS vor, mich auf eine von vornherein falsch gestellte Frage einzulassen, da mir das Werk Abaelards, insbesondere sein mit Heloise vollendetes Briefwerk, intuitiv als vollkommen inkommensurabel mit den Epistolae duorum amantium erschien und ich die Identifikation dieser eigenartigen Korrespondenz mit den frühen Liebesbriefen des berühmten Paars nicht für eine nahe liegende, sondern vielmehr für „die unwahrscheinlichste aller Möglichkeiten“ hielt.18 Wenn ich mich schließlich vor zwei Jahren dennoch ausführlich zu Wort gemeldet habe (Anm. 1), so geschah es aus theoretischen Gründen, die mir wichtiger sind als der Anlass und die im übrigen auch etwas mit dem Tagungsthema „Schrift und Liebe“ zu tun haben. Hinter der vorschnellen Zuschreibung der Epistolae an Abaelard und Heloise, die GILES CONSTABLE und PETER DRONKE unabhängig voneinander als ‚wishful thinking‘ auf den Punkt brachten,19 stehen offenbar spezifische Bedürfnisse, vor allem der Wunsch nach seelischem Direktzugang zu mittelalterlichen Menschen und komplementär dazu die Unlust, sich lange mit den kommunikativen Bedingungen der Produktion und Rezeption der hierfür herangezogenen Texte, d. h. hier mit dem mittelalterlichen Briefwesen herumzuschlagen. Allgemeiner gesagt: Die Botschaft wird um
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Dictamen in the Love Letters of Heloise and Abelard. In: Rhetoric and Renewal in the Latin West 1100-1540, Essays in Hon. of JOHN O. WARD. Hrsg. von C. J. MEWS u. a., Turnhout 2003, S. 99-114. MARK CHINCA andererseits erwähnt in seiner Besprechung von JAEGERs Ennobling Love (in: Arbitrium 2002, S. 13-19, hier S. 15) Heloises „language of tragic selfsacrifice“, was sich eher auf ihre monastischen Briefe bezieht, obwohl der Autor von den Epistolae duorum amantium handelt. Ganz in diesem Sinne richtet auch ZIOLKOWSKI, (Anm. 5), S. 173-176, seine Kritik gegen die publizistische Umgehung der internen wissenschaftlichen Diskussion. Ich mache mir damit eine Formulierung wörtlich zu eigen, die ROLF KÖHN, einer der besten Kenner des mittelalterlichen Briefwesens, am 6. Januar 2002 in einem ausführlichen Brief an C.S. JAEGER gebraucht hat, um diesem weitere redundante „Apologien“ der Abalelard-Heloise-Hypothese auszureden. CONSTABLE (Anm. 1), S. 1691f.; DRONKE/ORLANDI (Anm. 6), S. 142.
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jeden Preis auf Kosten des Mediums bevorzugt. Hinzu kommt die Wiederkehr eines Romantizismus, dem wir seit langem den Heloisen-Mythos einer „großen Heiligen der Liebe“ verdanken und dessen pseudowissenschaftliche Auswüchse ich vor einem Vierteljahrhundert ideologiekritisch analysiert hatte. Dieser Trend verbindet sich nicht erst heute mit einer spezifischen gender-Variante, nach der Abaelard und die gesamte durch Männer kanalisierte Überlieferung die Stimme Heloises zum Schweigen gebracht haben sollen. Dank der Epistolae duorum amantium soll nun aber diese Stimme endlich wieder als seelische Realität unmittelbar hörbar geworden sein.20 Gewiss ist das Erkenntnisinteresse an leibhaftigen Autoren solange durchaus legitim, als deren Texte ohne Kurzschluss eine biographisch-psychologische Interpretation als ‚documents humains‘ zulassen. Während die Parakletbriefe, insbesondere der erste – Abaelards Historia calamitatum – immerhin eine Fülle von Realien (Ereignisse, Namen, ja Datierungen) zur Sprache bringen und dennoch nicht ohne den schwierigen Umweg über die intentio operis, d. h. nicht ohne die Rekonstruktion des kommunikativen Kontexts eines Klostergründungs-Dokuments interpretiert werden können,21 enthalten die wesentlich mehr phatischen als informativen Epistolae duorum amantium schlechthin keine konkreten Hinweise auf irgendwelche persönlichen Lebensumstände.22 Dies allein ist schon ein Indiz dafür, dass 20
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VON MOOS (Anm. 11), bes. S. 70-72 zu feministischen Projektionen auf Heloise zu Beginn des 20. Jhs.; vgl. auch DERS., Abaelard, Heloise und ihr Paraklet (Anm. 1), S. 565-577. CONSTABLE (Anm. 1), S. 1689f.; die daraus in Anm. 1 zitierte Stelle genügt im übrigen, um den erlebnisästhetischen Erkenntniswert dieser Briefe in Frage zu stellen. Theoretisch ausgezeichnetes „Gegengift“ gegen diese Tendenz enthält auch WALBURGA HÜLK: Schrift-Spuren von Subjektivität. Lektüren literarischer Texte des französischen Mittelalters, Tübingen 1999. Sehr erhellend, aber vielleicht zu subtil für biographistische Interpreten zitiert CONSTABLE (Anm. 1), S. 1689 hierzu eine eigene frühere Äußerung: „Même si les lettres sont authentiques au sens où elles furent écrites par Abélard et Héloïse […], elles furent reprises dans un ouvrage littéraire destiné à être lu dans son intégralité comme un récit rétrospectif.“ Eine plausible Möglichkeit einer solchen Literarisierung zu einem Parakletdenkmal zeigt neuerdings JACQUES DALARUN: Nouveaux aperçus sur Abélard, Héloïse et le Paraclet. In: Francia 32.1 (2005), S. 19-66; vgl. auch oben Anm. 11. Mit spürbarer Verlegenheit vermerkt eine Rezensentin von MEWS: The Lost Love Letters (Anm. 5), CHRISTINE CALDWELL, in: The History Teacher 35.2, 2002 (online), obwohl sie sich über den Wiedergewinn einer jener „all too easily lost voices of...women“ freut: „That lack of anchoring detail makes the letters less suitable for teaching. For secondary-school students and undergraduates, the Historia calamitatum and the later letters serve as a better introduction to Abelard and Heloise and to high-medieval culture. Despite these gifted lovers’ gorgeous and ingenious imagery („to a reddening rose under the spotless whiteness of lilies“), the letters’ insularity and opacity do not offer an accessible portal for younger students.“ Hier wird im Übrigen deutlich, welche Art von Publikumsbedarf durch die Zuschreibung an das berühmte Liebespaar gedeckt werden sollte. Im Vorwort zu The Lost Love Letters (Anm. 5), S. XII bekundet MEWS die Absicht, in einer Zeit schwindender Lateinkenntnisse etwas für die allgemeine Öffnung und Wiederbelebung von „literary and philosophical treasures jealously guarded by devoted scholars“ tun zu wollen, als ob latinistische Gralshüter die wahre Stimme Heloises für sensibel mitschwingende „undergraduates“ verborgen hätten.
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es sich hier im Sinne der historische Quellenkunde nicht um originale „Überreste“ handelt; denn diese verweisen im allgemeinen auf bestimmte Alltagssituationen, die der spätere ‚archäologische Leser‘ oft nicht mehr versteht, während für die Veröffentlichung redigierte „Traditions“-Texte sich gerade daran erkennen lassen, dass alle biographischen Details der ‚Verbrauchsrede‘ zugunsten einer verständlichen ‚Wiedergebrauchsrede‘ weggestrichen worden sind.23 In unserem Fall – einer extremen Situationsabstraktheit – bleiben vorerst einzig die Analyse des Texts und der Vergleich mit anderen Texten, die vielleicht die Einordnung in einen kulturellen Rahmen nach Raum und Zeit erlauben. Dies ist eine auch für Historiker durch die Überlieferungslage selbst gegebene leidige Notwendigkeit, nicht ein methodologischer Vorentscheid für den linguistic turn, den Text um Textes willen, das Diskursprimat oder sonst eine literaturtheoretische Mode. Zu allererst stellt sich die Frage, ob diese Briefe tatsächlich zwischen zwei Liebenden getauscht worden sind oder ob sie eine literarische Fiktion darstellen. Folgende Hauptgründe sprechen eher für ihren fiktionalen Charakter24:
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Vgl. MATHIAS BEER: „Wenn ych eynen naren hett zu eynem man, da fragen dye freund nyt vyl danach“: Private Briefe als Quelle für Eheschließung bei den stadtbürgerlichen Familien des 15. und 16. Jhs. In: Ordnung und Lust. Hrsg. von HANS JÜRGEN BACHORSKI, Trier 1991, S. 71-94; vgl. auch VON MOOS, Die Epistolae (Anm. 1), Anm. 111. Zur Unterscheidung von Verbrauchs- und Wiedergebrauchsrede, s. HEINRICH LAUSBERG: Elemente der literarischen Rhetorik, 3. Aufl., München 1967, S. 16f. – JAEGER zählt in seiner Reply to Giles Constable (Anm. 7) eine Reihe von „inconsistencies“, d. h. Stellen, die aus dem Kontext des jeweiligen Briefs allein nicht verständlich sind, auf, um daraus den privaten Charakter des Briefwechsels abzuleiten. Lücken und Verständnisschwierigkeiten habe ich in Die Epistolae (Anm. 1), S. 11-29 ebenfalls hervorgehoben, doch aus den Kürzungen de Veprias erklärt (zu JAEGERs Argument bes. S. 29). Hier ist zu ergänzen, dass das Inkonsistenzen-Register so gut wie nur ganz unspezifische Metaphern und Gefühlsäußerungen, aber keine der (in der Verbrauchsrede üblichen) konkreten Hinweise auf das Alltagsleben enthält. Man kann nicht einmal den Versuch feststellen, durch Anspielungen auf Ereignisse und Referenten außerhalb des Texts, dem Briefwechsel einen Realitätseffekt, ein „coloris de vérité“ zu geben, wie dies Guillaume de Machaut in seinem eindeutig fiktiven Voir Dit tut; vgl. dazu PAUL IMBS: Le „Voir-dit“ de Guillaume de Machaut: Etude littéraire, Paris 1991, S. 13 und HÜLK (Anm. 20), Kap. III, S. 149 ff.: Das Textbegehren des Guillaume de Machaut. Interessant ist hier auch die von WERNER PARAVICINI analysierte echte französische Liebeskorrespondenz des burgundischen Vogts Peter von Hagenbach (11 Briefe): Parler d’amour au XVe siècle: Pierre de Hagenbach et la dame de Remiremont. In: Académie des Inscriptions & Belles-Lettres, comptes rendus, juillet-octobre 2003, Paris 2003, S. 1277-1293, weil hier sorgfältige historische Rekonstruktionsarbeit trotz aller Geheimhaltungsstrategien der Verfasser (bis hin zur Anonymität der adeligen Stiftsdame aus Remiremont) doch einige sehr konkrete Fakten und Datierungen erschließen ließ (wie etwa die Schlacht von Buxy vom 14. März 1471). In Die Epistolae (Anm. 1), S. 11-37 habe ich andere Argumente, hauptsächlich Widersprüche in den vagen Anspielungen auf Lebensumstände (wie Altersangaben, Status-Zugehörigkeit, Trennungen und Begegnungen) hervorgehoben. Ein weiteres Argument dieser Art lässt sich
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die Anzahl der Briefe stellt unter den erhaltenen Korrespondenzen des lateinischen Mittelalters ein absolutes unicum dar: (je nach Zählung) 113 oder 118 Briefe und vielleicht noch wesentlich mehr, da sie etwa zur Hälfte durch den Kopisten de Vepria als fragmentarisch gekennzeichnet sind und wir nicht wissen, wie viele Briefe der Vorlage er, ohne es zu vermerken, übersprungen hat. Ganz abgesehen vom Sonderfall der Privat- und Liebesbriefe, werden mittelalterliche Briefe nach Empfänger – oder Absenderüberlieferung gesammelt, überarbeitet und veröffentlicht. Fast nie handelt es sich dabei um Briefwechsel, sondern nur jeweils um eine Hälfte von Korrespondenzen. In den seltenen Fällen, zu denen gerade auch die Klosterbriefe Abaelards und Heloises gehören, überschreiten eigentliche Briefwechsel kaum je vier Briefpaare, also acht Briefe. Die Geschichte des Liebesbriefs, die bisher einzig ERNSTPETER RUHE monographisch behandelt hat,25 erfährt mit der reifen Ars dictaminis seit dem späten 12. Jahrhundert ihren ersten Aufschwung (hauptsächlich in fiktionalen Musterbriefen wie denen der Rota Veneris des Boncompagno), doch noch im 13. Jahrhundert lassen sich auch in dieser Gattung niemals eigentliche Korrespondenzen von mehr als acht Briefen nachweisen. Originalbriefe oder Autographen finden sich im Mittelalter ausgesprochen selten, und dann fast nur als zufallsbedingte ‚Überreste‘. Sie gehören zur Alltagsarchäologie, wie etwa jenes echte „Billet doux“ des Jean de Gisors an eine geliebte Aélis aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, das in einer Mauernische der Kirche St-Pierre auf dem Montmartre gefunden worden ist.26 Vermutlich ist ein beträchtlicher Teil mittelalterlicher Briefautographen endgültig verloren. Die Existenz mittelalterlicher Privatbriefe (wohl mehr volkssprachlicher als lateinischer) ist gewiss nicht von der Hand zu weisen, auch wenn man über deren reales Ausmaß nur spekulieren kann. Erst sehr spät und vereinzelt finden sich Originalbriefsammlungen wie in den für das Mittelalter keineswegs typischen Strozzi- oder Paston-
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aus den Briefen 32 und 33 gewinnen: In dem ersten beglückwünscht die Frau den Partner zur Genesung, die genau mit dem Frühlingsbeginn zusammenfällt (der letzte Schnee ist geschmolzen); im nächsten Brief antwortet der Mann, er müsse wegen der Sommerhitze seine Trägheit überwinden und einen novus dictandi fervor entfachen. Diese Zusammenstellung von Jahreszeiten erinnert vor allem an Artes dictandi mit ihren zur Option gestellten Briefthemen, nicht an eine reale Abfolge eines Sommerbriefs Monate nach einem Frühlingsbrief. ERNSTPETER RUHE: ,De amasio ad amasiam‘. Zur Gattungsgeschichte des mittelalterlichen Liebesbriefes, München 1975 (Beiträge zur romanischen Philologie des Mittelalters 10). ROLF KÖHN: Dimensionen und Funktionen des Öffentlichen und Privaten in der mittelalterlichen Korrespondenz. In: Das Öffentliche und Private in der Vormoderne. Hrsg. von GERT MELVILLE/PETER VON MOOS, Köln u. a. 1998 (Norm und Struktur 10), S. 309-358, hier S. 338; zu den Paston-Archiven vgl. REBECCA KRUG: Reading Families, Women’s Literate Practice in Late Medieval England, Ithaca, London 2002.
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Archiven.27 Zu bedenken ist auch der materialgeschichtliche Wandel vom kostspieligen Pergament zum preisgünstigeren Papier, der seit rund 1300 allmählich auch zu einer wunderbaren Briefvermehrung führte. Dass nun die Epistolae duorum amantium eine zwar große aber „nichtsdestoweniger existierende“ Ausnahme einer aus dem frühen 12. Jahrhundert stammenden kontinuierlichen und originalen Privatkorrespondenz darstellen sollen, ist, selbst wenn man die Zuschreibung an Heloise und Abaelard vergisst,28 für jeden mediävistischen ‚common sense‘ ganz einfach des Guten zuviel. Entschieden näher liegt da der Vergleich mit einem Meisterwerk der französischen Literatur des Spätmittelalters, dem Voir dit Guillaumes de Machaut von 1364, einer aus einem Liebesbriefwechsel von 109 Briefen und Gedichten bestehenden fiktiven Autobiographie oder vielmehr eines Briefromans als „Gattungsgrab“.29 Man kann bei unseren Epistolae erst recht nicht mehr an eine solch immense originale Liebeskorrespondenz glauben, wenn man ein paar Einzelheiten zum Schreibprozess herausgreift: Die zwei Liebenden geben zu verstehen, dass sie ihre zahlreichen Briefe auf Wachstäfelchen mit Hilfe eines Boten hin und her senden, und dass sie diese überdies (wohl zum Schutz gegen neugierige Neider) versiegeln.30 Diese Hinweise auf Sicherheitsmaßnahmen enthalten eine contradictio in adiecto und eine kodikolo-
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Ebd. S. 326f., 331f. Am meisten ist bisher für die Erschließung deutscher Privatbriefe des Spätmittelalters getan worden durch GEORG STEINHAUSEN: Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes. 2. Aufl., 2 Bde., Berlin 1889-1891 (Nachdruck: Dublin u. Zürich 1968). Ähnliche Arbeiten stehen, wie PARAVICINI (Anm. 23), S. 1293 dies kritisch vermerkt, für den gleichzeitigen französischen Privatbrief noch weitgehend aus. Die einzelnen „Privatbriefe“ hochgestellter Persönlichkeiten beiden Geschlechts im ,Recueil de lettres Anglo-Françaises‘ (1265-1399). Hrsg. von F. J. TANCQUEREY, Paris 1916 sind eher als halb-öffentliche Briefe anzusehen. CONSTABLE (Anm. 1), der dieselben medialen Argumente in den Vordergrund stellt, spitzt die ‚deductio ad absurdum‘ noch im Sinne der Zuschreibungshypothese konkret so zu (S. 1689): „La raison pour laquelle Abélard et Héloïse se seraient écrit si fréquemment et si longuement à une époque où ils étaient censés vivre sous le même toit et se voyaient chaque jour est obscure.“ Man kann dies mit der lapidaren Feststellung PARAVICINIs (Anm. 23), S.1281 ergänzen: „On ne s’écrit que si l’on est séparé: cause évidente de toute correspondance.“ Guillaume de Machaut: Le livre du Voir dit. Hrsg. von JACQUELINE CERQUIGLINI-TOULET, Paris 1999 (Lettres gothiques 4557). DIESELBE: Le Livre du Voir Dit. Un art d’aimer, un art d’écrire, Paris 2001; Guillaume de Machaut 1300-2000, Actes du Colloque de la Sorbonne. Hrsg. von J. CERQUIGLINI-TOULET/N. WILKINS, Paris 2002. Eine Forschungsanthologie 1898 bis 2001 bietet: „Comme mon coeur désire“. Guillaume de Machaut, Le Livre du Voir Dit. Hrsg. von DENIS HÜE, Orléans 2001; vgl. auch IMBS (Anm. 23); HÜLK (Anm. 20), S. 161-165 zur Bestimmung als „Briefroman“ und zur neuen Liebes-Metaphorik des Schreibens auf Papier im Vergleich mit dem Schreiben auf Pergament. Ep. 14 (Vir): Si tabulas tuas, dulcissima, diutius retinere michi liceret, plurima scriberem, sicut plurima occurrerent; Ep. 37 s. unten bei Anm. 42-43; Ep. 38a (Vir): iam facio finem concludens ista sigillo.
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gische Absurdität. Wenn die Geheimhaltung durch Löschen und Überschreiben der Wachstäfelchen gesichert werden soll, wozu dann noch eine Versiegelung dieses ephemeren Schriftträgers? Abgesehen davon gibt es keinen einzigen sonstigen Beleg für eine mittelalterliche Praxis des Versiegelns von Wachstäfelchen. Schwieriger ist die Frage nach dem realen Briefverkehr auf Wachstäfelchen zu klären. Obwohl die Spezialistin für frühund hochmittelalterliche tabulae Elisabeth Lalou diese Frage rundweg verneint, da solche Täfelchen ausschließlich für Entwürfe, Rechenoperationen und im Schreibunterricht verwendet worden seien,31 gibt es vereinzelte Belege dafür, dass dieses Geheimhaltungsverfahren dennoch gelegentlich auf offizielle Briefe etwa mit brisanten politisch-militärischen Mitteilungen angewandt wurde.32 Noch ungeklärt ist aber die Frage, ob, wann und wo im Mittelalter das antike Verfahren weiter gewirkt hat, Liebesbriefe aus Diskretion auf Wachstäfelchen auszutauschen. Jedenfalls ist Lalou zuzustimmen, dass fast alle darauf bezügliche Aussagen von Baldrich von Bourgueil bis zu Boccaccio nicht beim Wort zu nehmen sind, sondern sich als metaphorisches Spiel mit literarischen Reminiszenzen aus der antiken Liebeslyrik erklären.33 Dennoch ist die Frage in einem archäologischen Sinne ernst zu nehmen, da in der klösterlichen Normierungsliteratur seit der Benediktinerregel der private Empfang nicht nur von Briefen im Allgemeinen, sondern auch von Wachstäfelchen im Besonderen ausdrücklich verboten wird, so
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Ep. 62: Tempus es […] .ut has amaras atque flebiles descriptiones proiciamus, secundis autem et letioribus manus cere imprimamus. Ep. 69 (Mulier): hos, rogo, ne versus oculus legat invidiosus. Man könnte auch annehmen, dass diese Stellen nichts miteinander zu tun haben, dass das eine Mal auf Wachs geschrieben, das andere Mal Pergament versiegelt wurde. Aber das ändert nichts an der Unwahrscheinlichkeit beider Vorgänge, wie dies schon CONSTABLE (Anm. 1), S. 1688 nachdrücklich hervorgehoben hat. E. LALOU: Les tablettes de cire médiévales. In: Bibliothèque de l’École des Chartes 147 (1989), S. 123-140; DIESELBE: Inventaire des tablettes médiévales et présentation générale. In: Les tablettes à écrire de l’Antiquité à l’Epoque Moderne, Turnhout 1992, S. 233-285; CONSTABLE ( Anm. 1), S. 1688f; RICHARD H. ROUSE/MARY A. ROUSE: Wax Tablets. In: Language & communication 9 (1989), S. 175-191. Vgl. Lampert von Hersfeld (ad annum 1075) über Anno von Köln (ed. HOLDER-EGGER, MG Scr. Rer. Germ. 1894, S. 247): Alii cuidam, quem beneficiis suis maxime fidum sibi obnoxiumque fecerat, familiares litteras a seipso in tabulis propter maiorem secreti cautelam conscriptas dedit episcopo […]. Meinhard von Bamberg (ed. ERDMANN, MG Briefe... 1950, Ep. 77) spricht von litteras tabulares in quibus ego me […] pro te ipso […] intercessor opposui. Ich verdanke diese Referenzen ROLF KÖHN. Zur ovidischen Topik vgl. RUHE (Anm. 25), S. 80-82, 218; ROUSE/ROUSE (Anm. 31), S. 176; FRANCESCO BRUNI: L’ars dictandi e la letteratura scolastica. In: Storia della civiltà letteraria in Italia, dalle Origini al Trecento. Hrsg. von G. BARBERI SQUAROTTI, u. a., Bd. I, 2, Torino 1990, S. 155-210, hier S. 183f. (zum Floire et Blacheflor-Stoff bei Boccaccio); HÜLK (Anm. 20), S. 113f. zur Clef d’Amors,v. 3049f.: „S’en parchemin ne pués escrire / ton desir porras metre en chire“. Zur Wachstafelmetaphorik vgl. auch ALEIDA ASSMANN: Zur Metaphorik der Erinnerung. In: Memnosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Hrsg. von DIESELBE/DIETRICH HARTH, Frankfurt a. M. 1991, S. 13-35.
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etwa in der Regel Humberts von Romans für Dominikanerinnen von 1259.34 Ein Visitationsbericht eines nordspanischen Bischofs aus dem 13. Jahrhundert beanstandet, dass eine Nonne von Las Dueñas offenbar auf Wachs geschriebene Briefe eines Jünglings (also wohl Liebesbriefe) erhalten hat.35 Ich kenne einstweilen keine Parallelen. Bei dem analogen Disziplinarfall der sog. Söflinger Liebesbriefe aus dem 15. Jahrhundert handelt es sich um Papierbriefe.36 Doch wie immer, in all diesen Zeugnissen geht es um Einzelbriefe, nicht um ganze Korrespondenzen. Unser Briefwechsel hingegen zeigt auch darin wiederum seinen fiktiven Charakter. Wenn Wachstäfelchen dadurch eine gewisse Sicherheit gewähren, dass ihr Inhalt nach der Lektüre gelöscht werden kann, aus welcher Vorlage hat dann Johannes de Vepria 1471 diese über hundert Briefe bezogen?37
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Vgl. etwa die Regel für Dominikanerinnen (1259) durch Humbert von Romans. In: Analecta s o. fr. Praedicatorum 3 (1897), S. 337-348, hier S. 341: Item nulla mittat vel recipiat sine licencia litteras vel cedulam scriptam eciam sine sigillo, nec eciam scriptum aliquod in tabulis vel in cera, nisi magistro vel priori provinciali vel vicario. […] de auditu dixit quod Catherina recepit tabulas cereas a quodam juvene scriptas, zit. nach MARY GARRISON: „Send more socks“. On Mentality an Preservation Context of Medieval Letters, in: New Approaches to Medieval Communication. Hrsg. von MARCO MOSTERT, Turnhout 1999, S. 69-99, hier S. 97; ausführlich zu diesem Visitationsbericht s. PETER LINEHAN: The Ladies of Zamora, Manchester 1997, S. 48-50 und ebd. Anm. 24. MAX MILLER: Die Söflinger Briefe und das Klarissenkloster Söflingen bei Ulm a. D. im Spätmittelalter, Würzburg 1940. Dasselbe gilt von dem französischen Liebesbriefwechsel zwischen Peter von Hagenbach und der Remiremonter Kanonissin (Anm. 23), die erstaunlicherweise ihre Briefe nicht selber schrieb, sondern diktierte und sie danach dank mehrfacher Faltung im Taschenformat mit Hilfe von Vertrauensleuten ans Ziel bringen ließ. Im übrigen danke ich LUDGER LIEB für den Hinweis auf einen etwa gleichzeitigen Skandal, die 12 in betrügerischer Absicht geschriebenen Liebesbriefe, die Hermann Konemund unter dem Namen einer Bürgerin dem Göttinger Schulrektor Curt Hallis schickte, erhalten als Anlage zum Notariatsprotokoll des Geständnisses vor Gericht. Hrsg. von GUSTAV SCHMIDT: Erdichtete Liebesbriefe des XV. Jhs. in niederdeutscher Sprache. In: Germania (Wien) 10 (1965), S. 385-394. Sowohl in diesem Fall wie bei den Söflinger Briefen verdanken wir die Überlieferung einzig der gerichtlichen Konfiskation und Archivierung. Auch Hagenbachs Korrespondenz wurde nach dessen Enthauptung 1474 unter Herzog Sigismund mit dem übrigen Schriftgut beschlagnahmt und in Innsbruck aktenmäßig archiviert; grundsätzlich zu den geringen Überlieferungschancen von Liebesbriefen vgl. PARAVICINI (Anm. 23), S. 1278f. und S. 1293 und PAUL GERHARD SCHMITT, Editoren als Zensoren. In: Mittellateinisches Jahrb. 40,3 (2005), S.431-443. Im Vergleich mit diesen Beispielen echter Korrespondenzen wirkt unser wie ein Dialog zwischen V und M angelegter Briefwechsel vollends wie eine virtuose Schulübung. Seine Überlieferung führt nicht in Gerichtsarchive, sondern ins Skriptorium eines Klosters, das seit Transmundus zu den Zentren formvollendeter Ars dictaminis nördlich der Alpen gehörte. Auf Anfrage schrieb mir die Spezialistin für Siegelkunde BRIGITTE BEDOS-REZAK hierzu dankenswerterweise: „Il y a un aspect de la correspondance des deux amants que je ne saisis guère. Si le texte de leurs lettres était effacé au reçu, quelle est la source des lettres recueillies dans le manuscrit du XVe siècle? […] En tout cas, la sécurité offerte par les tablettes de cire (Lampert de Hersfeld et Meinhard de Bamberg) devait bien tenir au fait que leur contenu pouvait être effacé sans laisser de traces.“
Vom Nutzen der Philologie für den Umgang mit anonymen Liebesbriefen
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Wenn wir uns im Sinne der Hypothese ins frühe 12. Jahrhundert zurückversetzen, wäre die einzig mögliche Antwort, dass einer der beiden Partner die eigenen Briefe und die Antworten des anderen systematisch aus den Wachstäfelchen auf Pergament übertragen hätte. Dabei müsste man ein beachtliches Kopiertempo annehmen. Denn aus dem Briefgedicht Nr. 87: transiit annus ex quo tuus me sibi vinxit amor („Ein Jahr ist vergangen, seit [in dem] mich deine Liebe besiegt hat“) – das man freilich auch bloß als einen poetischen Geburtstagwunsch lesen könnte – ergibt sich nach der faktenpositivistischen Lektüre der Hypothese-Befürworter, dass die Korrespondenz hier nun genau ein Jahr alt ist.38 In einem Jahr also wären mindestens 87 Briefe (wegen der fragmentarischen Überlieferung vielleicht auch wesentlich mehr) auf Wachstäfelchen geschrieben, verschickt, gelesen, gelöscht und überdies wie in einer päpstlichen Kanzlei vollständig in ein ‚Register‘ übertragen worden.39 Schließt man die Zuschreibung an Heloise und Abaelard aus, so bleibt immer noch die Frage, ob eine solche Menge oft inhaltsloser, aber stets preziös-hochartifizieller Liebesbriefe in der Vorlage de Veprias auf Pergament oder auf Papier standen. Nur sehr reiche Briefschreiber oder deren öffentlich anerkannte ‚Textgemeinschaften‘ (Klöster, fürstliche Kanzleien) hätten sich den Luxus eines solchen privaten Briefbuchs im Zeitalter des Pergaments leisten können, aber im Zeitalter des Papiers dürfte das tautologisch-repetitive Ausufern des erotischen Diskurses kein Problem mehr dargestellt haben; ebenso hat sich dann natürlich der komplizierte Umweg über Wachstäfelchen erübrigt.40 Jedenfalls benützen Euryalus und Lucretia in De duobus amantibus historia des Enea Silvio Piccolomini für ihre Geheimkorrespondenz gewöhnliches Papier.41 Guillaume de Machaut andererseits war vom adeligen Publikum und Mäzenat derart begünstigt, dass er seine scheinbar intimen Kunstprodukte, sein „art de vivre en poésie“ (wie Michel Zink treffend sagt) auch in Prachtausgaben verbreiten konnte.42
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Vgl. in diesem Sinn WARD/CHIAVAROLI (Anm. 16), S. 81. Vgl. auch CONSTABLE (Anm. 1), S. 1688f. Zur medialen Alterität des mittelalterlichen Briefwesens vgl. P. VON MOOS: Briefkonventionen als verhaltensgeschichtliche Quelle. In: DERS., Rhetorik, Kommunikation und Medialität, Gesammelte Studien zum Mittelalter, Bd. 2. Münster 2006, S. 173-204. Hrsg. von H. RÄDLE, Stuttgart 1993, S. 30f.: Lucretia zerreißt, wie es sich gehört, den ersten empfangenen Liebesbrief, setzt ihn jedoch hinterher wieder wie ein „Puzzle“ zusammen, um ihn zu lesen und zu küssen. MICHEL ZINK: Littérature française du Moyen Age, Paris (puf) 1992, S. 279. GILLES ROQUES: Tradition et innovation dans le vocabulaire de Guillaume de Machaut. In: Guillaume de Machaut. Poète et compositeur, Paris 1982, S. 157-173, hier S.158, fand im Voir-Dit die erste auktoriale Bezeugung des Begriffs „Papier“ im modernen Sinn: „Guillaume de Machaut ouvre l’ère des écrivains sur papier“; nach HÜLK (Anm. 20), S. 161.
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Ein besonders anschauliches Detail zur „Liebesbrieftechnik“ oder brieflichen Verschriftlichung von Liebe bietet Brief 37 unserer Korrespondenz. Der ‚Mann‘ behauptet hier, er habe sich in Anwesenheit des Boten aus Kummer aufs Bett geworfen, nicht etwa nach der Lektüre des Briefes der ‚Frau‘, was verständlich wäre, sondern nachdem er selbst deren Wachstäfelchen gelöscht und mit eigenen Worten vollgeschrieben hat: „Frage den Boten, was ich tat, nachdem ich den Brief zu Ende geschrieben hatte: genau hier habe ich mich vor Ungeduld aufs Bett geworfen.“ (Interroga nuncium quid egi, postquam litteras perscripsi: ilico certe in lectum pre inpatiencia me conieci) Wie soll man sich dies vorstellen? Der Bote wartet das Ende des Schreibakts ab, aber macht sich erst auf den Weg, nachdem er Zeuge des anschließenden emotionalen Schubs geworden ist; der Schreiber weiß schon während des Schreibens, wie er danach vor dem Boten zusammenbrechen wird. Außerhalb der literarischen Fiktion wäre dies doch wohl eine etwas allzu vorausbedachte und inszenierte Spontaneität. Durch diese körperliche Pose oder Geste wird hier nicht nur die Liebe ‚codiert‘, sondern auch das Briefschreiben, das Liebesbriefschreiben selbst dramatisch in Szene gesetzt.43 Dies führt mich zu einem letzten Punkt, den ich nochmals hervorheben möchte: den überall spürbaren, massiven Einfluss einer sehr späten, ausgereiften, vielleicht sogar überreifen Ars dictaminis aus der Umwelt
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Ich glossiere damit eine Bemerkung von MONIQUE GOULLET in dem Anm. 50 erwähnten Referat: „La précision de ce détail tranche tellement avec le caractère abstrait et elliptique du reste qu’on est tenté d’y voir là encore une ,pose‘, une sorte de posture codifiant l’amour.“ Interessant ist hier die Problem-Lösung JAEGERS, (Anm. 8), S. 130, 154, Anm. 48, der sich alle Möglichkeiten eines nachträglichen „Postscriptums“ vorstellt (entweder hat der Mann dem Boten befohlen zu warten, um hinterher noch diesen Satz auf die Wachstafel zu schreiben, oder der Bote verzögerte seine Abreise aus irgendeinem anderen Grund, sodass Zeit für einen Nachtrag blieb, oder der Mann wies den Boten an, die Szene, wie beschrieben, zu erzählen, gleichviel ob sie wirklich stattgefunden hat oder nicht.) Vergessen hat er einzig die Möglichkeit, dass der „Mann“ zwischen dem Lesen und Antworten noch eine Kopierphase eingeschaltet haben könnte, um den Inhalt des Wachstäfelchens von „Frau“ auf Pergament oder Papier zu übertragen. Wenn wir auf kriminalistische Spekulationen über die einzelnen Umstände eines vermeintlichen „Briefwechsels“ verzichten und nur gelten lassen, was in dem Text selbst steht, so erübrigt sich das Postscriptum-Konstrukt. Man kann mit JAEGER zweifellos den Eindruck einer „rash, impatient and impetuous personality“ gewinnen, ohne dass dadurch entschieden wäre, wer diese literarische Inszenierung einer „ungestümen Persönlichkeit“ an welche Adresse richtet, an die Frau als Briefempfängerin oder den Leser des Briefdialogs, wenn es sich nicht gar bloß um eine rhetorische Stilübung in der Ethopoiie handeln sollte. CONSTABLE (Anm. 1, S. 1688) schließt aus dieser Stelle, selbst wenn sie erst nach dem Brief geschrieben worden wäre, auf die geringe Spontaneität der ganzen Korrespondenz angesichts einer möglicherweise vom männlichen Partner besorgten Kopialüberlieferung. Nichts ist in der Tat unwahrscheinlicher als die Hintergrundannahme, dieses umfangreiche Briefwerk sei ein Austausch echter, unüberarbeiteter Autographen.
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Petrarcas und Boccaccios, die bereits raffinierte Regeln für das Abfassen von Liebesbriefen ‚mit Realitätseffekt‘ ausgedacht hat, und von der FRANCESCO BRUNI mit Recht sagte, sie sei aus einer ars dictandi zu einer eigentlichen ars amandi geworden.44 Unsere Briefsammlung sieht auf den ersten Blick wie ein Briefsteller aus, der mit einfachen Salutations- und Schlusswunschformeln beginnt und zusehends komplexere, emotionell und intellektuell aufwendigere Themen aufgreift. Fest steht, dass sie der Zisterzienser de Vepria mit stilistischem Interesse wie einen Briefsteller ausgebeutet und damit vielleicht ‚missbraucht‘ hat. Doch bei genauerem Hinsehen finden wir in seiner Vorlage etwas ganz anderes als eine Musterbriefsammlung, nämlich vielmehr das, was GÉRARD GENETTE „Literatur im zweiten Grad“, „Palimpsest“ oder „Pastiche“ nennt.45 Die Musterbriefe der einstmals so pragmatischen ars dictaminis sind hier nur der Vorwand
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BRUNI (Anm. 33), S.182 (Überschrift); VON MOOS, Die Epistolae (Anm. 1), S. 45-59 zu Bichilinus u. a. Liebesbrief-Theoretikern. Allgemein zum Thema „Liebeskunst“ und Literatur vgl. z. B. PETER L. ALLEN: The Art of Love. Amatory Fiction form Ovid to the Romance of the Rose, Philadelphia 1992; MICHÈLE GALLY: L’intelligence de l’amour d’Ovide à Dante. Arts d’aimer et poésie au Moyen Âge, Paris 2005. GÉRARD GENETTE: Palimpsestes, La littérature au second degré, Paris 1982. – MEWS, (Anm.7), S. 64 wendet dagegen ein: „While individual love letters, written in Latin, were sometimes included as models of style by theorists of prose composition in the later twelfth and thirteenth centuries, the Epistolae duorum amantium testify to the practice of the art of composition (ars dictaminis) already richly developed in the eleventh century before theorists of the art sought to impose precise Ciceronian rules in epistolary manuals […]“ Grundsätzlich geht in der Tat jegliche literarische Praxis deren präzeptiven Theoretisierung voran, und gerade die Regelkunst der frühen ars dictaminis ist gegenüber der hochentwickelten Briefrhetorik der vorangehenden Zeit keine „Revolution“, sondern eine Fortsetzung auf pragmatisch-einfacherem Niveau, wie ich dies selbst seit meiner Arbeit über einen der größten mittelalterlichen Meister der Briefkunst, in ‚Hildebert von Lavardin 1056-1133‘ (Stuttgart 1965), immer wieder gegenüber einer verbreiteten Überschätzung der ars dictandi vertreten habe (zuletzt wieder in ‚Briefkonventionen...‘ (Anm. 40), S. 185f.). Doch die Entstehung dieser italienischen Kunstlehre im späten 11. Jahrhundert ist hier nicht das Thema, sondern deren spätere intensive (nicht bloß „gelegentliche“) Spezialisierung auf den Liebesbrief (13.-14. Jh.) mit einer ganz eigenen und unverkennbaren Topik und Intertextualität (s. dazu ausführlich Die Epistolae (Anm.1), S. 45ff.), von der im frühen 12. Jh. noch nichts zu spüren ist. Diese seit rund 1200 zusehends autonom werdende Diskurstradition der epistola amatoria macht uns die Unterscheidung von ‚echten‘, real ausgetauschten Briefen und literarischen Fiktionen oder stilistischen ‚Fingerübungen‘ vor allem deshalb so schwer, weil beides im Laufe der Zeit sich innerhalb einer Konvention oder Mode wechselseitig beeinflusst hat. Aus der allgemeinen Weisheit über die zeitliche Prioriät der Praxis vor der Theorie ist in unserem bestimmten Fall also kaum ein tragfähiges Argument zu gewinnen. Viel eher ließe sich die Denkfigur umkehren: Der exzessive, oft beinahe phatische Manierismus der Epistolae duorum amantium setzt schlichtere Vorformen in der ars dictaminis voraus. Bevor ein l’art pour l’art sich entwickeln kann, muss es überhaupt erst einmal Kunst und Kunstlehre geben.
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oder das Substrat für deren literarische „mise en abîme“.46 Wenn in Brief 9 die Frau sich mit aller Inbrunst wünscht, eines Tages das Antlitz des geliebten Mannes zu sehen, so ist anzunehmen, dass sich die beiden noch nie körperlich begegnet sind und dass mulier ihren vir nur vom Hörensagen kennt, d. h. wegen seiner Berühmtheit, wie dies der 50. Brief des Mannes denn auch ausdrücklich sagt: Tu […] me ob aliquam bonam opinionem, quam de me habuisti, me in tuam noticiam vocare dignata es.47 Dies erinnert wiederum an den bereits erwähnten Liebesbriefwechsel Voir Dit des Guillaume de Machaut, wo die jüngere Peronnelle die Initiative ergreift, dem ihr persönlich unbekannten und nur aus der fama bekannten Dichter und Musiker, dem schon über sechzigjährigen Chorherrn von Reims, Liebesbriefe zu schreiben.48 In beiden Fällen wird die Liebe durch die Schrift gespeist und die Schrift durch die Liebe. Darum wird der Brief selbst in Nr. 69 unserer Sammlung auch personifiziert: die Frau schickt ihn mit einer Du-Anrede (in einem sog. ‚envoi‘) auf den Weg – Littera vade, meas et amico ferte querelas! –, damit er den Geliebten dictaminis dulcedine für sie einnehme. Wenn sie ihn so häufig magister nennt, so ist wohl kaum ein Lehrer irgendeines Schulfachs, sondern viel eher ein magister amoris, also ein Nachfahre Ovids gemeint.49 Dies verweist einmal mehr auf die Fiktion eines Briefwechsels, der Liebe als Briefkunst und Briefkunst als Liebe lehrt. Bedenkt man die völlige Profillosigkeit der mit M und V wie in einem Schuldialog abgekürzten Briefschreiber, so kann man der Schlussfolgerung von MONIQUE GOULLET bei einem Round Table-Gespräch über unsere Briefe nur zustimmen: „Nichts zwingt uns,“ sagte sie, „in ihnen Menschen aus Fleisch und Blut
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Etwa ein Jahrhundert nach der Exzerpt-Arbeit de Veprias komponierte der Humanist und Bischof von Chalon-sur-Saône, Pontus de Tyard für König Heinrich III. eine vergleichbare Kompilation von Mustertexten, die ebenso gut als Stilblütensammlung wie als Briefroman gelesen werden konnten: Modèles de phrases suivis d’un recueil de modèles de lettres d’amour. Hrsg. von JOHN C. LAPP, Chapel Hill 1967. Der Liebesbriefsteller erzählt in petrarkistischer Manier die „péripécies d’une liaison secrète“ und folgt im Sinne der „recherche précieuse“ der Spielregel (S. 21): „il n’y a point de si grand plaisir en l’amour que le discours.“ Als ein überlieferungsgeschichtliches Kuriosum sei erwähnt, dass sich die einzige Handschrift dieses Texts (heute Bibl. Municipale Haguenau, Ms 2.11) bei der Auflösung der Klosterbiliotheken nach der Französischen Revolution wie die Epistolae duorum amantium ebenfalls in Clairvaux befand. Das Kloster des hl. Bernhard als spätmittelalterlich-frühneuzeitliches Liebesbriefarchiv? (s. auch unten Anm. 54 zu anderer Liebesliteratur in den Bibliothekskatalogen.) Die Übersetzung von CHIAVAROLI/MEWS (Anm. 5): „because of some good report you heard about me, you also thought fit to invite me to make your acquaintance“, trifft diesen Punkt besser als die von CESCUTTI/STEGER (Anm. 10): „Du warst auch so freundlich, mich – aufgrund einer vielleicht guten Meinung, die du von mir hattest – ins Vertrauen zu ziehen.“ Dabei wird wiederum (s. oben Anm.10) die französische Übersetzung von PIRON ins Deutsche übertragen: „c’est peut-être parce que tu avais une bonne opinion de moi […]“ Hierzu bes. IMBS (Anm. 23), S. 26f.: „cette merveille d’un amour sans avoir vu“. Vgl. VON MOOS, Die Epistolae…(Anm. 1), S. 37.
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zu sehen, viel wahrscheinlicher sind es Papierwesen, ja sie bilden ein einziges Papierwesen, un seul être de papier.“50 Natürlich hatte dieses rein literarische Wesen einen – individuellen oder kollektiven – Autor, aber ob wir ihn je finden werden, ist eine andere Frage, auf die schon ZIOLKOWSKIs Aufsatztitel spöttisch Bezug nimmt:51 „Lost and Not Yet Found“. Einiges was in die Nähe, Umwelt, Epoche der Entstehung der Epistolae führen könnte, habe ich provisorisch in dem Aufsatz von 2003 zusammengestellt. Ganz im Sinne der oben beschriebenen Differenzierung von Echtheits- und Zuschreibungskritik habe ich dabei die Hypothese von MEWS und JAEGER bewusst ignoriert und anstelle einer Widerlegung versucht, ab ovo den fragmentarisch überlieferten Text der Handschrift 1452 von Troyes nach literaturwissenschaftlich-philologischen Kriterien der Wahrscheinlichkeit einigen zeitlichen, geographischen, kulturellen Kontexten oder Einflussbereichen zuzuordnen: insbesondere der Ars dictaminis, die seit dem Ende des 12. Jahrhunderts eine eigene Unterabteilung für Liebesbriefe entwickelt, sowie dem seit Ende des 13. Jahrhunderts feststellbaren Synkretismus der Liebeskonzeptionen, der eine im frühen 12. Jahrhundert noch undenkbare Sakralisierung der Erotik mög-
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Unveröffentlichte ‚Table ronde‘ über die Epistolae duorum amantium vom 11. 2. 2005 an der École Normale Supérieure in Paris, bei der unter dem Vorsitz von RUEDI IMBACH und MICHEL ZINK über die Vorlagen der Befürworter C. MEWS, S. JAEGER und S. PIRON sowie der Opponentin MONIQUE GOULLET diskutiert wurde. (Ich möchte letzterer Kollegin bestens für die Präsentierung und Verteidigung meines Beitrags von 2003 danken, da ich an der Teilnahme selber verhindert war.) In diesem Zusammenhang haben sich brieflich oder mündlich PASCALE BOURGAIN, FRANÇOIS DOLBEAU, GUY LOBRICHON, JACQUES VERGER, JEAN-YVES TILLIETTE, ANNE-MARIE TURCAN-VERKERK und MICHEL ZINK gegen die Zuschreibung an Abaelard und Heloise geäußert. Dasselbe gilt von JACQUES LE GOFF, der sich am 28.3.2005 in seiner Rundfunksendung „Les lundis de l’histoire“ auf France Culture anlässlich des Buches von LOBRICHON (Anm. 16) entschieden dagegen ausgesprochen hat. Wie über diese Tagung in der englischsprachigen Internet-Presse berichtet wurde, wirft ein Licht auf eine neue Art von Sensations-Mediävistik. Ich zitiere nur eine Stelle von CAROLINE BROTHERS (Reuters) vom 21.3.2005: „Two star-crossed medieval lovers, Abelard and Heloise, are again stirring passions in France as a literary controversy rages nearly 900 years after their affair. At the heart of the drama is an obscure Latin text that some scholars say contains the long lost love letters written by the ill-fated pair. Others say the correspondence is fake. Translated for the first time into French, their publication this month has revived the scandal and divided historians in France and abroad. Feelings ran high at a seminar in Paris where believers tried to convince skeptics the attribution is right. ,I don’t think everyone in the room was convinced,‘ said historian Sylvain Piron, who translated the correspondence, after a long day’s debate on the subject. ,Some still believe it’s a faked or forged collection.‘ “. Den Rest kann man, wenn man Lust hat, nachlesen auf http://news.yahoo. com/news?tmpl=story&u=/nm/20050303/lf_nm/france_loveletters_dc_1 und http:// www.theage.com.au/articles/2005/03/04/1109700675545.html?oneclick=true ZIOLKOWSKI (Anm. 5).
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lich macht.52 Eine Datierung in die Zeit Abaelards schien mir nicht nur aus solchen mehr kulturgeschichtlichen, für sich genommen gewiss diskutierbaren,53 aber im Verband sich stützenden Gründen unmöglich, sondern schon einfach aufgrund einer völlig anderen Technik des Satzrhythmus (Cursus). Indizien für die Fiktionalität dieser späten Liebesbriefe, die sich oft, aber nicht durchgehend nach Art eines Briefwechsels aufeinander beziehen, sind allein schon das für das ganze Mittelalter und a fortiori für das 12. Jahrhundert ganz und gar einmalige Ausmaß der Sammlung sowie deutliche Spuren romanhafter Dramatisierung. Eigentliche, aber für die Öffentlichkeit bestimmte lateinische Privat-Briefwechsel sind erst aus der Zeit des Frühhumanismus bekannt, was bei der an sich unwahrscheinlichen Annahme wirklich getauschter und überdies aufbewahrter, überlieferter und schließlich durch de Vepria „veröffentlichter“ Liebesbriefe zwischen zwei Personen, die Datierung erst recht hinaufzuschieben zwänge, etwa in die Gegenwart des humanistisch orientierten und gerade für zeitgenössische ‚Curiosa‘ der Liebesliteratur interessierten Sammlers Johannes de Vepria, über den leider noch viel zu wenig bekannt ist.54 Überhaupt möchte ich 52
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PIRON, Lettres (Anm. 9), S. 216f. scheint den von KURT FLASCH stammenden Begriff „säkulare Religion der Liebe“ in meinem Titel als ironisch missverstanden zu haben. Ich habe in keiner Weise eine unernste oder gar frivole intentio operis angenommen, sondern im Gegenteil die Heiligung des Eros im Sinne Dantes oder des „dolce stil nuovo“ betont und darum JAEGERs Bezeichnung „ennobling love“ für diese Briefe (unabhängig von jeder Zuschreibung) durchaus gutgeheißen (2003, S. 47 und Anm. 227; S. 97 und Anm. 292). Mit Bezug auf Guillaume de Machauts Voir-dit spricht auch IMBS (Anm. 23), S. 28f. von einer „émotivité de teinture nettement religieuse“; „une certaine forme de religiosité profane si l’on peut dire“; „la persistante forme de syncrétisme entre la tradition judéo-chrétienne, qui est un fait de civilisation, et des pans entiers de mythologie païenne qui procèdent de la culture acquise à l’école du grammairien.“ MEWS insistiert in seinem z. T. als Antwort auf meinen Aufsatz Die Epistolae (Anm.1) verfassten „Postscript“ (Anm. 9) hauptsächlich auf einer anderen Abfolge der Liebeskonzeptionen vom 11. bis zum 14. Jh. Auf die mehr philosophiegeschichtliche als philologische Argumentation kann ich in diesem der Medialität des Liebesdiskurses gewidmeten Rahmen nicht eingehen, hoffe aber bei anderer Gelegenheit darauf zurückzukommen. Ich denke heute, dass wir beide, CONSTANT MEWS und ich, dem Text mehr ideengeschichtliches Gewicht gegeben haben, als einem derart manieristisch ambitionierten Werk überhaupt zukommt. Es geht um ein Problem methodischer Verhältnismäßigkeit. Vgl. KÖNSGEN (Anm.3), S. XX-XXXIII und MEWS, The Lost Love Letters (Anm. 5), S. 8-11. ROLF KÖHN hat eine umfassende Studie über das Profil und die Interessen dieses „Antiquars“ geplant, über deren aktuellen Stand ich nicht informiert bin. Dabei wollte er sämtliche von de Vepria abgeschriebenen Handschriften (neben der schon von KÖNSGEN beschriebenen Troyes 1452 auch Troyes 2139; 2471, fol.6-86; auch Troyes 1266 und 1306, fol. 61-106) sowie die beiden Bibliothekskataloge von Clairvaux von 1472 und ca. 1521 untersuchen, aus deren Vergleich der Zuwachs an humanistischen Codices und Inkunabeln während der Aktivität de Veprias im Skriptorium hervorgeht. Vgl. ANDRÉ VERNET/JEAN-FRANÇOIS GENEST: La bibliothèque de Clairvaux du XIIe au XVIIIe siècle, I. Catalogues et répertoires, Paris 1979; ANDRÉ VERNET: Un abbé de Clairvaux bibliophile: Pierre de Virey. In: Scriptorium 6 (1952), S. 76-88, hier S. 85 und Anm. 68. Aufgrund dieser Vorarbeiten steht schon
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nochmals betonen, dass ich diese meine Arbeit an den Epistolae duorum amantium nur als einen Anfang verstehe, der die Dringlichkeit weiterer harter Forschung (im Unterschied zu leichtverkäuflichen Vulgarisationen) mit einigen methodologischen Leitlinien hervorstreichen wollte. So scheint mir die genauere Datierung dieser Briefe nach etwa 1180 und vor 1471 heute noch weitgehend offen, auch wenn ich Argumente für verschiedene Zeiten versuchsweise zur Diskussion gestellt habe. Dabei darf ich, wo nicht als Beweis, so doch als operationelles Prinzip mindestens eines festhalten: Je später wir die Entstehung ansetzen, desto weniger Rätsel gibt das Werk dem Kenner der Diskurstraditionen auf. Am allerwenigsten war es meine Absicht, eine Fahndung nach anderen Zuschreibungskandidaten an Stelle des so ‚nahe liegenden‘ Liebespaars Heloise und Abaelard zu veranstalten und gar eine nominelle Gegenthese aufzustellen.55 Die Hauptsache ist, dass die Epistolae duorum amantium nach dem derzeitigen mediävistischen Konsens einer maior et sanior pars solange nicht als Liebesbriefe Heloises und Abaelards gelten können und somit anonym bleiben müssen, als keine überzeugenderen Argumente für ihre Verfasserschaft als die bisherigen vorgebracht werden. Wirklich unwiderleglich wäre auf diesem Gebiet nur ein neuer Handschriftenfund der Epistolae (oder
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fest, dass de Vepria sich nicht nur von Amtes wegen für mittelalterliche und monastische Texte interessierte, sondern sich wohl aus privaten Vorlieben auch stark für die Überlieferung von Ovidiana (Flores aus Ovids De amore, Ovidius moralisatus; s. KÖNSGEN (Anm. 3), S. XXV) und der lateinischen Literatur des Trecento (Petrarca) und des Quattrocento (Enea Silvio Piccolomini) einsetzte. Nach VERNETs Einleitung zur Edition der Bibliothekskataloge findet sich der Besitzvermerk de Veprias u. a. auf Inkunabeln und Frühdrucken von Terenz, Sueton, Polizian, Leonardo Bruni. Von Bedeutung ist auch, dass der frühere Katalog von 1472 kein einziges Werk von Abaelard verzeichnet; erst der spätere von ca. 1521 enthält dessen Brief X (ed. SMITS) an Bernhard von Clairvaux (über das Vaterunser) und sonst nichts. Auch der berühmte Codex Troyes 802 mit den Parakletbriefen stammt bekanntlich nicht aus Clairvaux, wo sich offenbar niemand, nicht einmal ein so eifriger Sammler wie de Vepria für Abaelard und Heloise interessierte. Nach dem Katalog von 1472 zu urteilen, gab es in Clairvaux als Vorlagen weder die Epistolae duorum amantium, noch die Cicero-Exzerpte, noch die (von de Vepria übrigens vollständig abgeschriebenen) Briefformulare des Carolus Virolus; sie mussten vielmehr aus anderen Bibliotheken besorgt werden (vielleicht aus Paris, wo sich der damalige Abt des Klosters, Pierre de Virey längere Zeit aufhielt, s. oben VERNET). Umgekehrt enthält der Katalog von 1521 Werke von Filippo Beroaldo d. Ä. (der auch ein De duobus amantibus verfasst hat); das Bucolicon carmen ad Pium papam (wohl Enea Silvio) eines Paraclitus Cornetanus, anonyme Texte wie Corone amantium tractatus, Cantica canticorum prosaice, Matthaeus von Vendôme, De arte metrificandi, einen anonymen Dialogus senis et juvenis de amore disputantibus, mehrfach das De remedio amoris von Enea Sivio Piccolomini und dergleichen Raritäten, die vielleicht Indizien für die Bestimmung der Epistolae enthalten. Damit sei nur kurz angedeutet, wie viel ernsthafte Identifikationsarbeit auf diesem Feld gerade auch in kodikologischer Hinsicht noch ansteht. Wie mir dies PIRON (Anm. 9), S. 216f. unterstellt, um das Scheitern dieser vermeintlichen „contre-expertise“ zu betonen.
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Peter von Moos
einzelner Briefe daraus) mit einer mittelalterlichen Zuschreibung oder die Entdeckung eines unanfechtbaren Zitats aus einem sicher erst nach Abaelard und Heloise verfassten Werk,56 (Um Missverständnissen vorzubeugen, sei unterstrichen, dass der Umkehrschluss vom Fehlen bestimmter später Quellen auf eine Frühdatierung ein argumentum e silentio ohne irgendwelche Beweiskraft wäre.57) Da solche Entdeckungen nahezu an Wunder grenzen,
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DRONKE (Anm. 6) hat neuerdings ein unzweifelhaftes wörtliches Zitat aus der elegischen Komödie De nuncio sagaci bzw. Ovidius puellarum in Ep. 84 (Mulier) entdeckt: Sperabam me curis finem posuisse futuris. Da sich dieser immerhin signifikante Vers 2 (der gewissermaßen noch zum zum ‚Incipit‘ der Dichtung gehört) auch im 10. Tegernseer Liebesbrief (jetzt ed. H. PLECHL, MGH Epistolae, Die Briefe der deutschen Kaiserzeit 8, Hannover 2002) findet, macht DRONKE daraus ein Argument für die Herkunft unserer Epistolae aus dem Bayern des späteren 12. Jhs. Diese interessante milieumäßige Zuschreibung müsste an anderer Stelle diskutiert werden, doch die Datierung des Pseudo-Ovidianums könnte – wäre sie nur sicher! – einen terminus post quem für unsere Epistolae abgeben. Anstelle der älteren Datierung des Ovidius puellarum ins 11. Jh. wurde nämlich in letzter Zeit die erste Hälfte des 12. Jhs. vorgeschlagen (frühester Zitat-Beleg im Policraticus Johanns von Salisbury 1159, s. unten ROSSETTI). Wie immer dem sei, zu einem Erfolgswerk des Triviums dürfte die Komödie nicht vor der zweiten Hälfte des 12. Jhs. geworden sein. So oder so ist zu bedenken, dass der Ovidius puellarum zusammen mit dem Pamphilus und anderen Pseudo-Ovidiana zum Grundbestand sowohl der italienischen Liebes-dictamina des 13. Jhs. als auch der Schulübungen des Anfängerunterrichts im 14. Jh. gehört, wie etwa noch der Frühhumanist Sicco Polenton in einem autobiographischen Rückblick vermerkt (s. BRUNI unten). Vgl. De nuncio sagaci. Hrsg. von G. ROSSETTI (Commedie latine del XII e XIII secolo 2), Genova 1980 mit ausführlicher Einleitung zur Wirkungsgeschichte; ein Petrus von Vinea fälschlich zugeschriebenes Liebesgedicht Cum plurima sint tempora transcursa als sog. „Versus cum auctoritate“ aus dem Pamphilus, Hs. Reims 1275, fol. 35rb-vb, Nr. 27. Hrsg. von A. HUILLARD-BRÉHOLLES, Pierre de la Vigne, Paris 1865, S. 417-421 (zum möglichen Einfluss auf unsere Liebesbriefe s. von MOOS 2003, Anm. 63); FRANCESCO BRUNI: Testi e chierici del medioevo, Genova 1991, S. 274-277 zur Lebendigkeit des mittelalterlichen Pseudo-Ovid in den frühhumanistischen Kreisen bis Boccaccio. Die nun feststehende Benützung des Ovidius puellarum kann also höchstens als möglicher terminus post quem, keinesfalls aber als Datierungsindiz für das 12. Jh. dienen. So wenden PIRON, Enquête (Anm. 9), S. 194 und, ihm folgend, MEWS, (Anm. 7), S. 64 gegen eine Spätdatierung der Epistolae ein, dass darin die aristotelische Ethik nicht zitiert werde. Das Argument wäre selbst dann nicht zwingend, wenn wir es mit philosophischen Texten zu tun hätten; doch in Liebesbriefen und Liebeslyrik sind eigentliche Zitate aus der Nikomachischen Ethik selbst nach 1250 allein schon aus Gattungs- oder Diskursgründen nicht zu erwarten. Finden sie sich etwa in Petrarcas Canzoniere? Wenn Cicero neben Ovid in den Epistolae als Autorität der Liebe erscheint, so liegt dies durchaus in derselben, schon durch die Accessus ad auctores festgelegten schulliterarisch-rhetorischen Diskurstradition, die in der ars dictaminis weiterlebt. Sucht man hingegen nicht nach Zitaten im philologischen Sinn, sondern nach Denktraditionen, so dürfte ein Hauptmotiv der Epistolae, die Anwendung der Freundschaftsideale auf die (treue) geschlechtliche Liebe durchaus mit der aristotelischen Ethik (z.B. EN VIII 14) übereinstimmen; vg. hierzu RÜDIGER SCHNELL: Sexualität und Emotionalität in der vormodernen Ehe, Köln u. a.. 2002. S. 173-200 und FRANCESCO BRUNI: Boccaccio. L’invenzione della letteratura mezzana, Bologna 1990. S. 131-135. Allerdings bleibt auch hier die in Anm. 53 ausgesprochene Warnung zu beherzigen.
Vom Nutzen der Philologie für den Umgang mit anonymen Liebesbriefen
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werden wir wohl noch lange warten müssen, bis diese Liebesbriefe aus dem Limbus der Anonymität erlöst werden. Aber da sie sich dort in bester Gesellschaft befinden, besteht für uns kein Grund, an irgend einem „horror vacui“ zu leiden.58
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Damit antworte ich auf den vorletzten Satz von PIRONs „Enquête sur un texte“ (Anm. 9), S. 217, der nochmals eine sehr kühne ‚Umkehr der Beweislast‘ enthält: „[…] cette proposition peut être considérée comme valable tant qu’elle n’aura pas été réfutée. Pour l’instant, et peut-être pour longtemps, nous pouvons estimer que l’attribution des Lettres à Héloïse et Abélard est acquise.“ Gleichzeitig beantworte ich damit dankbar und erheitert einen freundlichen Brief von EWALD KÖNSGEN, der mir schrieb, er würde sich aufrichtig freuen, wenn gegen die Autorschaft Abaelards und Heloises eines Tages nicht nur „plausible Argumente“, sondern sogar „Beweise“ gefunden werden könnten. Solange letztere als Adynata gelten dürfen, bleiben einstweilen eben nur die ersteren.
STEPHAN MÜLLER
Sprechende Bücher – verschwundene Schrift Probleme und Praktiken der Kodifizierung von Intimität in der Volkssprache im Früh- und Hochmittelalter. Zugleich eine These zur Spätüberlieferung des Minnesangs 1. Problemkonstellation Die Schrift ist im Früh- und beginnenden Hochmittelalter ein exklusives Medium. Sie ist Teil institutioneller und funktionaler Zusammenhänge zuerst der klösterlichen und dann zunehmend auch der Kultur der frühen Fürstenhöfe.1 Die Produktion und Rezeption von Schrift ist tendenziell gebunden an Situationen der Gemeinsamkeit und Öffentlichkeit und in dieser Form kaum ein Medium, dem man Persönliches oder gar Intimes anvertraut; das ändert sich erst auf dem Weg hinein in die Neuzeit. Jenes prekäre Potential, vor dem Rousseau die Leserinnen seiner Nouvelle Héloïse mit einem Augenzwinkern warnt,2 wenn er betont, dass sie zu verlorenen Mädchen, zur „fille perdue“ zu werden drohen, wenn sie nur eine einzige Seite, „une seule page“, des Romans zu lesen wagen, ist der Schriftkultur des frühen Mittelalters fremd. Das jeder sozialen Kontrolle entzogene Alleinsein mit der Schrift, die Träne, die das Tagebuch benetzt, der Roman, der das einsame Herz zum Entflammen bringt, all das kannte das frühe Mittelalter nicht. Aus diesem Grund sind aus dieser Zeit einerseits Spuren individueller Schreib- und Lesepraxis selten und kommen andererseits In-
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Über deren Schriftproduktion man allerdings nur sehr wenig sagen kann. S. dazu TIMO REUVEKAMP-FELBER: Volkssprache zwischen Stift und Hof. Hofgeistliche in Literatur und Gesellschaft des 12. und 13. Jahrhunderts, Köln, Weimar, Wien 2003 (Kölner Germanistische Studien N. F. 4). JEAN-JACQUES ROUSSEAU: La nouvelle Héloïse. Éditions Gallimard 1964 (Œuvres complètes II. Édition publiée sous la direction de BERNARD GAGNEBIN et MARCEL RAYMOND), S. 6. Augenzwinkernd deshalb, da ROUSSEAU seine Warnung insofern modifiziert, dass jene Mädchen, die bereits zu Lesen begonnen hätten, ruhig weiterlesen können, denn „elle n’a plus rien à risquer“.
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Stephan Müller
halte, die einer dominant monastischen Schriftkultur zuwiderlaufen, nur als Ausnahmen aufs Pergament. So sind wir etwa über eine Tradition weltlicher Liebeslieder so gut wie ausschließlich durch sekundäre Zeugnisse unterrichtet. Deutlich etwa durch Verbotsklauseln in frühmittelalterlichen Kapitularien, wobei besonders das Verbot von winileodos in einem Kapitular aus dem Jahr 789 für einiges Aufsehen in der Forschung gesorgt hat.3 Dass es sich dabei auch um eine volkssprachige Tradition handelt, macht die deutschsprachige Gattungsbezeichnung deutlich, die lateinisch mit barbara carmina oder cantica rustica glossiert wird.4 Eine solche mündliche Tradition erotischer Texte war das Mittelalter hindurch lebendig und schlägt sich beispielsweise in der Bamberger Beichte als huorliede5 im Sündenkatalog nieder und aus dieser Tradition stammen wohl auch die volkssprachigen Teile der Carmina Burana. In späterer Zeit steht diese Tradition in Konkurrenz zur literarischen höfischen Liebeslyrik, in der Frühzeit dagegen steht sie ganz außerhalb jenes kulturellen Bereiches, der Eingang in die Sphäre der Schriftlichkeit fand. Was wir an schriftlichen Spuren dieser mündlichen Tradition besitzen, sind also Ausnahmefälle, die alles andere als voraussetzungsfrei entstehen, und genau um diese Voraussetzungen soll es im Folgenden gehen. Um näheres darüber zu erfahren, gehe ich zunächst strikt vom Überlieferungsbefund aus. Ich untersuche dabei in einem ersten Schritt die volkssprachigen Zeugnisse des Frühmittelalters, die entweder in Zusammenhang der oben genannten Liedtradition stehen, oder die als individueller Ausdruck von ‚Intimität‘ gewertet werden können. In einem zweiten Schritt gehe ich dann auf die Situation im 12. und 13. Jahrhundert ein.
2. Das Frühmittelalter Ein Beispiel ist der sogenannte Kicila-Vers. Er gehört nicht in den Bereich einer wie auch immer gearteten Liebeslyrik, sondern ist eine scheinbar individuelle Aussage über eine schöne Frau und zwar, was den Eintrag für uns interessant macht, über eine lesende Frau. Er findet sich in der Heidelberger Handschrift von Otfrids Evangelienbuch (Cod. Pal. lat 52) und wur-
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MGH Legum Sectio II. Capitularia Regum Francorum, Tom. I. Hrsg. von ALFRED BORETIUS, Hannover 1883, S. 62-64, Nr. 19. Zu diesem Komplex s. CYRIL EDWARDS: winileodos? Zu Nonnen, Zensur und den Spuren der althochdeutschen Liebeslyrik. In: Theodisca. Zur Stellung der althochdeutschen und altniederdeutschen Sprache und Literatur in der Kultur des frühen Mittelalters. Hrsg. von WOLFGANG HAUBRICHS u. a., Berlin, New York 2000 (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 22), S. 189-206, hier S. 190. ELIAS VON STEINMEYER: Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler, Berlin 1916 (ND 1971), Nr. 28, S. 146, Z. 37.
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Abb. 1: Hirsch und Hinde (Brüssel, Bibliothèque Royale Albert Ier, cod. 8860-8867, fol. 15v)
de wohl in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts mit einem stumpfen Griffel, also ohne Tinte, ins Pergament eingedrückt. Eine gewisse Prominenz genießt der Spruch deshalb, weil man hinter der Frau eine Kaiserin vermutete: Kicila diu scona min filu las, „die schöne Gisela las oft in mir“, lautet er und man dachte an die Kaiserin Gisela, die Gattin Konrads II., die für ihr Interesse an deutschen Texten bekannt und für den möglichen Diebstahl von Notkers Psalter und dessen Moralia-Bearbeitung berüchtigt ist.6 Aber diese Idee ist wohl zu schön, um wahr zu sein. Zwar konnte man das intervokalische c mit Mühe noch als Spirans auffassen, denn normalerweise würde man es als Affrikat lesen, seit VOLKER SCHUPP und JOHANNA AUTENRIETH jedoch das K in Kicila als unziales H identifiziert haben, wissen wir, dass das Buch über eine Frau mit dem gängigen Namen Hicila spricht.7 Für unser Anliegen ist das allerdings unerheblich. Wichtig sind dagegen zwei Feststellungen: Erstens, der Eintrag ist als Griffeleintrag schwer zu finden, er verbirgt sich förmlich am Blattrand und zweitens spricht hier ein Buch. Die Erste Person Singular ist der Codex selbst und es ist das erste deutsch sprechende Buch überhaupt.8 Den zweiten Fall kennt man unter dem Titel Hirsch und Hinde (s. Abb. 1). Der Text findet sich auf dem Rand einer Brüsseler Handschrift:9 Hirez runeta hintun in daz ora: ‚uuildu noh, hinta?‘ („Der Hirsch raunte der Hinde in das Ohr: ‚Willst du noch, Hinde?‘“). Der Randeintrag aus dem 11. Jahrhundert steht in Zusammenhang mit einem volkstümlichen Ritual, das sich bis in die Neuzeit gehalten hat. Es handelt sich dabei um einen Neujahrsbrauch, das cervulum facere („den Hirsch machen“), gegen das sich im 6. Jahr-
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Vgl. STEPHAN MÜLLER: 1027, August: Monastic Scriptoria. In: A New History of German Literature. Hrsg. von DAVID E. WELLBERY, Cambridge/Mass, London 2004, S. 28-33. VOLKER SCHUPP: Die Hilfe der Kodikologie beim Verständnis althochdeutscher Texte. In: Freiburger Universitätsblätter 136 (Juni 1997), S. 57-77, bes. S. 76f. RUDOLF SCHÜTZEICHEL: Cod. Pal. lat. 52. Studien zur Heidelberger Otfridhandschrift, zum Kicila-Vers und zum Georgslied, Göttingen 1982 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, phil.-hist. Klasse. Dritte Folge 130), S. 49-51. UTE SCHWAB: Das althochdeutsche Lied ‚Hirsch und Hinde‘ in seiner lateinischen Umgebung. In: Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter 1100-1500. Hrsg. von NIKOLAUS HENKEL/NIGEL F. PALMER, Tübingen 1992, S. 74-122.
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Abb. 2: Spinnwirtelspruch (St. Gallen, SB cod. 105, Bl. 1)
hundert schon Caesarius von Arles richtet, wenn er jene kritisiert, die „die höchst schmutzige Schändlichkeit mit der Hinde und dem Hirsch betreiben“.10 Auch eine in Pforzen aufgefundene Runeninschrift scheint sich gegen diese Sitte auszusprechen, indem sie zwei Personen dem elahu, dem Elch, abschwören lässt.11 Der wahrscheinlich ein Tanzritual begleitende Text ist in der Handschrift umrahmt von lateinischen Sentenzen, die – und darauf kommt es an – wie der deutsche Satz mit Neumen versehen sind. Es geht hier also nicht nur um den Text, sondern auch um die Überlieferung der Melodie, nicht nur um Wort, sondern auch um Weise und das im Kontext einer lateinischen Umgebung. Das ist kein Einzelfall: Es ist eine wenig beachtete Tatsache, dass viele althochdeutsche Kleintexte mit Neumen überliefert sind. Ich nenne neben noch zu besprechenden Beispielen das Petruslied 12 und den sogenannten St. Galler Spottvers, der von einer missglückten Verlobung erzählt.13 Überhaupt gibt es gute Zeugnisse dafür, dass es bei der Erhaltung von Vortragstexten oft mehr um die Melodie und weniger um den Wortlaut ging. Beleg dafür ist auch die Übersetzung von Ratperts Galluslied durch Ekkehard IV., die in allen Handschriften mit Neumen versehen ist, so dass sie uns die Melodie, nicht aber den Wortlaut des althochdeutschen Werkes zu erhalten sucht.14 Der Inhalt von Hirsch und Hinde scheint sich – zusätzlich gedeckt von den benachbarten lateinischen Sentenzen – hinter der Neumierung förmlich zu verbergen. Auch das nächste Beispiel ist neumiert, indes auf eine ganz und gar seltsame Weise: Früher hat man den auf um 900 datierten Randeintrag zur Gruppe der St. Galler Spottverse gezählt, jetzt firmiert er – besser, aber auch noch nicht ganz passend – als Spinnwirtelspruch (s. Abb. 2):15 veru – taz ist spiz. 10 11 12 13 14 15
Dazu SCHWAB (Anm. 9), S. 93 mit weiteren Belegen. KLAUS DÜWEL: Zur Runeninschrift auf der silbernen Schnalle von Pforzen. In: Historische Sprachforschung 110 (1997), S. 281-291. HELMUT LOMNITZER. In: ²VL 7 (1989), Sp. 521-525. STEFAN SONDEREGGER. In: ²VL 2 (1980), Sp. 1051-1053. FIDEL RÄDLE. In: ²VL 7 (1989), Sp. 1032-1035. WOLFGANG HAUBRICHS: Veru- taz ist spiz. Ein ‚Spinnwirtelspruch‘ im Sangallensis 105?. In: Lingua Germanica. Studien zur deutschen Philologie. Jochen Splett zum 60. Geburtstag. Hrsg. von E. SCHMITSDORF u. a., Münster u. a. 1998, S. 23-31.
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taz santa tir tin fredel ce minnon. Man hat vor allem am ersten Wort gerätselt und für veru Übersetzungen wie „Oh Weh“ oder „Wahrlich“ vorgeschlagen. Inzwischen darf man sich aber sicher sein, dass es sich um ein romanisches Wort handelt, das wie das folgende deutsche Wort „spitz“ bedeutet, so dass zu übersetzen ist: „veru [romanisch], das heißt spitz, das sandte dir dein Freund aus Liebe“. Der Text schließt sich dabei an eine volkstümliche Tradition an, für seine Geliebte auf einen spitzen Gegenstand etwas einzuritzen. Bezeugt sind solche Ritzungen auf Spinnwirteln und ähnlichen Gegenständen. Für die vorliegende Untersuchung kommt es darauf an, zu betonen, dass der Text in einer Handschrift steht, und dass die erste Zeile sich an die monastisch-gelehrte Praxis der Glossierung anschließt; wobei die romanisch-deutsche Glossierung auf den Bereich der Spracharbeit in der Kontaktzone von Romania und Germania verweist und damit etwa in der Tradition der sogenannten ‚Gesprächsbüchlein‘ steht. Der fredel, der Geliebte, schickt seiner Freundin also eine Glosse und holt damit die genannte volkstümliche Tradition der eingeritzten Sprüche, die außerhalb der Handschriftenkultur existierte, in den Raum eines Codex herein. So steht auf dem Pergamentrand eine amouröse Glosse, die, wenn auch recht lose, mit Neumen versehen ist und es scheint mir, dass es bei diesen Neumen nicht um die Überlieferung einer Melodie geht, sondern vielmehr der Versuch vorliegt, vom frechen Inhalt der Glossierung abzulenken. Recht fadenscheinig decken die Neumen auch diesen Text, der zusätzlich im Gewand eines gelehrten oder zumindest in den Bereich der Schulpraxis verweisenden Eintrags daherkommt. Das nächste Beispiel führt nun in den engeren Bereich der Liebeslyrik: Es ist das Gedicht, das unter dem Titel Kleriker und Nonne Teil der Cambridger Liederhandschrift16 aus dem 11. Jahrhundert ist, oder – eigentlich korrekter – war (s. Abb. 3). Es ist nicht das einzige deutsche Stück der Handschrift, die bei den Germanisten besonders als Trägerin des deutschlateinischen De Heinrico17 bekannt ist. Anders als dieses ist das Liebeslied jedoch in der Handschrift radiert und wurde überdies in der Neuzeit mit Reagenzien behandelt, so dass man über den Inhalt nur folgendes sagen kann: Sicher ist, dass eine Nonne auftritt, der Kleriker dagegen ist schon unsicher, es könnte sich auch um einen Weltlichen handeln. Sicher scheint auch zu sein, dass es sich um ein Dialoglied handelt, das in der Tradition des‚Verführungsliedes‘ steht, da es neben dem auch anderwärts überlieferten lateinischen „Komm mein süßer Freund“ steht, das ebenfalls den Einsatz des Schabeisens provozierte. Es muss unklar bleiben, ob die Nonne dem Liebeswerben nachgab, aber der Einsatz des lunellarium spricht eher für
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KARL LANGOSCH. In: ²VL 1 (1978), Sp. 1186-1192. DAVID MCLINTOCK. In: ²VL 3 (1981), Sp. 928-931.
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Abb. 3: Kleriker und Nonne (Cambridge, UB cod. Gg 5.35, fol. 438v)
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den Erfolg der Werbung. Dieser Text ist also eingebunden in eine lateinische Überlieferungstradition, doch der Liebestext hat – anders als das politische Lied De Heinrico – seinen Schritt hinein in die Schriftlichkeit nicht überlebt und wurde im Konvoi der lateinischen Textreihe aufgespürt und getilgt. Das letzte Beispiel ist der bekannte Tegernseer Liebesbrief, der uns nun chronologisch in das 12. Jahrhundert führt; also in die Zeit der Entstehung der volkssprachigen höfischen Liebeslyrik, die allerdings erst viel später den Einzug in die Handschriften gefunden hat. Es ist das allbekannte: du bist min, ich bin din,18 das den Schluss eines lateinischen Briefes bildet, also wie Kleriker und Nonne Teil einer gängigen lateinischen Überlieferungspraxis ist, in dieser Position indes, anders als der deftigere Cambridger Vergleichsfall, in seiner ja bis heute hinreißenden Schlichtheit überlebt hat. Überblicken wir diese fünf Fälle, so lässt sich festhalten, dass deutsche Texte über die Liebe oder allgemeiner über individuelle intime Gefühle es in der Handschriftenkultur des Frühmittelalters ganz offensichtlich nicht leicht hatten und nur mit Mühe einen Platz auf dem Pergament fanden: Versteckt, nahezu unsichtbar wie der Hicila-Vers. Als Melodien neumiert, wie Hirsch und Hinde, oder auch – so meine These für den Spinnwirtelspruch – nur scheinbar neumiert. Eingelassen in Formen lateinischer Schriftpraxis wie der Spinnwirtelspruch, Kleriker und Nonne und das ich bin din der Tegernseer Briefsammlung.19 Stets waren also jene volkssprachigen Texte, die im weiten Zusammenhang mit einem Diskurs über Liebe und Intimität stehen, gefährdet und deutlich Fremdlinge in der Codex-Kultur des frühen Mittelalters und im Fall der Cambridger Liederhandschrift griff man sogar zum Messer.
3. Das 12. und 13. Jahrhundert Dies sollte, so möchte man glauben, im 12. Jahrhundert anders werden, also zu jenen Zeiten, in denen die deutschsprachige höfische Liebeslyrik, der Minnesang, entsteht. Doch diese Erwartung wird durch die Überlieferung nicht gedeckt. Auch in der höfischen Lyriküberlieferung wird eine Reserviertheit im Bezug auf das Thema ‚Liebe‘ zu beobachten sein und dies – so die These – einerseits aus thematischen und andererseits aus pragmatischen Gründen. Thematisch, da wir es ganz offensichtlich nicht mit einem generellen Fehlen früher Lyrikaufzeichnung zu tun haben, nur spielt in dieser das Thema ‚Liebe‘ keine große Rolle. So stehen die ältesten Zeugnisse in 18 19
FRANZ JOSEF WORSTBROCK. In: ²VL 9 (1995), Sp. 671-673. Zu erwähnen sind hier noch die volkssprachigen Einsprengsel im Ruodlieb, die allerdings keinen in sich geschlossenen deutschen Text ergeben.
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Minnsangs Frühling, die ‚Namenlosen Lieder‘ I bis V, unter der treffenden Überschrift „Weisheits- und Zeitlyrik“20 und der noch im 12. Jahrhundert aufgezeichnete Leich Heinrichs von Rugge21 sagt über das Thema ‚Minne‘ ebenso wenig wie die frühen Sangspruchfragmente in einer ehemals Berliner Handschrift.22 Wie bei den Zeugnissen des Frühmittelalters bietet für die mündliche Liedtradition nur der lateinische Überlieferungskontext der Carmina Burana23 eine frühe Ausnahmeposition, in der einige volkssprachige Liebeslieder auf uns gekommen sind. Alles, was zum engeren Corpus des Minnesangs als höfischer Liebeslyrik gehört, kommt sehr spät im 13. Jahrhundert aufs Pergament24 und findet seinen prominenten Ort in der Schriftlichkeit erst in den großen mittelhochdeutschen Liederhandschriften.25 Aber eine rein thematische Begründung würde wohl zu kurz greifen, denn das Thema ‚Liebe‘ ist in der deutschsprachigen Überlieferungstradition um 1200 durchaus nicht ausgespart. Für früh aufgezeichnete laikale Liebestexte stehen die Überlieferung von Eilharts Tristrant 26 und des Trierer Floyris,27 die 20
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Lied I-III: Zürich, Zentralbibliothek, Ms. C 58, „wohl Ende des 12. Jahrhunderts“ (KARIN SCHNEIDER: Gotische Schriften in deutscher Sprache. I. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300. Textband, Wiesbaden 1987, S. 63); Lied IV: Wien, ÖNB, cod. 160, fol. 100v, spätes 12. Jahrhundert (Des Minnesangs Frühling. Hrsg. von. HUGO MOSER/HELMUT TERVOOREN, Stuttgart 381988, S. 16) und Lied V: München, BSB, Cgm 5249/42a, um 1200 oder Anfang 13. Jahrhundert (KARIN SCHNEIDER: Die Fragmente mittelalterlicher deutscher Versdichtung der Bayerischen Staatsbibliothek München [Cgm 5249/1-79], Stuttgart 1996 (ZfdA. Beiheft 1), S. 70). München, BSB, Clm 4570, kurz nach 1190 (ERICH PETZET/OTTO GLAUNING: Deutsche Schrifttafeln des IX. bis XVI. Jahrhunderts aus Handschriften der Königlichen Hof- und Staatsbibliothek in München. III. Abteilung, München 1912 (ND 1975), Tafel 24). Krakau, Bibl. Jagielloľska, Berol. mgq 1418. Anfang des 13. Jahrhunderts (FRANZ-JOSEF HOLZNAGEL: Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik, Tübingen, Basel 1995 (Bibliotheca Germanica 32), S. 23). GÜNTER BERNDT. In: ²VL 1 (1978), Sp. 1179-1186. Als frühester Zeuge kann wohl das Morungen-Fragment aus Kremsmünster (Stiftsbibl., Cod. 248, Bl. 237v) gelten, wobei die Datierung „2. Viertel des 13. Jhs.“ (Minnesangs Frühling (Anm. 20), S. 469) eher Richtung Jahrhundertmitte (oder auch kurz danach) zu verstehen sein dürfte. S. dazu HOLZNAGEL (Anm. 22). Zu nennen sind hier drei Handschriften. Erstens: Die Fragmentengruppe: Karlsruhe, LB, Cod. Donaueschingen 69, München, BSB, Cgm 5249/31 und (jüngst wieder aufgefunden) Regensburg, Bischöfl. Zentralbibl., Fragm. I.5.1 aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts (KARIN SCHNEIDER: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Die mittelalterlichen Fragmente Cgm 5249-5250 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V, 8), Wiesbaden 2005, S. 69). Zweitens: Krakau, Bibl. Jagielloľska, Berol. mgq 661 um 1200 (NIGEL F. PALMER: Manuscripts for reading: The material evidence for the use of manuscripts containing middle high german narrative verse. In: Orality and Literacy in the Middle Ages. Essays on a Conjunction and its Consequences in Honour of D. H. Green. Hrsg. von MARK CHINCA/CHRISTOPHER YOUNG, Turnhout 2005, S. 67-102, S. 94 und Drittens: Krakau, Bibl. Jagielloľska, Berol. mgq 1418. Anfang des 13. Jahrhunderts (Anm. 22). Trier, Stadtbibl., Mappe X, Fragm. 13 und Trier, Stadtbibl., Mappe X, Fragm. 14. Um 1200 oder auf Anfang des 13. Jahrhunderts datiert von SCHNEIDER (Anm. 20), S. 119.
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um die Wende zum 13. Jahrhundert einsetzen. Das Fehlen des Themas ‚Liebe‘ speziell in der Lyrik scheint mir auf einer anderen als nur der inhaltlichen Ebene zu liegen, nämlich auf einer pragmatischen. Mit Pragmatik ist dabei ganz allgemein jene Sinndimension der Texte gemeint, die durch die Formen ihres Gebrauchs entstehen. Für den Minnesang ist es dabei zum Handbuchwissen geworden, dass er gerade in der frühen Zeit als höfisches Zeremonialhandeln in die sozialen Praktiken des höfischen Lebens eingebunden war. Auch wenn das ein allzu pauschales Urteil ist, könnte es doch erklären, warum der Minnesang sein Leben außerhalb der Handschriften führte und erst von einer elaborierten, im späten 13. Jahrhundert nun auch weltlichen Schreibpraxis beachtet wurde. Man hat in der neueren Forschungsdiskussion für dieses Problemfeld das Begriffspaar „Aufführung und Schrift“28 eingeführt: Der primäre Ort mittelalterlicher Lyrik liege in der Dimension ihrer Aufführung; die teils sehr komplexen Texturen der Lieder seien dagegen nicht ohne das Medium der Schrift produzierbar und in ihrer ganzen hermeneutischen Tiefe wohl auch nicht rezipierbar. Wir müssen also akzeptieren, dass die Schriftförmigkeit als einziger uns verfügbarer Überlieferungszustand der Texte nur sehr mittelbar einen Zugriff auf die Liedkultur des Mittelalters erlaubt. Die Suche nach Spuren der Aufführung und deren spezifischer kommunikativer Logik29 ist eine mühsame, wenn nicht vergebliche. Für die folgende Argumentation ist es nun entscheidend, dass das Medium der Schrift in diesem Problemfeld zweimal vorkommt: Einerseits ist es – zumindest für prominente Teile des Minnesangs – ein Medium der Produktion und möglichen Rezeption30 und spielt damit auch eine Rolle in jenen sozialen höfischen Zusammenhängen, zu der die Praxis des Sangs konstitutiv gehörte. Wie diese Rolle jedoch konkret aussah, wird wohl unklar bleiben. Sicher wurden die Lieder meist auswendig vorgetragen, aber der lange Weg des Repertoires von seiner Entstehung bis hinein in die großen Liederhandschriften ist ganz ohne die Schrift kaum denkbar. Doch von den Trägern dieser Schrift, die man sich als wie auch immer geartete Konzeptaufzeichnungen31 vorstellen muss, ist uns 28 29 30 31
Vgl. Aufführung und Schrift in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 1994. Hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER, Stuttgart, Weimar 1996. Als Beispiel etwa JAN-DIRK MÜLLER: Performativer Selbstwiderspruch. Zu einer Redefigur bei Reinmar. In: PBB 121 (1999), S. 379-405. Vgl. dazu NIGEL F. PALMER (Anm. 26). Ein Beispiel wäre hier das früheste Fragment des Wartburgkriegkomplexes, das – evt. als Rest eines Rotulus – eine solche Konzeptaufzeichnung darstellt (Berlin, GStAPK: XX. HA Hs. 33, Bd. 11). Vgl. Katalog der mittelalterlichen deutschsprachigen Handschriften der ehemaligen Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg. Nebst Beschreibung der mittelalterlichen deutschsprachigen Fragmente des ehemaligen Staatsarchivs Königsberg, auf der Grundlage der Vorarbeiten LUDWIG DENECKES erarbeitet von RALF G. PÄSLER/UWE MEVES, München 2000 (Schriften des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte 15), S. 161f.
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nichts erhalten. Andererseits stehen die meisten Handschriften, die uns vorliegen, für eine andere Form der Schrift, die kaum als Vortragsbegleiter diente, sondern für eine Praxis des Sammelns, Archivierens, für eine Praxis der schriftlichen Aneignung steht. Zu unterscheiden sind also eine aufführungs-, produktionsbezogene Form der Schrift und eine überlieferungsbezogene, archivalische – und nur in letztere geht die höfische Liebeslyrik ein. Als Aufführungskunst ist der Minnesang schriftfern. Eine frühe Schreibpraxis, die den Sang materiell schriftförmig in den Raum der höfischen Repräsentation hereingeholt hätte, gab es scheinbar nicht. Vergleichbares haben wir mit der Überlieferung der höfischen Epik vor uns, die zwar – für epische Großtexte ja nicht verwunderlich – deutlich früher einsetzt, dies aber zunächst nur in (begründbaren) Ausnahmefällen32 in repräsentativen Codices, sondern in der Regel in Form von schlichten Gebrauchshandschriften. Eine Differenzierung zwischen aufführungs- und schriftbezogenen Formen ist jedoch nicht nur für das Medium der Überlieferung von Bedeutung. Entscheidend ist, dass die Texte selbst, so die These, auf diese Situation reagieren. Um das zu beschreiben, will ich im folgenden zwischen ‚textuell‘ und ‚performativ‘ konzipierten Texten unterscheiden: Geht man von der Vorstellung aus, Minnesang sei (para-)rituelle Aufführungskunst vor dem Hof, dann ist davon auszugehen, dass er seine Kohärenz aus der Integration im Rahmen von öffentlichen Handlungsformen am Hof ableitet und insofern von einer performativen Kohärenz geprägt ist. Die Rollen des Textes changieren potentiell zwischen den anwesenden Kommunikationsteilnehmern und den textinternen Figuren. Das ‚Ich‘ von Autor, Sänger und Liebenden steht in einem prekären Verhältnis, das war wohl ein wesentlicher Reiz der Aufführungspraxis. Davon zu unterscheiden sind Formen der textuellen Kohärenzbildung, die sich am besten anhand des oben besprochenen Hicila-Verses erläutern lassen, also anhand eines sprechenden Buches. Das Besondere an diesem Fall, der in einer antiken Tradition steht,33 besteht in der spezifisch textuellen Referentialisierung. Das sprechende Buch ist an das Medium der Schrift gebunden und ohne sie nicht denkbar, man kann den Text kaum vortragen. Das unterscheidet diesen Fall grundlegend von der Referentialisierung des Sangs als Rollenspiel vor dem Hof, das im Rahmen der Aufführung seine Logik entfaltet: Die kommunikative Logik des sprechenden Buches leitet sich also aus dem Prozess der Lektüre her. Ein weiteres solchermaßen textuell organisiertes, schriftbezo-
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Vgl. STEPHAN MÜLLER: ‚Erec‘ und ‚Iwein‘ in Bild und Schrift. Entwurf einer medienanthropologischen Überlieferungs- und Textgeschichte am Beispiel der frühesten Zeugnisse der Artusepen Hartmanns von Aue. In: PBB 127 (2005), S. 414-435. S. dazu SCHÜTZEICHEL (Anm. 8).
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genes Beispiel gibt es auch in späterer Zeit: Der Heimliche Bote34 im clm 7792 verkündet seine Minnelehre als sprechendes Buch und wurde im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts aufgeschrieben,35 steht also weit vor den ersten schriftlichen Spuren des Minnesangs und stellt eine auf das Medium der Schrift bezogene höfische Minnedidaxe dar. Ich verstehe diese textuell organisierte Kohärenzbildung als eine Strategie, die ‚Liebe‘ in der Schrift thematisierbar zu machen. Die Abwendung von der Aufführungslogik hin zur Schriftlogik ist dabei eine Strategie, die mit dem Befund der sehr frühen Überlieferung gerade dieser Texte korrespondiert. Aber auch im Korpus des Sangs selbst scheint mir die Differenzierung zwischen performativer und textueller Kohärenzbildung beobachtbar zu sein. Ich will vorschlagen, im Gegensatz zum performativen ‚Rollenlied‘ die Tradition des ‚Tageliedes‘ in einer textuellen Perspektive zu interpretieren, selbst wenn die Tagelieder natürlich auch vorgetragen wurden.36 Das Tagelied steht, wir wissen es, in einer internationalen Tradition. Im deutschen Sprachraum spielt diese in der Frühzeit des Minnesangs jedoch keine große Rolle. Anders als im romanischen Bereich entfaltet sich die deutsche Tradition nach punktuellen Anfängen erst mit Wolframs Tageliedern, die – CHRISTIAN KIENING hat es beschrieben – das ganze poetische Potential der Gattung ausloten.37 Die frühen Tagelieder setzen zwar den Situationsentwurf des Tagelieds voraus, dass Liebender und Liebende sich nach gemeinsamer Nacht trennen müssen, wobei oft eine dritte Instanz, besonders die des Wächters, von Bedeutung ist; doch wird im frühen Sang dieser Situationsentwurf nicht auserzählt.38 Erst als das geschieht, kommt der pragmatischen Dimension des Textes eine wichtige Rolle zu, die ich hier hervorheben will. Der Rollenentwurf des Tageliedes ist in seinen Referentialisierungsstrategien nämlich nicht nur performativ, sondern auch textuell strukturiert: Wie das sprechende Buch substituiert die Schrift hier Rollen, die nicht auf das Feld der Aufführung referieren. Neu ist, dass sich diese Tradition nicht auf die Rolle der Ersten Person Singular (als sprechendes Buch) zurückzieht, sondern eine dritte Person – inhaltlich und grammati34 35 36 37 38
DIETRICH HUSCHENBETT. In: ²VL 3 (1981), Sp. 645-649. SCHNEIDER (Anm. 20), S. 109. Zu erinnern ist hier auch aus dem Bereich der Epik an die Eingangverse des Wigalois. Zur einer möglichen performativen Logik der Tagelieder vgl. VOLKER MERTENS: Tagelieder singen. Ein hermeneutisches Experiment. In: Wolfram Studien 17 (2002), S. 276-293. CHRISTIAN KIENING: Poetik des Dritten. In: DERS.: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt a. M. 2003, S. 157-175. Zu nennen sind hier etwa die Tagelieder Dietmars von Aist (Minnesangs Frühling (Anm. 20), VIII, XIII) und Heinrichs von Morungen (Minnesangs Frühling (Anm. 20), XIX, XXX), die die Liebenden als Rollenträger zu Wort kommen lassen und die Situation anzitieren, aber letztlich keinen Dialog entwerfen und ohne die Rolle einer dritten Figur auskommen.
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kalisch – einführt: Man kann das poetologisch als Episierung des Liedes beschreiben, als Etablierung eines textinternen Situationsrahmens, der eine erste und zweite Person, aber nun auch eine dritte Instanz adressierbar macht. Mit dem Heraustreten aus der Beschränkung auf die Erste und Zweite Person und eine Erweiterung auf den Bereich der Dritten wird im Lied ein textuell organisierter, abgeschlossener Rahmen der Referentialisierungen aufgebaut, der ganz anders als die dominant performative Integration der Rollenlyrik funktioniert.39 Die Verwendung der Ersten und Zweiten Person nämlich geht von der Kommunikation unter Anwesenden aus, die Dritte Person (und ihre Pronomina) dagegen verweist auf potentiell Abwesende und muss deshalb z. B. etwas über das Geschlecht dieser dritten Person aussagen.40 Diese Eigenschaft der Tagelieder rücken sie näher als die Rollenlieder an die Dimension der Schrift. Es wäre zu bedenken, ob daraus nicht der relativ späte Erfolg der Tagelieder bzw. dessen spärliche frühe Spuren erklärbar sind. Vor dem Hintergrund der beschriebenen Spannung zwischen ‚Liebe‘ und volkssprachiger ‚Schrift‘ könnte man vermuten, dass die performativ konzipierte Liebeslyrik für eine Vortragskultur attraktiver war, während die Situationsentwürfe einer elaborierten Tageliedtradition auf die Schrift verweisen. Diese These wird durch einen letzten, punktuellen Überlieferungsbefund gestützt. Vom Minnesang gibt es, wie gesagt, vor dem Ende des 13. Jahrhunderts keine nennenswerten Überlieferungsträger. Nur ein Fall ist noch vor die Jahrhundertmitte zu datieren: Zwei von Wolframs Tageliedern (Minnesangs Frühling (Anm. 20), XXIV, I und II) sind im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts im cgm 1941 überliefert, Wolframs Minnelieder finden sich dagegen erst in den späteren Sammlungen. Ohne den Befund überanstrengen zu wollen, will ich folgenden Schluss daraus ziehen: Der schriftbezogene, textuell organisierte Liedtyp des Tageliedes hat also anscheinend einen schweren Start in die zeremonielle Liedkunst der höfischen Kultur, aber er fand in seiner textuellen Zugewandtheit an die Schrift dann schnell den prekären Weg aufs Pergament. Der rituellen Praxis des Rollensangs blieb dieser Weg noch eine Zeit verbaut, so lange bis die archivalischen oder repräsentativen Interessen einer neuen Schreibpraxis sich auch dieser Tradition annahmen.
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Natürlich gibt es Tendenzen textinterner Referentialisierungen auch im Rollensang, am deutlichsten vielleicht im Dialoglied, oder in selbstreferentiellen Aussagen wie das berühmte in Kürenberges wîse (Minnesangs Frühling (Anm. 20), II,II,2), aber diese bleiben gerade in der frühen Zeit die Ausnahme. Dies nur ein Beispiel für den Unterschied zwischen den Pronomina der Dritten und denen der Ersten und Zweiten Person. Vgl. PETER EISENBERG: Grundriss der deutschen Grammatik, Stuttgart 1989, S. 188-190. Laut SCHNEIDER (Anm. 20), S. 152.
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Mir scheint, dass der Hohe Sang und das Tagelied zwei verschiedene Lösungen ein und desselben Problems anbieten. Sie sind zwei Lösungen des Problems der Kodifizierung von Liebestexten, das für das Frühmittelalter nachzuzeichnen war. Das Rollenlied wendet sich zunächst von der Schrift ab und findet seine Lebensform im höfischen Ritual – das Tagelied geht dagegen, wenn man so will, auf die Schrift zu. Dieser Schritt hin zur Schrift ist dabei keine Erfindung der deutschen Tradition, sondern ein grundsätzliches Angebot des Genres, das in der frühen deutschen Praxis des Liedvortrags keinen guten Platz fand. Erst der Epiker Wolfram greift die textuellen Chancen des Genres auf, die seine Vorgänger im Kontext einer performativen Textpraxis nicht zu nutzen wussten. Der höfische Liebesdiskurs, der hinter der Tradition des Sangs steht, ist ein öffentliches Sprechen über die Liebe; für ein Schreiben über die Liebe eroberte die literarische Tradition in der Volkssprache sich erst langsam jenen Raum, in dem das spezifische Alleinsein mit der Schrift, das Spiel zwischen emotionaler Passion und medialer Distanz das Thema ‚Liebe‘ ganz entscheidend prägen wird. Für die Zeit davor begegnen uns mit den frühen Spuren und dann mit Tagelied und Rollensang alternative Reaktionen auf das prekäre Verhältnis von Liebe und Schrift. So gesehen könnte die sich verändernde Widerständigkeit der Handschriftenkultur gegen die Liebe, die wir seit dem Frühmittelalter beobachten können, bei einer Neubewertung der Tradition des frühen Minnesangs helfen und damit nachdrücklich für die literarhistorischen Chancen einer Überlieferungsgeschichte plädieren, wie ich sie hier nur punktuell vorschlagen konnte.
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Amors Pfeil Liebe zwischen Medialisierung und Mythisierung in Heinrichs von Veldeke Eneasroman Die glückliche Liebe hat keine Geschichte (DENIS DE ROUGEMONT)
Dass das Mittelalter besonders in den volkssprachlichen literarischen Gattungen von Minnesang und höfischem Roman die ‚Liebe‘ neu entdeckt habe, ist spätestens seit DENIS DE ROUGEMONT zum Allgemeinplatz mediävistischer Forschung geworden.1 ROUGEMONTs bereits in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts formulierte These basiert vor allem auf Überlegungen zu den volkssprachlichen Tristan-Texten, die für ihn einen neuen Mythos der Liebe repräsentieren. Dieser Mythos konkretisiere die zwischenmenschliche Beziehungen begründende Gefühlsqualität vor allem als Leiden, also als Leidenschaft im wörtlichen Sinne, und zwar, indem die „in der Liturgie zum Ausdruck kommenden Regungen der göttlichen Liebe“ auf jene der „unverblümtesten menschlichen Liebe“ übertragen würden.2 Wenngleich in historischer Perspektive die Freudianische Prägung des Übertragungsbegriffs bei Rougemont, der von einer Divinisierung und insofern Mythisierung der menschlichen Liebe ausgeht, aus heutiger Sicht zu problematisieren ist, hat er doch der mediävistischen Literaturwissenschaft den Weg gewiesen, begründeten seine Überlegungen schließlich das anhaltende Interesse, in der Forschung über Entstehung und Wesen der Liebe nachzudenken, wie sie in der deutschen Literatur seit der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts dominant in Erscheinung tritt. Heinrichs von Veldeke im 12. Jahrhundert entstandener Eneasroman gilt der Forschung von jeher als paradigmatischer Text, wenn es um die ihm impliziten Konzeptionen von Liebe und damit verbunden von Liebesent-
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DENIS DE ROUGEMONT: Die Liebe und das Abendland, Zürich 1987 (Originalausgabe Paris 1939). Ebd., S. 446.
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stehung geht. Seit langem jedenfalls wird darauf hingewiesen, dass Heinrich mit seiner den französischen anonym überlieferten Vorlagentext adaptierenden Ausgestaltung der Liebesgeschichte zwischen Eneas und Lavinia die bei Vergil im Vordergrund stehende Erzählung von der unglücklichen Leidenschaft zwischen dem trojanischen Helden und der karthagischen Königin Dido nicht allein ergänze, sondern der einen ‚fatalen‘ („falschen“) Liebeskonzeption seines Helden eine weitere, ‚richtige‘ gegenüberstelle.3 Dies, so die ältere Forschung, geschehe in legitimatorischer Absicht, denn der trojanische Held muss in der Erzählung ja bekanntlich der Gründer des Römischen Reiches werden, und hierfür kommt allein die Heirat mit Lavinia in Frage. Hätte DE ROUGEMONT aber mit Sicherheit die leidenschaftliche, da unglückliche, Leiden schaffende Liebe zwischen Dido und Eneas als Beleg für seine These interessiert, so gilt der jüngsten Forschung, so scheint es, interessanterweise die Lavinialiebe als Ausweis für die Entwicklung einer literarischen Codierung eines Affekts bzw. noch weitergehend als Ort der Entstehung eines reflektierten Gefühls in mittelalterlicher Literatur, das, so MIREILLE SCHNYDER, erst da überhaupt entstehen könne, „wo es Teil einer medial vermittelten, dadurch reflektierten und in einen Kommunikationszusammenhang eingebundenen Affektordnung“ sei.4 Dies geschehe in der Laviniaepisode in einem Lehrgespräch zwischen Mutter und Tochter, welches erklärt, was genau unter Liebe zu verstehen ist, sowie anschließend in einem Brief der Lavinia an Eneas, in dem sie ihm ihre Liebe offenbart.5 3
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FRIEDRICH MAURER: „Rechte“ Minne bei Heinrich von Veldeke. In: Archiv 187 (1950), S. 1-9. – Modifizierend zu MAURERs Thesen GERRIT J. OONK: Rechte Minne in Veldekes Eneide. In: Neophilologus 57 (1973), S. 258-273; ARTHUR GROOS: Amor and his Brother Cupid: The „Two Loves“ in Heinrich von Veldeke’s „Eneit“. In: Traditio 32 (1976), S. 239-255; Kritisch zu MAURERs Thesen vor allem WERNER SCHRÖDER: Dido und Lavine. In: ZfdA 88 (1957/58), S. 161-195, und KURT RUH: Höfische Epik des deutschen Mittelalters, Bd. 1, Berlin 1967, S. 67-84. Zu dieser Forschungsdiskussion vgl außerdem MONIKA SCHAUSTEN: Gender, Identität und Begehren: Zur Dido-Episode in Heinrichs von Veldeke „Eneit“. In: Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien ‚Körper‘ und ‚Geschlecht‘ in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von INGRID BENNEWITZ/HELMUT TERVOOREN, Berlin 1999 (Beihefte zur ZfdPh 9), S. 143-158. MIREILLE SCHNYDER: Imagination und Emotion. Emotionalisierung des sexuellen Begehrens über die Schrift. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Hrsg. von C. STEPHEN JAEGER/INGRID KASTEN, Berlin, New York 2003 (TMP 1), S. 237-250, hier S. 238. – Hierzu kritisch RÜDIGER SCHNELL: Medialität und Emotionalität. Bemerkungen zu Lavinias Minne. In: Germanisch-romanische Monatshefte 55 (2005), S. 267-282, hier S. 280: „Meines Erachtens entsteht das Gefühl nicht erst dort und dadurch, wo bzw. dass es materialisiert bzw. vermittelt wird; sondern das Gefühl selbst ist es, das materialisiert werden will, damit das Gegenüber von diesem Gefühl erfährt und es erwidern kann. Das Gefühl fordert die Vermittlung und schafft sich ein Medium, nicht umgekehrt.“ Zum Komplex der ‚Medialisierung des Gefühls‘ zählt auch jene Szene im Eneasroman, in der Lavinia den Namen des geliebten Eneas in eine Wachstafel ritzt (V. 10614-10627).
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Die Betonung auf Lehrgespräch und Brief, die Heinrich hier als entscheidende Kommunikationsmedien der Liebe inszeniert, bestimmt die jüngere Forschung in besonderem Maße.6 Nimmt man ältere und die gegenwärtige Forschung in den Blick, könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Liebe entweder primär als mythisches7 oder als mediales Ereignis interessiert, dass mögliche Relationen beider Modi, von der Liebe zu erzählen, indes überwiegend gerade nicht in Betracht gezogen werden. Von daher wundert es auch nicht, dass die literarästhetischen Urteile unterschiedlich ausfallen, die sich um die Darlegung des innovativen Moments von Heinrichs Liebeskonzeptionen im hohen Mittelalter bemühen bzw. bemüht haben: Galt der älteren Forschung, wie gesagt, die Betonung der mythischen und damit nicht-rationalen Semantisierung der Gefühlsqualität als entscheidend, so sieht die jüngere Forschung das Neue in Bezug auf Heinrichs Liebesauffassung deutlicher in der literarischen Inszenierung der Erklärung der Liebe im neuen Medium der Schrift. Wir vermuten indes, dass besonders die Lavinia-Episode einen komplexen Zusammenhang zwischen mythischer und medialer Begründung der Liebe entwickelt. Von daher versucht dieser Beitrag in einem close reading zu ergründen, in welchem genaueren Verhältnis Medialisierung und Mythisierung der Affektordnung bei Heinrich zueinander stehen. Dafür scheint es erforderlich zu sein, alle relevanten Episoden des Eneasromans, die für die Liebesproblematik zentral sind, heranzuziehen: die Dido-Episode und die Lavinaepisode, zwischen denen der Text deutliche Bezüge herstellt. Wichtig sind für beide Teile die Aussagen zu Entstehung und Wesen der Minne. Wir konzentrieren uns im Folgenden nun zunächst auf die Episode, die sich mit der Entstehung der Dido-Minne beschäftigt.
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ANDREA SIEBER: (Un)Erwünschte Effekte. Mediengebrauch, Synergie und Störung im höfischen Roman. In: Das Mittelalter 9 (2004), S. 55-63, hier bes. S. 56-59. – BERND A. RUSINEK: Veldekes „Eneide“. Die Einschreibung der Herrschaft in das Liebesbegehren als Unterscheidungsmerkmal der beiden Minne-Handlungen. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 78 (1986), S. 11-25, wertet den Liebesbrief Lavinias als „objektiviertes Subjektives“ (S. 21), das den „geheimen, transitorischen, intersubjektiven Charakter des mündlichen Versprechens“ aufhebe und steigere (ebd.). – HENNING WUTH: was, strâle unde permint. Mediengeschichtliches zum Eneasroman Heinrichs von Veldeke. In: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hrsg. von HORST WENZEL, Berlin 1997 (Philologische Studien und Quellen 143), S. 63-76, hier S. 75, unterstreicht die mittels Schrift (Schreiben des Namens) auf Dauer gestellte Herrschaftsliebe zwischen Eneas und Lavinia. Vgl. dazu z. B. FRIEDRICH VON BETZOLD: Das Fortleben der antiken Götter im mittelalterlichen Humanismus, Bonn, Leipzig 1922; LUDWIG WOLFF: Die mythologischen Motive in der Liebesdarstellung des höfischen Romans. In: ZfdA 84 (1952), S. 47-70, und zuletzt CARSTEN KOTTMANN: Gott und die Götter. Antike Tradition und mittelalterliche Gegenwart im Eneasroman Heinrichs von Veldeke. In: Studia Neophilologica 73 (2001), S. 71-85.
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1. Mythos – Die Erweckung der Dido-Minne Die Erweckung der Liebe in Dido wird in Vergils Aeneis, im afrz. Roman d’Eneas und im mittelhochdeutschen Eneasroman des Heinrich von Veldeke je verschieden dargestellt.8 Doch in allen drei Fällen spielen Gottheiten eine nicht unbedeutende Rolle. Dido, die Herrscherin Karthagos, erfährt, dass ein fremder Heerführer, der trojaflüchtige Eneas, ans Ufer gespült worden sei. Es sind die Götter, die in den genannten Epen/Romanen – aus unterschiedlichen Gründen – verfügen, dass Dido sich in Eneas verliebt. Bei einem Fest soll Ascanius, der Sohn des Eneas, auf Dido und Eneas treffen. Didos Liebe zu Eneas ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht entfacht, sie wird vielmehr mittels göttlicher Initiative implementiert. Bei Vergil hat Venus den Einfall, Amor möge in Gestalt des Ascanius auf den Schoß der Dido steigen, um ihr beim Austausch zärtlicher Küsse Gift einzuhauchen.9 In der Aeneis handelt es sich beim Erwecken dieser Liebe um ein typisches Spiel der Götter. Venus bedient sich der List, des Trugs und des Scheins. Mittels Metamorphose, der Verwandlung Amors in die Gestalt des Ascanius, mittels Vortäuschung einer falschen Identität also, soll Dido das Liebesgift eingehaucht werden. Die Totalität der List wird dadurch unterstrichen, dass Dido, Ascanius, Eneas und darüber hinaus auch die anderen Götter als Opfer des Betrugs imaginiert werden. „Listig die Königin in lodernden Flammen zu fangen, / Plan ich deshalb, auf daß kein Gott das Herz ihr verkehre“, heißt es (V. 673f.). Mit Blick auf Ascanius: „Daß er die List nicht merke derweil und keinem begegne. / Nimm denn seine Gestalt die Nacht, die einzige Nacht nur, / Trügerisch an“ (V. 682ff.). Und schließlich, wenn der Betrug vonstatten geht: „Und im Schein den sehnenden Drang des Vaters befriedet“ (V. 716). Die Begründung für die Erweckung der Liebe geht dem Betrug durch Venus voraus. „Auf daß kein Gott das Herz ihr [d.h. Dido] verkehre“, heißt es bei Vergil. Venus will die Oberhand über Juno gewinnen, es ist ein Kampf der Götter um Einfluss auf den irdischen Protagonisten, der der Liebeserweckung zugrunde liegt. Nach HANS BLUMENBERG sind mythische Götter typische Götter, insofern nicht ihre moralische Identität sie charakterisiert, sondern die Gleichartigkeit der Eigenschaften und Wirkungen. Cupido initiiert Liebe. Diese Wirkung macht seine Identität aus. Da er über keine moralische Identität verfügt, hat er keine Geschichte: „Die Götter machen Geschichten, aber sie haben keine Geschichte“.10 Die Götter ma8 Vgl. dazu bes. ANETTE SYNDIKUS: Dido zwischen Herrschaft und Minne. Zur Umakzentuierung der Vorlagen bei Heinrich von Veldeke. In: PBB 114 (1992), S. 57-107. 9 Vergil: Aeneis. Lateinisch und Deutsch. Eingeleitet und übertragen von AUGUST VEZIN. 3., verbesserte Aufl., Münster 1960. 10 HANS BLUMENBERG: Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1996 (Erstauflage 1979), S. 148.
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chen unter anderem Geschichten, indem sie sich verwandeln. Cupido verwandelt sich in Ascanius. Für Ovid stellt die Metamorphose die zentrale Qualität des Mythos dar, weil erst die Metamorphose die ästhetische Erzählbarkeit des Mythos herstellt. Ohne die Geschichten der Götter, ohne deren Metamorphosen keine Erzählung, kein Mythos. Man kann nur von Veränderungen erzählen, Identität im Sinne von substanzieller Unveränderlichkeit ist schlechterdings nicht erzählbar. Der Schein ist die Bedingung, dass Didos Liebe initiiert werden kann. „Der Doketismus ist die dem Mythos angemessene Ontologie“.11 Der Mythos kennt die scheinhafte Existenz der Götter, deren verfremdete Authentizität zuhauf. List, die List der Götter, Metamorphose und Schein: In Vergils Version der Entstehung der Didoliebe werden unverkennbar mythische Aktions- und Interaktionsmuster aufgegriffen. Die Begründung für die Dido-Liebe ist im altfranzösischen Roman d’Eneas bereits stark verändert. Venus, die Mutter des Eneas, hegt den Wunsch, das wilde Volk möge ihn gut behandeln. Die Konkurrenz der Götter ist weitgehend ausgeschaltet. Es greift hier so etwas wie eine mittelalterliche ‚Psychologisierung‘. Der RdE12 suggeriert unverkennbar eine Tristan-Parallelität. Wenn Dido Askanius küsst, trinkt sie „tödliches Gift“ (mortel poison la dame beit, V. 811), „jeder trinkt für sein Teil reichlich davon“ (chascuns en beit bien a son tor, V. 818), heißt es, sie hat eine tödliche Krankheit in sich aufgenommen. Im Tristan des Thomas von Britannien – im Fragment Douce V. 1223 – liest man den Vers: „wir haben unseren Tod getrunken“ (El beivre fud la nostre mort).13 Dem Trankmotiv ist im RdE eine Vorstellung von Quantifizierung beigegeben; je öfter einer trinkt, um so mehr trinkt er vom tödlichen Gift. Dido legt ein törichtes Verhalten an den Tag, indem sie bis in den Abend hinein Ascanius liebkost. So ist sie diejenige, die am intensivsten trinkt. Hier setzt etwas ein, was bei Heinrich von Veldeke intensiviert wird: die Exkulpierung des Eneas. Die mythischen Ingredienzien List, Metamorphose und Schein sind im RdE fallengelassen, an ihre Stelle tritt – neben einer anderen Motivierung der Liebeserweckung – das Motiv des Gifttrankes. Venus ist zwar noch aktiv, die Götter sind nicht verabschiedet, aber das, was das Mythische ausmacht, das Moment der Verwandlung und des Scheins, scheint nicht mehr kommunizierbar zu sein. Stattdessen greift hier eine Literarisierung 11 12 13
Ebd., S. 153. Wir zitieren den Roman d’Eneas (RdE) im Weiteren nach folgender Ausgabe: Le Roman d’Eneas. Übersetzt und eingeleitet von MONICA SCHÖLER-BEINHAUER, München 1972 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters 9). Thomas. Les Fragments du Roman de Tristan. Poème du XIIe siècle. Édités avec un commentaire par BARTINA H. WIND, Genf/Paris 21960 (Textes Littéraires Français 92), Fragment Douce 1223.
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der Liebeserweckung, insofern die intertextuelle Bezugnahme auf den Tristanstoff die mythischen Aktionsmuster ersetzt. Kommen wir nun zu Heinrich von Veldeke14, dem eine gewisse Nähe zu Vergil nachgesagt worden ist und der den altfranzösischen Roman ins Deutsche wahrheitsgetreu, wie er im Epilog des Romans beteuert, zu übertragen vorgibt, wenngleich gerade bei der Erzählung von der Liebesentstehung deutliche Unterschiede zu verzeichnen sind: dô rûrdin frouwe Vênûs mit ir fûre an sînen munt […] daz koufte vile tûre Dîdô, diuz dar abe nam, […] si kuste in an sînen munt: […] Ênêas bî ir saz do si also brinnen began. her was ein vil schône man unde minnechlîche getân. done mohte si des niht engân, si enmûste in starke minnen. (V. 808-845) [Als unterdessen der Jüngling Ascanius an den Hof reiten wollte,] berührte Frau Venus mit ihrem Feuer seinen Mund […] Dafür musste Dido teuer bezahlen, die es von seinen Lippen küsste […] Sie küsste ihn auf den Mund […] Eneas saß neben ihr, als sie so in Feuer geriet. Er war ein sehr schöner und einnehmender Mann. Da konnte sie nicht anders, sie mußte ihn leidenschaftlich lieben.
Hier begegnet Vertrautes, aber auch Unvertrautes. Eine Begründung für die Liebeserweckung fehlt bei Veldeke. Und bedeutsam ist hier der Umstand, dass im Gegensatz zur altfranzösischen Vorlage nur Dido den Asca14
Wir zitieren den Text Heinrichs im Weiteren nach folgender Ausgabe: Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Nach dem Text von LUDWIG ETTMÜLLER übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von DIETER KARTSCHOKE, Stuttgart 1989.
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nius küsst, Eneas aber nicht. Die Exkulpierung des Eneas, die im RdE bereits angelegt ist, dadurch nämlich, dass er seinen Sohn weniger intensiv küsst und somit weniger Gift aufnimmt, wird hier intensiviert. Die tragische Distanz zwischen Dido und Eneas wird nicht nur durch den Götterbefehl zur Weiterfahrt des Helden beeinflusst, vielmehr schon durch die häufigeren Küsse der Dido plausibilisiert. Welche Mechanik der Liebeserweckung wird bei Veldeke in Gang gesetzt, wie geht die Erweckung von statten? Wenn Dido Ascanius küsst, heißt es: diuz dar abe nam (V. 821). HANS FROMM übersetzt: „Sie pflückte es von seinen Lippen“.15 Das, was übertragen wird, durch Berührung, durch Küssen übertragen wird, das Feuer der Liebe, hat eine material-stoffliche Qualität. Liebe entsteht über Berührung, das ist auch schon bei Vergil und im RdE der Fall, Liebe ist aber darüber hinaus bei Heinrich von Veldeke von stofflicher Qualität. Die Liebe entsteht nicht erst in der Protagonistin, in einem imaginierten Inneren, sondern wird ihr als material-stoffliche Qualität übermittelt. Bei Heinrich von Veldeke kommt der Berührung also eine besondere Bedeutung zu. Denn das Mythische – von der Partizipation der Götter einmal abgesehen – konkretisiert sich geradezu in der Berührungsqualität der Minne. Veldeke betont den Übertragungsweg der Minne. Es ist noch nicht das Auge, durch das die Minne einfällt. Dieser Weg der Minneentstehung wird in der höfischen Literatur zum Königsweg der Liebesentstehung schlechthin.16 Es ist die Berührung in Form des Kusses, die das Feuer der Liebe überträgt. Das bestätigt sich auch, wenn der Erzähler als Bedingung dafür, dass Dido Eneas verfällt, ins Feld führt, dass er zum einen ein schöner und einnehmender Mann sei, zum andern – und dies scheint wichtiger – neben ihr sitzt: Ênêas bî ir saz (V. 840; „Eneas saß neben ihr“). Das Nebeneinander ist eine Form mythischer Kausallogik. Weil Eneas neben ihr sitzt, weil sie in Kontakt sind, verliebt sie sich in ihn und in keinen anderen. Auf den Kontakt kommt es an, er begründet die Richtung der Liebe, den Adressaten der Liebe. Die Macht der Berührung gilt zumindest für die Dido-Minne uneingeschränkt. Die Laviniaminne wird sich davon entscheidend absetzen. Für die Dido-Minne bedeutet dies: Sie ist wie schon bei Vergil und im RdE und stärker noch magische Kraft, die unabhängig von einem ‚personalen‘ Liebesethos existiert. Zwischen einer Vorstellung von Liebe als magischer Kraft und einem personalen Liebesethos kann eine fruchtbare Spannung entstehen, dies ist bereits in Veldekes Eneasroman der Fall, wenn Dido sich kurz vor ihrem Selbstmord eine Schuld am Liebeswahnsinn zu-
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Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Die Berliner Bilderhandschrift mit Übersetzung und Kommentar. Hrsg. von HANS FROMM, Frankfurt a. M. 1992 (Bibliothek des Mittelalters 4). Vgl. RÜDIGER SCHNELL: Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur, Bern/München (Bibliotheca Germanica 27), S. 241-274.
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spricht. Heinrich von Veldeke hat darüber hinaus in einem Minnelied die Spannung zwischen Minne als magischer Kraft und Minne als ethischer Ausrichtung thematisiert. Dort heißt es: Tristran muose sunder sînen danc staete sîn der küneginne, wan in daz poisûn dar zuo twanc mêre danne diu kraft der minne. Des sol mir diu guote sagen danc, wizzen, daz ich sölhen tranc nie genam und ich sî doch minne baz danne er, und mac daz sîn. wol getâne, valsches âne, lâ mich wesen dîn und wis dû mîn. (MF 58,35)17 Tristan mußte gegen seinen Willen treu sein der Königin, weil ihn der Liebestrank dazu zwang mehr als die Macht der Minne. Dafür soll mir die Gute Dank wissen, daß ich solchen Trank nie zu mir nahm und ich sie dennoch liebe mehr als er, wenn das sein kann. Wohlgestalte ohne Falsch, laß mich dein sein und sei du mein.18
Ausgearbeitet wird diese Spannung tatsächlich im Tristan Gottfrieds von Straßburg, wo dem Zwang des Minnetranks die Einwilligung Tristans und Isoldes in die Minne an die Seite gestellt wird, wo der Zwang des Minnetranks mithin in eine Ethisierung der Minne überführt wird.19 17 18 19
Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von KARL LACHMANN und MORIZ HAUPT, FRIEDRICH VOGT und CARL VON KRAUS bearbeitet von HUGO MOSER und HELMUT TERVOOREN. I. Texte. 38., erneut revidierte Aufl., Stuttgart 1988. Übersetzung nach GÜNTHER SCHWEIKLE: Mittelhochdeutsche Minnelyrik I. Frühe Minnelyrik. Texte und Übertragungen, Einführung und Kommentar, Stuttgart, Weimar 1993, S. 175. Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von FRIEDRICH RANKE neu hrsg. von RÜDIGER KROHN, Bd. 2., Stuttgart 31985. Tristan bekennt sich aus freien Stücken zu den Folgen des Tranks: V. 12494ff.: ’nu walte es got!’ sprach Tristan / ’ez waere tôt oder leben: / ez hât mir sanfte vergeben. / ine weiz, wie jener werden sol;/ dirre tôt der tuot mir wol ./ solte diu wunneclîche Îsôt / iemer alsus sî mîn tôt, / sô wolte ich gerne werben / umbe ein êwêclîchez sterben.’ ; „Das walte Gott“, sagte Tristan. / „Ob Tod oder Leben: / Es hat mich angenehm vergiftet. / Ich weiß nicht, wie der andere Tod ist; / dieser jedenfalls gefällt mir gut. / Wenn die herrliche Isolde / immer so mein Tod sein soll, / dann will ich mich mit Vergnügen bemühen / um einen ewigen Tod.“ Vgl. dazu außerdem CHRISTOPH HUBER: Gottfried von Straßburg Tristan, Berlin 22001, S. 81.
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Das Berühren, als magische Handlung gedacht, vermittelt den Übergang einem Wesen oder Ding innewohnender geheimer Kräfte auf ein anderes. Die magische Kraft ist nach vormoderner Vorstellung etwas Körperliches, eine Art Stoff, der ausstrahlt und sich dem Berührten mitteilt.20 Die Formulierung: diu ez dar abe nam (V. 821) erinnert an dieses Stoffliche der magischen Kraft. Durch Berührung können körperliche wie geistige Eigenschaften übertragen werden, so z. B. auch die Weisheit des Lehrers auf den Schüler oder die Heilkraft des Königs auf seine kranken Untertanen21. Durch Berührung wird die persönliche Verbindung mit der Gottheit herbeigeführt. Die Übertragung der magischen Kraft erfolgt in erster Linie durch eine Gottheit bzw. ein von göttlicher Kraft erfülltes göttliches Objekt selbst. Die magische Kraft geht auf alles über, was mit ihr in Berührung kommt. So haben Kleider und Marterwerkzeuge eines Märtyrers, die Fußspur, die er getreten hat, ja sogar sein Schatten Wunderkraft. Solcherart kontaguöse Magie ist Ausdruck eines mythisch-magischen Gesetzes der Partizipation. Der Glaube an Berührungszauber ist im Mittelalter weit verbreitet. An die Heilkraft königlicher Berührung glaubte man bis ins 18. Jahrhundert. Man versteht im Mittelalter also ohne Schwierigkeiten den magisch-zauberischen Modus der Liebesentstehung durch Berühren, wie er bei Heinrich von Veldeke als eine paradigmatische Form vorgeführt wird. Die Dido-Minne bei Heinrich von Veldeke ist eine von Göttern übertragene zauberisch-magische Minne, die über Berührung vermittelt wird (Venus küsst Ascanius, Dido küsst Askanius, Dido und Eneas sitzen nebeneinander). Die Entstehung der Eneasminne geht im RdE ebenfalls auf eine Berührung, einen Kuss zurück, hier küssen Dido und Eneas den Ascanius, Eneas allerdings nicht mit gleicher Intensität. Durch den Kuss des Ascanius überträgt sich die Minne, das Stoffliche der Minne, auch auf Eneas, aber in geminderter Form. Bei Heinrich von Veldeke küsst Ascanius ausschließlich Dido, Eneas kommt mit seinem Sohn nicht in Kontakt. Folglich verliebt er sich nicht in Dido, es fehlt die Voraussetzung für die Liebesentstehung, das Küssen, die Berührung des Mundes. Dass Eneas sich nicht verliebt, wie er später im Zusammenhang der Laviniaepisode zugibt22, bestätigt die These des mythisch-magischen Ursprungs der Liebe. 20 21 22
Über Figurationen des Berührens in der mittelalterlichen Literatur CHRISTINA LECHTERBerühren und Berührtwerden: Daz was der belde ein begin. In: JAEGER/KASTEN (Anm. 4), S. 251-270, mit weiterführender Literatur. MARC BLOCH: Die wundertätigen Könige. Mit einem Vorwort von JACQUES LE GOFF, München 1998 (Originalausgabe 1924). Vgl. Eneasroman, V. 11180-11186: ich wiste wol daz frou Dîdô / von minnen leit grôze nôt, / dô si ir selben tet den tôt. / wâr mir dô zer selber stunt / zehen teil sô von minnen kunt, / als ich sider hân vernomen, / ichn wâre nie von ir komen; „Ich wußte sehr gut, daß Frau Dido / aus Liebe große Qualen litt, / als sie sich selbst den Tod gab. / Hätte ich aber damals über die Liebe / auch nur den zehnten Teil dessen gewußt, / was ich seither erfahren habe, / ich hätte sie niemals verlassen.“ MANN:
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Er kann sich nicht verlieben, weil er Ascanius nicht geküsst hat, daher bleibt für ihn der hier einzig denkbare Weg der Liebesentstehung, der kontaguöse Weg, verschlossen.
2. Allegorese – Das Minnegespräch zwischen Lavinia und der Mutter Im zweiten Teil des Eneasromans, nachdem Eneas Dido verlassen und diese sich getötet, Eneas die berühmte Unterweltfahrt überstanden und seine dynastische Zukunft vor Augen geführt bekommen hat, wird Lavinia zur bestimmenden Größe seines Lebens. Der RdE und der deutsche Eneasroman interessieren sich in einem besonderen Maß für diese Liebesgeschichte zwischen Eneas und Lavinia, ein Interesse, das Vergil noch nicht an den Tag legt. Die beiden volkssprachlichen Texte unterminieren in gewisser Weise das Ergebnis ihrer Erzählung, das in der Vereinigung zwischen Lavinia und Eneas besteht. Die Liebe ist auch für Lavinia eine gefährliche, leidvolle Erfahrung. Dafür sorgt ein herrschaftspolitisch motiviertes Interesse: Lavinia ist Turnus versprochen, und im Hinblick auf diese zukünftige Verbindung gewährt die Mutter ihrer Tochter zunächst Einblick in das Wesen der Minne. Im Gespräch zwischen Lavinia und ihrer Mutter wird die Tochter über das Wesen der Minne aufgeklärt. Die Götter, die auch hier als Primärursache für die Entstehung der Minne herangezogen werden, unterzieht der französische wie auch der deutsche Text nun einer Allegorese. Guarde el tenple comfaitement Amors i est peinz folement et tient deus darz en sa main destre et une boiste en la senestre: li uns des darz est d’or en som, ki fait amer, l’altre de plom, ki fait amer diversement. Navrë et point Amors sovent, et si est peinz toz par figure por demostrer bien sa nature: li darz mostre qu’il puet navrer et la boiste qu’il set saner; sor lui n’estuet mire venir a la plaie qu’il fait guarir; il tient la mort et la santé, il resaine, quant a navré. Molt deit l’en bien sofrir d’amor, ki navre et sainë en un jor. (V. 7975-7992)
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Betrachte den Tempel wie Amor dort töricht dargestellt ist und zwei Pfeile in seiner rechten Hand hält und eine Büchse in der linken: der eine der Pfeile, der Liebe hervorruft, ist oben aus Gold, der andre aus Blei, welcher auf andere Art Liebe hervorruft. Amor verletzt und sticht oft, und er ist in ganzer Person dargestellt, damit seine Wesensart deutlich gezeigt wird: der Pfeil zeigt, daß er verletzen kann und die Büchse, daß er zu heilen versteht; außer ihm braucht kein Arzt zu der Wunde zu kommen, die er heilen läßt; er hat den Tod und die Gesundheit in seiner Macht, er heilt wieder, wenn er verletzt hat. Viel muß man wohl von Amor erdulden, der an einem Tag verletzt und heilt.
Der deutsche Erzähltext folgt seiner Vorlage, wenn er den Zeichencharakter Amors unterstreicht. Von der Amorstatue, die man im Tempel vorfinde, heißt es im Gespräch: daz bezeichent die Minne (V. 9914; „Damit ist die Minne gemeint“). Die Büchse, die Amor trägt, bedeute die Salbe, die die Minne immer bereit halte: wil dû nû wizzen rehte, waz diu buhse bedûte, dazn wizzent niht alle lûte, merke in allenthalben: si bezeichent die salben (V. 9938-9942). Wenn du noch genauer erfahren willst, was die Büchse bedeutet – nicht alle wissen darüber Bescheid –, so höre gut zu: Sie bedeutet die Salbe.
Das Minnegespräch zwischen Lavinia und ihrer Mutter im zweiten Teil des Eneasromans konfrontiert die mythische Form der Liebesentstehung durch Götterberührung mit einer Rationalisierung, wenn der Liebesgott Amor einer Allegorese unterzogen wird. Man kann dies als Depotenzierung der Götter verstehen, sie sind nur mehr als allegorische Figuren kommunizierbar. Die Allegorese sorgt dafür, dass Lavinia, wenn sie sich in Eneas, also in den für sie nicht vorgesehenen Mann, verliebt, um ihre Verwundung durch die Liebe wissen kann.
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3. Schrift und Mythos – Die Entstehung der Minne zwischen Lavinia und Eneas Im weiteren Verlauf des Erzählgeschehens beschreiten der RdE und der deutsche Eneasroman jedoch verschiedene Wege, wenn sie der Liebe auf den Grund gehen. Eneas belagert mit seinen Truppen Lauretum, Lavinia, die dem Turnus versprochen ist, blickt aus einem Turmfenster der Burg auf den stattlichen Trojaner – und verliebt sich in ihn: Lavine fu en la tor sus, d’une fenestre esguarda jus, vit Eneas ki fu desoz, forment l’a esguardé sor toz. […] Amors l’a de son dart ferue; […] por lui l’a molt Amors navree; la saiete li est colee des i qu’el cuer soz la mamele. (V. 8047-8067) Lavinia war oben in dem Turm, sie schaute aus einem Fenster hinab, sie erblickte Eneas, der unten war, aufmerksam hat sie ihn vor allen anderen betrachtet. […] Amor hat sie mit seinem Pfeil getroffen; […] um seinetwillen hat Amor sie sehr verwundet; der Pfeil ist ihr bis ins Herz unterhalb der Brust gedrungen.
In einem Minnemonolog deutet Lavinia ihr Schicksal: N’avra Amors de mei merci? Il me navra en un esguart, en l’oil me feri de son dart, de celui d’or, ki fait amer; tot le me fist el cuer coler. (V. 8158-62) Wird Amor kein Erbarmen mit mir haben? Er verwundete mich durch einen Blick, er traf mich mit seinem Pfeil ins Auge, mit jenem aus Gold, der Liebe bewirkt; er ließ ihn mir gänzlich ins Herz dringen.
Amor verwundet Lavinia durch einen Blick. Menschliches Tun – der Blick der Lavinia – und göttliche Aktion – das Abschießen des Pfeils – sind untrennbar miteinander verbunden. Wenn es heißt: Er verwundete mich
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durch einen Blick, ‚ist‘ der Blick der Lavinia auf den schönen Trojaner der Pfeil des Gottes Amor. Man kann das metaphorische Geschehen auf eine Formel bringen: Im Minnemonolog der Lavinia fungiert der Blick anders als im erzählten Geschehen als Amors Pfeil. Mythisches Geschehen wird in mittelalterliche Liebespsychologie überführt. Wie sieht diese Szene bei Heinrich von Veldeke aus? Dô der hêre dare quam und sîn diu maget lussam dâ nidene wart gewar und si ir ougen kêrde dar, dâ si was ûf deme hûs: dô schôz si frouwe Vênûs mit einer scharphen strâle. daz wart ir al ze quâle sint uber ein lange stunden (V. 10031-39) Als nämlich der Herr hinkam und das liebliche Mädchen ihn dort unten erblickte und ihren Blick auf ihn richtete von ihrem Platz im Haus aus, da schoß Frau Venus mit einem scharfen Pfeil auf sie. Das brachte ihr seither nur Schmerzen für eine lange Zeit.
Im Minnemonolog der Lavinia, der sich dieser Szene anschließt, heißt es: Amôr hât mich geschozzen mit dem goldînen gêre des mûz ich quelen sêre und ez koufen tûre (V. 10110-13). Amor hat auf mich geschossen mit dem goldenen Pfeil. Dafür muß ich mich sehr quälen und es teuer bezahlen.
Später klagt sie: von sînen minnen bin ich wunt / und lîde micheln ungemach (V. 10196f.; „Die Liebe zu ihm hat mich verwundet, / und ich leide große Qual“). ‚Mythische‘ Rede – Amor hat auf mich geschossen – steht neben bereits abstrakter allegorischer Rede – die Liebe zu ihm hat mich verwundet; bei Heinrich von Veldeke sind beide Redeweisen, die mythische und die allegorische, zumindest der Tendenz nach weniger aufeinander bezogen, als dies im RdE der Fall ist. Während im RdE in der Figurenrede die allegorisch-metaphorische Redeweise obsiegt, konstruiert Heinrich von Veldeke
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im Minnemonolog der Lavinia ein Nebeneinander von mythischer Rede und Allegorese, der Blick Lavinias und der Pfeil Amors werden nie als ein und dasselbe identifiziert. Neben dem Blick als Pfeil im RdE stehen im Eneasroman Blick und Pfeil. Damit wird bei Heinrich von Veldeke der mythischen Sichtweise der Dinge ein neuer Raum eröffnet, er hegt im Wissen um die allegorische Funktion mythischer Figuren und Erklärungsweisen eine deutliche Sympathie für eine Remythisierung der Minne, einen ‚Neuen Mythos‘ der Minne. Dies wird deutlicher, wenn man das Augenmerk darauf richtet, wie die beiden volkssprachlichen Texte umgekehrt die Minne des Eneas zu Lavinia begründen. Lavinia beauftragt im französischen Roman einen Schützen, Eneas einen Pfeil zuzuschießen, der mit einem Brief versehen ist, in dem Lavinia ihre Liebe zu Eneas offenbart. Sie sieht keine andere Möglichkeit, in ihm Gegenliebe zu entzünden. Eneas empfängt den Brief und freut sich über das Liebesgeständnis der Lavinia. Um seiner Leute willen zögert er indes, sie freundlich anzuschauen. Heimlich tauschen sie Liebeszeichen aus. In einem Minnemonolog des Eneas wird der briefbestückte Pfeil der Lavinia als Pfeil Amors interpretiert. Amors, nen ai vers tei rados, tu ne me lais aveir repos, nus oem estranges, par ma fei, n’eüst noalz que ge vers tei. Tu m’as de ton dart d’or navré, mal m’a li briés enpoisoné qu’entor la saiete trovai. (V. 8949-8955) Amor, ich habe gegen dich keinen Beistand, du läßt mich keine Ruhe finden, wahrhaftig, keinem fremden Mann erginge es schlechter als mir durch dich. Du hast mich mit deinem goldenen Pfeil verwundet, übel hat mich der Brief vergiftet, den ich um den Pfeil herumgebunden fand.23
Hier wird nicht davon erzählt, dass Amor wie im Fall der Lavinia einen Pfeil auf Eneas schießt, im Gegenteil, um Minne in Eneas zu entzünden, bedient sich Lavinia eines Liebesbriefs, den sie mit einem Pfeil verschickt bzw. verschicken lässt. Eneas deutet diesen Liebespfeil der Lavinia nur mehr als Amors Pfeil. Im Zusammenhang der Eneasminne sind im RdE die Götter nicht mehr im Spiel, sie sind nur mehr Figuren der Deutung des Geschehens. Es ist die Schrift in Form des Briefes, die die Liebe entzündet, gleich23
Vgl. RdE, V. 8972f.: Mais li brievez ki entor ert,/ m’a molt navré dedenz le cors („Aber das Briefchen, das darumgebunden war, hat mich heftig innen in meinem Körper verwundet.“)
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sam nur mehr zitathaft-topisch bedient sich der RdE hier der Geste einer mythischen Stiftung. Das sieht nun bei Heinrich von Veldeke anders aus. Er nimmt die Deutung des Eneas im RdE, die Interpretation des Pfeils der Lavinia als Pfeil Amors, zum Anlass, die Götter erneut ins Spiel zu bringen. Im Eneasroman Heinrichs von Veldeke gibt es neben dem briefbeschwerten Pfeil der Lavinia einen Pfeil Amors, der in Eneas die Liebe zu Lavinia entzündet. Einen solchen Pfeil Amors als erzähltes Geschehen sucht man im RdE vergebens. Im RdE ist Amor im Zusammenhang der Entstehung der Eneasminne keine Figur des erzählten Geschehens, er ist eine Deutungsfigur, im deutschen Eneasroman wird Amor als agierende Größe erneut ins Recht gesetzt – allerdings in einem Wissen um die in der Allegorese betriebene ‚Entmythologisierung‘ der Götter. ein ritter die strâle nam und gab si Ênêase in die hant. den brief her dar ane vant, der under die vederen was geleget. […] geswâslîche er abe nam den brief derm an dem zeine quam. dô hern gesach unde gelas, daz dar an gescriben was, dô wart her frô unde sweich. der junkfrouwen her geneich, dâ si in dem venster lach. si frowete sich dô sin gesach unde neich im hin wider von dem venster hin nider. her neich hin ûf und sie her abe. (V. 10916-10941) Ein Ritter nahm den Pfeil und reichte ihn dem Eneas. Der fand den Brief, der unter die Fiederung gelegt worden war. […] Heimlich nahm er den Brief ab, der mit dem Pfeil zu ihm gekommen war. Als er ihn betrachtet und gelesen hatte, was darin geschrieben stand, wurde er froh und schwieg still. Er machte eine Verbeugung zu dem Edelfräulein hin, wo sie aus dem Fenster lehnte. Sie freute sich, als sie ihn sah, und grüßte zurück vom Fenster hinab. Er grüßte hinauf und sie hinab.
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Hier liegt eine Inszenierung von Minneentstehung über Schrift vor. Sie bedeutet eine entschiedene Rationalisierung des mythischen Minnegeschehens. Die Rationalisierung der Minneentstehung durch Schrift ist das Pendant zur allegorischen Entmachtung der Götter. Der RdE verharrt bei solcher Rationalisierung, Veldeke hingegen kommt erneut auf die Götter, auf eine mythische Erklärung der Minne zu sprechen. Nachdem Eneas den Brief gelesen hat, reitet er näher an die Burg heran: her reit dem venster nâher bî, dâ diu junkfrouwe inne lach. ir antluze her besach, daz alsô minnechlîch was. dô markte Ênêas ir ougen unde ir munt: dô schôz in Amôr sâ ze stunt mit dem goldînen gêre eine wunden sêre und Vênûs diu mûder sîn geschûf daz im daz magedîn lieb wart als sîn eigen lîb, daz im nie weder maget noch wîb dâ vor nie sô lieb ne wart. daz geliebete im die vart. (V. 10976-10990) Er ritt näher an das Fenster, in dem das Fräulein lag. Er erblickte ihr Antlitz, das so lieblich war. Eneas betrachtete ihre Augen und ihren Mund: in diesem Augenblick schoß ihm Amor mit dem goldenen Pfeil eine schmerzende Wunde, und Venus, seine Mutter, bewirkte, daß ihm das Mädchen lieb wurde wie sein eigenes Ich, so daß ihm keine Jungfrau oder Frau früher ebenso lieb gewesen wäre. Das machte ihm den Ausritt teuer.
Die Entstehung der Liebe über die Lektüre des Briefes und den Anblick Lavinias reichen Veldeke nicht aus, es bedarf einer weiteren Wirkmacht, eines zweiten, eines göttlichen Pfeils, und darüber hinaus des Zutuns der Venus, um die Liebe zu entzünden.24 24
Anders SCHNELL [Anm. 16], S. 212-218, hier S. 218.
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4. Remythisierung/Neuer Mythos Der altfranzösische Roman d’Eneas bildet den historischen Prozess der Mythenentwicklung25, die Ablösung des Mythos durch die Allegorese des Mythos, erzählsyntagmatisch ab. Der mythisch initiierten Didominne stehen das im Zeichen der Allegorese konstruierte Minnegespräch zwischen Mutter und Tochter und die metaphorisch-allegorisch gefärbte Genese der Lavinia-Eneas-Minne gegenüber. Die in Frage stehenden historischen Stationen der Entwicklung des Mythos – Mythos und allegoretische Entmächtigung des Mythos – bilden paradigmatische Positionen innerhalb des Romangeschehens. Der deutsche Eneasroman Heinrichs geht im Vergleich zur französischen Vorlage einen entscheidenden Schritt weiter. Er verlängert die Abfolge Mythos und Allegorese um eine Perspektive auf die Minne, die man als Remythisierung oder Neuen Mythos bezeichnen könnte. Besonders deutlich führt dies die Entstehung der Eneasminne gegenüber Lavinia vor Augen. Zwar löst der Brief den Blick des Eneas auf Lavinia aus, aber das genügt offenbar nicht, um Minne entstehen zu lassen. Der Neue Mythos ist typisch für das 13. Jahrhundert, Heinrichs Eneasroman belegt diese Denkweise als einer der ersten Zeugen bereits im 12. Jahrhundert. HANS ROBERT JAUSS meint, dass im Mittelalter als dem Zeitalter der babylonischen Gefangenschaft der antiken Mythologie, genauer um 1200 herum, die Grenze des ornamentalen Gebrauchs der Mythologie überschritten worden sei und in der allegorischen Aneignung antiker Mythen und Fabeln ein gegenläufiger Prozess der Remythisierung personifizierter Wesenheiten sich abzeichne. „Um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert werden im besonderen die antiken Mythen von Amor und Venus zum Kristallisationskern, um den sich die höfische Literatur ritualhaft verfestigt und ihre neue Mythologie ausbildet“.26 Dies ist vor allem in der neuen Gattung der Minneallegorie im 13. Jahrhundert der Fall. Wichtig ist der Umstand, dass Heinrich von Veldeke den Neuen Mythos als postallegorischen Mythos einführt. Der Neue Mythos ist ein dezidiert literarischer Mythos, die Götter werden als bereits allegorisch entmachtete Figuren erneut ins literarische Spiel eingebracht.
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JEAN-JACQUES WUNENBURGER: Mytho-phorie. Formes et transformations du mythe. In: Religiologiques 10 (1994), S. 49-70 (Auszug abgedruckt in: Texte zur modernen Mythentheorie. Hrsg. von WILFRIED BARNER/ANKE DETKEN/JÖRG WESCHE, Stuttgart 2003, S. 290-300), schildert in konziser Weise die hier in Rechnung gestellten Stadien der Mythenentwicklung. Er begreift anders als die Mehrheit der Mythentheoretiker gar die Rationalisierung des Mythischen als Form mythischer Persistenz. HANS ROBERT JAUSS: Allegorese, Remythisierung und neuer Mythos. In: Ders., Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur, München 1977, S. 285-307, hier S. 286.
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Der post-allegorische Mythos des Hochmittelalters bleibt stets auf die Zwischenwelt allegorischer Personifikationen bezogen, nicht also auf die erzählbare Struktur kulthafter oder textgebundener Geschichten von Göttern und Menschen. Historisch vorauszusetzen ist hier der […] schon vor der christlichen Ära einsetzende Prozeß, daß die antiken Götter […] mehr und mehr zu Personifikationen herabsanken, während die menschlichen Affekte wie alle seelischen Kräfte […] über die psychologische Beschreibung zu personifizierten Wesenheiten von fast mythischem Rang hinauswuchsen.27
Man kann den Neuen Mythos darüber hinaus als Versuch verstehen, dem Nichterklärbaren der Minne literarisch-mythisch beizukommen. Nicht von ungefähr bedarf es zweier Pfeile, um die Minne des Eneas entstehen zu lassen. Der Liebesbrief gibt nur die Richtung der Aufmerksamkeit vor, er lenkt den Blick des Eneas auf Lavinia. Erst Amors Pfeil macht diesen Blick zu einem Liebesblick. Didos Minne zu Eneas wird von den Göttern verhängt, sie wird durch unmittelbare Berührung – Kuss – auf Dido übertragen, kann aber keine Erwiderung finden. Diese Form magischer Minne setzt einen unmittelbaren Kontakt voraus, sie kennt das vermittelnde Zeichen noch nicht. Demgegenüber ermöglicht im Fall der Lavinia das Medium der Schrift zwar das Antragen der Liebe und die Evokation des Blicks, ohne indes die Erwiderung entzünden zu können. Lavinia stellt daher im RdE eine bezeichnende Überlegung an: sie habe zwar viele Männer angesehen, das Feuer der Liebe sei in ihr aber nicht jedes Mal entstanden. Maint altre en ai ge ja veü, onc mais de nul rien ne me fu. L’en n’aime pas quant que l’en veit; trop par sereie en grant destreit, se ne poeie home esguarder que mei ne l’esteüst amer: o merveilles en amereie o molt poi en esguardereie. (V. 8149-8156) Manch anderen Mann habe ich schon gesehen, niemals hat es mir das geringste bedeutet. Man liebt nicht alles, was man sieht; allzu sehr wäre ich in großer Bedrängnis, wenn ich einen Mann nicht ansehen könnte, ohne daß ich ihn lieben müßte: entweder würde ich außerordentlich viele Männer lieben, oder ich würde nur sehr wenige anschauen.
27
Ebd., S. 286f.
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Der Blick ist zwar eine notwendige, aber eben nicht hinreichende Bedingung für die Entstehung von Liebe. Deshalb deutet sie den Blick als göttlichen Pfeil, ohne Amor diesen Pfeil abschießen zu lassen. Über den Blick hinaus bedarf es eines Besonderen, Nichterklärbaren, das verantwortlich zeichnet für das Zustandekommen von Liebe. Dieses Besondere chiffriert der Eneasroman Heinrichs erneut in Gestalt des in das Geschehen eingreifenden Liebesgottes. In Heinrichs Roman zeigt sich, dass es trotz der Medialisierung des Liebes-Affekts eben doch seiner Mythisierung bedarf. Somit prägen besonders in der Version des deutschen Autors nicht-rationale Semantisierungen deutlich die Diskursivierung der Liebe. Hatte das antike Epos des Vergil bekanntlich die Liebe den Belangen des mythischen Motivs einer genealogischen Verwurzelung Roms in Troja gänzlich nachgeordnet, so stellen die mittelalterlichen Versionen in den Volkssprachen ihre Erzählungen von Liebe geradezu in den Mittelpunkt der berichteten Ereignisse. Schaut man auf die Erzählung von Dido und Eneas bei Vergil, so dient der Bericht von der in Hass umschlagenden Liebe zwischen Dido und Eneas vor allem einer mythischen Begründung der Feindschaft zwischen Rom und Karthago, und Lavinia ist lediglich als Spielball im Kampf der Trojaner gegen den Rutulerfürsten Turnus von Interesse, dessen Gewinn allein die Zukunft des Römischen Reiches zu garantieren vermag.28 Diese Zukunft ist freilich über ein Orakel der Götter schon geklärt, das dem Vater der Lavinia bereits vorausgesagt hatte, die Tochter müsse an einen auswärtigen Helden verheiratet werden, um den Bestand des Reiches auf Dauer sichern zu können.29 Die Veränderungen vor allem der Lavinia-Geschichte in den mittelalterlichen Texten gegenüber der antiken Vorlage sind offensichtlich einschneidend. Die Herrschaft über das Römische Reich und nicht allein die Feindschaft zwischen Rom und Karthago wird in ihnen über eine Liebesgeschichte mythisch begründet. Der Akzent allerdings liegt nun weniger auf dem genealogischen, sondern vielmehr auf dem Liebesmotiv. Auch Lavinia, obwohl sie doch von vornherein von den Göttern als Partnerin des Eneas vorgesehen ist, wird – wie oben bereits erwähnt – Protagonistin einer zunächst aussichtslos erscheinenden, und deshalb an ihrem Beginn unglücklichen Liebesgeschichte, ist sie doch in den mittelalterlichen Erzählungen bereits dem Rutuler-Fürsten Turnus versprochen, so dass ihre plötzlich aufkeimende Leidenschaft für Eneas durchaus einen Konflikt heraufbeschwört. Der RdE und Heinrichs Text lenken die Aufmerksamkeit ihrer Rezipienten damit auf das Wesen der Liebe, wie es sich am Beispiel der Lavinia-Figur zeigt, und damit auf
28 29
Vgl. dazu bes. MANFRED FUHRMANN: Geschichte der römischen Literatur, Stuttgart 1999, S. 208f. Vgl. Vergil (Anm. 9), 7. Gesang.
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ihre Codierung und Begründung. Lavinias Brief und der Pfeil, mit dem er das Objekt ihrer Begierde im wahrsten Sinne des Wortes trifft, aber codieren letztlich gemeinsam die Liebe als Leidenschaft, wie Rougemont es formuliert hat.30 Nur in ihrem problematischen Anfang ist die Liebe Lavinas’ und Eneas’ für die mittelalterlichen Autoren von Interesse, eben nur insofern, als sie Leiden, Verwundung sowie die Gefahr von sozialer Isolation mit sich bringt. Die mittelalterlichen Texte aber gehen noch einen Schritt weiter: Denn sie betonen vor allem abschließend darüber hinaus den Gedanken, dass die Liebe als Gefühl sich letztlich selbst nicht im Medium ihrer schriftlichen Darlegung rational begründen lässt, den Gedanken also, dass es eine besondere Qualität der Liebe ist, dass ihre Entstehung und damit sie selbst sich jeder möglichen Form der Begründung gerade entzieht. Die besondere Qualität der Liebe als Gefühl konkretisiert sich in der Literatur demzufolge nicht allein im Rekurs auf ihre seit der Antike durch eine Engführung mit dem medizinischen Diskurs tradierten physischen Akzidentien. Indem gerade in der Version Heinrichs der Liebesbrief dann doch der Unterstützung des göttlichen Pfeiles bedarf, demonstriert der Roman einmal mehr mythisch die Unbegründbarkeit der Liebe als Gefühl.
30
DE ROUGEMONT (Anm. 1), S. 20: „Und doch bedeutet die Leidenschaft der Liebe tatsächlich ein Leiden.“
ASTRID BUßMANN
‚her sal mir deste holder sîn, / swenner weiz den willen mîn‘ Variationen des Liebesgeständnisses in Heinrichs von Veldeke Eneasroman 1. Liebe, Geständnis und Variation Liebe ist ein Gefühl, die affektive Bindung eines Ich an ein Du, aber erst das – verbale oder nonverbale – Kommunizieren dieses Gefühls im Liebesgeständnis führt zu seiner Verwirklichung.1 Als Gefühl vollzieht sich Liebe zudem in Phasen, je neuen Phasen des Gefühls, die von je neuen Akten der Kommunikation getragen werden. So ist Kommunikation nicht allein die Voraussetzung von Liebe, sondern deren Wesen: „Liebe ist Kommunikation“, wie die neueren Publikationen zum Thema ‚Liebeskommunikation‘ folgerichtig betonen.2 Wenngleich die Einheit von Liebe und Kommunikation somit prinzipiell alle Phasen der Liebe betrifft, erfährt sie eine spezifi-
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Ich verwende den Begriff ‚Gefühl‘ zur Bezeichnung eines über Texte vermittelten, in Dichtung stilisierten und in Metaphorik reflektierten, kurz gesagt, eines codierten Affektes. Wendungen wie ‚personales Gefühl‘ implizieren demnach kein individualisiertes Gefühl im neuzeitlichen Sinne, sondern kennzeichnen ein im Text als individuell, d. h. als Affekt einer Figur, inszeniertes Gefühl – in Abgrenzung zu überpersonalen Konzepten wie dem fatum, die sich jenseits der Figuren, gewissermaßen quer zu ihnen, vollziehen. Programmatisch zog dieses Fazit etwa die Ausstellung liebe.komm – Botschaften des Herzens im Museum für Kommunikation Frankfurt (15. Februar bis 31. August 2003), die durch den von BENEDIKT BURKARD herausgegebenen Katalog: liebe.komm. Botschaften des Herzens, Heidelberg 2003 (Kataloge der Museumsstiftung Post und Telekommunikation 17) dokumentiert wird. Das Zitat entstammt dem Klappentext. Zur Einheit von Liebe und Kommunikation und zur Phasenhaftigkeit der Liebe vgl. auch BURKARDs Katalogbeitrag: Die Boten des Glücks. Liebe im Zeitalter der Kommunikation, S. 10-27. – Dieser Aufsatz ist eine überarbeitete Fassung des zweiten Kapitels meiner Magisterarbeit: von holder minne guetiu red. Schriftliche Liebeskommunikation in mittelhochdeutscher Epik, Münster (masch.) 2004. Für ihre Unterstützung danke ich Herrn Prof. Dr. Volker Honemann, Münster, sowie Herrn Prof. Dr. Hartmut Kugler und Frau Prof. Dr. Susanne Köbele, Erlangen-Nürnberg.
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sche Engführung im Liebesgeständnis, wird im Geständnis das Gefühl doch zum ersten Mal zum Wort, um wieder Gefühl zu werden. Als Akt der Offenbarung des Ich vor dem Du eignet dem Liebesgeständnis dabei ein nicht unbeträchtlicher Risikocharakter, schließlich kann das offenbarte Gefühl auch zurückgewiesen werden. „Das Liebesgeständnis ist“ – wie es etwa WALTER HAUG emphatisch formuliert – „wohl das höchste Risiko, das man in der Begegnung mit dem Du eingehen kann, denn man setzt sich selbst, als Person, aufs Spiel, und das ist, wenn man es ganz ernst nimmt, mehr als das Leben.“ Dabei ist unstrittig, dass das verbale Liebesgeständnis wegen seiner Eindeutigkeit riskanter ist als das nonverbale Geständnis, so dass sich HAUG in seiner Untersuchung zu literarischen Geständnisszenen auf Variationen des verbalen Liebesgeständnisses konzentriert.3 Einer der mittelalterlichen Romane, der mit besonderer Intensität um den Beginn der Liebe und damit notwendigerweise auch um das Liebesgeständnis kreist, ist Heinrichs von Veldeke Eneasroman (zwischen 1170 und 1190), eine mittelhochdeutsche Adaptation des altfranzösischen Roman d’Eneas (um 1160), der seinerseits wiederum Vergils Aeneis (29-19 v. Chr.) adaptiert. Wesentlich für die Minnekonzeption des Eneasromans erscheint mir nämlich, dass sich die bereits Veldekes Zeitgenossen evidente Konzentration auf die Liebeswerbung4 de facto auf die der Werbung inhärente Engführung von Liebe und Kommunikation zuspitzen lässt. Von den drei Minnebindungen des Romans – der Verbindung von Dido und Eneas, der Verbindung von Lavinia und Eneas und der Verbindung von Lavinia und Turnus – kann Veldekes Konzeption einer Liebe als Kommunikation dabei am besten an der Verbindung von Eneas und Lavinia aufgezeigt werden. In dieser Episode verliebt sich Lavinia, si wolde oder enwolde (267,31; „ob 3
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WALTER HAUG: Das Geständnis. Liebe und Risiko in Rede und Schrift. In: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hrsg. von HORST WENZEL, Berlin 1997 (PhSt 143), S. 23-41, hier S. 23 (Zitat). HAUG untersucht die drei Geständnisszenen im König Rother (2. H. 12. Jh.), in Gottfrieds Tristan (um 1210) und im Prosalancelot (zwischen 1230 und 1250). Ohne dabei eine literarhistorische Linearität behaupten zu wollen, klassifiziert er seine drei Beispielfälle als Vertreter der „fraglosen Kommunikation“, der „vollentfalteten Problematik der Kommunikation in der personalen Begegnung“ und der „Radikalisierung der Problematik im Versagen der Sprache und den scheiternden Versuchen, sie durch andere Formen der Kommunikation zu ersetzen“ (S. 32) – kurz als „Botschaften, Geständnisse[ ] und Sprachlosigkeiten“ (S. 40). Auf den Eneasroman verweist er beiläufig als Variation dieser heuristischen Muster (S. 33, Anm. 11). Einschlägig ist besonders die Klage von Wolframs Parzival-Erzähler gegenüber der personifizierten Minne: het er uns dô bescheiden baz / wie man iuch süle behalten! / er hât her dan gespalten / wie man iuch sol erwerben. (Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der 6. Ausgabe von KARL LACHMANN. Übersetzung von PETER KNECHT. Einführung zum Text von BERND SCHIROK, Berlin, New York 1998, 292,20-23; „Wenn er uns nur deutlicher auseinandergelegt hätte, wie man Euch behalten kann! Er hat davon bloß die Frage abgespalten, wie man Euch erwirbt.“).
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sie nun wollte oder nicht“),5 in Eneas. Ihrer Liebe bleibt die Gegenliebe aber vorläufig verwehrt, da der Trojaner weder von ihren maßlosen Gefühlen weiß, noch jemals eigene Gefühle zu erkennen gegeben hat (285,2-5). Ein Minnebekenntnis ist für Lavinia insofern zwar besonders riskant, wird von ihr aber in einer Minnelogik, die Liebe durch Liebe – oder genauer: durch das Wissen um Liebe – generiert, gleichwohl zum einzigen Weg erklärt, Gegenliebe zu erlangen:6 ‚wister daz ich ime bin sô unmâzlîchen holt âne menneschlîche scholt, der ich nie kunde gewan, hern wâre nie sô ubel man, hern mûste mich minnen.‘ (276,12-17) „Wüsste er, in welchem Übermaß ich ihm gewogen bin – ohne (irgendeine) menschliche Verfehlung, von der ich niemals Kenntnis erhalten habe –, wäre er sicher kein so schlechter Mann, daß er mich nicht lieben würde.“7 5
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Ich zitiere den Eneasroman nach: Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von LUDWIG ETTMÜLLER ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von DIETER KARTSCHOKE, 2., durchgesehene und bibliographisch ergänzte Ausgabe Stuttgart 1997 (RUB 8303). Jeweils verglichen sind die Ausgaben von FRINGS/SCHIEB (Henric van Veldeken: Eneide. Hrsg. von THEODOR FRINGS/ GABRIELE SCHIEB, Bd. 1: Einleitung – Text, Berlin 1964 [DTM 58]) und FROMM (Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Die Berliner Bilderhandschrift mit Übersetzung und Kommentar. Hrsg. von HANS FROMM. Mit den Miniaturen der Handschrift und einem Aufsatz von DOROTHEA und PETER DIEMER. Frankfurt a. M. 1992 [Bibliothek des Mittelalters 4 = Bibliothek deutscher Klassiker 77]). Den Roman d’Eneas zitiere ich nach: Le Roman d’Eneas. Übersetzt und eingeleitet von MONICA SCHÖLER-BEINHAUER, München 1972 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 9), der im Wesentlichen dem kritischen Text von SALVERDA DE GRAVE (Eneas. Texte critique. Hrsg. von JACQUES SALVERDA DE GRAVE, Halle 1891 [Bibliotheca Normannica 4]) folgt. Meine Übersetzungen basieren auf den Übersetzungen der genannten Editionen, wobei ich mir in Zweifelsfällen Änderungen vorbehalte. Vgl. auch die Wiederholung dieses Gedankens: ‚ich mûz, wâne ich, scrîben / gefûchlîche an einen brief / daz grôze leit âne lief, / des ich mich mûz genieten, / und wil im enbieten, / wie wê mir sîn minne tût. / hât her dan manlîchen mût, / her sal mir deste holder sîn, / swenner weiz den willen mîn. / dar umbe enbiete ich ime daz.‘ (285,24-33; „‚Ich muß, glaube ich, in aller Schicklichkeit in einem Brief das große, untröstliche Leid niederschreiben, das ich zu ertragen habe, und will ihm mitteilen, wie weh mir die Liebe zu ihm tut. Besitzt er ein männliches Herz, wird er mir umso gewogener sein, wenn er weiß, was ich will. Deshalb teile ich ihm das mit.‘“), in der die Kausalität von Wissen und Liebe durch das dar umbe besonders eklatant ist. Wegen des breiten Bedeutungsspektrums von scholt, das auch ‚Verpflichtung‘ heißen könnte, aber auch, weil sich scholt potentiell auf Eneas statt auf Lavinia beziehen könnte, ist die Übersetzung von V. 276,14f. letztlich eine Frage der Interpretation. Meine Hauptthese ist durch diese Mehrdeutigkeit jedoch nicht berührt.
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Programmatisch konstruiert die Prinzessin damit einen Kausalzusammenhang zwischen Wissen und Liebe, der Gegenliebe auf ein Informationsproblem reduziert. Doch trotz dieses vordergründig simplen Automatismus von Liebe und Kommunikation darf der Minnekonzeption des Eneasromans eine spezifische Komplexität nicht abgesprochen werden. Denn wie einerseits Lavinias Schwierigkeiten bei der Wahl des geeigneten – und das bedeutet in ihren Augen gefûchlîche[n] (285,10; „schicklichen“) – Kommunikationsmediums, andererseits die scheiternden Beziehungen von Dido und Eneas sowie Lavinia und Turnus verdeutlichen, erweist sich nicht jede Form der Liebeskommunikation im narrativen Kontext als erfolgreich. Die weitestgehend an Körpersprache gebundene, damit nonverbal bleibende, ein verbales Bekenntnis sogar explizit vermeidende Minnekommunikation von Dido etwa führt ebenso wenig zu Gegenliebe wie die Minnekommunikation von Turnus, die zwar ebenfalls überwiegend nonverbal bleibt, mit seinem durch Lavinias Mutter bezeichnenderweise nur indirekt kommunizierten Minnebekenntnis (260,7-266,18) jedoch auch eine Kommunikationssituation aufweist, die als verbalisierte Bekenntnissituation gewertet werden kann. Da sich die Sprache der Liebe nämlich primär durch die Art des Sprechens definiert,8 basiert die gelungene Motivierung von Minne letztlich auf der Medialität des Liebesgeständnisses. Zum Auslöser beständiger Minne wird aber allein das direkte, d. h. nicht durch Dritte vermittelte, verbale Bekenntnis in der Schrift stilisiert – Lavinias berühmter Liebesbrief (286,24-35), den sie durch einen Pfeilschuss an Eneas übermitteln lässt. Wenngleich nach KASTEN die These von der Minne als ‚Sinnzentrum‘ des Eneasromans in der germanistischen Forschung nicht länger vertreten wird,9 wird die Minnethematik im vorliegenden Aufsatz somit unter neuer Akzentuierung wieder aufgegriffen, nämlich unter der Korrelation von Liebe und Medialität der Liebeskommunikation. Analog zu OSWALD, die DidoEpisode und Lavinia-Episode als „Variationen zum Thema ‚(Liebes-)Gaben‘“ begreift – wobei sie die Dido-Episode durch die maßlos gegebene (Hin-)Gabe, die Lavinia-Episode hingegen durch die nicht gegebene (Hin-)
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HANS-JÜRGEN BACHORSKI: Posen der Liebe. Zur Entstehung von Individualität aus dem Gefühl im Roman Paris und Vienna. In: Mündlichkeit – Schriftlichkeit – Weltbildwandel. Literarische Kommunikation und Deutungsschemata von Wirklichkeit in der Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von WERNER RÖCKE/URSULA SCHAEFER, Tübingen 1996 (ScriptOralia 71), S. 109-146, hier S. 117. INGRID KASTEN: Herrschaft und Liebe. Zur Rolle und Darstellung des ‚Helden‘ im Roman d’Eneas und in Veldekes Eneasroman. In: Monatshefte 78 (1988), S. 225-245, hier S. 228, Anm. 3.
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Gabe charakterisiert –,10 sollen die Minnehandlungen des Eneasromans im Folgenden als Variationen zum Thema ‚Liebesgeständnis‘ beschrieben werden. Da unter diesem kommunikativen Aspekt vor allem die mediale Opposition wesentlich wird, auf der sich weitere Oppositionen wie Verbalität und Nonverbalität, Direktheit und Indirektheit der Minnekommunikation allererst begründen, erfolgt punktuell auch eine Annäherung an RUSINEK, der detailliert die „Rolle der Schrift als Unterscheidungsmerkmal zwischen den beiden großen Minne-Episoden“ des Eneasromans diskutiert.11 Abweichend von OSWALD und RUSINEk sollen für die Interpretation der Liebeskommunikation jedoch nicht allein die Parallelen zwischen Didound Lavinia-Episode, sondern auch die von der Forschung gemeinhin vernachlässigten Parallelen zwischen Lavinia-Episode und Turnus-Episode herangezogen werden. Denn in der Inszenierung des Minnebekenntnisses weisen nicht nur Dido- und Lavinia-Handlung in einer „Struktur des kontrastiven Parallelismus“12 aufeinander. Wie anhand der signifikanten Strukturparallele zwischen dem von Lavinia an Eneas und dem von ihrer Mutter an Turnus geschriebenen Brief (126,1-127,6) belegt werden kann, gilt dies auch für Lavinia- und Turnus-Handlung. Die für Dido und Turnus aufzuzeigende Korrelation von scheiternder Liebe und scheiternder Liebeskommunikation korrigiert dabei nicht zuletzt die in der Forschung populäre These vom Scheitern der Dido-Minne und der Turnus-Minne allein aus dem geschichtlichen telos der Handlung heraus.13 Ausgehend von WENZEL10
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MARION OSWALD: Gabe und Gewalt. Studien zur Logik und Poetik der Gabe in der frühhöfischen Erzählliteratur, Göttingen 2004 (Historische Semantik 7), S. 228f. Für den Konnex zwischen Gabe- und Minneverhalten – zwischen Gabe und Hingabe – vgl. auch S. 174. Interessant ist der Gabendiskurs, weil er Lavinias Liebesbrief in einer Doppelfunktion perspektiviert: Der Brief ist einerseits selber Gabe, die die nicht gegebenen Minnegaben hârbant, rîse, mouve, vingerlîn und borden ersetzt (322,8-324,13; „Haarband, Schleier, Ärmel, Ring und Gürtel“), andererseits Träger einer versprochenen, ‚aufgeschobenen‘ Gabe, des im Brief gegebenen Liebesversprechens (S. 232f.). BERND A. RUSINEK: Veldekes Eneide. Die Einschreibung der Herrschaft in das Liebesbegehren als Unterscheidungsmerkmal der beiden Minne-Handlungen. In: Monatshefte 78 (1986), S. 11-25, hier S. 22. DIETMAR WENZELBURGER: Motivation und Menschenbild der Eneide Heinrichs von Veldeke als Ausdruck der geschichtlichen Kräfte ihrer Zeit, Göppingen 1974 (GAG 135), S. 89. Die – sicher auch moralisch entlastende – Funktion der fata formuliert für Dido HERFRIED VÖGEL: Das Gedächtnis des Lesers und das Kalkül des Erzählers. Zum Eneasroman Heinrichs von Veldeke. In: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur. Kolloquium Reisensburg, 4.-7. Januar 1996. Hrsg. von DIETMAR PEIL/MICHAEL SCHILLING/PETER STROHSCHNEIDER, Tübingen 1998, S. 57-85, hier S. 63: „Dido scheitert nicht aufgrund einer defizitären Minne, sondern weil sie gemäß dem geschichtlichen Telos der Handlung scheitern muß.“ Impliziter, aber mit gleicher Ausrichtung, argumentiert URSULA LIEBERTZ-GRÜN: Geschlecht und Herrschaft. Multiperspektivität im Roman d’Eneas und in Veldekes Eneasroman. In: Variationen der Liebe. Historische Psychologie der Geschlechterbeziehung. Hrsg. von THOMAS KORNBICHLER/WOLFGANG MAAZ, Tübingen 1995 (Forum Psychohistorie 4), S. 51-93, hier S. 64, für Turnus.
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BURGER, für den das Neue in den mittelalterlichen Aeneis-Adaptationen darin besteht, „den Fortlauf der Handlung nicht mehr allein überpersönlich aus dem Willen der fata, sondern auch persönlich aus der Subjektivität des Helden zu begründen“,14 soll im Folgenden nämlich nicht das geschichtliche telos, das überpersonale fatum, sondern das personale Gefühl als konstitutiv für die Handlungsmotivation verstanden werden. Es ist eine Kernthese des vorliegenden Aufsatzes, dass Heinrich von Veldeke dieses Gefühl auf der Figurenebene seines Romans im Kommunikationsverhalten seiner Protagonisten exemplifiziert, dass die Liebeskommunikation das Gefühl einerseits interpretiert, andererseits auch generiert. Gerade für die Minnethematik erweist sich dabei die Interaktion von französischem Prätext und deutschem Retext als beachtenswert. Denn da die um Lavinia zentrierte Liebeshandlung und damit der kontrastive Parallelismus von Dido-Minne und Lavinia-Minne eine Neuschöpfung des Roman d’Eneas ist, entsteht die Minnekonzeption des Eneasromans nicht voraussetzungslos. Die Notwendigkeit eines in der Veldeke-Forschung ohnehin selbstverständlichen Quellenvergleichs ist mithin evident. Dennoch bleibt zu betonen, dass die Interpretation der Minneepisoden als Variationen zum Thema ‚Liebesgeständnis‘ für den Eneasroman zwingender ist als für den Roman d’Eneas. Der Grund dafür ist, dass Veldeke einerseits parallele Kommunikationssituationen neu in den Text inseriert, andererseits die diskursive Ebene der Minnekommunikation gegenüber dem anonymen Autor des Roman d’Eneas intensiviert. Exemplarisch belegen lässt sich Ersteres durch die Neuschöpfung des Briefes, den Lavinias Mutter an Turnus schreibt, Letzteres durch das Gespräch zwischen Dido und ihrer Schwester Anna, das ausschließlich im Eneasroman verschiedene Strategien des Liebesgeständnisses kontrastiert (53,23-57,20). Die dadurch hervorgehobene Ähnlichkeit der Konfliktsituation von Dido und Lavinia, die letztlich auf den kommunikativen Konflikt von Reden und Schweigen – oder mit Didos Worten tûn und lâzen (56,38) – zugespitzt werden kann, betont dabei gleichzeitig die Dialektik im Liebes- und Kommunikationsverhalten der beiden Protagonistinnen. Da die Karthagerin nämlich das verbale Geständnis unterlässt, kommt es – kontrastiv zu der bereits hervorgehobenen Korrelation von Wissen und Liebe in der Lavinia-Episode – zu einer fatalen Korrelation von Nicht-Liebe und Nicht-Wissen, die als Vorausdeutung die Rezeption der Dido-Episode von vornherein prägt (38,27-39). Letztlich wird für das Verhältnis von Prätext und Retext damit das Wechselspiel entscheidend, das im Eneasroman zwischen der Intensivierung der Strukturparallelen von Dido-, Lavinia- und Turnus-Minne, der intensivierten Diskussion der Liebesgeständnisse und der intensivierten
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WENZELBURGER (Anm. 12), S. 55.
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Schriftmotivik besteht.15 Denn indem Veldeke die vom französischen Anonymus vorgegebene Parallelität der Minneepisoden intensiviert, neue Parallelen und neue Oppositionen konzipiert, etabliert er gleichzeitig neue Interpretationsangebote jenseits der Vorgaben des Roman d’Eneas, wie sie im vorliegenden Aufsatz anhand der Variation des Liebesgeständnisses in den einzelnen Minneepisoden dargelegt werden sollen.16
2. Variation I: Das Geständnis im Brief In ihrer Korrelation von Liebe und Liebesbrief ist die Minne von Eneas und Lavinia aus kommunikationstheoretischer Perspektive betrachtet besonders interessant – zumal für den modernen Rezipienten, der mit der Konzeption einer Liebe aus der Schrift vom neuzeitlichen Liebesdiskurs her vertraut ist.17 Weil diese Verbindung von Gefühl und schriftlicher Gefühlsübermittlung die Beziehung von Eneas und Lavinia bereits während ihrer Genese von den anderen im Roman thematisierten Beziehungen dif15
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In der Intensivierung der Schriftthematik folgt der Eneasroman einer allgemeinen Tendenz der mittelalterlichen deutschen Literatur, denn deutsche Epen verstärken generell die Schriftmotivik ihrer französischen Prätexte. Vgl. dazu ULRICH ERNST: Formen der Schriftlichkeit im höfischen Roman des hohen und späten Mittelalters. In: Frühmittelalterliche Studien 31 (1997), S. 252-369, hier S. 365f. Dies sei gegen MICHEL HUBY: L’adaptation des romans courtois en Allemagne au XIIe et au XIIIe siècle, Paris 1968 (Publications de la Faculté des Lettres et Sciences Humaines de Paris-Nanterre), S. 124-138, angemerkt, für den sich Umarbeitungsstrategien des deutschen Retextes vornehmlich auf ein breiteres Ausführen dessen beschränken, was im französischen Prätext bereits im Kern angelegt ist. Ein Innovationspotential spricht HUBY dem deutschen Retext damit ab. Im Sinne dieser Argumentation favorisiert er als Vorlage des Eneasromans nicht die Roman-Handschrift A (auf der die Edition von SALVERDA DE GRAVE [Anm. 5] beruht), sondern die Roman-Handschrift G, die gegenüber A insbesondere Kürzungen im Schluss aufweist und damit Veldekes innovative Schlusskonzeption auf eine „explication matérielle“ reduziert (S. 135-139). Dass diese Konzeption einer Liebe aus der Schrift keineswegs dem neuzeitlichen Liebesdiskurs vorbehalten ist, sondern auch den mittelalterlichen Liebesdiskurs entscheidend prägt, war Gegenstand der von MIREILLE SCHNYDER und CHRISTIAN KIENING vom 13. bis 15. Oktober 2005 in Konstanz veranstalteten Tagung Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters, die in dem hier vorliegenden Tagungsband dokumentiert wird. Mit dem Eneasroman beschäftigt sich neben meinem Beitrag auch der Beitrag von BRUNO QUAST und MONIKA SCHAUSTEN: Amors Pfeil. Liebe zwischen Medialisierung und Mythisierung in Heinrichs von Veldeke Eneasroman, S. 63-82. Diese Interpretation ist meiner Interpretation allerdings insofern entgegengesetzt, als QUAST/SCHAUSTEN gerade für die Eneas-Lavinia-Minne im Spannungsfeld zwischen einer mythischen, nicht-rationalen (Liebesentstehung durch den Pfeil Amors) und einer medialen, rationalen (Liebesentstehung durch den Pfeil mit dem Liebesbrief) Semantisierung des Liebesaffektes für die Remythisierung und damit letztlich für die Nichterklärbarkeit der Liebe votieren. – Ich danke Frau Prof. Dr. Monika Schausten, Siegen, für die Gelegenheit, bereits vor der Drucklegung Einsicht in den Aufsatz nehmen zu dürfen.
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ferenziert, soll sie als Paradigma für die Minne von Eneas und Dido und die Minne von Turnus und Lavinia durch eine detaillierte Interpretation etabliert werden. Wesentlich für eine solche Interpretation erscheint mir dabei, dass die Minne von Eneas und Lavinia in der Zeit der Waffenruhe während der trojanischen Belagerung von Latium entsteht. Denn wenngleich der temporäre Friede einen Moment gegenseitiger Annäherung – und damit einen Moment des Sich-Verliebens – allererst ermöglicht, bleiben in der Kommunikation des Liebesgefühls Distanz und Distanzüberwindung die bestimmenden Faktoren, da sich Eneas trotz des Waffenstillstandes außerhalb, Lavinia hingegen innerhalb Latiums befindet und beide feindlichen Lagern angehören. Diese Distanz wird in der gesamten Minnekommunikation nicht aufgehoben, sondern vielmehr in allen Kommunikationssituationen des Paares durch die Markierung der Grenzlinie im Gedächtnis des Lesers gehalten. Zu erwähnen wären in dieser Funktion neben den mûren (266,39) als explizites Zeichen der graben (267,7), als implizites Zeichen hingegen das venster (267,9), an dem die Prinzessin steht und dessen Rahmen metaphorisch als Rahmung, als Umgrenzung verstanden werden kann.18 Es ist daher nur folgerichtig, dass die Grenze nicht allein zeichenhaft in der Liebeshandlung präsent ist, sondern vom Erzähler auch offen konstatiert wird: ne mohte er ir niht nâher komen (306,19; „konnte er ihr auch nicht näher kommen“), wie es etwa über Eneas heißt. In dieser Situation der Distanz profiliert sich der Lavinia-Brief als das adäquate Medium, die durch graben und venster mehrfach markierte Grenze zu überwinden. Insofern lässt sich der Brief nicht allein auf seine literaturhistorische Bedeutung als erste Minnebriefeinlage der mittelhochdeutschen Literatur reduzieren,19 der Brief erfüllt vielmehr eine dezidiert narrative Funktion.20 Signifikant für die Verbindung von Liebe und Schrift ist dabei, dass Veldeke neben der Schrift den Blick als zweites Medium der
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Als Zeichen ist das venster ambivalent, da es einerseits als Grenze, also als Zeichen des Schließens, andererseits als partielle Durchbrechung dieser Grenze, also als Zeichen des Öffnens, verstanden werden kann. Zur Weiterführung der Grenzmarkierung durch venster und graben in den Eneas-Lavinia-Szenen und zur Verknüpfung beider Markierungen vgl. 287,13-27 (venster); 290,5-13 (venster und graben); 291,6-9 (venster); 301,2-7 (venster); 305,22-306,12 (venster und graben); 327,20ff. (venster). HELMUT BRACKERT: Da stuont daz minne wol gezam. Minnebriefe im späthöfischen Roman. In: ZfdPh 93 (1974), Sonderheft: Spätmittelalterliche Epik. Hrsg. von HUGO MOSER/BENNO VON WIESE, S. 1-18, hier S. 2, Anm. 4; und PETER DREHER: Enclosed Letters in Middle High German Narratives, Diss. (masch.) University of California, Riverside, 1979, S. 78f. Diese auch von BRACKERT (Anm. 19), S. 2, Anm. 4, und S. 4f., Anm. 10, betonte Funktionalität von Lavinias Liebesbrief hat eine differenzierte Interpretation jedoch eher behindert. Denn weil der Lavinia-Brief in seiner stilistischen Schlichtheit und handlungsauslösenden Funktion dem Briefideal der älteren Mediävistik entspricht, wird er selbst in Überblicksdarstellungen mittelalterlicher Einlagebriefe meist nur beiläufig erwähnt, während das
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Distanzüberwindung etabliert. So entsteht Lavinias Minne durch den Anblick von Eneas (267,19-31), während die Liebe des Trojaners durch die Schönheit der Prinzessin und durch die Schriftzeichen ihres Briefes gleich zweifach von der Wahrnehmung der Augen abhängig ist: ‚ichn hân wan einen brief gelesen / und eine junkfrowen gesehen‘ (296,24f.; „‚ich habe nur einen Brief gelesen und ein Mädchen gesehen‘“). Damit ist die Beziehung von Eneas und Lavinia sogar in doppeltem Sinne visuell konnotiert, durch Blick und durch Schrift. Denn in ihrer Abhängigkeit von Akt und Organ des Sehens sind Blick und Schrift nicht nur grundsätzlich miteinander verbunden, eine konzeptionelle Verschränkung von lesen und sehen wird gerade in der Art evident, in der die Liebe des Eneas entsteht: Erst der Brief macht aus dem bestenfalls nicht-wissenden, schlimmstenfalls nicht vorhandenen Blick des Trojaners (277,20-35) den wissenden Blick, der die Liebe generiert (290,1-291,20). Anders als in der taktil – und damit nach LECHTERMANN eindeutig mit sexuellem Begehren21 – konnotierten Beziehung von Dido und Eneas erweist sich als Leitmotiv dieser Beziehung daher statt der Intimität der Körper die sublime Intimität der Blicke. Wie nun betont werden soll, basiert diese Sublimität – oder mit den Worten des Eneasromans diese gevuocheit – letztlich auf der gefûchlîchen Ver mittlung des Minnebekenntnisses (285,8-29), d. h. auf der Wahl des Briefes als Kommunikationsmedium. Im narrativen Kontext erscheint der Brief nämlich als Antwort auf Lavinias Frage: ‚wie sal ichz nû ane vân, /
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eigentliche Interesse den langen, hochstilisierten und eben nicht handlungsauslösenden Briefen vom Typ der Briefeinlagen in Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich (1314) gilt. Vgl. dazu etwa EUGEN MAYSER: Briefe im mittelhochdeutschen Epos. In: ZfdPh 59 (1934), S. 136-147; und BRACKERT, der bezeichnenderweise den Lavinia-Brief lediglich in einer Anmerkung erwähnt. – Da die Funktionalität von Lavinias Liebesbrief andererseits bewirkt, dass er in faktisch jeder Untersuchung zum Eneasroman kurz erwähnt wird, seien als Forschungsüberblick nur die Beiträge genannt, die sich grundlegend mit der Schriftlichkeit der Minnekommunikation auseinandersetzen. Neben den bereits erwähnten Arbeiten von RUSINEK (Anm. 11) und OSWALD (Anm. 10) wären das vornehmlich die Arbeiten von HENNING WUTH: was, strâle unde permint. Mediengeschichtliches zum Eneasroman Heinrichs von Veldeke. In: WENZEL (Anm. 3), S. 63-76; MARTIN J. SCHUBERT: Ich bin ein brief unde ein bode. The Relation of Written and Oral Love-Messages in Medieval German Literature. In: JOWG 11 (1999), S. 35-47; MIREILLE SCHNYDER: Imagination und Emotion. Emotionalisierung des sexuellen Begehrens über die Schrift. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter/Emotions and Sensibilities in the Middle Ages. Hrsg. von C. STEPHEN JAEGER/INGRID KASTEN, Berlin, New York 2003 (Trends in Medieval Philology 1), S. 237-250; und ANDREA SIEBER: (Un)erwünschte Effekte. Mediengebrauch, Synergie und Störung im höfischen Roman. In: Das Mittelalter 9 (2004), H. 1: Medialität im Mittelalter. Hrsg. von KARINA KELLERMANN, S. 55-63. CHRISTINA LECHTERMANN: Berühren und Berührtwerden: daz was der belde ein begin. In: JAEGER/KASTEN (Anm. 20), S. 252-270, bes. S. 253-259. Auch in der Dido-Episode lässt sich der Primat des Sinns – hier des Tastsinns – in der Genese der Liebe erkennen: Didos Minne wird durch den zauberischen Kuss des Ascanius ausgelöst (38,1-23), während Eneas’ Begehren auf der Berührung ihres Körpers beruht (63,6-14).
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daz ichs in innen bringe / mit gefûchlîchem dinge‘ (285,8ff.; „‚Wie soll ich es nun anfangen, dass ich es ihm auf schickliche Weise zeige?‘“), was insofern entscheidend ist, als die Prinzessin die Gegenliebe des Eneas von ihrer eigenen gevuocheit abhängig macht (277,1-19).22 Als gefûchlîches Medium der Minnekommunikation profiliert sich der Liebesbrief nun insbesondere durch die Heimlichkeit des Briefvorgangs – also die Unverfügbarkeit gegenüber den huote-Instanzen –, durch die Dialektik von Verhüllung und Offenbarung in Briefstil und Briefsituation – also die Unverfügbarkeit gegenüber dem Minnepartner – und durch die Wahrhaftigkeit des verbrieften Gefühls. Gerade Heimlichkeit als erstes Charakteristikum der Briefkommunikation muss dabei im intertextuellen Zusammenhang als konstitutiver Bestandteil von Liebesgesprächen verstanden werden, weil sich als kommunikative Grundbedingung der Minne immer schon die Verschwiegenheit des Liebespaares gegenüber der Hofgesellschaft erweist. Die notwendige Intimität des Minnebekenntnisses wird im narrativen Kontext daher durch die Negation aller Merkmale betont, die der Eneasroman für öffentliche Briefe etabliert: dô hiez er scrîben brieve. vil wîten her die sande mit boten after lande dâ sîne frunt wâren. (129,34-37) Daraufhin ließ er Briefe schreiben. Die sandte er durch Boten weit ins Land hinaus, wo seine Freunde waren.
Indem sie einem Schreiber diktiert, von Boten überbracht und öffentlich verlesen werden, erfüllen diese Schreiben des Turnus alle Bedingungen des Briefes als Herrschaftsinstrument. Den Liebesbrief der Prinzessin kenn-
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In der Diskussion um die Wahl des Briefes als Medium des Liebesgeständnisses ist der Roman d’Eneas ausführlicher als der Eneasroman. Lavinias Entscheidungsfindung folgt hier einem zweiphasigen Modell, von dem Veldeke nur die erste Phase übernimmt (276,36-277,15). In dieser ersten Phase erwägt die französische Lavinia ein durch einen Boten mündlich kommuniziertes Minnebekenntnis, verwirft diese Möglichkeit aber wegen der Mitwisserschaft des Boten und wegen der Gefahr, für leichtfertig oder sogar unbeständig in der Liebe gehalten zu werden, wenn sie ihre Minne als Erste gesteht (V. 8360-8380). In der zweiten Phase erwägt sie, ihr eigener Bote zu sein, also selbst mündlich mit Eneas zu kommunizieren: ,Quel mesage porras aveir? . . . / Ge ne quier nul altre que mei . . .‘ (V. 8714f.; „‚Welchen Boten wirst Du bekommen können? . . . Ich verlange keinen anderen als mich . . .‘“). Auch diese Möglichkeit verwirft sie wegen des Anscheins der Leichtfertigkeit. Erst dann wählt sie den Brief, ermöglicht dieser es ihr doch, kommunikative Nähe ohne die gefährliche körperliche Nähe einzugehen (für die vollständige Szene vgl. V. 8701-8730).
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zeichnet hingegen, dass er ohne Boten durch einen Pfeilschuss übermittelt (287,33-289,22), heimlich gelesen (290,1-5) und in einem „klandestine[n] Ritual [...] in einem sekreten Interieur“ eigenhändig verfasst wird.23 Beachtenswert ist dabei, dass Veldeke den Schreibvorgang in zweifacher Weise codiert, da er in der Eigenhändigkeit des Schreibens nicht allein die Heimlichkeit der Minnekommunikation generiert, sondern den Schreibvorgang auch in demonstrativem Widerspruch zu Lavinias Rang als eines rîchen kuneges kint inszeniert. Wer als Standesperson nämlich selber liest und schreibt, negiert nach den Prinzipien des mittelalterlichen Briefwesens eben diesen Stand:24 Dô was diu maget reine in der kemenâten aleine. ir angest diu was vile grôz. die ture si innen beslôz. dô nam des rîchen kuneges kint tinten unde permint, als si diu nôt dar zû treib. (286,15-21) Das unschuldige Mädchen war allein in seiner Kemenate. Seine Angst war sehr groß. Es schloss die Tür von innen ab. Dann nahm das Kind eines mächtigen Königs (selbst) Tinte und Pergament (zur Hand), so wie die Not es dazu trieb.
In Verbindung mit der Überwindung der angest und der Sorgfalt des Korrekturlesens (286,37) erscheint daher bereits die Eigenhändigkeit des Schreibens als Metapher für die Tiefe des verbrieften Gefühls – ein interessanter Nebenaspekt des Heimlichkeitsdiskurses. Denn trotz der zweifachen Codierung ist unstrittig, dass der Schreibvorgang primär die Heimlichkeit der Liebeskommunikation fokussiert, erst sekundär und in der Fokussierung der kommunikativen Heimlichkeit auch das kommunikative Risiko. Schließlich reduziert sich der Heimlichkeitsdiskurs nicht auf den ‚inneren‘ Schreibvorgang, er wiederholt sich auch im ‚äußeren‘ Schreibvorgang, beispielsweise im Verschließen der Tür, und im Übermittlungsvor-
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ERNST (Anm. 15), S. 320 und S. 326 (Zitat). ROLF KÖHN: Dimensionen und Funktionen des Öffentlichen und Privaten in der mittelalterlichen Korrespondenz. In: Das Öffentliche und Private in der Vormoderne. Hrsg. von GERT MELVILLE/PETER VON MOOS, Köln, Weimar, Wien 1998 (Norm und Struktur 10), S. 309-357, hier S. 355.
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gang. So versteckt Lavinia ihren Brief unter dem gevidere eines Pfeiles, wobei sie die beschriebene Seite des Blattes am Pfeilschaft nach innen wendet (287,2-12). In dieser Geste potenziert sich das Bild der Inklusion, ist der Liebesbrief doch nicht nur Text im Text, sondern wird als Text erneut im Text verborgen25 – eine subtile Analogie zum Rückzug der Prinzessin in ihre kemenâten während des Schreibvorgangs. Es erscheint deshalb nur folgerichtig, dass auch die Inszenierung des Lesevorgangs auf Heimlichkeit basiert, dass Eneas, indem er den Minnebrief heimlich liest und in Schweigen verschließt (290,1-5), analog zur verschlossenen kemenâten Lavinias einen Raum der Innerlichkeit, der Heimlichkeit, konstituiert.26 Da sich die Briefkommunikation insofern selbst über mûren und graben hinweg auf Eneas und Lavinia beschränkt, profiliert sie sich als exklusive Form der Paarkommunikation. Dennoch kann die Tatsache, dass die Prinzessin Störungen der huote-Instanzen erfolgreich suspendiert, nicht verbergen, dass ihre Strategie der Heimlichkeit selber Störungen produziert, wie etwa im Übermittlungsvorgang evident wird. Wesentlich für den Übermittlungsvorgang ist nämlich seine Dialektik von Distanz und Distanzüberwindung: Lavinia, die durch die Übermittlung des Briefes mit einem Pfeil27 realiter die Distanz zu ihrem Geliebten aufheben will, gibt nach außen vor, diese Distanz noch vergrößern zu wollen, den Feind ihres Vaters durch den Pfeilschuss hinnen trîben (288,26) zu wollen. Diese Dialektik der Kontaktaufnahme bewirkt aber eine Störung der Kommunikation, weil Eneas zunächst allein die Zeichen der Distanzierung liest, den Pfeil allein als Angriff versteht: den zein her enzwei brach (289,31; „er zerbrach den Pfeil[-schaft]“).28 Das Scheitern der Minne aufgrund gestörter Paarkommunikation, wie es in den anderen Minnehandlungen des Eneasromans explizit wird, prägt implizit so auch die Lavinia-Minne. 25 26 27
28
Vgl. dazu eine entsprechende Interpretation der Liebesbriefe in Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich bei BURKHARD HASEBRINK: ein einic ein. Zur Darstellbarkeit der Liebeseinheit in mittelhochdeutscher Literatur. In: PBB 124 (2002), S. 442-465, hier S. 458. SCHNYDER (Anm. 20), S. 245. Nicht erst der Übermittlungsvorgang, bereits der Pfeil ist dialektisch codiert, da er Liebesmetaphorik und Kriegsgeschehen gleichermaßen verhaftet ist: So sind Pfeile einerseits Attribute der Venus (38,38f.; 267,24 f.), lösen andererseits durch den Tod des Hirschen aber den Krieg aus (133,6-24) und verwunden Turnus und Eneas (207,37-208,23; 313,19-36). Gerade die mit dem Pfeil verbundene Liebesmetaphorik erhält dabei im Übermittlungsvorgang eine interessante Aktualisierung, denn indem das Venus-Attribut ‚Pfeil‘ zum Attribut Lavinias wird, tritt die Prinzessin – durch ihren Brief – für Eneas in die Rolle der Liebesgöttin. Zweifelhaft erscheint daher SIEBERs (Anm. 20) Schlussfolgerung, Lavinia steigere durch den Verzicht auf einen Boten „bewußt die Wahrscheinlichkeit einer gesicherten Informationsübertragung gerade entgegen den üblichen Konventionen des Mediengebrauchs“ (S. 57). Denn wenngleich Lavinia durch den Pfeilschuss tatsächlich einen potentiellen Störfaktor in der Nachrichtenübermittlung an einen feindlichen Heerführer ausschaltet – die Ermordung des Boten –, schafft der Pfeil in seiner scheinbaren Aggressivität neue Störfaktoren.
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Lavinias dialektische Codierung ihres Briefes im Übermittlungsvorgang weist dabei schon voraus auf das zweite konstitutive Element ihrer Liebeskommunikation, die Gleichzeitigkeit von aktiver Kontaktaufnahme und zögernder Zurückhaltung, die ihrem Minnebekenntnis Spannung und Paradoxie verleiht. Denn obwohl die Prinzessin das „radikale[ ], personale[ ] Wagnis“29 einer Liebeserklärung eingeht, ist die Wahrung ihrer wertlîchen êre (277,18) für sie unverzichtbar, da sie, wie bereits angemerkt, ihre êre als Grundvoraussetzung dafür betrachtet, überhaupt der Gegenliebe würdig zu sein (277,1-19). Ihren gefûchlîche (285,25) verfassten Brief kennzeichnet daher eine spürbare Differenz zwischen selbsteingestandenem Gefühl und schriftlich konstituierter höfischer Gefasstheit.30 Diese Differenz etabliert sich in der Dialektik von offenbarendem Inhalt und verhüllender Form:31 ‚ez enbûtet Lavîne Ênêase dem rîchen ir dienest inneclîchen, der is ir vor alle man, wande sim baz gûtes gan, dan allen den dies ie gesach, und si sîn vergezzen niene mach weder spâte noch frû. unde enbûtet im dar zû, daz her der rede sî gewis und vil wol gedenke des, daz diu minne vil getût.‘ (286,24-35) „Es entbietet Lavinia dem mächtigen Eneas von Herzen ihre Ergebenheit. Der steht ihr höher als alle Männer, weil sie ihm mehr Gutes gönnt, als all denen, die sie je erblickt hat, und sie vermag ihn nicht zu vergessen,
29 30 31
HAUG (Anm. 3), S. 23. MARIE-LUISE DITTRICH: Die Eneide Heinrichs von Veldeke, Teil 1: Quellenkritischer Vergleich mit dem Roman d’Eneas und Vergils Aeneis, Wiesbaden 1966, S. 324. In der Verbindung von Verhüllung und Offenbarung unterscheidet sich Veldekes Minnebrief deutlich von dem des Romans, der primär als unverhüllte Offenbarung von Lavinias Gefühlen konzipiert ist – jedenfalls soweit man von der indirekten Wiedergabe des Brieftextes auf den tatsächlichen Brieftext schließen kann: Tot li descuevre son talent / et a el parchemin bien peint / que molt l’angoisse et la destreint / l’amors de lui, si qu’ele en muert (V. 8786-8789; „Gänzlich entdeckt sie ihm ihr Sehnen, und auf dem Pergament malt sie recht aus, wie heftig die Liebe zu ihm sie bedrängt und quält, so dass sie daran stirbt“). Hinzu kommen Änderungen im Dispositionsschema, da dem deutschen Brief, anders als dem französischen, die salutatio fehlt. Vgl. für den französischen Brief hingegen die dem eigentlichen Briefinhalt vorausgehenden saluz (V. 8780).
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weder spät noch früh. Und sie entbietet ihm weiterhin, er möge ihrer Worte gewiss und wohl dessen eingedenk sein, dass die Minne viel vermag.“32
Inhaltlich darf nämlich gerade wegen der Zeichenhaftigkeit des höfischen Minnediskurses der Offenbarungscharakter – und damit das personale Wagnis – dieses knappen Liebesbriefes nicht unterschätzt werden, selbst wenn Lavinia ihr Gefühl durch das formelhafte ‚daz diu minne vil getût‘ nicht im persönlichen Bezug, sondern nur unpersönlich als Liebesgefühl klassifiziert. So verweist bereits das in die stereotype enbieten-Formel des Briefanfangs eingefügte Adverb inneclîchen deutlich auf die Tiefe des verbrieften Gefühls – eine für die mittelhochdeutsche Briefliteratur frühe und deshalb für die Bewertung des Lavinia-Briefes um so signifikantere Synthese von brieftypischem Formalismus und Ausdrucksbestreben.33 Zeichen sprachlicher Hingabe, mithin Implikation des Liebesgeständnisses, ist zudem das Bekenntnis: ‚und si sîn vergezzen niene mach‘, wenngleich die Prinzessin auch hier die explizite Verwendung des Verbes ‚lieben‘ vermeidet. Denn mit diesen Worten gesteht sie sich nicht nur selbst ihre Minne für Eneas ein (269,8), sie fasst die Offenbarung ihrer verbotenen Liebe gegenüber ihrer Mutter in die gleiche Formel:34 ‚jâ sint gester morgen, daz ich einen man gesach, des ich vergezzen niene mach noch nimmer mêre enkan.‘ (281,34-37) „Ja, seit gestern Morgen, als ich einen Mann gesehen (habe), den ich nicht vergessen kann, noch niemals werde vergessen können.“ 32
33 34
Wie FRINGS/SCHIEB differenziert KARTSCHOKE das Bedeutungsspektrum von minne durch Groß- und Kleinschreibung: minne verweist demnach auf das Gefühl (Liebe), Minne auf die Personifikation (frou Minne). Diese Setzung ist allerdings eine moderne Interpretation, wie etwa der Vergleich mit der durchgängigen Kleinschreibung bei FROMM belegt (alle Anm. 5). Ich verwende in der Übersetzung daher immer ‚Minne‘, nie ‚Liebe‘, um das Bedeutungsspektrum für den Rezipienten entsprechend offen zu lassen. CHRISTINE WAND-WITTKOWSKI: Briefe im Mittelalter. Der deutschsprachige Brief als weltliche und religiöse Literatur, Herne 2000, S. 53f. Aktualisiert wird die Verbindung von Liebe und Gedächtnis zwar auch für Dido (51,8-11), dennoch ist das Motiv des Nicht-Vergessen-Könnens stärker mit Lavinia konnotiert, da es sich in der Wachstafel-Szene (282,10-22) konkretisiert: Der Name des Geliebten, der nach Aristoteles und Platon in Lavinias Gedächtnis eingeschrieben ist wie in eine Wachstafel, wird von ihr selbst auf eine Wachstafel geschrieben, das sprachliche Bild wird selbst zur Minneszene. Vgl. für die Assoziation von Aristoteles und Platon SCHNYDER (Anm. 20), S. 243f.; und für eine detaillierte Interpretation der Wachstafel-Szene weiter unten S. 117ff.
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Höfische gevuocheit wahrt Lavinias Minnebekenntnis daher primär auf der grammatischen Ebene, durch die vollständige Formulierung des Liebesbriefes in der dritten Person. In der lateinischen Briefrhetorik, deren Regelwerk nicht zuletzt durch den Hinweis assoziiert wird, die Prinzessin schreibe in scônem lâtîne (286,23), fungiert die Verwendung der unpersönlichen Rede nämlich als Ausdruck von Demut und Zeichen formeller Distanz. Da diese Funktion jedoch im Speziellen für die Formulierung der salutatio kodifiziert ist,35 potenziert Veldeke eine etablierte Briefformel, natürlich unter gleichzeitiger Intensivierung ihres distanzierenden Charakters. Für die Interpretation wird damit auch die feine Differenz zwischen der indirekten Wiedergabe des Minnebriefes im Roman d’Eneas (V. 8779-8794) und der indirekten Formulierung des Minnebrieftextes im Eneasroman bedeutsam. Denn anders als der französische Text, der die Gefühlsoffenbarung quasi von außen, von der Erzählerebene her, zensiert, verschiebt der deutsche Text diesen Akt der Verhüllung als Akt der Selbstzensur nach innen, auf die Figurenebene. Dabei steigert Veldeke die Distanziertheit der Liebeskommunikation zusätzlich dadurch, dass Lavinia nicht allein spezifische Regeln der lateinischen Briefrhetorik befolgt, sondern ihren Brief vollständig in Latein verfasst. Wertet man nämlich gegen MEYER Lavinias scônes lâtîne tatsächlich als Markierung der Fremdsprachigkeit des produzierten Textes, ist das Minnebekenntnis der Prinzessin dezidiert in den normierten Schriftkontext eingebunden, in eine festgefügte stilistische und rhetorische Tradition.36 Damit ist die Wahl des Lateinischen insofern als programmatisch zu verstehen, als Latein mit Schriftlichkeit und eben mit Distanz konnotiert ist, im expliziten Gegensatz zur Volkssprache übrigens, die Mündlichkeit, Nähe und Gefühl asso-
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Zur Kodifizierung der unpersönlichen Rede in den lateinischen Briefrhetoriken vgl. DREHER (Anm. 19), S. viii; und SCHUBERT (Anm. 20), S. 42f. und Anm. 38. WUTH (Anm. 20), der den Eneasroman als Reflex eines medialen Umbruchs liest (S. 76) und folglich Veldekes Briefkonzeption als rückwärtsgewandte Reaktion auf diesen medialen Umbruch, als Imitation alter Medienformen – des Boten – im neuen Medium – dem Brief – deutet (S. 70), sieht hingegen in der Verwendung der dritten Person eine Annäherung des Briefes an den Botenbericht (S. 69). SCHNYDER (Anm. 20), S. 245. Lavinias – übrigens aus dem Roman d’Eneas (V. 8778) übernommene –Verwendung des Lateinischen wird von MEYER als unspezifisch gewertet, weil Lavinia Latinerin sei und Latein demnach für sie die Volkssprache repräsentiere. Allerdings werden MEYERs Folgerungen durch den Versuch beeinträchtigt, den Lavinia-Brief als Beweis für und Reflex auf realexistierende deutschsprachige Liebesbriefe wahrscheinlich zu machen. Vgl. dazu ERNST MEYER: Die gereimten Liebesbriefe des deutschen Mittelalters. Mit einem Anhang: ungedruckte Liebesbriefe aus der Dresdener Handschrift M. 68, Diss. Marburg 1898, S. 44f. – Bislang hat anscheinend noch kein Rezipient des Eneasromans die darin liegende Ironie bemerkt, dass der als erste mittelhochdeutsche Minnebriefeinlage gerühmte Liebesbrief im narrativen Kontext keineswegs ein deutscher, sondern ein lateinischer Brief ist.
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ziiert.37 Weil somit nicht allein die Notwendigkeit des Briefes Distanz abbildet, sondern Briefstil und Schriftsprache selber zu Trägern formvollendeter Zurückhaltung werden, bedingt letztlich die Schriftlichkeit des Liebesgeständnisses die höfische Konzeption von Eneas’ und Lavinias Minne. Im Sinne dieser gevuocheit kann es nur als folgerichtig erscheinen, dass der Lavinia-Brief insgesamt die Vorteile schriftlicher Kommunikation – die Sublimierung körperlichen Begehrens – mit Aspekten der Mündlichkeit verbindet, indem die Prinzessin in der Briefsituation versucht, die durch die Schriftlichkeit verlorene Unmittelbarkeit des kommunikativen Aktes zurückzugewinnen. Insofern wird im Eneasroman die substantielle Gesprächsersatzfunktion von Briefen zur Inszenierung eines tatsächlichen Gespräches – d. h. von der Gesprächs- zur Stimmersatzfunktion – verschoben. Denn weil sich Eneas und Lavinia während der Briefübergabe sehen (290,1-13), nutzt die Prinzessin die Möglichkeit, durch Schrift die Grenzen der eigenen Körperlichkeit zu überwinden, allein auf der akustischen Ebene. Der sich an das Lesen des Briefes anschließende Austausch von Verbeugungen versteht sich so nicht nur als vollwertiger Ausdruck von Minne,38 sondern als Versuch, die Stimme des Briefes durch Gestik und Mimik zu einer face-to-face-Kommunikation zu komplettieren. In der Indirektheit der Körper ermöglicht die Briefform damit die – scheinbare – Direktheit des Liebesgesprächs. In der Gegenseitigkeit der Verbeugungen – her neich hin ûf und sie her abe (290,11) – finden Eneas und Lavinia aber nicht allein einen gemeinsamen Minnecode, der sie symbolisch als Paar konstituiert. Die literarische Inszenierung von Körpersprache verweist vielmehr auf die dritte Kompo37
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Zu diesen dialektischen Konnotationen von Latein und Volkssprache und zu ihrer Funktionalisierung vgl. die Interpretation der Tegernseer Liebesbriefe (um 1170/1180) von EVA LIA WYSS: Dû bist mîn, ich bin dîn. Deutschsprachige Liebesbriefe vom Mittelalter bis in die Gegenwart. In: BURKARD: liebe.komm (Anm. 2), S. 64-81, hier S. 64f. Durch die Beigabe eines volkssprachigen Liebeszettelchens mit dem berühmten dû bist mîn, ich bin dîn zu einem lateinischen Liebesbrief werden in einem der elf Tegernseer Liebesbriefe nämlich lateinische und volkssprachige Passagen gezielt miteinander kombiniert – laut WYSS „eine stilistische Meisterleistung“. MARTIN J. SCHUBERT, Zur Theorie des Gebarens im Mittelalter. Analyse von nichtsprachlicher Äußerung in mittelhochdeutscher Epik. Rolandslied, Eneasroman, Tristan, Köln, Wien 1991 (Kölner germanistische Studien 31), S. 145. Die gevuocheit der Szene offenbart sich auch darin, dass Veldeke Lavinias Gestik auf Verbeugungen reduziert, während sie Eneas im Roman d’Eneas Handküsse zuwirft (V. 8876-8886). Der konzeptionelle Vorteil dieser Minneszene besteht darin, dass sie eine Problematisierung von Fernkommunikation (und Fernminne) ermöglicht, da Eneas die Küsse zwar sehen, aber nicht fühlen kann (V. 8880ff.). Dem steht der konzeptionelle Nachteil gegenüber, dass die Handküsse die Differenz von taktil konnotierter Dido-Minne und visuell konnotierter Lavinia-Minne aufheben. Erst Veldeke vereindeutigt diese Trennung.
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nente brieflicher Kommunikation – ihre Glaubwürdigkeit –, fungieren doch bereits im Roman d’Eneas Gestik und Mimik der Prinzessin als Liebesbeweis: ‚Bien puis saveir des l’altre jor, que primes fui desoz la tor, a ce que tant me reguardot, de si buen oil, qu’ele m’amot‘ (V. 9031-9034) „Wohl kann ich seit neulich, da ich zuerst unter dem Turm stand, es dadurch wissen, dass sie mich liebt, weil sie mich so lange mit solch wohlwollendem Blick betrachtete; […].“
Denn gerade indem die Schrift die Grenzen der Körperlichkeit überschreitet – wie es für das Minnebekenntnis über mûren und graben hinweg schließlich notwendig ist –, löst sie das gesprochene Wort aus seinem Ursprungskontext, seiner sichernden Rahmung von Gestik und Mimik, und schafft so das Problem der Ausdeutung. Wie ein Roman benötigt ein Liebesbrief deshalb Interpretation. Es ist somit nur einsichtig, wenn die Prinzessin ihr Minnebekenntnis re-kontextualisiert, wenn sie es durch die Etablierung des in der face-to-face-Situation noch vorhandenen Interpretationsrahmens auf eine Aussage hin vereindeutigen will – die Wahrhaftigkeit ihrer Liebe. Die Fragilität der Briefkommunikation wird vom Text aber nur aufgerufen, um demonstrativ negiert zu werden. So verweist Eneas’ Befürchtung, Lavinia könne sowohl ihm als auch Turnus einen Minnebrief geschrieben haben, zwar auf die Möglichkeit, sich in der Schrift selbst zu stilisieren: ‚waz ob si mich betriegen wil, und den hêren Turnûm al daz selbe wil tûn oder lîhte hât getân‘ (297,32-35) „Was, wenn sie mich betrügen will, und mit dem Herrn Turnus genauso verfährt oder vielleicht schon so verfahren ist?“
Doch weil sich die Wahrhaftigkeit des Liebesgeständnisses auf ein dem Brief inhärentes Merkmal gründet – den von der personifizierten Minne inspirierten Stil –, wird die Brüchigkeit des schriftlichen Zeichensystems zurückgewiesen:
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‚den selben brief den ich dâ las den tihte diu Minne. hern mocht von wîbes sinne niemer sô getichtet sîn.‘ (298,14-17; vgl. auch 299,32f.) „[…], diesen Brief, den ich gelesen habe, diktierte die Minne. Er konnte mit weiblicher Klugheit niemals so aufgesetzt worden sein.“
Da die Lüge im Eneasroman insofern allein als Merkmal der mündlichen Rede inszeniert wird,39 bestätigt sich der Brief nicht lediglich in seiner gevuocheit, sondern auch in seiner Glaubwürdigkeit als ideale Form der Liebeskommunikation. In der Gedankenwelt des höfischen Minnediskurses erscheint es dabei nur folgerichtig, dass das kommunizierte Gefühl dem Kommunikationsmedium entspricht, dass somit die ideale Liebeskommunikation Medium der idealen Liebe ist.
3. Variation II: Das Geständnis im Brief und das Geständnis im Kampf Als – liebes- und kommunikationstheoretische – Gegenkonzeption dieser idealen Minne von Eneas und Lavinia erweist sich im Eneasroman nicht allein die Verbindung von Eneas und Dido, sondern auch die Verbindung von Turnus und Lavinia, die im Aeneas-Stoff zwar potentiell als Liebe angelegt,40 anders als in Vergils Aeneis in den beiden mittelalterlichen Adaptationen des Aeneas-Stoffes jedoch nicht als Liebe realisiert ist. Gerade aus minnekommunikativen Erwägungen interpretiere ich sie dennoch vor der für Veldekes Minnekonzeption scheinbar relevanteren Verbindung von Eneas und Dido: Tertium comparationis beider Beziehungen ist nämlich die Kommunikation mittels Briefen, insofern sich der Brief von Lavinia an Eneas in dem Brief von Lavinias Mutter an Turnus spiegelt. So werden die signifikanten Differenzen beider Liebesbindungen lesbar vor dem Hintergrund ihrer kommunikativen Gemeinsamkeit – oder genauer: vor der dif39 40
So bewirken die Lügen des Ulixes den Untergang Trojas (42,7-45,40), erringt Dido durch eine List die Herrschaft über Karthago (25,5-26,8) und verleumdet Lavinias Mutter Eneas vor ihrer Tochter (282,30-283,25). In dem um Aeneas, Turnus und Lavinia zentrierten zweiten Teil der Aeneis wird nur die Liebe von Turnus zu Lavinia in der narratio explizit, während potentielle Liebesgefühle des Aeneas für den Vollzug der fata irrelevant sind und daher nicht narrativ gestaltet werden. In detaillierten Minnemonologen stellen Roman d’Eneas und Eneasroman hingegen nur Lavinia und Eneas – und Dido in der Dido-Episode – als Liebende dar, während Turnus weder Minnemonologe noch Minnegefühle zugestanden werden.
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ferenten Umsetzung dieser kommunikativen Gemeinsamkeit –, wie es dem einleitend als Strukturprinzip etablierten kontrastiven Parallelismus entspricht. Im narrativen Kontext wird die Briefkommunikation von Heinrich von Veldeke damit gleich zweifach funktionalisiert: Erscheint sie einerseits als Interpretament der Liebe von Eneas und Lavinia, übernimmt sie andererseits eine strukturierende Funktion, indem sie die personalen Beziehungen im Figurenmodell des Eneasromans definiert. Dies betrifft vor allem die Konstellation von Eneas und Turnus in ihrer Beziehung zu Lavinia. Denn die epische Differenz zwischen dem Trojaner und dem Rutulerherzog wird von der Forschung zwar besonders in ihrem gegensätzlichen Anspruch auf göttliches und menschliches Recht gesehen (115,32-117,18), so dass der Spruch der Götter – das fatum – das Glück des Eneas und das Unglück des Turnus seit jeher vorausbestimmt: ‚wand mîn tohter haben mûz ûwer hêre Ênêas deme sie bescheret was êr si ie worde geboren. Turnûs hât si iemêr verloren.‘ (117,14-18) „[…], denn meine Tochter muss Euer Herr Eneas bekommen, dem sie schon zubestimmt war, noch bevor sie geboren wurde. Turnus hat sie auf immer verloren.“
Die Tatsache jedoch, dass die Prinzessin Eneas liebt und Turnus hasst (274,20-25), setzt das fatum in Gefühl um. Wie bereits angemerkt, verdeutlicht Veldeke dieses Gefühl auf der Figurenebene seines Romans aber im Kommunikationsverhalten seiner Protagonisten. Bedeutsam wird hierfür vor allem der Brief, der geschriebene wie der nicht-geschriebene Brief Lavinias. Ausgangspunkt meiner Überlegungen zur Minnekommunikation der Turnus-Figur ist dabei, dass Eneas im Roman d’Eneas die Wahrhaftigkeit der ihm von Lavinia entgegengebrachten Gefühle bezweifelt. Weitaus wahrscheinlicher sei ihre Liebe zu Turnus, denn ihm sei sie nah, ihn könne sie sehen (V. 9025), ihn könne sie sogar sprechen: ,parler pueent ensenble andui‘ (V. 9002). Damit wird als Voraussetzung von Minne die Nähe, die Nahkommunikation, etabliert, was letztlich modernen kommunikationstheoretischen Liebeskonzeptionen entspricht, nach denen sich Liebe in der Synchronisation diachroner Lebensentwürfe mittels einer Vielzahl kommunikativer Akte vollzieht.41 In dieser Engführung von Liebe und Kommunikation erscheint es umso auffälliger, dass ein dialogischer Austausch 41
BURKARD, Boten (Anm. 2), S. 11.
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von Turnus und Lavinia in der Turnus-Episode gerade nicht erzählerisch gestaltet wird. Obwohl nämlich Turnus, anders als Eneas, keineswegs gezwungen wäre, über mûren und graben hinweg mit Lavinia zu kommunizieren, ist sein Kommunikationsverhalten im Roman d’Eneas wie im Eneasroman durch die Vermeidung von Minnekommunikation im Allgemeinen und eines unmittelbaren Minnebekenntnisses an die Prinzessin im Besonderen geprägt. Diese kommunikative Leerstelle wird durch die detailliert erzählte Kommunikation des Rutulerherzogs mit Lavinias Mutter – der in beiden mittelalterlichen Texten namenlosen Königin von Latium – dezidiert betont. Für die Interpretation des Eneasromans wäre dabei als Akt der Nahkommunikation vor allem das minnichlîche Treffen in der Kemenate der Königin wesentlich zu machen (140,39-142,14), das Heinrich von Veldeke eigenständig kreiert, als Akt der Fernkommunikation hingegen der bereits erwähnte Brief von Lavinias Mutter an Turnus – ebenfalls eine eigenständige Erweiterung des deutschen Romans:42 einen brief sie selbe tihte, den si mit schônen worden vant, und screib in mit ir selber hant. den sande si dâ Turnus was, der den brief selbe las. (125,36-40) […], setzte sie selbst einen Brief mit wohlgesetzten Worten auf, und schrieb ihn eigenhändig nieder. Den sandte sie (dorthin), wo Turnus war, der den Brief selbst las.
Beachtenswert ist dieser Brief – in dem die Königin dem Rutuler den drohenden Verlust von wîb, borge und lant (126,28f.) mitteilt – bereits wegen seiner kunstvollen Einfügung in den narrativen Kontext. Denn indem der indirekt wiedergegebene Briefinhalt durch emotionale Reaktionen des Turnus kommentiert und durch eben diesen Kommentar in die narratio eingebunden wird, liest der Rezipient des Eneasromans den Brief durch die Augen der Figur und folgt so deren Informationsselektion (126,11 und 16f.).43 42
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Im Roman d’Eneas greift die Königin nicht auf eine durch ihren kamerâre (126,6) schriftlich übermittelte Botschaft, sondern auf eine durch einen willkürlich ausgewählten escuir (V. 3387; „Schildknappen“) mündlich vermittelte Botschaft zurück (für die vollständige Szene vgl. V. 3385-3509). Das hat zur Folge, dass sich vom französischen zum deutschen Roman der Fokus der Darstellung vom rhetorischen Geschick des Boten zum rhetorischen Geschick der Königin verlagert. Der vollständige Brief erscheint 126,1-127,6. WAND-WITTKOWSKIs (Anm. 33) Kritik, der Brief sei so abstrakt mitgeteilt, dass ihn nur die Kenntnis des Zusammenhangs verständlich mache, basiert darauf, dass sie fälschlicherweise als Brieftext lediglich 126,1-5 wertet (S. 64, Anm. 129, und S. 337).
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Der durch die Lektüre erregte grôze[ ] zoren (127,7) des Rutulers wird dadurch nachvollziehbar. In ihrer Wirkung sind die beiden Frauen-Briefe des Romans somit dialektisch aufeinander bezogen, da sie entgegengesetzte Gefühle hervorrufen – Liebe und Hass. Beachtenswert im Rahmen einer minnekommunikativen Interpretation der Turnus-Episode ist der Brief von Lavinias Mutter jedoch primär wegen der bereits erwähnten Strukturparallele zu Lavinias eigenem Brief – eine Parallele, die trotz Veldekes bekanntem Faible für Parallelstrukturen in der Forschung bislang keine Aufmerksamkeit gefunden hat. Dabei wird die Vergleichbarkeit beider Briefe nicht allein durch die analoge Inszenierung des Briefvorgangs suggeriert: Wie die Prinzessin schreibt die Königin selbst (286,19-23 vs. 125,36ff.), wie der Trojaner liest der Rutuler selbst (290,3f. vs. 125,40), wie die Worte der Prinzessin scône[ ] sind, sind auch die Worte der Königin schône[ ] (286,23 vs. 125,37). Vielmehr wird sie von vornherein auch dadurch konstituiert, dass beide Briefe im Liebeskontext geschriebene Briefe von Frauen an Männer sind und dass diese Frauen gewissermaßen als Minimalpaar (Lavinia/Lavinias Mutter) konzipiert sind. Gegen RASMUSSEN ist der im Eneasroman für die Botschaft der Königin vorgenommene Wechsel von einer mündlichen zu einer schriftlichen Botschaft, vom Medium ‚Bote‘ zum Medium ‚Brief‘, damit deutlich mehr als nur eine mediale Modernisierung.44 Denn gerade über ihre Medialität verbindet der deutsche Roman beide Akte der Kommunikation und markiert so, dass in der unglücklichen Minnebindung Lavinias Mutter die Rolle usurpiert, die in der glücklichen Minnebindung die Rolle Lavinias ist. Als charakteristisch für die Liebe des Turnus – und im Sinne der programmatischen Korrelation von Minne und Minnekommunikation letztlich als fatal – erweist sich insofern, dass seine Liebeskommunikation um eine Stelle im Figurenmodell des Eneasromans verschoben ist, dass er statt mit Lavinia mit einer Lavinia-Stellvertreterin kommuniziert. In dieser Stellvertreterfunktion etabliert sich die – möglicherweise auch aus diesem Grunde namenlose45 – Königin nicht allein durch die Analogie des Kommunikationsmediums, son44 45
ANN MARIE RASMUSSEN: Mothers and Daughters in Medieval German Literature, Syracuse, N. Y. 1997, S. 38, Anm. 12. Die in Eneasroman und Roman d’Eneas vollzogene Anonymisierung der Königin von Latium – der Amata der Aeneis – wurde in der Forschung häufig konstatiert und noch häufiger interpretiert. Wahlweise erscheint die Namenlosigkeit der Königin dabei als Akt „der Negativierung und der Bagatellisierung“ (MARTIN BAISCH/HENDRIKJE HAUFE: Väter und Söhne – Mütter und Töchter. Normbruch und Normerfüllung in Heinrichs von Veldeke Eneasroman. In: Der Deutschunterricht 55/1 [2003], S. 62-75, hier S. 69, Anm. 12), als Korrektur ihres bedrohlichen Wissens über die Vergangenheit des Eneas, so dass sie, wie diese Vergangenheit selber, aus der narratio getilgt werden müsse (SUSAN L. CLARK: Said and Unsaid, Male and Female. Leaving, Left, and Left out in Heinrich von Veldeke’s Eneide. In: Proceedings of the Patristic Medieval and Renaissance Conference 11 [1986] 51-70, hier S. 60f.), und als
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dern auch durch die Analogie des kommunizierten Gefühls, der Zusicherung von ihrer (und Lavinias) Minne, die sie mit der Einführung eines nonverbalen Minnecodes verbindet. Sie codiert nämlich Turnus’ Kampftaten als Liebestaten: ouch enbôt sim mêre, her solde sich versinnen und trôst nemen zir minnen unde zû Lavînen, daz her daz lieze schînen, wie lieb sime wâre, daz her den Troiâre ûz dem lande verstieze. (126,32-39) Weiter entbot sie ihm, er möge sich besinnen und sich auf ihre Minne und auf Lavinia verlassen und möge zeigen, wie lieb sie ihm wäre indem er den Trojaner aus dem Lande vertriebe.46
Anders als EMBERSON, die Turnus kategorisch jedes Eingehen auf diese Sprache der Liebe und damit auch jedes Liebesgefühl absprechen will,47 werte ich zwar den an Lavinias Mutter in der Kemenaten-Szene geleisteten Schwur des Rutulers, die bôsen trôischen zagen / ûzer diseme lande (141,27f.; „die elenden trojanischen Feiglinge aus diesem Land“) zu vertreiben, als Akzeptanz des Minnecodes, als Etablierung nonverbaler Formen der Kommunikation – immerhin wiederholt die Formulierung des Schwures fast zitathaft die briefliche Formulierung der Königin. Ob diese Kommunikation jedoch Liebeskommunikation im ‚romantischen‘ Sinne ist, also ein Gefühl codiert, das nicht primär auf politischer Zweckmäßigkeit basiert, sei dahingestellt.
46
47
Reaktion auf ihre Liebesunfähigkeit – weil sie als Repräsentantin des Machtprinzips weder Liebe geben noch nehmen könne, werde ihr der Name ‚Amata‘ (‚Geliebte‘) verweigert (RASMUSSEN [Anm. 44], S. 34). In Verbindung mit einer Stellvertreterfunktion für Lavinia wurde die Anonymität der Königin aber bislang nicht gebracht. Dabei markiert bereits der Roman d’Eneas diese Stellvertreterfunktion mit Lavinias Vorwurf, die Königin liebe Turnus: ‚Vos l’amez bien‘, der effektvoll mit der Negation eigener Liebe kontrastiert wird (V. 8487-8496). FROMMs (Anm. 5) Übersetzung: „Weiter schrieb sie ihm, er möge Fassung bewahren und Zuversicht schöpfen aus ihrer und Lavinias Zuneigung“ nivelliert den Unterschied zwischen Königstochter und Königin – im Sinne meiner Stellvertreter-These erschient es mir aber als eklatant, dass minne im Briefkontext allein Lavinias Mutter, nicht Lavinia, zugeordnet ist. „[I]t is dubious whether love is much of a spur to him. He passes over that part of the Queen’s letter“ – so JANE EMBERSON: Speech in the Eneide of Heinrich von Veldeke, Göppingen 1981 (GAG 319), S. 238.
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Denn bei der Wertung der nonverbalen Kommunikation als Liebeskommunikation kann weder die Tatsache ignoriert werden, dass Turnus den Schwur statt Lavinia allein Lavinias Mutter leistet, noch die mangelnde Eindeutigkeit seines Minnecodes. Fehlt der Prinzessin nämlich bereits wegen ihrer Abwesenheit bei der Etablierung des Codes das Wissen für eine Decodierung der Kriegstaten als Liebestaten, kommt erschwerend hinzu, dass die Sprache der Taten als Sprache der Liebe gerade im Kriege mehrdeutig ist, da die Kriegssituation Kriegstaten schließlich in jedem Fall erfordert. Die Kampfbereitschaft des Rutulers muss daher nicht notwendigerweise auf seine Minnebereitschaft verweisen. So kann es den Rezipienten des Eneasromans nicht überraschen, dass Lavinia eine solche Decodierung verweigert – lâge aber der ander tôt / dâ wâre ir lutzel leides umbe (322,6f.; „würde aber der andere sterben, täte ihr das überhaupt nicht leid“), wie der Erzähler ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Taten des Turnus formuliert –, und dass der ihr eigentlich vertrautere Mann der Unvertraute bleibt, den sie nicht liebt, den zu lieben sie letztlich erfolglos aufgefordert werden muss.48 Umso bedeutsamer erscheint es, dass sich aufgrund der konsequenten Weiterführung des Stellvertreter-Motivs die Kriegstaten des Rutulers als die einzigen Taten erweisen, die potentiell als Minnetaten interpretierbar sind. Denn das Liebesgefühl des Turnus ist ein auf der Figurenebene des Eneasromans nicht eo ipso existierendes, via Minnemonologen oder Minnekrankheit inszeniertes, sondern ein lediglich von Stellvertretern behauptetes, nur diskursiv existierendes Gefühl.49 In dieser diskursivierenden Funktion ist wiederum Lavinias Mutter hervorzuheben, die – stellvertretend für Turnus – ihre Tochter in dem berühmten ersten Liebesgespräch das Wesen der Minne lehrt und ihr zugleich die Liebe des Rutulers gesteht: ‚der dir is von 48
49
In ihrer Affektlosigkeit entspricht die Verbindung von Turnus und Lavinia der feudalen Ehepraxis, sind doch gerade feudale Eheschließungen bis ins 13. Jahrhundert ein Vorgang zwischen Bräutigam und Brautvater, bei dem Anwesenheit und Mitwirkung der Tochter nicht erforderlich sind (Prinzip der Muntehe). Indem die episch ausgezeichnete Beziehung aber auf einer affektiven Bindung beruht, wird diese Ehekonzeption zugunsten des etwa in Gratians Decretum (um 1140) kodifizierten Konsens-Prinzips negiert. Vgl. zur mittelalterlichen Ehepraxis allg. MICHAEL SCHRÖTER: Wo zwei zusammenkommen in rechter Ehe . . . Soziound psychogenetische Studien über Eheschließungsvorgänge vom 12. bis 15. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1985 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft); und zur literarischen Diskussion um Muntehe, Konsensehe und Liebesehe INGRID KASTEN: Ehekonsens und Liebesheirat in Mai und Beaflor. In: Oxford German Studies (1993/1994), S. 1-20. Wie bereits in Anm. 40 konstatiert, stellt diese von den beiden Aeneis-Adaptationen in der Lavinia-Episode vorgenommene Verschiebung der Liebesdarstellung von Turnus auf Eneas eine eklatante Abweichung von der Liebeskonzeption Vergils dar. Explizit wird in der Aeneis nämlich nur die sich an der Schönheit der errötenden Lavinia entzündende Liebe des Turnus: illum turbat amor figitque in virgine voltus (Vergil: Aeneis. Lateinisch/Deutsch. In Zusammenarbeit mit MARIA GÖTTE hrsg. und übersetzt von JOHANNES GÖTTE. Mit einem Nachwort von BERNHARD KYTZLER, München, Zürich 71988 [Sammlung Tusculum], XII,70; „Liebe verwirrt den Turnus, sein Auge hängt an der Jungfrau“).
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herzen holt‘ (261,3; „‚der dir von Herzen gewogen ist‘“). Turnus selber offenbart seine Gefühle im Eneasroman hingegen nie in einem verbalen Minnebekenntnis, nicht einmal in einem so ambivalenten Bekenntnis wie im Roman d’Eneas, dessen Formel ‚ce est la riens que ge plus aim‘ („‚es gibt da nichts, was ich mehr liebe‘“) sich wahlweise auf Lavinia – also die Frau –, auf l’enor et la terre d’Itaire – also Land und Ansehen –, in tot aber auch auf die Gesamtheit von Frau, Land und Ansehen beziehen könnte (V. 7748-7751). Statt über die Ebene der Gefühle definiert er sein Verhältnis zu der Prinzessin vielmehr ausschließlich über die Ebene der Macht, über die an sie gebundene Herrschaft, so dass er den Erwerb von Frau und Land auch sprachlich miteinander verknüpft. Symptomatischerweise subsumiert er nämlich unter den Begriffen min[ ] gût[ ] und mîn hant jeweils gleichermaßen seine Verlobte und das Erbe ihres Vaters (151,40-152,7; 256,34-257,2; beides: „mein Besitz“). Seine Besitzansprüche kulminieren in unmittelbarer Reaktion auf den Brief der Königin zudem in der Veränderung der Possessivpronomina von s î n tohter und s î n rîche (127,11) – über lant unde wîb (128,17) – zu m î n lant und m î n wîb (128,34; meine Hervorhebungen). In narrativer Ironie erfüllt Turnus so die Handlungsweise, die Eneas auf der Figurenebene vorgeworfen wird, die Heirat aus Besitzgier (123,6-19; 261,10-13). In seinem Minneverhalten wiederholt sich damit die bôsiu girheit (331,31; „niedrige Beutegier“), die im Ringraub bereits charakteristisch ist für sein Verhalten im Kriege. Insofern lässt sich sein Scheitern nicht ausschließlich durch die mangelnde Liebe Lavinias erklären, sondern durch seine eigene mangelnde Liebe ihr gegenüber. Spiegel dieser defizitären Minne ist aber sein defizitäres Kommunikationsverhalten. Neben der mangelnden Liebe des Rutulers wird jedoch auch die mangelnde Liebe der Prinzessin in den kommunikativen Strukturen der Turnus-Episode explizit. Für eine erschöpfende Interpretation der Episode ist es deshalb notwendig, von der in ihrer Risikolosigkeit defizitären Liebeskommunikation des Turnus – mit der Codierung seiner Kriegstaten als Minnetaten geht er eben ‚nur‘ das Risiko des Körpers ein, nicht „das existentielle Risiko der Person“50 – zurückzukommen zur Liebeskommunika50
Für diese Differenzierung beziehe ich mich auf HAUGs (Anm. 3) emphatische Formulierung: Das Risiko im Liebesgeständnis „ist nicht ein äußeres, es ist […] mehr als das Risiko des Lebens, es ist das Risiko des ganzen Menschen, das existentielle Risiko der Person“ (S. 29). Damit will ich keineswegs per se einen Konnex zwischen dem Risiko des Körpers im nonverbalen und dem existentiellen Risiko der Person im verbalen Liebesgeständnis bestreiten, wie ihn schließlich auch HAUG für die nonverbale Minnekommunikation des Lancelot im Prosalancelot konstatiert: „Das ins Unglaubliche gesteigerte äußere Risiko wird zum Zeichen der totalen inneren Risikobereitschaft.“ (S. 31). Hervorzuheben bleibt aber, dass Lancelots Sprache des Kampfes – insofern sie nicht auf den Erwerb von Herrschaft ausgerichtet ist – immer nur Sprache der Liebe sein kann, während Turnus’ Sprache des Kampfes in dieser Hinsicht ambivalent bleibt.
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tion Lavinias, d. h. zu dem geschriebenen Eneas-Brief und dem nicht-geschriebenen, nur stellvertretend geschriebenen Turnus-Brief. Wenn es nämlich stimmt, dass Heinrich von Veldeke das Scheitern des Rutulers mit der mangelnden Liebe der Prinzessin korreliert, und wenn es weiterhin stimmt, dass Veldeke Schreiben und Lieben miteinander korreliert, nimmt bereits die Tatsache, dass die Königin, nicht die Prinzessin, dem Rutuler schreibt, sein Scheitern voraus.51 Im Eneasroman ist der Brief damit mehr als nur Interpretament der Minne von Eneas und Lavinia, in seinem NichtVorhandensein er ist auch Interpretament der Minne von Turnus und Lavinia, Interpretament für das Nicht-Vorhandensein dieser Minne. Als Interpretament der Turnus-Lavinia-Beziehung fungiert der Brief von Lavinias Mutter jedoch nicht allein auf dieser sekundären, notwendigerweise an die Retrospektive gebundenen Ebene, sondern auch auf einer primären Ebene, verdeutlicht doch bereits die emotionale Aufladung des Schreibvorgangs die Illegitimität jeder Bindung, die zwischen dem Rutuler und der Prinzessin bestehen könnte. Denn die Königin sichert dem Rutuler zwar brieflich die Herrschaft über sîn wîb [...] / und sîne borge und sîn lant (126,28f.) zu, aber indem sie diesen Brief im Zustand der unsinne (125,32) schreibt, wird diese Legitimation fragil. Konsequenterweise richtet sich auch die im Brief etablierte Sprache der Liebe letztlich gegen Turnus. Wenn sich in der Codierung von Kriegstaten als Minnetaten die Intensität seiner Liebe nämlich daran messen lässt, dass er den Trojaner besiegt, bedeutet seine Niederlage gegen Eneas die epische Negation seiner Liebe. Dies gilt umso mehr, als der Trojaner im Sieg nicht allein den fremden Code usurpiert, sondern in der Zerstückelung von Turnus’ Körper (330,2; 331,38) das Medium von Turnus’ Sprache der Liebe destruiert.52 Als hauptsächliches Defizit des Rutulers bleibt damit, bezogen auf seine Minnelogik, bestehen, dass er Lavinia nur durch Worte, nie durch die Realisierung dieser Worte in Taten beansprucht hat (234,34f.), bezogen auf die Minnelogik des Eneasromans, dass er diese nonverbale Form der Kommunikation nie durch verbale Formen der Kommunikation ersetzt hat. 51
52
Gegen DITTRICH (Anm. 30), S. 320, die die Entscheidung über Sieg und Niederlage des Turnus erzähllogisch erst nach der zweiten großen Aktion der Königin – der erfolglosen Beeinflussung Lavinias zur Liebe – verortet, fällt diese Entscheidung also eigentlich schon in der ersten Aktion – der erfolgreichen Beeinflussung des Turnus zum Krieg –, in dem Moment, als die Königin statt der Prinzessin zum Schreibgriffel greift. In der Perspektive des Scheiterns erscheint es auch eklatant, dass sich das für Turnus charakteristische Stellvertreter-Motiv bis in seinen Minnecode, d. h. bis in seine Kämpfe, verfolgen lässt. Statt Eneas in persona gelingt es dem Rutuler nämlich lediglich, zwei Eneas-Stellvertreter zu besiegen: Pallas und den Trojaner Neptanabus. In dieser Stellvertreterfunktion etablieren sich beide Männer durch die Tatsache, dass Turnus ihnen wîb und rîche abgewinnt, wie er sie nach der Formulierung seines Minnecodes eigentlich Eneas abgewinnen müsste. Vgl. für den Sieg über Pallas 206,14-20; und für den Sieg über Neptanabus 316,1-318,5.
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4. Variation III: Das Geständnis in der Hingabe Wie die kommunikationstheoretische Interpretation der Turnus-Minne gezeigt hat, definiert sich die Verbindung von Turnus und Lavinia in der Vermeidung des verbalen Liebesgeständnisses als wortlose Verbindung und eben deshalb letztlich nicht als Minnebindung. Signifikanterweise kann Wortlosigkeit, kann Schweigen, mit WENZELBURGER aber auch als Charakteristikum der zweiten scheiternden Minnebindung des Eneasromans, der Verbindung von Eneas und Dido, verstanden werden.53 Wegen dieser motivischen Doppelung erscheint es mir naheliegend, über die bereits etablierte Korrelation von scheiternder Liebe und scheiternder Liebeskommunikation hinaus das Schweigen als Extremform kommunikativen Scheiterns für eine minnekommunikative Interpretation der Dido-Episode heranzuziehen. Dabei soll die Untersuchung des Schweigemotivs, wie es in der Vermeidung des verbalen Liebesgeständisses auch für Dido konkret wird, vor allem zu einer Differenzierung von Dido-Minne und Lavinia-Minne – also letztlich zu einer Erklärung für die differente Verteilung von Liebesglück und Liebesleid in beiden Minneepisoden – beitragen, von jeher eine der Kontroversen der Veldeke-Forschung.54 Denn wenngleich ich entgegen weiten Teilen der jüngeren Forschung die Dido-Minne gegenüber der Lavinia-Minne als defizitär und somit aus sich selbst heraus zum Scheitern
53 54
WENZELBURGER (Anm. 12), S. 298. Da die Kontroverse um das Verhältnis der beiden Liebesepisoden die Veldeke-Forschung seit ihrer Abkehr von rein philologischen Fragestellungen geprägt hat, seien im Folgenden nur die auf MAURER und SCHRÖDER beruhenden Grundpositionen referiert. MAURER argumentiert dabei contra Dido: Im Gegensatz zur rehten Lavinia-Minne sei die Dido-Minne unreht, weil sie in Gefühl und Handeln maßlos sei (Schuld). Sie ende daher notwendig im Leid (Leid als Folge und Strafe des ethisch-charakterlichen Versagens). Vgl. dazu FRIEDRICH MAURER: ‚Rechte‘ Minne bei Heinrich von Veldeke. In: Archiv 187 (1950), S. 1-9; und DERS., Leid. Studien zur Bedeutungs- und Problemgeschichte, besonders in den großen Epen der staufischen Zeit, Bern 1951 (Bibliotheca Germanica 1), bes. S. 98-114. Pro Dido konstatiert hingegen SCHRÖDER (WERNER SCHRÖDER: Dido und Lavine. In: ZfdA 88 [1957/1958], S. 161-195) nicht nur deutliche Parallelen im Liebesgefühl von Dido und Lavinia, insbesondere in dessen Maßlosigkeit, sondern auch im Liebeshandeln: Das Verhalten der beiden liebenden Frauen sei „nicht grundsätzlich, sondern lediglich situationsbedingt verschieden“. unreht werde Didos Minne erst, als sie ihr unverschuldetes Leid nicht zu ertragen vermöge und Selbstmord begehe (S. 179). Die interessanteste Variation dieser beiden Grundpositionen bietet GERT HÜBNER: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im Eneas, im Iwein und im Tristan, Tübingen, Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 44): „Dido bewertet ihr Verhalten selbst als falsch, den Fehler aber als unvermeidlich. Die Fokalisierungstechnik der gesamten Episode zielt darauf, die Zustimmung des Rezipienten zu diesem Urteil zu sichern, mithin Verständnis für einen Fehler zu erzeugen, ohne ihn zu verdecken.“ (S. 228). So gelingt es HÜBNER, sowohl mit MAURER contra Dido zu argumentieren (S. 222f., Anm. 52), als auch SCHRÖDERs Argumente pro Dido als Reflex auf die Erzähltechnik plausibel zu machen. Interpreten wie SCHRÖDER erfüllen demnach Veldekes „Modelladressatenrolle“ (S. 111).
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verurteilt auffasse, möchte ich gleichwohl betonen, dass diese defizitäre Liebe weniger auf einem gegenüber dem Liebesgefühl Lavinias differenten und deswegen defizitären Liebesgefühl der karthagischen Fürstin basiert, als vielmehr auf einer defizitären Umsetzung dieses Gefühls, auf defizitärem Liebeshandeln. Diese These resultiert aus der Tatsache, dass die Minne der beiden Frauen zwar auf der Gefühlsebene gleich ist – beide lieben zunmâzen55 –, dass das gleiche maßlose Minnegefühl aber nicht in gleiches Minnehandeln, vor allem nicht in gleiches minnekommunikatives Handeln, umgesetzt wird, wie dem Rezipienten gerade im Problem des Wissenlassens eindringlich vor Augen geführt wird.56 Im Konflikt von Reden und Schweigen, von tûn und lâzen, geht nämlich allein die latinische Prinzessin das Wagnis eines Liebesgeständnisses ein, weil sie sich von dem Wissen um ihre Liebe die Gegenliebe des Trojaners erhofft: ‚her sal mir deste holder sîn, / swenner weiz den willen mîn‘ (285,31f.; „‚wird er mir umso gewogener sein, wenn er weiß, was ich will‘“). Dido hingegen fürchtet zunmâzen / daz tûn und daz lâzen (56,37f.; „über alle Maßen das Tun wie das Lassen“) und wählt letztlich das Schweigen. Aus kommunikationstheoretischer Perspektive heraus genügt es daher nicht, lediglich auf der Folie von Lavinias Reden Didos Schweigen als das 55
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Für die unmâze der Liebe vgl. für Dido 38,29; 69,7; 76,19; und für Lavinia 270,17; 276,13; 285,2; 302,26f.; 303,12f. Gegen MAURER (Anm. 54) bleibt dabei anzumerken, dass unmâze von Veldeke nicht als negativer Gegenbegriff zum positiven mâze gemeint ist, sondern die rein adverbielle Funktion hat, den Grad der Erregung bei verba sentiendi anzugeben. Bezogen auf den Minnekontext bezeichnet unmâze demnach einen Zustand höchster Erregung im Liebesgefühl. Vgl. dazu RENATE KISTLER: Heinrich von Veldeke und Ovid, Tübingen 1993 (Hermaea N. F. 71), S. 212f. Forschungskonsens ist seit SCHRÖDER (Anm. 54) außerdem, dass die Liebe von Dido, Lavinia (und Eneas) nicht nur mit demselben Attribut – eben unmâzlich – beschrieben wird, sondern auch mit demselben Ovidianisch geprägten Motivrepertoire, das die Liebe als Krankheit metaphorisiert. Meine These, dass das minnekommunikative Verhalten von Dido und Lavinia und damit ihr gesamtes Minneverhalten nicht „lediglich situationsbedingt“, sondern „grundsätzlich“ verschieden ist, versteht sich als Korrektur von SCHRÖDERs (Anm. 54) oben genannter These. Denn diese These basiert auf drei Fehleinschätzungen: (1) In Parallelszenen sieht SCHRÖDER immer die Gleichheit von Dido und Lavinia, nie ihre Ungleichheit markiert. Schlüsselszenen wie die von Dido (50,11-53,6), Lavinia (278,13-279,8) und Eneas (292,9-300,22) in Minnekrankheit schlaflos verbrachte Nacht sind für Dido hingegen deutlich anders als für Eneas und Lavinia – nämlich erotisch – konnotiert, so dass statt der Gleichheit der beiden Frauen ihre Ungleichheit, demgegenüber aber die Gleichheit von Eneas und Lavinia markiert wird. (2) Diese Negation einer Differenz äußert sich auch darin, dass SCHRÖDER nicht zwischen Denken und Handeln differenziert, etwa zwischen Lavinias nur erwünschtem (324,10-13) und Didos vollzogenem Beischlaf (63,4-28) mit Eneas. (3) SCHRÖDER konstruiert Gleichheit selbst dort, wo sie dem Rezipienten weder explizit durch inhaltliche, noch implizit durch formale Parallelen suggeriert wird. So setzt er den von Dido im Beischlaf begangenen Normverstoß mit dem von Lavinia im Widerstand gegen ihre Mutter begangenen Normverstoß gleich (vgl. für SCHRÖDERs Gegenüberstellung von Dido und Lavinia S. 174-179).
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spezifische Defizit der Dido-Minne zu markieren. Das differente Kommunikationsverhalten der beiden Frauen, die eklatante Differenz von Reden und Schweigen, muss vielmehr in Kausalzusammenhang gesehen werden mit der differenten Gegenliebe des Eneas, die als distinktives Merkmal der beiden Minneepisoden Liebesglück und Liebesleid wesentlich bedingt. Denn während Dido und Lavinia den Trojaner gleichermaßen zunmâzen lieben, liebt Eneas allein Lavinia zunmâzen (294,31; 295,2; 299,7), Dido hingegen nicht. Ihr ist er lediglich genûch holt (76,18 „sehr gewogen“), wie die Fürstin rückblickend konstatiert, und nur deswegen kann er sie gemäß dem Willen der fata verlassen.57 Da für mich Eneas’ defizitäre Minne auf Didos defizitärem Minnebekenntnis basiert,58 da die Differenz von Laviniaund Dido-Episode somit auch die Konsequenzen von Wissen und NichtWissen illustriert, ist meine Untersuchung von Didos Schweigen letztlich wieder an der Korrelation von Wissen und Liebe, von Nicht-Wissen und Nicht-Liebe orientiert. In meiner minnekommunikativen Interpretation der Dido-Episode soll mithin gezeigt werden, dass Dido mit ihrem Schweigen ihr eigenes Scheitern initiiert, es soll gezeigt werden, dass Didos Schweigen Nicht-Wissen, Nicht-Liebe und Tod generiert. Notwendiger Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit Didos Liebesgeständnis und damit für eine Auseinandersetzung mit dem programmatischen Konflikt von Reden und Schweigen, von tûn und lâzen, ist dabei das Gespräch zwischen Dido und ihrer Schwester Anna (53,23-57,32) – zumindest in der Erzählkonzeption Heinrichs von Veldeke. Denn im Roman d’Eneas wird der Konflikt von Reden und Schweigen in der DidoEpisode nicht nur kaum thematisiert, durch die Diskussion der politischen Vorteile, die die Fürstin in einer Verbindung mit Eneas gewinnen könnte, ist gerade das Gespräch zwischen Dido und Anna (V. 1272-1390) auch wesentlich anders akzentuiert. Es problematisiert, kurz gesagt, Didos Herrschaft, nicht Didos Minnekommunikation.59 Für den Eneasroman hingegen
57
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Rückblickend erkennt Eneas, dass er Dido nicht aufgrund der fata verlassen habe, sondern weil er sie zu wenig geliebt habe, um das fatum ignorieren zu können (296,13-16). In der bereits von SCHRÖDER (Anm. 54), S. 179f., zur Entlastung von Dido initiierten Debatte um ein schuldhaftes Verhalten des Eneas wird diese Selbsterkenntnis sowohl zur Belastung (ELISABETH LIENERT: Deutsche Antikenromane des Mittelalters, Berlin 2001 [Grundlagen der Germanistik 39], S. 98) als auch zur Entlastung des Protagonisten (ANETTE SYNDIKUS: Dido zwischen Herrschaft und Minne. Zur Umakzentuierung der Vorlagen bei Heinrich von Veldeke. In: PBB 114 [1992], S. 57-107, hier S. 104) herangezogen. Zu Eneas’ eigenen Defiziten im Minne- und Minnekommunikationsverhalten, die durch Didos Defizite keineswegs negiert werden sollen, vgl. weiter unten S. 122ff. In dem Gespräch zwischen der französischen Dido und der französischen Anna wird Didos Minnekommunikation nur insofern akzentuiert, als Anna Dido zu einer sprachlichen List rät, um Eneas von der Abreise abzuhalten (V. 1377-1382). Das Problem des Wissenlassens wird hingegen nicht diskutiert. Präsent in der narratio wird es so erst, als es als Problem
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muss das Gespräch zwischen Dido und Anna als Schlüsselszene für die fatale Korrelation von Liebesgeständnis und Schweigen verstanden werden, weil dieses Gespräch einerseits selber Liebesgeständnis ist, andererseits verschiedene – verbale und nonverbale – Strategien des Liebesgeständnisses diskutiert. In seiner verbalisierten wie in seiner diskursivierten Form ist das Liebesgeständnis für Dido aber mit Schweigen konnotiert. Wenn ich mich in der Interpretation von Minne und Schweigen daher zunächst dem von Dido verbalisierten Minnebekenntnis zuwende, dann nicht deswegen, weil es grundsätzlich wichtiger ist als die diskursivierten Minnebekenntnisse, sondern weil es in einer signifikanten Reduktion zurückweist auf das Minnebekenntnis des Turnus: Das existentielle Risiko der Person, das dem Liebesgeständnis in der Preisgabe gegenüber dem Anderen immer eigen ist, wagt auch die karthagische Fürstin ausschließlich gegenüber einer Stellvertreterfigur. Bereits in seiner Verbalisierung ist das Geständnis somit doppelt mit Schweigen codiert, da es nicht nur auf einen Stellvertreter reduziert, sondern in dieser Reduktion zusätzlich fragmentiert wird. Selbst gegenüber ihrer Schwester Anna vermag Dido nämlich den Namen des Eneas lediglich stammelnd, zerlegt in Einzelsilben, zu nennen: ‚her heizet‘ sprach si ‚der Ê‘, und dar nâch ‚NÊ‘, uber lank, alsô sie diu minne dwank, ê si vollesprâche ‚AS‘, dô weste sie wol wer es was. (55,24-28) „Er heißt“, sagte sie, „E“, und, nach längerem Zögern: „Ne“, so wie die Minne sie zwang, ehe sie vollendete: „AS.“ Da wusste sie [Anna] sofort, wer es war.60
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aufgehoben wird, nämlich in einem Erzählerkommentar, der die Jagdszene – und damit die sog. ‚Liebesvereinigung‘ – einleitet (V. 1437-1444). Veldeke übernimmt nicht nur diesen Kommentar (58,24-32), sondern inseriert zu Beginn der Dido-Episode einen zweiten Kommentar (38,24-39), der qua seiner Stellung vorausdeutenden Charakter hat. Die „sinntragende[n] Abweichungen und inhaltliche[n] Gewichtsverlagerungen“, die SYNDIKUS (Anm. 57), S. 60, der deutschen Dido-Episode attestiert, betreffen also auch das Kommunikationsverhalten der Protagonistin. Übersetzung, Interpretation und Interpunktion bedingen in dieser Szene einander. Ich folge mit meiner Interpunktion der Interpunktion bei FRINGS/SCHIEB und FROMM, die KARTSCHOKE zwar nicht bietet, nach der er aber übersetzt (alle Anm. 5). Die eigentlich bei KARTSCHOKE abgedruckte Version: ‚her heizet‘, sprach si ‚der Ê / und dar nâch NÊ.‘ uber lank, / alsô sie diu minne dwank, / ê si vollesprâche AS, / dô weste sie wol wer es was hieße in Übersetzung: „‚Er heißt‘, sagte sie, ‚E und dann NE.‘ Nach längerem Zögern, so wie die Minne sie zwang, noch ehe sie vollenden konnte ‚AS‘, wusste sie [Anna], wer es war.“ Je nach Lesart potenziert sich damit das Schweigemotiv, weil Dido in der zweiten Version den Namen gar nicht vollständig buchstabieren muß, um von Anna verstanden zu werden. Vgl. dazu auch ERNST (Anm. 15), S. 352.
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Wenngleich Didos Schmerz und ihre Scham die Artikulation des Namens (55,21ff.) als Bewährung ihrer Minne charakterisiert, ihre Minnekommunikation ein personales Wagnis also nicht völlig negiert, bleibt der Wert ihres Bekenntnisses daher zweifelhaft – zumal sich das im Stammeln konkretisierte Schweigen im weiteren Dialog dadurch verabsolutiert, dass die Fragmentierung des Namens keineswegs behoben wird. Die Schwestern verständigen sich vielmehr durch Umschreibungen wie ‚der man, / der nie gelîchen gewan‘ (55,19f.; „‚der Mann, der niemals seinesgleichen hatte‘“) und ‚de[r] man[ ], / den ich mit ougen nie gesach‘ (55,30f.; „‚ein Mann, wie ihn meine Augen nie erblickten‘“). Dass die Fürstin den Trojaner direkt mit Namen anspricht, inszeniert der Text sogar erst in der Krise ihrer Beziehung, der Trennung.61 Als Chiffre des Schweigens erweist sich die Zergliederung von Eneas’ Namen damit auch als Chiffre für Didos gesamte Liebeskommunikation. Denn letztlich nimmt ihr stammelndes Verstummen nur das voraus, was in der von Anna initiierten Diskussion um ein Minnebekenntnis gegenüber Eneas (56,25-28) – genauer: um die adäquate, verbale oder nonverbale Realisierung dieses Bekenntnisses – von den Schwestern endgültig als Kommunikationsstrategie etabliert wird: Didos Verstummen, zumindest bezogen auf die verbale Liebeskommunikation. Diese Differenzierung ist dabei zu betonen, weil die Fürstin im Zwiespalt zwischen Reden und Schweigen nicht eigentlich das Schweigen wählt, sondern eine Variante nonverbaler Liebeskommunikation, das fruntlîchen ane sehen, das kompromisshaft verbales Schweigen und nonverbales Reden miteinander kombiniert, nach außen hin freilich vor allem das Schweigen akzentuiert:62
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Während Dido vor Beginn ihrer Liebe den Namen des Eneas gegenüber dem trojanischen Boten problemlos artikulieren kann (30,33), spricht sie den Geliebten selbst erst bei der Trennung mit Namen an (69,26). Diese ausschließliche Wahrnehmung von Didos verbalem Schweigen wird durch vier Erzählstrategien bewirkt: (1) Didos Kommunikation durch Blicke wird nach dem Gespräch mit Anna gar nicht – vor dem Gespräch nur in zwei Versen (50,6f.) – in narratio überführt, obwohl Veldeke, wie das Beispiel der Lavinia-Episode zeigt, entsprechende Szenenmuster leicht zur Verfügung gestanden hätten. So dominiert in der narrativen Gestaltung der nonverbalen Kommunikation statt der Gegenseitigkeit der Blicke letztlich die Gegenseitigkeit der Berührungen (35,32; 48,31-35; 61,10; 63,6-14; 64,2f.; 71,15f.). (2) Demgegenüber wird die Nicht-Existenz der verbalen Kommunikation gezielt betont, etwa indem der Erzähler Didos Schweigen konstatiert (38,33-37; 58,24-29). (3) Dialoge zwischen Dido und Eneas werden nicht in indirekter, geschweige denn in direkter Rede inszeniert, sondern vom Erzähler nur so kurz referiert, dass der Rezipient nicht einmal ihren Inhalt erfährt (58,19-23). In einem narrativ ausgestalteten Dialog werden Dido und Eneas so erst wieder bei ihrer Trennung präsentiert (67,9-73,9). (4) Während der Erzähler die Möglichkeit, Didos Gedanken in Form eines Selbstgesprächs darzubieten, Dido insofern im Schweigen als sprechend zu inszenieren, in Szenen wie der schlaflos verbrachten Nacht durchaus nutzt (52,2-22), verzichtet er nach Didos Gespräch mit Anna darauf. Stattdessen
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‚ir moget in wol mit êren fruntlîchen ane sehen. irn dorfet dorch daz niht jehen, daz ir in iht minnet, unz daz her sich versinnet.‘ (57,2-6) „Ihr könnt ihn doch in (allen) Ehren freundlich ansehen. Ihr braucht deshalb (ja) nicht (gleich) zu sagen, dass Ihr ihn etwa liebt – bis dass er etwas merkt.“
Bei einer kritischen Beurteilung von Didos Minnekommunikation – zumal bei einer Beurteilung auf der Folie von Lavinias Minnekommunikation – kann daher trotz aller notwendigen Differenzierungen nicht außer Acht gelassen werden, dass Didos Selbstreduktion auf die Sprache der Blicke so sicher zum Schweigen führt, wie es die Wahl des Schweigens an sich getan hätte, und dass Dido, obwohl sie als Herrscherin primär durch verbale list brilliert (25,13-21), in der Liebe ihre verbalen Kompetenzen völlig verliert. Tot pert le sens et la parole (V. 1407; „sie verliert gänzlich den Verstand und die Fähigkeit zu reden“), wie bereits der Roman d’Eneas das Minnehandeln der Fürstin tadelnd kommentiert. Es kann den Rezipienten folglich nicht überraschen, dass Didos Liebeskommunikation – und damit ihre Liebe – nicht reüssiert, dass ihre Liebeskommunikation statt Wissen Nicht-Wissen generiert. Denn Eneas, der von Dido nicht durch Worte in ihre Liebe eingeweiht wurde, ahnt gerade deswegen nicht, dass sie ihn liebt, wie der Erzähler bereits zu Beginn der DidoEpisode programmatisch konstatiert: Do enweste niht Ênêas, / daz im frouwe Dîdô was / sô unmâzlîchen holt (38,27ff.; „Eneas wusste nicht, dass ihm Frau Dido so über alle Maßen gewogen war“). In der Wahrnehmung des Rezipienten wird dieses Nicht-Wissen für den Trojaner aber nicht zuletzt dadurch verabsolutiert, dass es, ganz wie das Nicht-Sprechen der Fürstin, als Leitmotiv in der Dido-Episode fungiert.63
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betont er sein eigenes Reden, als er auch Gedankenrede hätte verwenden können, und markiert dadurch umso deutlicher Didos Schweigen: Dô was diu frouwe Dîdô / beidiu rouwich unde frô. / ich sage û, wes si frô was (64,7ff.; „Frau Dido war zugleich traurig und froh. Ich sage euch, worüber sie froh war“). Zur narrativen Negation des Schweigens durch Gedankenrede am Beispiel von Hartmanns Enite vgl. BRITTA BUSSMANN: Dô sprach diu edel künegîn … Sprache, Identität und Rang in Hartmanns Erec. In: ZfdA 134 (2005), S. 1-29, hier S. 19f. Vgl. für das Nicht-Sprechen Didos 38,33-37; 58,24-39; für das Nicht-Wissen des Eneas 38,24-32; 51,34-37; und für die Weitertradierung des Nicht-Wissen-Motivs in Eneas’ NichtWissen über Didos Tod 80,16-31. Zusätzliche Prägnanz gewinnt die fatale Korrelation von Nicht-Sprechen und Nicht-Wissen für die Dido-Episode dadurch, dass sie in derselben Episode unter umgekehrten Vorzeichen wiederholt wird: Auch Eneas ist ein Schweigemotiv zugeordnet – das Verschweigen seiner Italienpläne (57,33-58,4; 66,7-67,8) –, das mit Didos Nicht-Wissen über eben diese Pläne korrespondiert (58,5ff; 67,9-23).
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Weil ihre sublime Sprache der Blicke – zumal bei einem Rezipienten wie Eneas, dessen Fähigkeit zur Liebe wie zur Rezeption von Liebeszeichen in der Dido-Episode deutlich eingeschränkt ist64 – somit nicht zur ersehnten Gegenliebe führt, ist Dido gezwungen, ihr Minnebekenntnis zu konkretisieren, das existentielle Risiko der Person, die Preisgabe gegenüber dem Anderen drastisch zu intensivieren. Prinzipiell böten sich der Fürstin dazu zwei Alternativen: Sie könnte von einem nonverbalen zu einem verbalen, von einem tendenziell risikolosen zu einem in seiner Eindeutigkeit riskanten Liebesgeständnis wechseln, sie könnte aber auch die Eindeutigkeit, den Risikocharakter, ihres nonverbalen Liebesgeständnisses intensivieren. Allerdings hat sie sich die erste Alternative aus Angst um ihre êre von vornherein versagt (56,29-57,6). Wie sich in der nur bei Heinrich von Veldeke als Didos List inszenierten Jagd (58,33-64,6)65 – de facto eine Minnejagd auf Eneas, in der Eneas aber nur erjagt wird, indem Dido sich erjagen lässt – narrativ manifestiert, wählt sie daher notgedrungen die Alternative, die ihr einzig verblieben ist: Sie vereindeutigt ihre nonverbale Liebeskommunikation in der Hingabe, die sich innerhalb dieses Codes nicht nur als Preisgabe, sondern als totale Preisgabe gegenüber dem Anderen lesen lässt. Damit wird der sexuelle Akzent, der der Dido-Minne schon immer inhärent ist und der in der Hingabe nur mehr konkret wird,66 in 64
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Dies wird nicht nur implizit in Eneas’ Blindheit für Didos verliebte Blicke (50,4-10), sondern auch explizit in einem auf die Lesbarkeit von Didos Minnesymptomen bezogenen Erzählerkommentar thematisiert: daz gesâgen die des nâmen war. (39,8; „Wer hinsah, konnte es erkennen.“). Dieser Kommentar verdeutlicht nämlich, dass Wissen und Nicht-Wissen eine Frage der Rezeptionsbereitschaft ist und dass diese Rezeptionsbereitschaft bei Eneas nicht gegeben ist. Die Tragik der Dido-Minne entfaltet sich daher bereits darin, dass Dido als Frau, die die Zeichen der Nicht-Liebe nicht lesen kann, mit Eneas einen Mann liebt, der die Zeichen der Liebe nicht lesen kann. Die minnestrategische Bedeutung der Jagd zeigt sich darin, dass Dido den Ausritt seit dem Vorabend plant (59,2-7) und die ‚Beute‘ Eneas gezielt dazu einlädt (60,40f.) – und zwar obwohl das winterliche Wetter eine Jagd verbietet (59,14f.). Dabei verdeutlicht die der eigentlichen Jagd vorausgehende descriptio von Didos Gewand (59,19-61,10), dass die Strategie der Fürstin eine Strategie der Verführung ist, etwa durch das Kalkül, mit dem sie statt eines langen einen kurzen Mantel wählt (60,16ff.). Selbst ohne diese Implikationen stände die Liebeserfüllung jedoch durch die descriptio unter dem Vorzeichen der Äußerlichkeit, da durch sie Didos Körperlichkeit akzentuiert wird, während Eneas und Lavinia nie körperlich beschrieben werden. Zur narrativen Funktion von „absences“, „dissymétries“ und „parallélismes“ in den Beschreibungen des Eneasromans und zum erotischen Akzent in der Beschreibung von Dido vgl. auch MARIE-SOPHIE MASSE: La description dans les récits d’Antiquité allemands fin du XIIe-début du XIIIe siècles. Aux origines de l’adaption et du roman, Paris 2004 (NBMA 68), S. 208-211 und S. 228-249. Am explizitesten wird die Körperlichkeit der Dido-Minne nicht dort, wo sie als Akt konkret wird – in der ‚Liebesvereinigung‘ fällt der Akt in eine markierte Ellipse (63,28) –, sondern in der narratio von Didos in Minnekrankheit schlaflos verbrachter Nacht, in der mittels eines Stellvertreters das höfische Berührungsverbot wie das literarische Schweigegebot unterlaufen wird: ir deckelachen sie nam / under ir arme vaste ./ ir getroumde von ir gaste: /
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der narratio als notwendige Folge von Didos Schweigen inszeniert. Wenngleich Didos Verzicht auf ein verbales Geständnis durch die narrative Entfaltung ihrer Beweggründe nachvollziehbar ist, muss ihr Schweigen daher kritisch hinterfragt werden, zumal sie ihren primären Beweggrund, die Bewahrung ihrer êre und ihrer Person, geradezu tragisch konterkariert, indem sie die verbale Preisgabe durch die körperliche Preisgabe substituiert. Schließlich erringt sie die Aufmerksamkeit des Geliebten allein durch ihre Stilisierung zum sexuellen Objekt, zum Wild, das gejagt und – in drastisch sexueller Bildlichkeit – erlegt wird (63,36ff.). Dies mag in ihren Augen zwar den Vorteil haben, dass es in der Logik ihrer Inszenierung Eneas ist, der den ersten Schritt zur Liebe vollzieht, nicht sie selber, die diesen Schritt als Frau nicht offen zu vollziehen wagt.67 Dennoch kann letztlich der Nachteil nicht negiert werden, dass die körperliche Preisgabe statt Liebe eben nur Begehren stimuliert: do begunde ime irwarmen / al sîn fleisch und sîn blût. (63,10f.; „Da begann sich ihm all sein Fleisch und sein Blut zu erwärmen.“). So bedeutet der Moment der scheinbaren Liebeserfüllung für die Fürstin keineswegs Erfüllung, sondern die Reduktion auf den bloßen Körper und den endgültigen Verlust ihrer Sprach-
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si dûhte daz ez wâre / Ênêas der mâre ./ sie dwanc es an ihr munt / zû vil maneger stunt. / grôz wunder si machete. / dô si dô intwachete, / ein wîle hete sie gemach, / unze daz sie gesach, / daz der hêre Êneâs / dâ bî ir niene was. (52,32-53,4; „Sie nahm ihr Deckbett fest in ihre Arme. Sie träumte von ihrem Gast. Sie bildete sich ein, es wäre der stattliche Eneas. Sie presste das Betttuch immer wieder an ihrem Mund. sie verhielt sich sehr merkwürdig. Als sie aufwachte, fühlte sie sich einen Augenblick lang glücklich, bis sie sah, dass Herr Eneas nicht neben ihr war.“; vgl. dazu LECHTERMANN [Anm. 21], S. 264). Diese Szene kann als Schlüsselszene der DidoEpisode verstanden werden, weil sich in ihr durch die troum-Metaphorik neben der Körperlichkeit auch die Scheinhaftigkeit der Dido-Minne manifestiert. Im Kontext meiner Interpretation ist die Szene darüber hinaus wegen eines Details interessant: Bei ihrem gestammelten Liebesgeständnis gegenüber Anna wirft sich Dido auf das Bett, in welchem sie zuvor den Traum von Eneas gehabt hat (53,26ff.), so dass das gesamte Gespräch von vornherein sexuell konnotiert ist. – SCHRÖDERS (Anm. 54) Feststellung: „Die Übertragung des Gegensatzpaares: niedrige fleischliche und hohe entsinnlichte Frauenliebe auf Dido und Lavine verbietet sich von selbst.“ (S. 167) kann damit nur zurückgewiesen werden. Die bereits zu Beginn der Dido-Episode etablierte Angst der Fürstin vor dem ersten Schritt (38,33ff.) erklärt sich auf der Folie einer konventionellen Auffassung von Minne und Minnekommunikation, deren narratives Sprachrohr Anna ist. Demnach dürfe die Frau in der Liebe nicht selber die Initiative ergreifen, zumal nicht im Medium der Sprache. Das verbale Liebesgeständnis dürfe vielmehr erst erfolgen, wenn der Mann die Liebe bereits an nonverbalen Zeichen bemerkt habe (57,2-6), wenn das Geständnis also nicht mehr Preisgabe, sondern Formsache ist. Die Aktivität von Dido und Anna beschränkt sich im weiteren insofern darauf, passiv abzuwarten, ob Eneas werbend aktiv wird (57,21-32; 58,30ff.), und selbst die Minnejagd ist von Dido letztlich darauf ausgerichtet, Eneas aktiv werden zu lassen, sich von ihm zur Liebe zwingen zu lassen. Trotz der fraglosen Totalität der körperlichen Preisgabe ist die Hingabe daher in der „Offenbarung der Person als Preisgabe gegenüber dem Andern“ (HAUG [Anm. 3], S. 29) deutlich eingeschränkt.
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gewalt.68 Denn der Trojaner negiert nicht allein ihre Einwände gegen einen Beischlaf, sondern ihre Stimme wird durch den indirekt bleibenden Erzählerbericht aus der Handlung genommen: minnechlîche her si bat, daz si in gewerde des si selbe gerde, (iedoch sprach si dar wider) und er legete sie dar nider, alsez Vênûs geriet: sine mohte sich erweren niet. her tet ir daz er wolde (63,18-25) Liebevoll bat er sie, ihm zu gewähren, wonach sie selber verlangt hatte – dennoch sprach sie dagegen –, und er legte sie auf den Boden, wie es Venus befahl: Sie konnte sich überhaupt nicht wehren. Er machte mit ihr, was er wollte, […].
Didos Re-Emanzipation als sprechendes Subjekt erfolgt daher erst in der Krise des unabwendbaren Abschieds. Der wiederholte Hinweis auf ihre Liebe (68,16f.; 69,5-8; 72,12ff.), verbunden mit der ersten vollständigen Namensnennung ihres Geliebten (69,26), kann Eneas aber nicht mehr halten. Durch die freiwillige Aufgabe ihrer Sprachgewalt haben ihre Worte nämlich ihre Macht verloren: ‚sint mîn rede nû niht vervât‘ (70,32; „da meine Worte nichts ausrichten‘“). Zeichenhaft werden ihre nutzlosen Bitten vom Erzähler deswegen auf eine narrative Floskel reduziert: Dô der rede vile was (73,5; „als der Worte genug gewechselt waren“) und in der sofortigen Abreise des Trojaners endgültig nivelliert (73,6-18).69 68
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Der Topos von der Frau, die sich nur scheinbar verweigert, deren Sprechakt demnach vom Mann ignoriert werden kann, ist zwar ein Ovidianisch-misogynes Standardklischee, dennoch scheint Veldeke die damit verbundene sprachliche Depotenzierung als Faktum wichtig zu sein. Im Gegensatz zum Roman d’Eneas, in dem sich Dido dem Willen des Eneas keineswegs verweigert (V. 1522-1525), wird im Eneasroman nämlich nicht nur Didos verbale (63,21) und nonverbale (63,24) Verweigerung, sondern auch das Gewaltsame in Eneas’ Handeln akzentuiert (63,13f; 63,22; 63,25). BRANDT (WOLFGANG BRANDT: Die Erzählkonzeption Heinrichs von Veldeke in der Eneide. Ein Vergleich mit Vergils Aeneis, Diss. [masch.] Marburg 1967, S. 134) konstatiert daher sogar, dass die Liebesvereinigung „trotz der Bitte des Eneas um Gewährung der Liebesgunst im Grunde einer Vergewaltigung gleichkommt“. Vgl. dazu auch EMBERSON (Anm. 47), S. 131, Anm. 67. Veldekes Erzählstrategie ist pointierter als die Erzählstrategie des Roman d’Eneas, denn nur im Eneasroman bricht die Kommunikation zwischen Eneas und Dido dramatisch ab, nachdem mit dem Trennungsdialog (67,9-73,9) der kommunikative Höhepunkt der Dido-
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Für Heinrichs von Veldeke Version der Dido-Episode bleibt damit nur mehr hervorzuheben, dass sich in der kontrastiven Parallelisierung von Didos und Lavinias Minnekommunikation neben der Differenz von Reden und Schweigen auch die Differenz von Schriftlichkeit und Mündlichkeit sinnträchtig manifestiert. Dies wird gerade in der Zergliederung von Eneas’ Namen im Liebesgeständnis augenfällig. Denn anders als in der Aeneis, wo eine narrative Entfaltung der Lavinia-Minne – und damit ein kontrastiver Parallelismus von Didos und Lavinias Minnekommunikation – von vornherein nicht gegeben ist, anders aber auch als im Roman d’Eneas, wo die Zergliederung von Eneas’ Namen nur in der Lavinia-Episode narrativ gestaltet ist (V. 8535-8564),70 inszeniert der Eneasroman zweimal die Zergliederung von Eneas’ Namen in der Minnekommunikation: im Liebesgeständnis Didos gegenüber ihrer Schwester (55,15-28) und im Liebesgeständnis Lavinias gegenüber ihrer Mutter (281,25-282,23). Doch obwohl Angst, Schmerz und Scham neben Didos (55,21ff.) auch Lavinias Minnebekenntnis prägen (282,5-18), ist es durch seine Medialität als epische Überbietung zu Didos Minnebekenntnis konzipiert.71 Die Prinzessin fragmentiert den Namen des Trojaners nämlich nicht stammelnd, sondern indem sie Buchstabe für Buchstabe mit einem griffel von golde72 auf einem tavelen (282,10f.) niederschreibt: Mit angesten plânete sie daz was und solde scrîben Ênêas, do ir ir mûder urloub gab. E was der êrste bûchstab, dar nâch N und aber Ê.
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Episode erreicht ist. Der deutsche Retext eleminiert damit Didos vergebliche Kommunikationsversuche – Annas wiederholte Botengänge (V. 1883-1901), Didos Nachrufen und Nachwinken cent feiz et cent (V. 1955-1970; „hundert- und aberhundertmal“) –, die sein französischer Prätext von Vergil übernommen (IV,412-449) und noch intensiviert hat. Veldeke tut dies, so meine These, um das mit Dido konnotierte Schweigemotiv gezielt zu potenzieren. Es geht damit deutlich um mehr, als nur um die Reduktion von Übertreibungen (SCHUBERT [Anm. 38], S. 146) – zumal sich nur im Eneasroman das „wortlose[ ] Verhältnis“ (WENZELBURGER [Anm. 12], S. 298) von Eneas und Dido dadurch verabsolutiert, dass sich selbst das Treffen in der Unterwelt in Schweigen vollzieht (99,25-40). Im Roman d’Eneas (V. 2625-2662) und in der Aeneis (VI,440-476) spricht hingegen Eneas Dido an. Zwar ist auch in die französische Dido-Episode die Nennung von Eneas’ Namen inseriert, doch wird in dieser Szene der Name nicht fragmentiert. Vielmehr versucht Dido erst vergeblich, den Namen zu nennen, und fällt dabei in Ohnmacht (V.1276-1278), worauf sie ihn in einer variierten Wiederholung dieses Motivs tatsächlich nennt, aber wieder in Ohnmacht fällt, quant l’en sovint, qu’el le noma (V. 1321-1325; „als sie sich bewusst wurde, dass sie ihn nannte“). Die französische Lavinia hingegen stammelt – wie die deutsche Dido – den Namen des Eneas. WUTH (Anm. 20), S. 75. Wie SCHNYDER (Anm. 20), S. 244, assoziiere ich mit dem goldenen Griffel den goldenen gêr Amors (264,28): Weil die Verwundung mit dem Goldpfeil rehte[ ] minne (264,40) hervorruft, verweist der goldene Griffel nach dieser Lesart auf die Wahrhaftigkeit des mit ihm verschrifteten Liebesgeständnisses.
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diu angest tete ir vile wê. dar nâch screib si A unde S. do bereite sich diu mûder des und sprach dô si in gelas ,hie stet Ênêas!‘ (282,13-22) Ängstlich glättete sie das Wachs, und wollte ‚Eneas‘ schreiben, nachdem ihre Mutter ihr die Erlaubnis gegeben hatte. E war der erste Buchstabe, danach (kam) N und wieder E. Die Angst fügte ihr viele Schmerzen zu. Danach schrieb sie A und S. Da nahm die Mutter es in Augenschein und sagte, nachdem sie ihn [den Namen] gelesen hatte: „Hier steht ‚Eneas‘ (geschrieben)!“
Auffälligste Folge dieser differenten Medialität von ‚E-N-E-A-S‘ und ‚ENE-AS‘ ist dabei die Restitution statt Destruktion von Eneas’ Namen in der Minnekommunikation. Denn im Gegensatz zu Didos silbenweiser Artikulation, die notwendigerweise in ungebrochener Fragmentierung verhallt, wird in Lavinias buchstabenweiser Niederschrift die Fragmentierung des Namens durch die Linearität der Schrift im Wachs aufgehoben – eine Differenz, die übrigens im Kommunikationsverhalten von Didos und Lavinias Dialogpartnern gespiegelt und dadurch noch potenziert wird. Anders als Didos Schwester Anna spricht Lavinias Mutter den Namen des Trojaners nämlich offen aus: ‚hie stet Ênêas!‘. In Verbindung mit dem einleitenden Vers: und solde scrîben Ênêas wird die Szene daher von zwei unfragmentierten Nennungen des Namens eingerahmt, so dass letztlich Lavinias unfragmentierte Sprache der Liebe gegenüber Didos fragmentarisch bleibender Sprache der Liebe betont wird. Damit wird differente Medialität der beiden Minnebekenntnisse – die Differenz von Schriftlichkeit und Mündlichkeit – nach WUTH zum narrativen Signal, zur Chiffre, in der sich Beständigkeit und Unbeständigkeit als distinktives Merkmal der beiden Liebessprachen manifestieren. Verleiht Lavinia nämlich dem Namen des Geliebten durch die schriftliche Fixierung eine überzeitliche Dimension, ist die mündliche Artikulation Didos dem Vergessen unterworfen: „Während der silbenweise benannte Name mit dem Klang der Stimme vergeht, verbleibt der buchstabierte Name als geschlossener Korpus auf dem Wachs.“73 Für meine Interpretation von Dido- und LaviniaEpisode ist dies nun vor allem insofern relevant, als sich Beständigkeit und Unbeständigkeit nicht allein als Dominanten im minnekommunikativen 73
WUTH (Anm. 20), S. 75.
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Verhalten der beiden Protagonistinnen erweisen, sondern als Charakteristikum der jeweiligen Minnebeziehung verstanden werden müssen. Denn anders als die Lavinia-Minne bleibt die Dido-Minne eine transitorische Episode. In konsequenter Fortführung der Schriftmotivik wird deshalb im Kontext der Dido-Episode der Verlust der überzeitlichen Dimension für den Namen des Trojaners absolut gesetzt. Während nämlich in der descriptio von Didos Epitaph die Materialität ihres mit goldînen bûchstaben (80,6) gravierten Namens demonstrativ hervorgehoben wird, wird Eneas’ Namen die schriftliche Fassung verweigert – nicht nur ein Hinweis auf die Vergänglichkeit, sondern auch auf die Einseitigkeit dieser Liebe: ‚hie liget frouwe Dîdô, diu mâre und diu rîche, diu sich sô jâmerlîche dorch minne zû tôde erslûch. daz was wunderlîch genûch, sô wîse sô si was.‘ (80,10-15) „Hier liegt Frau Dido, die berühmte und die mächtige, die sich so elend aus Minne das Leben nahm. Das war sehr merkwürdig, so (lebens-)klug, wie sie gewesen war.“
Gerade indem die Differenz von Schriftlichkeit und Mündlichkeit aber die Funktion der Schrift als Speichermedium akzentuiert, muß Lavinias Minnebekenntnis gegenüber Didos als ungleich höheres personales Risiko gelten. Denn durch seine schriftliche Fixierung kann es nicht zurückgenommen werden. ‚wan diz ne mach ich niht verdagen‘ (301,24; „‚denn dies kann ich nicht [mehr] verschweigen“), wie die Prinzessin einsichtig formuliert – allerdings bezogen auf ihren Bekenntnisbrief an Eneas. In dieser Unumkehrbarkeit verdeutlicht sich letztlich eine Analogie ihrer beiden Liebesgeständnisse auf Wachs und Pergament. Als materieller Zeichenträger übernimmt der Minnebrief nämlich, wie die beschriebene Wachstafel, Funktionen der memoria. Er wiederholt zudem die schriftliche Namensnennung des Geliebten und verbindet sie mit Lavinias eigenem Namen zu einer symbolischen Vorwegnahme späterer Zweisamkeit: ‚ez enbûtet Lavîne / Ênêase dem rîchen‘ (286,24f.). Das Verhältnis der drei weiblichen Minnebekenntnisse des Eneasromans kann damit als Steigerung verstanden werden: vom mündlichen, dem Vergessen ausgelieferten Bekenntnis Didos – über den leicht tilgbaren Schriftzug auf der Wachstafel – zu der brieflichen Mitteilung, die einmal aus der Hand gegeben, nicht mehr revidierbar ist.
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Um in der Interpretation von Dido- und Lavinia-Episode daher auf die bereits für die Interpretation der Turnus-Episode wesentlich gemachte Korrelation von scheiternder Minne, scheiternder Minnekommunikation und defizitärer Preisgabe gegenüber dem Anderen zurückzukommen: Letztlich wird in der Liebeskonzeption Heinrichs von Veldeke die kommunikative Risikobereitschaft seiner Protagonistinnen entscheidend für die Differenzierung von Dido- und Lavinia-Minne, geht im Konflikt von Reden und Schweigen doch nur Lavinia das Risiko des Redens, das Risiko des verbalisierten Liebesgeständnisses, ein. Es ist aber gerade das Eingehen dieses Risikos, das im Eneasroman das Gelingen der Liebe von Eneas und Lavinia bedingt. Indem die Prinzessin ihre Gefühle nämlich verbalisiert – genauer: indem sie als erste ihre Gefühle verbalisiert – wird sie zur Aktiven, die als Subjekt ihrer Liebe die Gegenliebe des Trojaners erringt. Damit ist sie es, die in der Kommunikation ihres Liebesgefühls nicht nur sich selber als gefûchlîche Liebende charakterisiert, sondern die in der Wahl des Kommunikationsmediums die Beziehung charakterisiert, sie mit der Wahl des Liebesbriefes als gefûchlîche Liebe auf Distanz definiert. Diese Distanz verbindet sich mit der Verschriftlichung des Begehrens zur Sublimierung der Körperlichkeit. Indem die Stimme des Briefes die Prinzessin so als sprachmächtiges – aber entkörperlichtes – Subjekt in der Paarbeziehung erhält, motiviert der Minnebrief die höfische Haltung ihres Geliebten ihr gegenüber: ‚junkfrowe, ir habet ze mir getân, / daz ich û immer dienen wil.‘ (339,6f.; „‚Mein Fräulein, Ihr habt [so] an mir gehandelt, dass ich Euch immer dienen will.‘“).74 Durch ihren Verzicht auf ein verbales Minnebekenntnis scheitert Dido hingegen gezwungenermaßen. Denn mit der freiwilligen Aufgabe ihrer Sprachgewalt verliert sie auch ihre Subjektrolle. Indem sich die Fürstin aber 74
DITTRICH (Anm. 30), S. 325, hingegen wertet die Distanz, die durch mûren, graben und venster markierte Grenze zwischen Eneas und Lavinia primär als thematisch bedingt, nicht als Hinweis auf eine höfische Konzeption der Lavinia-Minne. Dabei ignoriert sie, dass Lavinia, bevor sie die entkörperlichte Überschreitung der Grenze im Medium des Liebesbriefes unternimmt, die körperliche Überschreitung der Grenze durchdenkt, dies wegen ihrer êre aber zurückweist (305,2-21; für den Roman d’Eneas vgl. V. 8701-8730). Die Distanz wird also nicht – unwillentlich – deswegen aufrecht erhalten, weil die Grenze nicht überschreitbar wäre, sondern weil sie willentlich nicht überschritten werden soll. Damit setze ich mich auch von LIEBERTZ-GRÜN (Anm. 13) ab, die in Lavinias Bejahung der Distanz vor allem eine Verschleierung ihres Mangels an Gelegenheit sieht. (S. 69f.). Sie verkennt nämlich, dass nicht nur diu minne vil getût (286,35), sondern dass auch der Autor vil getût, dass er also, wenn es seiner Minnekonzeption entspräche, durchaus ein Treffen zwischen Eneas und Lavinia inszenieren könnte. Es sei in diesem Zusammenhag auf einen Ovidianischen Prätext der Lavinia-Episode verwiesen, die Scylla-Erzählung in den Metamorphosen (1 v. Chr.-10 n. Chr.), in der sich Scylla eben nicht nur bei einem Blick vom Turm der Stadtmauer herab in König Nisus verliebt, sondern in das feindliche Lager schleicht, um diese Liebe zu gestehen. Vgl. dazu KISTLER (Anm. 55), S. 122ff.
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in ihrem nonverbalen Minnebekenntnis auf ihre bloße Körperlichkeit reduziert, indem sie sich in Liebe und Liebeskommunikation zum Objekt degradiert, ist die Beziehung des Eneas zu ihr nicht mehr als ein flüchtiges Abenteuer. So provoziert letztlich gerade der Beischlaf, zu dem sie sich dorch sô wênige bete (64,16) überreden lässt,75 dass Eneas Dido als Herrscherin und handlungsmächtiges Subjekt, als gleichwertigen und gleichberechtigten Minnepartner, nicht anerkennt. 76
5. Liebe, Geständnis und Schweigen Damit sei es erlaubt, mit einer Wiederholung des Titelzitates des vorliegenden Aufsatzes – ‚her sal mir deste holder sîn / swenner weiz den willen mîn‘ (285,31f.; „‚wird er mir umso gewogener sein, wenn er weiß, was ich will‘“) – noch einmal auf die Korrelation von Liebe, Wissen und Gegenliebe, auf das Problem des Wissenlassens und auf das Risiko der Preisgabe im Wissenlassen zurückzukommen und mit diesen Stichworten zum Abschluss meiner Interpretation von Heinrichs von Veldeke Eneasroman zu gelangen. Denn wie die vorausgegangenen Anmerkungen gezeigt haben, muß Lavinias Entschluss, Eneas brieflich ihre Liebe zu gestehen, in seiner kommunikativen Risikobereitschaft als Paradigma der im Eneasroman ausgezeichneten Kommunikationsstrategie verstanden werden. Wesentlich dafür ist 75
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Die Beiläufigkeit von Eneas’ Worten wird durch den indirekt bleibenden Erzählerbericht betont (63,18ff.). Die Schnelligkeit und Leichtigkeit seiner Werbung wird so effektvoll mit Didos langem Sehnen kontrastiert, das leitmotivisch die Dido-Episode durchzieht (38,25f.; 58,33-59,1; 63,4f.). Freilich wird dieses lange Sehnen von Dido durch ihre vorschnelle Hingabe – schiere (64,14) ist sie Eneas’ Willen gefolgt – verschleiert. Nach DINZELBACHER (PETER DINZELBACHER: Gefühl und Gesellschaft im Mittelalter. Vorschläge zu einer emotionsgeschichtlichen Darstellung des hochmittelalterlichen Umbruchs. In: Höfische Literatur, Hofgesellschaft, höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld [3. bis 5. November 1983]. Hrsg. von GERT KAISER/JAN-DIRK MÜLLER, Düsseldorf 1986 [Studia humaniora 6], S. 213-241, hier S. 215 und S. 224ff.) ist die Konzeption der höfischen Minne mit ihrer Sublimierung der Triebbefriedigung im Mittelalter nur zwischen Gleichrangigen, zwischen peers, denkbar. Im Umkehrschluss verdeutlicht die unmittelbare Triebbefriedigung, wie Eneas sie vollzieht, eine Negation ständischer Gleichrangigkeit. Dabei ist beachtenswert, dass Eneas’ Forderung nach Hingabe auch eine Forderung nach Teilhabe an der Herrschaft impliziert, da die Inbesitznahme einer Herrscherin immer auch die Inbesitznahme ihres Landes meint (LECHTERMANN [Anm. 21], S. 252). In der Hingabe wird somit nicht nur Didos Rolle als Frau, sondern auch ihre Rolle als Herrscherin prekär – ein Defizit, das sich aus kommunikationstheoretischer Perspektive allerdings bereits in ihrem Schweigen manifestiert. Angeregt wird diese Deutung des Schweigemotivs durch BRITTA BUSSMANN (Anm. 62), S. 13, die zumindest für die Figur der Enite herausgearbeitet hat, dass im literarischen Herrschaftsdiskurs die Sprache zum „eigentlichen Machtinstrument der Frau“, zum „Merkmal weiblichen Herrschaftshandelns“ wird.
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nicht zuletzt, dass das Risiko der verbalen Preisgabe die körperliche Preisgabe suspendiert. So ist das gefûchlîche Geständnis im Medium des Briefes das einzige Geständnis, das Gegenliebe generiert, das im narrativen Kontext als Liebesgeständnis reüssiert. Die programmatische Frage: ‚sô saget mir denne waz minne is‘ (262,6; „‚So sagt mir also, was Minne ist.‘“) beantwortet der Eneasroman damit nicht allein durch die Minnelehre von Lavinias Mutter (262,9-265,19), sondern auch durch die Variation verschiedener Formen der Minnekommunikation – der sublimen Sprache des Briefes, der erotischen, ja sexuellen Sprache des Körpers und der aggressiven Sprache des Kampfes –, die mit der Medialität der Minnekommunikation aber auch die Verbalität und damit das personale Risiko in der Preisgabe gegenüber dem Anderen variiert. In der Variation der Liebeskommunikation ist der Text damit mehr als ein bloßer Liebesroman. Lesbar, verstehbar wird er auch als Meta-Liebesroman. Ist Liebe folglich Kommunikation, ist Liebe folglich die gegenseitige Preisgabe in der Kommunikation, fungiert die Verweigerung der kommunikativen Preisgabe im Schweigen als Zeichen der Krise. Zumal im deutschen Eneasroman manifestiert sich diese Bedeutung des Schweigens, wie in einem letzten Argumentationsschritt hervorgehoben werden soll, in der Figur des Eneas, dessen Wandel vom defizitären Helden der Dido-Episode zum idealen Helden der Lavinia-Episode neben einem Wandel von NichtLiebe zu Liebe auch einen Wandel von Schweigen zu Reden impliziert – wobei sich gerade der kommunikative Wandel erst sukzessive im Verlauf der Lavinia-Episode vollzieht. Besteht aus minnekommunikativer Perspektive nämlich bereits Eneas’ Defizit in der Dido-Episode im Verschweigen seiner Italienpläne (57,33-58,4; 66,7-67,8), das Dido fälschlich die Beständigkeit der realiter unbeständigen Minnebindung suggeriert (67,9-12), so setzt sich dieses Schweigen in der Lavinia-Episode im Vermeiden eines verbalen Liebesgeständnisses zunächst fort. Denn obwohl Eneas ein verbales – ein vielleicht sogar briefliches – Liebesgeständnis erwägt (298,30299,1), so dass der Text punktuell die Idee eines Liebesbriefwechsels evoziert, realisiert er diesen Gedanken vorerst deswegen nicht, weil er die Preisgabe im Liebesgeständnis vermeiden will, missversteht er sie doch als Preisgabe männlicher Überlegenheit:77 77 DITTRICH (Anm. 30) führt zur Erklärung narrative Gründe an: die Vermeidung einer „allzu billige[n] Rückantwort“ und die Aufrechterhaltung „mannigfacher Spannungsmomente“ (S. 347). Aber auch wenn narrative Variation als Begründung auf der poetologischen Ebene plausibel erscheinen mag, darf nicht übersehen werden, dass gerade Veldeke die von ihm durch die Vermeidung des Liebesgeständnisses erlangte Variation auf der Ebene der narratio als Defizit seines Protagonisten inszeniert. Schließlich wird der nicht-geschriebene Liebesbrief des Eneas auf der Folie von Lavinias geschriebenem Liebesbrief als Leerstelle markiert, was in einer Liebeskonzeption, in der gegenseitige Liebe in Parallelszenen konstruiert wird, zumindest bemerkenswert ist. Zudem wird die Programmatik des Konfliktes
‚her sal mir deste holder sîn, / swenner weiz den willen mîn‘
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‚die man soln den wîben sus unmâzer minnen niht bringen innen, wand ez ne wâre nie gût, si worden alze hôch gemût und alze stolz wider die man‘ (299,6-11; für den Roman d’Eneas vgl. V. 9070-9101) „[…], die Männer sollen den Frauen eine so maßlose Liebe nicht bekennen; denn das wäre nicht gut, sie würden allzu hochmütig und allzu stolz den Männern gegenüber.“
Dieses Schweigen bringt die Beziehung zu Lavinia aber an den Rand des Scheiterns. Denn der Trojaner verwirft zwar seine Überlegung, dass Lavinia von ihm kêre / ir herze unde ir mût (299,18f.; „ihr Herz und ihren Sinn abwendet“), tatsächlich bezweifelt sie aber seine Liebesbereitschaft: ‚ich vorhte daz her niene gere / der minnen der ich ime enbôt.‘ (301,18f.; „‚Ich fürchte, er will die Liebe gar nicht, die ich ihm gestanden habe.‘“). Ausschlaggebend dafür ist nicht allein, dass die programmatische Korrelation von Wissen und Liebe zwangsläufig nach dem Wissenlassen der Gegenliebe verlangt, sondern dass Eneas durch sein Schweigen die Dialogizität als spezifisches Merkmal brieflicher Kommunikation pervertiert. Wenngleich nämlich nicht jeder Brief einen Briefwechsel auslösen muß, komplettiert erst der Antwortbrief den brieflichen Kommunikationsakt. Die Gefährdung der Minnekommunikation durch Schweigen, die das vollständige Scheitern der Paarbeziehung evoziert, begründet möglicherweise die Etablierung von Minnebriefwechseln in der höfischen Literatur. Eneas zumindest bewährt sich in seiner Liebe zu Lavinia erst, als er nach dem Sieg über Turnus sein defizitäres Kommunikationsverhalten bereut und die Notwendigkeit einer dialogischen Liebeskommunikation für den Fortbestand einer Beziehung anerkennt: ‚als schiere als ich den sige gewan, daz ich zû ir niene reit, daz was ein michel bôsheit unde sal mich immer rouwen. si beginnet mir missetrouwen von Preisgabe und Nicht-Preisgabe dadurch betont, dass das Motiv der versäumten Preisgabe im Liebesgeständnis und damit auch das Motiv von Lavinias Liebeszweifeln in der narratio gedoppelt wird – als nämlich Eneas nicht sofort nach dem Sieg über Turnus zu der Geliebten eilt (vgl. für den Eneasroman 332,27-333,40; und für den Roman d’Eneas V. 9831-9921).
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unde gedenket ubile dar zû und is ouch reht daz sie ez tû.‘ (334,36-335,2) „Dass ich nicht sofort, nachdem ich den Sieg errungen habe, zu ihr geritten bin, das war schlecht gehandelt, und wird mich immer reuen. sie wird anfangen, mir zu misstrauen, und schlecht davon denken, und es ist auch richtig, dass sie das tut.“
Als Paar haben Lavinia und Eneas dadurch die höchste Stufe ihrer Zweisamkeit erreicht, die folgerichtig ihre Erfüllung findet in körperlicher Nähe, in direktem mündlichem Gespräch und dem ersten Kuss (338,27-339,28).78
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Anders als der deutsche Eneas, der sich letztlich doch in Liebe und Liebeskommunikation preisgibt, indem er bereits vor dem festgesetzten Hochzeitstermin ein Treffen mit Lavinia arrangiert (336,15-339,28), behält der französische Eneas die einmal festgesetzte Frist bei (V. 10079-10090). Eine Steigerung der Minnemonologe von Eneas und Lavinia bis zum Minnedialog realisiert sich insofern nur im Eneasroman, während die Liebenden im Roman d’Eneas monologisierend – und damit aus minnekommunikativer Perspektive eben keineswegs als Paar – aus der Handlung scheiden (V. 9839-10078; die Hochzeit als erstes Treffen wird vom Erzähler nur knapp referiert [V. 10091-10123]). Veldeke kreiert so eine gegenüber dem Roman d’Eneas deutlich zugespitzte Konzeption von Minne und Minnekommunikation. Partiell basieren Veldekes Verschiebungen gegenüber dem Roman d’Eneas dabei zwar auf Kürzungen – er kürzt etwa die Monologe von Eneas und Lavinia (333,15-40 und 334,17-335,18 vs. V. 9839-10078) – dennoch lassen sich diese Kürzungen, eben weil sie konzeptioneller Natur sind, nicht lediglich mit HUBY (Anm. 16), S. 135ff., mit der Verwendung einer gekürzten Vorlage, eben der von HUBY favorisierten Roman-Handschrift G, erklären.
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Minne als Brief. Zum Ausdruck von Intimität im nachklassischen höfischen Roman (Rudolf von Ems: Willehalm von Orlens; Johann von Würzburg: Wilhelm von Österreich). Der Liebesbrief als literarisches Register des höfischen Romans wurde in einer Reihe von Studien recht gut erschlossen. Das gilt für das Corpus wie auch für die Machart und die Funktion der Briefe im Rahmen der epischen Narration.1 Der folgende Beitrag führt diese Ansätze weiter mit dem Blick auf die eigentümliche Stellung des Briefes in einem Bereich zwischen mündlicher und schriftlicher Kommunikation. In diesem Feld, das in seiner unscharfen Übergänglichkeit wahrgenommen werden muss, lässt sich erst in einem weiteren Schritt die spezifische Leistung des Schriftmediums für die Darstellung der Minnekommunikation abschätzen. Im Vergleich der hier verfügbaren Register (vor allem monologische Gedankenrede, Gespräch, Botschaft, Brief, Erzählerkommentar) schält sich heraus, welche Rolle der Schrift zugewiesen wird. Vorweg eine Bemerkung zum Liebesbrief als mediengeschichtlicher Realität. Der Texttypus schillert, wie die Gattung Brief überhaupt, von vornherein zwischen einem Phänomen der schriftlichen Alltagskultur und der literarischen Stilisierung. Ich verweise hier, um den mediengeschichtlichen Funktionsrahmen wenigstens anzudeuten, auf zwei Grenzfälle aus 1
EUGEN MAYSER: Briefe im mittelhochdeutschen Epos. In: ZfdPh 59 (1935), S. 136-147. HELMUT BRACKERT: Da stuont daz minne wol gezam. Minnebriefe im späthöfischen Roman. In: ZfdPh 93 (1974), S. 1-18. Eine Forschungsübersicht zum Brief im Roman und darüber hinaus findet sich bei KARINA KELLERMANN/CHRISTOPHER YOUNG: You’ve got mail! Briefe, Büchlein, Boten im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein. In: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200-1300. Cambridger Symposium 2001. Hrsg. von CHRISTA BERTELSMEIER-KIERST/CHRISTOPHER YOUNG, Tübingen 2003, S. 317-344, hier S. 316-320. – Breite Übersichten zum Corpus ‚Brief‘ bieten ULRICH ERNST: Formen der Schriftlichkeit im höfischen Roman des hohen und späten Mittelalters. In: Frühmittelalterliche Studien 31 (1997), S. 252-369, der vor allem auf verschiedene Brieftypen eingeht; CHRISTINE WANDWITTKOWSKI: Briefe im Mittelalter. Der deutschsprachige Brief als weltliche und religiöse Literatur, Herne 2000 (Mikrokosmos 57), Katalog des Brief-Corpus S. 336-352.
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der ahd. Überlieferung. Literarhistorische Bekanntheit genießen die in einem Kapitular Karls des Großen erwähnten winileod, hinter denen man eine mündliche Tradition volkssprachlicher Liebeslyrik vermutet, die den Weg in die Schrift nicht gefunden hat. Es wird hier ein Verbot formuliert, winileodos vel scribere vel mittere. Das heißt, verboten wird die Verbreitung solcher Lieder in einer Art Briefform, was nur in einem bereits literarisierten klerikalen, vielleicht klösterlichen Kontext vorstellbar ist.2 Es deutet sich dabei eine Überlagerung der Typen Lied und Brief an, der man als Möglichkeit in der späteren Lyrikgeschichte wiederbegegnet. Ein anderer Grenzfall präsentiert sich meist in der Sparte der ‚Zaubersprüche‘. In einer St. Galler Handschrift des 10. Jahrhunderts findet sich die Randnotiz: ueru. taz. ist. spiz taz santa tir tin fredel ce minnon.3 Offensichtlich geht es dabei um eine Notiz an eine(n) Geliebte(n), die als Abwehrzauber fungieren soll, und zwar in ihrer materiellen schriftlichen Form. Der Brief erhält damit eine Funktion, welche die schriftliche Mitteilung gedanklicher Inhalte übersteigt, auch über einen mündlich zu aktualisierenden Wortzauber hinausgeht und die Wirkung eines magischen Requisits übernimmt. Privatbriefe, darunter auch Liebesbriefe, die ihren Zweck in der Alltagskommunikation erfüllen, gehen im Verschriftlichungsprozess spät und nur selektiv in die Überlieferung ein. Anders die Exemplare des Typus, die von vornherein in einem literarischen Gattungsrahmen tradiert werden, und so sind wie in den antiken Schriftkulturen auch in der deutschen Überlieferung als älteste Beispiele literarisch stilisierte Liebesbriefe erhalten. Mit dem Verdacht, dass man sich beim Medium ‚Brief‘ auf die Variabilität von Formen und Funktionen einzustellen hat, nähern wir uns so dem Liebesbrief im Roman, der mit seiner rahmenden Gattung grundsätzlich ein Literaturprodukt ist und fiktionale Kommunikation wiedergibt, auch wenn man Entsprechungen in der historischen Lebenswelt annehmen darf.4 Nach singulären Einzelbriefen (z. B. in Heinrichs von Veldeke Eneas, Wolframs Parzival, und Wirnts Wigalois)5 findet sich ein erster Liebesbriefwech-
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Übers.: „Liebeslieder aufzuschreiben oder zu schicken“. CYRIL EDWARDS: The Beginnings of German Lyric. In: Ders.: The Beginnings of German Literature. Comparative and Interdisciplinary Approaches to Old High German, Rochester, NY 2002 (Studies in German literature, linguistics, and culture), S. 119-140, hier S. 119-123. „Ich wehre ab das Spitze. Das sandte dir dein Schatz aus Liebe.“ Ausgabe: Althochdeutsche poetische Texte. Althochdeutsch / Neuhochdeutsch. Ausgew., übers. und komm. von KARL A. WIPF, Stuttgart 1992 (RUB 8709), S. 64. Zum Rückschluss auf eine ‚reale‘ volkssprachliche Briefkultur und deren Reflexe im fiktionalen Medium ROLF KÖHN: Latein und Volkssprache, Schriftlichkeit und Mündlichkeit in der Korrespondenz des lateinischen Mittelalters. In: Zusammenhänge, Einflüsse, Wirkungen. Kongreßakten zum ersten Symposium des Mediävistenverbandes in Tübingen. Hrsg. von JOERG O. FICHTE u. a., Berlin, New York 1986, S. 340-356, hier S. 342f. WAND-WITTKOWSKI (Anm. 1), Corpus-Katalog S. 337f.
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sel im Willehalm von Orlens des Rudolf von Ems, der damit eine literaturgeschichtliche Landmarke setzt.6 Dieses kleine Corpus von drei Briefen der Heldin Amelie und den Antwortschreiben Willehalms auf die ersten beiden ist geeignet, die über die Gattung des Briefs im Engeren hinausgreifende Problematik schriftlicher Minnekommunikation aufzurollen. Der Austausch der fünf Briefe konzentriert sich ganz auf eine bestimmte Phase in der Liebeshandlung des Romans.7 Er hält im dritten Buch während eines Turniersommers des soeben zum Ritter geschlagenen Helden, der sich bewähren muss, die Verbindung zu der entfernten heimlichen Geliebten aufrecht und verflicht und kontrastiert so, wie Franziska Wenzel ausgeführt hat,8 zwei radikal entgegengesetzte Formen höfischer Kommunikation: die öffentliche, durch Körperpräsenz und sinnliche Erfahrung (besonders Gesicht, Gehör) imponierende ritterlich-heldische Machtdemonstration und den durch Boten und Schrift hergestellten Austausch der einsamen Repräsentanten einer verbotenen Liebe, welche das öffentliche Geschehen in ihrem Sinne intentional umdeuten. Als handlungsmotivierende Elemente spielen die Briefe im Vergleich zu dem dramatischen Kampfgeschehen eine geringe Rolle. Doch sind gegen ihre Einschätzung als isolierte und weitgehend „‚inhaltslose‘ Gebilde“ (BRACKERT)9, als ledig-
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Rudolf von Ems: Willehalm von Orlens. Hrsg. aus dem Wasserburger Codex der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek in Donaueschingen von VICTOR JUNK, Berlin 1905. 2., unveränd. Aufl. Zürich 1967 (Deutsche Texte des Mittelalters 2; Deutsche Neudrucke: R. Texte des Mittelalters). Zur literaturgeschichtlichen Innovation BRACKERT (Anm. 1), S. 8f. Übersicht des Briefwechsels in Buch III: Willehalm Amelie Turnier von Kamarzi B1 6277-320 B2 6847-906 Turnier von Puys B3 7559-616 B4 8025-080 Heiratsabkommen von Amelies Vater mit Avenis von Spanien Turnier von Kurnoy B5 8251-286
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Dass dem Briefwechsel eine große Bedeutung beigemessen wird, zeigt der Illustrationszyklus in der Münchener Handschrift (cgm 63). Unter 28 Miniaturen finden sich 4 Halbbilder mit Brief (fol. 49r, 53r, 60v, 64v.), d. h., vier der fünf Briefszenen werden illustriert. Bildbeschreibungen bei ELISABETH KLEMM: Die illuminierten Handschriften des 13. Jahrhunderts deutscher Herkunft in der Bayerischen Staatsbibliothek. Textband, Wiesbaden 1998 (Katalog der illuminierten Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek in München 4), Nr. 217 (S. 239-43). FRANZISKA WENZEL: Situationen höfischer Kommunikation. Studien zu Rudolfs von Ems ‚Willehalm von Orlens‘, Frankfurt a. M. u. a. 2000 (Mikrokosmos 57), S. 124-134. BRACKERT (Anm. 1), S. 10.
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lich rhetorisch ornamentierte Textbausteine die innere Logik dieses Heimlichkeitsdiskurses und sein Beitrag zum Gesamtkonzept des romanhaften Minneentwurfs festzuhalten. Unmittelbar vor dem Aufbruch zum ersten Turnier, dem in Kamarzi, bittet Amelie Willehalm in einem Brief, er möge als Ritter in ihrem Dienst kämpfen, was dieser in seinem Antwortschreiben annimmt. Das wurde zwar schon vor der Trennung mündlich vereinbart,10 ist aber an diesem Punkt aktuell. Der zweite Brief des Mädchens trifft auf dem Turnier von Puys nach der Vesperie, also wieder vor der eigentlichen Turnierhandlung ein. Er reagiert auf Willehalms Erfolge und geht dann auf das prekäre Verhältnis des späteren Siegers zur Turnierkönigin ein, welche diesen durch die Überreichung eines Sperbers und einen Kuss ehren wird. Amelie gönnt ihrem Ritter beides, aber nicht auf eine Weise, die zu einer störenden Konkurrenz für ihr Verhältnis werden könnte. Das stellt der Brief an diesem Punkt der Beziehungsgeschichte klar. Amelies dritter Brief schließlich betrifft den von außen hereinbrechenden Verheiratungs-Entschluss des Vaters, dessen inhaltliche Mitteilung eigentümlich auf die Worte des Boten und das Schriftstück aufgeteilt ist. Der Brief selbst äußert sich nur zu Amelies Reaktion. Für den Fortgang auf der Schiene der brieflichen Minnekommunikation ist zu beachten: Die Liebesbriefe umkleiden jeweils Sprechakte, die für die Bewährung der Protagonisten-Minne teils wiederholender Art sind, teils Weichen stellen. Repetitiv sind 1. die Sprechakte des Grüßens (Gliederungspunkt salutatio), erneuernd auch 2. die Dienstversicherungen und Amelies Lohnversprechen, die auf ältere Abmachungen zurückgreifen, aber aus gegebenem Anlass der Bestätigung bedürfen. Hier korrespondieren mehrfach Dienstangebot und Dienstannahme. Modifizierung der Abmachung und gleichsam Interpretation des Rechtsstatus sind für die Preisüberreichung durch die Turnierkönigin auf dem Treffen von Puys unabdingbar. Uns geht es hier nicht um eine Einordnung dieser Handlungen in die Kategorien der Sprechakttheorie (‚Bitte‘ oder ‚Versprechen‘ usw.), sondern darum, den je neu realitätssetzenden Charakter dieser brieflichen Mitteilung im Auge zu behalten. Ja, die sprechaktliche Qualität dieser Elemente ist im rhetorischen Aufbauschema des Briefes in den Punkten salutatio bzw. petitio auf der Gattungsebene institutionalisiert.11 Seltsamerweise fehlt ein Sprechakt ‚Bitte‘ gerade im dritten Brief Amelies, der nach dem Dekret des 10 11
Vgl. V. 5160-5195. Das gängige fünfteilige Schema umfasst salutatio, captatio benevolentiae, narratio, petitio und conclusio. Dazu ECKART CONRAD LUTZ: Rhetorica divina. Mittelhochdeutsche Prologgebete und die rhetorische Kultur des Mittelalters, Berlin 1984 (Quellen und Forschungen zur Sprachund Kulturgeschichte der germanischen Völker 206 NF 82), S. 33-41; Anwendung auf den literarischen Liebesbrief (lat. 12. Jh.; Wolframs Gramoflanz-Brief, S. 43-46).
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Vaters Wilhelm um Hilfe angehen müsste. Auch die auf den Botenbericht ausgelagerte Nachricht enthält keine petitio. Im Brief gibt sich Amelie resigniert und formuliert Verzicht und Abschied, doch diese Aussparung erfolgt nicht ohne Grund: Wilhelm muss die Konsequenzen für sein Handeln selbst ziehen und selbständig die Möglichkeit einer Verhinderung der Trennung konzipieren, was ein Licht auf die Partner-Rollen wirft. Ich komme auf den Punkt zurück. Wir fragen nun nach dem Ort dieser konkreten Brief-Konstruktion im Spannungsfeld von Oralität und Literalität und halten zuerst den mündlichen Charakter fest. In der mittelalterlichen Briefkommunikation sind bei dem Fehlen einer institutionalisierten Beförderung das Schreiben und der Bote nicht zu trennen, ja, man hat die Gewichte pointiert so verteilt, dass am Brief das Wichtigste der Bote sei. Jedenfalls wird in der Regel die schriftliche Botschaft mit einer mündlichen kombiniert, und die Rituale der Überbringung, teils mit Beglaubigung durch ein materiales Zeichen, des lauten Vortrags bzw. der oft lauten Lektüre des Briefes sind durchweg Elemente des Kanals.12 Insofern ist die Figur des Knappen Pitipas integraler Bestandteil der Korrespondenz. Die Wertschätzung der Figur bei Amelie und Willehalm wird durch ihre bevorzugte Behandlung und die Höhe des Botenlohns zum Ausdruck gebracht;13 sie indiziert auch die außerordentliche Wertschätzung des Briefaustausches durch die liebenden Korrespondenten. Kulturgeschichtlich ist es also keineswegs verwunderlich, dass bestimmte Informationen durch Pitipas mündlich überbracht werden, teils parallel zum Brief oder gar nicht in diesem enthalten.14 Dabei kommt es jedoch darauf an, ob bestimmte Inhalte der Schrift vorbehalten werden. Es sind dies vor allem Themen des intimen Liebesdiskurses. Der vom Boten überbrachte Brief wird deutlich als Verlängerung des Körpers der schreibenden Person vorgestellt. Als Willehalm den ersten Liebesbrief erhält, reagiert er entsprechend: Do naic der hohgem˚ute man Der schrift und oˇch der vrˇowen sin (V. 6268f.).15 Die Schrift vertritt die Geliebte, 12 13
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Vgl. KÖHN (Anm. 4), S. 342f., 348f. mit Literatur. B2, V. 6941: Willehalm fordert Pitipas zur Treue auf, verspricht ihm für seine Botendienste immer hohen Lohn und gibt für die Zustellung des Antwortbriefes (B2) fünf Goldmark als Botenlohn. B3: Willehalm empfängt Pitipas, setzt ihn beim Essen vor sich und nam sin als sin selbes war (V. 7544; „und sorgte für ihn wie für sich selbst“). Brief 3 mündliche Auskunft über das Wohlergehen der Dame, der Brief als Diensterklärung Amelies (V. 7551-56); Brief 5 mündlicher Auftrag Amelies (V. 8306-12): Diensterklärung, Bericht der Ereignisse, Trennung würde sie aller Freuden berauben, bei der Überbringung (V. 8549-857): Klage der Geliebten, Verheiratungsplan des Vaters [nicht im Brief selbst!], Name des Bräutigams [nicht im Brief selbst!]. „Da verneigte sich der hochgestimmte Mann vor dem Schriftstück und zugleich seiner Herrin.“ – Vgl. WENZEL (Anm. 8) zum ersten Brieftausch S. 127: Brief „Substitut der Dame“, „Verlängerung ihres Körpers“, „Unmittelbarkeitsfiktion“ (127), „der absente Körper als unmittelbar inszeniert“ (ebd.).
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diese ist in Form der Schrift präsent. Willehalms Körperbewegung bei der Antwort wird genau registriert, sie heftet sich an den Brief und wird gleichsam mit diesem übermittelt.16 Amelies Klagebrief ist mit ihren Tränen begossen.17 Das Material des Briefes ist so die Brücke zwischen den Körpern, es rückt zum Medium körperlicher Berührung auf und erhält fast fetischartige Qualitäten (vgl. Ärmel, Kamm und Ähnliches im Minnekult). Die Materialität der Schrift als Mittel der Präsenzstiftung ist in der mittelalterlichen Buchkultur geläufig. Das Buch als Datenträger kann die Gegenwart des Heiligen Geistes als Instanz der Inspiration repräsentieren. Im Messritual wird beim Evangelium in der Ehrung des Buches die Gegenwart Christi selbst angezeigt, ähnlich Willehalms Verneigung vor dem ersten Schriftstück. Zu ergänzen ist, dass natürlich auch Pitipas selbst leiblich die Dame vertritt, wenn er in Kamarzi mit auf das Turnierfeld geht, um Willehalms Erfolge als Augenzeuge zu erleben;18 oder wenn dieser ihn in einer für das Liebesverhältnis typischen Wendung als sin selbes lip wahrnimmt (V. 7544; „wie sein eigenes Leben“). Die Stellvertretung des Absenders durch den Körper des Boten ist aber eine Selbstverständlichkeit in der älteren oralen Kommunikation, während gerade für die Liebeskommunikation die Präsenzstiftung durch die Schrift (samt ihrem Datenträger) zweifellos den innovativen Akzent setzt. Lassen sich nun anderseits auch spezifische Merkmale und Funktionen der Literarisierung an dieser Korrespondenz festhalten? Bekanntlich besteht eine Nähe des Briefes zur Urkunde, die sich in der Wortgeschichte wie in wichtigen Bereichen der Brief-Praxis niederschlägt.19 Die erwähnten Sprechakte, die sich immer wieder um die Festlegung der Dienstverpflich-
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Do schrab er mit siner hant / Ainen brief gen Engellant (V. 6835f.; „Da schrieb er eigenhändig einen Brief nach England.“); vgl. V. 8019-24: Der ellethafte wigant / Schrab ainen brief mit siner hant / Der suezen Amalien, / Siner trut amien, / Den solt ir bringen Pitipas. („Der kühne Kämpfer schrieb eigenhändig einen Brief an die reizende Amelie, seine intime Freundin, den sollte ihr Pitipas bringen.“) Die Variation der zwei Stellen zeigt, dass die Betonung der Hand nicht nur vom Reim erzwungen wird, sondern offenbar dem Autor wichtig für seine Darstellung ist. Vgl. WENZEL (Anm. 8): Der Bote trägt mit dem Brief die Spur der Schreibbewegung Willehalms zu Amelie. V. 8287-89. WENZEL (Anm. 8): Pitipas sei das „Sehwerkzeug Amelies“ (S. 128). F.-J. SCHMALE: Artikel ‚Brief, Briefliteratur, Briefsammlungen‘. Teil IV. Lateinisches Mittelalter. In: Lexikon des Mittelalters, Stuttgart, Weimar 1999. Bd. 2, Sp. 652-659, hier: Sp. 655f. VELUSIGs Zuspitzung, der mittelalterliche Brief sei im Gegensatz zur Briefkultur des 18. Jahrhunderts von der Urkunde ungeschieden und gehöre grundsätzlich zur Domäne offizieller Schriftlichkeit, ist so einseitig nicht haltbar; ROBERT H. VELLUSIG: Mimesis und Mündlichkeit. Zum Stilwert des Briefes im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Schrift. In: Medien und Maschinen. Literatur im technischen Zeitalter. Hrsg. von THEO ELM u. a., Freiburg 1991 (Rombach Wissenschaft, Reihe Litterae 15), S. 70-92, hier S. 78.
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tungen drehen, stehen durchweg in Kontakt auch zum Rechtsdiskurs. Der juristische Charakter zeigt sich besonders auffällig im zweiten Briefwechsel mit den Schreiben 3 und 4. Das Turnier von Puys ist mit seiner weiblichen Besetzung des Schiedsrichteramtes und den Regeln der Preisverleihung formal stark juridisiert und wird ausdrücklich mit lehensrechtlichen Verpflichtungen verglichen: Und setzent aine kúnegin Ir clag ze rihter under in, Von der wirt in der wochen Minnen reht gesprochen, Als da man rehte lehen reht Vor ainem herren machet sleht. (V. 7123-28) [Die Damen, die dem Turnier zuschauen,] setzen untereinander eine Königin als Richterin über ihre Klagen ein; von der wird in dieser Woche Minnerecht gesprochen, so wie man juristisch Lehensrecht vor einem Herren klärt.
Und dies schlägt sich in Amelies brieflichen Forderungen mit der subtilen Unterscheidung von Wilhelms Beziehungen und der Sicherung ihres persönlichen Minne-Rechtsanspruchs nieder. Dabei fällt aber auf, dass die gesellschaftlichen Regelungen wie die Abmachungen der Liebenden deutlich in der Sphäre mündlicher, nicht verbriefter Rechtsbindungen bleiben, im Unterschied etwa zu einem Typus der Verschriftlichung, der in den Minnegerichts-Urteilen bei Andreas Capellanus begegnet.20 Die Briefe tragen nicht die Züge von öffentlichen Urkunden, sondern von intimen personalen Absprachen. So gibt sich Wilhelms eidliche Dienstverpflichtung in Brief 2 als mündliche Rede zu erkennen (wie sie dem gesprochenen Eid eignet) und verpflichtet sich nicht auf ein äußerlich objektivierbares Verhalten, sondern ein Gefühl: Und sprich das uf minen ait Das ich nie sider herzelait Gewan, es waere da hin swen ich, Herze lieb, gedaht an dich. (V. 6885-88) und bestätige das eidlich, dass ich seither nie ein Herzensleid empfand, das nicht verschwunden wäre, wenn ich, Herzensgeliebte, an dich dachte.
Ein schriftliterarischer Charakter der Briefe ist in erster Linie in der Form zu finden, für die WULF OESTERREICHER bei seiner terminologischen Klärung 20
Andreae Capellani regii Francorum: De amore libri tres. Hrsg. von E. TROJEL. 2., unveränd. Nachdr., München 1972. Vgl. das Urteil der Marie de Champagne vom 1. Mai 1174 über die Streitfrage, ob Liebe in der Ehe möglich sei, S. 152-155.
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des Begriffs Verschriftlichung im Sinne der Institutionalisierung schriftlicher Diskurstraditionen Kriterien der Distanzsprachlichkeit herausgestellt hat, die sich stilanalytisch beschreiben lassen.21 Schriftliterarisch sind so die Stilistica der Rhetorisierung, die im nachklassischen Roman überhand nehmen und das Missfallen der älteren Forschung erregten, während sie von den Dichtern selbst offenbar als besondere Vorzüge verstanden wurden.22 Es soll hier nicht die Praxis der Rhetorisierung in den Briefen beschrieben werden. Die eigentümliche Leistung der Liebesbriefe in unserem Corpus (und anderen) scheint besser im Vergleich profilierbar zu sein. Wie stellen sich diese Schreiben im Kontext des romanhaften Liebesdiskurses insgesamt dar? Welchen Beitrag leisten sie mit ihrer Form und ihrer thematischen Akzentsetzung für die Rede von Liebe im Kontinuum des fiktionalen Ganzen? Der Beginn der Kinderminne zwischen Wilhelm und Amelie wird im zweiten Buch des Romans erzählt. Als sich der Dreizehnjährige23 bei König Reinher in London vorstellt, ist neben der Königin auch die Tochter Amelie anwesend. Welchen Eindruck diese auf alle Brabanter macht, wird in einer rhetorisch geschmückten Anapher ausgesprochen: Do sahent die Brabande sa Den wunsch, des wunsches wunnen cranz Und aller schoene sunnen glanz (V. 3718-20) Da sahen die Brabanter sofort den Wunschtraum, des Wunschtraums Freudenkranz und aller Schönheit Sonnenglanz.
Dass der neben ihr sitzende junge Willehalm als Partner das Pendant für dieses Ideal verkörpert, drückt der Erzähler in üppigen Rekurrenzen aus: Bi wunsche saz der wunsch al da. Was der wunsch iendert anderswa? Nain er, niht! er was alhie, Da des wunsches crone vie Bi der hant des wunsches kint. (V. 3787-91) Beim Wunschtraum saß dort der Wunschtraum. War der Wunsch irgendwo anders? Nein! Er war hier, wo des Wunsches Krone bei der Hand des Wunsches Kind ergriff.
Die schnell in Gang kommende Minnehandlung entfaltet sich in einer Narration, die stark mit Erzählerkommentaren durchsetzt ist, welche sich auch zu 21 22 23
WULF OESTERREICHER: Verschriftung und Verschriftlichung im Kontext medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit. In: Schriftlichkeit im frühen Mittelalter. Hrsg. von URSULA SCHAEFER, Tübingen 1993 (ScriptOralia 53), S. 267-292, z. B. S. 279 u. ö. Z. B. MAYSER (Anm. 1), S. 137, 139f. und passim. Vgl. V. 3942f. Willehalm ist an Alter 13-, an Wissen 15-jährig.
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kleineren Exkursen ausweiten (z. B. V. 4381-414 mit Verweis auf Ulrichs von Türheim Kliges und Minnesanganklängen; oder V. 4456-484 eine MinneAdresse mit Bezug auf Walther von der Vogelweide). Rudolf von Ems zettelt hier einen intertextuell anspielungsreichen Liebesdiskurs in der Art Wolframs an, wie das später Johann von Würzburg noch forcieren wird. Hinzu kommen Reflexionen der Kinder in Art von Gedankenmonologen24 und eine Reihe von Minnegesprächen, die mit einer Belehrung des liebesunkundigen Mädchens durch den erfahreneren Jungen eingeleitet werden (V. 4200-342). Dramatischer Höhepunkt der Handlungsführung ist das dritte Gespräch bei einem Besuch Amelies bei Willehalm, der durch die Verweigerung des Essens aufgrund ihrer Ablehnung in höchster Lebensgefahr schwebt. Amelie holt den Geliebten durch ihre Zuwendung ins Leben zurück; es kommt zu einem Geständnis und einem Liebesvertrag,25 der die Minnestufen bis zu tactus und osculum durchläuft und festlegt, wie Willehalm durch seine ritterliche Bewährung im kommenden Sommer die körperliche Vereinigung erdienen kann.26 Das entscheidende innere Geschehen wird durch den Erzähler im Raum des Herzens beschrieben; er verwendet das Motiv vom wechselseitigen Herzenstausch (V. 4972-75) und sprachspielende Einheitsformeln (V. 4976-84); auf den Schritt in der Handlung folgt sogleich ein Exkurs über das, Was ainvaltigú minne si (V. 4999-5024. „was vollkommene Minneeinheit sei“). Dieser Rückblick zeigt, dass die Liebesbriefe mit ihrer rhetorischen Form und den gewählten Bildern (vor allem aus der Herzmetaphorik) sich ganz im Rahmen von anderen, vorher schon entfalteten literarischen Registern aufhalten.27 Der schriftliche Briefdiskurs unterscheidet sich prinzipiell nicht von den Gesprächen und der Erzählerrede, die durchweg die stilistischen Register einer sprachlich ornamentierten Mündlichkeit zeigen. 24 25 26 27
Z. B. V. 4139-57. Wan ich han gesehen wol / Das du von herzen minnest mich / Benamen, ich wil oˇch minnen dich. (V. 4914-16; „Denn ich habe genau gesehen, dass du mich von Herzen minnst; in der Tat, ich will dich auch minnen.“). V. 5156-64. Vgl. etwa die Grußformel in Amelies Brief 1: ‚Lieb, aelles liebes bl˚umen schin / Der sinne und in dem herzen min, / Lieb, mines liebes wunnen kranz, / Lieb, miner vrˇoden sunnen glanz / […] / Lieb sueze in dem herzen, / Lieb aen laides smerzen‘ (V. 6277-84; „Geliebter, aller Freude Blumenlicht, von den Sinnen wahrgenommen und in meinem Herzen [wohnend], Geliebter, meiner Freude Wonnekranz, Geliebter, meiner Freude Sonnenglanz […], Geliebter, süß im Herzen, freudig ohne Leidschmerzen“) und den Bericht des Erzählers nach der Minneübereinkunft: Und h˚ub in sinem herzen sich / Von lieb an soelicher sumerzit / Sunder laides widerstrit / Das alles sin gemuete / Bl˚ut in so suezer bluete / Das wunneclich bluemelin / Moehtint da gewahsen sin, / Waerint si gewurzet da. (V. 4928-35; „und es begann in seinem Herzen durch Liebesfreude eine solche Sommerzeit ohne Störung durch Leid, dass sein ganzes Inneres blühte, in so süßer Blüte, dass lustvolle Blümchen da hätten wachsen können, hätten sie dort Wurzeln geschlagen.“). Es stimmen überein die wichtigsten Leitwörter (Liebe, Freude, Leid), die Pflanzen- und Frühlingsmetaphorik, ohne dass die zweite Stelle die erste kopieren würde.
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Die gleichen Sprechakte (Gruß, Bitte, Versprechen) durchqueren unterschiedliche Verfahren. Die Briefe setzen die Figuren-Kommunikation und die Erzähler-Publikum-Kommunikation fort. Sie gleichen „zerdehnten“ Gesprächen28 über die Kluft räumlicher Trennung hinweg und sind im Medium des gelehrt schriftliterarischen Romans nicht als etwas spezifisch Schriftliches erkennbar. Ja, man kann den Aspekt umdrehen und in dieser Schriftkommunikation gerade die betonte Herstellung von Präsenz bis hin zum Körperkontakt ausmachen. Was dennoch an spezifischer Leistung den Briefen vorbehalten bleibt, soll unten erneut aufgegriffen werden. Die irritierende Durchdringung von Schriftmedium und mündlicher Kommunikation bei Rudolf wird später von Johann von Würzburg (bzw. seinem Co-Autor) im Wilhelm von Österreich übernommen und weiter zugespitzt.29 Neben den Klassikern verarbeitet dieser in seinem intertextuellen Spektrum bekanntlich besonders den Willehalm von Orlens, so sind auch die Liebesbriefe des Romans auf dieser Folie gearbeitet. Während Rudolf fünf Briefe in einer begrenzten Handlungseinheit unterbringt, sind bei Johann 13 Briefe über mehr als ein Drittel des Textes verteilt und in drei bzw. vier Sequenzen gruppiert.30 Die ersten drei (B1-B3) ersetzen, nachdem Wildhelms konkret sexuelle Werbung von Aglyes Vater belauscht und ein Redeverbot erlassen wurde, den bis dahin gepflegten Dialog. Die nächsten vier (B4-B7) werden unter dem Eindruck der geplanten Verheiratung des Mäd28
29 30
So das Verständnis des ‚Briefes‘ in der klassischen Rhetorik. W. G. MÜLLER: Artikel ‚Brief‘. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von GERT UEDING. Bd. 2, Tübingen 1994, Sp. 60-76, hier Sp. 61f. Die Wendung „zerdehnte Sprechsituation“ findet sich bei KONRAD EHLICH: Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung. In: Schrift und Gedächtnis. Archäologie der literarischen Kommunikation I. Hrsg. von ALEIDA ASSMANN/JAN ASSMANN, München 1983, S. 24-43, hier S. 32. Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich. Aus der Gothaer Handschrift hrsg. von ERNST REGEL, Berlin 1906. Unveränd. Nachdr. Dublin 1970 (Deutsche Texte des Mittelalters 3). 1. Sequenz: Hof König Agrants a) Während des Redeverbots zwischen den Liebenden Ryal/ Wildhelm Agyle B1 1933-976 B2 2003-041 B3 2095-133 b) Nach der Werbung Walwans um Aglye B4 2547-582 B5 2596-622 Ryal muss mit Walwan gegen den König von Marroch in den Krieg ziehen. Es werden noch c) Abschiedsbriefe gewechselt. B6 2876-916 B7 2993-3035
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chens mit König Walwan aus Frigia geschrieben. Die vom Vater eingefädelte Trennung Wildhelms von Aglye bleibt ohne Briefverkehr. Als sich die Liebenden anlässlich der Belagerung von Smirna räumlich wieder näher kommen, tauschen sie vier Briefe (B8-B11) und in zeitlichem Abstand, nachdem Wildhelm seinen Konkurrenten Walwan getötet und Aglyes Vater nun Wildonis, den Sohn des Königs von Marroch, zum Schwiegersohn erwählt hat, zwei letzte Schreiben aus. Ein Brief Aglyes, der Wildhelm die Geburt seines Sohnes Friedrich mitteilt, fällt ganz aus dem Rahmen der Liebeskorrespondenz, die man mit Brief 13 als abgeschlossen erachten kann. So überbrücken Rudolfs Briefe eine Phase der Trennung des Paares, während Johanns Briefe in räumlicher Nähe die Unmöglichkeit zu reden kompensieren. Die Aspekte der Präsenz und des quasi-mündlichen Austauschs gewinnen in dieser Konstruktion an Gewicht. Dennoch kehrt der Roman auch hier bald mehr den mündlichen, bald mehr den schriftlichen Charakter der Kommunikation heraus. Die Institution des Boten wird für nur einen Brieftausch (B8 und B9) bemüht; der hier mitspielende Vogler transportiert den ersten Zettel in einem Rosenstrauß versteckt, den anderen unter dem Flügel seines Tieres. Seine mündliche Botschaft wird gegenüber dem Schriftstück deutlich herabgestuft; über die Liebesangelegenheit, für die er seinen Dienst leistet, hat er nur vage Vermutungen.31 Da genießt der Bote Pitipas im Willehalm von Orlens ein größeres Vertrauen seiner Auftraggeber, doch ist auch hier davon auszugehen, dass er den Inhalt der Schrift nicht kennt und dass die Liebenden ihre Briefe in der Einsamkeit schreiben und lesen. Damit 2. Sequenz: Vor Burg Fryen Wilhelm im Heer vor der Burg; Aglye als Verlobte Walwans in der Burg. B8 6697-770 B9 7007-088 B10 7423-493 B11 7539-629 3. Sequenz: Nachdem Wildhelm Walwan getötet hat, wird Wildomis, Sohn des Königs von Marroch, neuer Bräutigam Aglyes; Wildhelm, der als tot gilt, soll als Brautführer fungieren. B12 9795-870 B13 9989-10 076
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Interpretation des Corpus im Überblick CORA DIETL: Minnerede, Roman und „historia“. Der Wilhelm von Österreich Johanns von Würzburg, Tübingen 1999 (Hermaea N.F. 87), S. 8391; ferner WERNER RÖCKE: Liebe und Schrift. Deutungsmuster sozialer und literarischer Kommunikation im deutschen Liebes- und Reiseroman des 13. Jahrhunderts (Konrad Fleck: Florio und Blancheflur; Johann von Würzburg: Wilhelm von Österreich). In: Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Weltbildwandel. Literarische Kommunikation und Deutungsschemata von Wirklichkeit in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von WERNER RÖCKE/ URSULA SCHÄFER, Tübingen 1996 (ScriptOralia 71), S. 85-108, zu Johann S. 96-103. V. 7185-213.
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schwindet bei Johann von Würzburg der für die historische Briefkultur relevante Anteil des präsenten und redenden Boten soviel wie ganz, die Botschaft übernimmt ausschließlich die Schrift. Wenn in B1 und B2 der Brief selbst in der Ich-Form redet,32 lässt sich das mit dieser Stellvertretung des Boten durch das Schriftstück verbinden. Wie lax letztlich die Modalität der Zustellung behandelt wird, zeigt eine aus dem Rahmen fallende Variante: Bei der Sendung von Brief 6 wird einfach auf das Wissen der Aventiure verwiesen und demonstrativ eine Leerstelle gesetzt.33 Im Übrigen tragen ausgerechnet die Niederschrift und die Lektüre wie auch der Brieftext selbst Spuren des mündlichen Wortes. Von Aglye heißt es: nach der clage [in unartikulierten Seufzern] si einen brief tiht mit ir munde: swaz ir von hertzen grunde laid und an minne was, daz wart geschriben und auch daz brievelin geworfen sider Ryal in dem balle wider. (V. 2588-94 = B5) Nach der Klage verfasste sie einen Brief mit ihrem Mund. Was sie aus Herzens Grunde betrübte und die Minne betraf, wurde niedergeschrieben und dann das Brieflein mit dem Ball zu Ryal zurückgeworfen.
Oder: zehant do wart ein brief geschriben an ain zedel wizze, der wart mit grozzem vlizze getihtet von ir munde: von des hertzen grunde was da guº tes willen gunst, der si lert wol die kunst daz si suezziu wort vant, diu schraip do willechlich ir hant, mit gantzem vlizze tet si daz. (V. 6980-89 = B9) Da wurde sogleich ein Brief auf ein weißes Blatt geschrieben, der wurde mit großem Eifer von ihrem Mund gedichtet. Aus Herzens Grunde war da die Gewogenheit des guten Willens, der sie vortrefflich die Kunst lehrte, süße Worte zu finden. Die schrieb dann bereitwillig ihre Hand nieder, das machte sie mit vollkommener Hingabe. 32 33
V. 1936f.; 2003f. der wart, als mich bewisten / der aventuer kuendekait, / geantwuertet der diu kummer lait (V. 2864-66; „Der wurde, wie mich die klugen Kenntnisse der Handlungsinstanz Aventiure unterrichteten, übermittelt an die, die Kummer litt“).
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Offenbar wird das Verfassen des Briefes als einheitliche Handlung begriffen, an der kontinuierlich das Herz, der Wille, die Zunge34 und der Mund (vielleicht in einer Art lauten Mitsprechens) wie die Hand beteiligt sind. Die seelische Disposition ‚lehrt‘ auch Kunstfertigkeit (etwa kontrapunktisch zum gewöhnlichen Schulunterricht?). Jedenfalls muss das Unternehmen mit Fleiß und Aufmerksamkeit zu Ende gebracht werden. Unmittelbarkeit des Affekts, Beteiligung von Körper, Wille und Kunstfertigkeit, dazu die Arbeit der Niederschrift verbinden sich im Amalgam dieser Schreibaktion. Damit aber nicht genug. Die suezziu Minne persönlich unterstützt die Schreiberin und soll ihr zuletzt noch raten, wie sie den Brief befördern könne: do der brief gemachet was mit vlizz, als sie diu Minne lert, do sprach diu kiusche vil gehert: ‚o we, het in der liebe nu! gib lere suezziu Minne du, wie schol ich nu behenden den brief dem vræud ellenden, dem stæten und dem zieren?‘ (V. 6990-97 = B9) Als der Brief mit Eifer fertiggestellt war, wie es sie die Minne lehrte, sprach die Reine, Hocherhabene: ‚O weh, hätte ihn jetzt schon der Geliebte! Lehre mich, süße Minne, wie soll ich nun den Brief dem Freudeleeren zustellen, dem Treuen, Hübschen?‘
Auch der Übermittlungsvorgang (den der Vogler übernehmen wird) steht im Zeichen des Liebesaffekts. Die Minne als Poetiklehrerin erscheint bereits, als Wildhelm den Brief B8 verfasst: ach, Minne, kuend ich tihten so daz ich moeht gerihten den brief nach sinem werde! ich wæn daz uf der erde im tihtens nie wuerd also not! (V. 6689-93)35
34 35
Vgl. doch tihtet da sin zunge (B 6, V. 2862; „doch dichtete da seine Zunge“). V. 6689-93. Vgl. Aglyes Abfassung von B11. Die Schreiberin leitet die Redaktion des Schriftstückes mit folgenden begleitenden Worten ein: ‚Ach hertze, lip und sinne! [Aufruf körperlicher und seelischer Instanzen], / ach minneclichiu Minne [Appell an personifizierte, objektivierte Liebesinstanz], / gib helf, kunst ze stiur,‘ [auch die Minne als Helferin in der ars scribendi!] / sprach do diu gehiur, / ‚wie ich im wider schribe / daz im den jamer tribe / uz hertzeclichen laiden!‘ (V. 7497-503; „‚Ach Herz, Leib und Sinne, ach minnespendende Minne, hilf und steuere die Kunst bei,‘ sagte die Traute, ‚wie ich ihm zurückschreibe, was ihm den Jammer aus herzergreifenden Leiden vertreibe!‘“).
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Ach Minne, könnte ich nur so dichten, dass ich den Brief an seinem Wert ausrichten könnte! Ich glaube, dass auf Erden er das Briefdichten noch nie so nötig hatte!
In diesem Sinne hält Aglye ihren Brief noch zurück: doch will ich corrigieren den brief daz er iht væle, sit liebe mich niht hæle nimt in dirre minne sedel (V. 6998-7001). Doch will ich den Brief Korrektur lesen, damit er keinen Fehler enthält, da die Liebe mich nicht geheim hält auf dem Sitz (dem Thron?) dieser Minne.
Die von der Instanz überwachte schriftliche Kommunikation erhöht offenbar den Rang der Minnenden selbst und gibt der Mitteilung einen mehr als privaten Charakter, obwohl den Brief im Roman später außer dem Adressaten niemand zur Kenntnis nehmen wird. Darauf ist zurückzukommen. Aglyes Korrekturarbeit gilt dabei nicht nur den sprachlich-stilistischen Fehlern, sondern ist geeignet, die Schreiberin als eine Art Primärrezipientin ihr innerstes Gefühl noch einmal erleben zu lassen: mit manigem sueften wart diu zedel / ueberlesen innerclich.36 Jetzt erst wird auf einer anderen Ebene der Brief veröffentlicht, d. h. durch den Dichter / Erzähler einem ihm verbundenen Publikum dargeboten: ob ir nu wellt, so wil ich iu des brieves rede sagen [mündlicher Duktus!], baidiu sin vræun und sin clagen. (V. 7004-06) Wenn ihr nun wollt, werde ich euch des Briefes Rede mitteilen, seine Freude und seine Klage.
In der Perspektive Aglyes, die den Brief rezipierend Korrektur liest, ist so bereits die Ebenenversetzung zwischen innerliterarisch-privater und außerliterarisch-öffentlicher Kommunikation angelegt.37 Daneben reflektiert der Erzähler die literarische Öffentlichkeit des fiktionalen Privatbriefs noch an zwei weiteren Stellen. Während Aglye den Brief Wildhelms ueberlas (V. 7415 zu B10; – das kann leise sein oder laut38), bemerkt der Erzähler über das Geschriebene im mündlichen Gestus: 36 37 38
V. 7002f.; „Mit vielen Seufzern wurde das Blatt inständig überlesen.“. So wie nicht nur der Erzähler, sondern der Romanheld mit der personifizierten Aventiure konfrontiert wird, vgl. die mit V. 3134 eingeleitete Episode. Vgl. über Aglye anlässlich B8: zehant diu minneclich in las / mit irm munde süeze. (V. 6970f.; „Sogleich las ihn die Minnespendende mit ihrem süßen Mund.“).
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daz daran geschriben was, daz sage ich iu mit betuete; swa tugenthaft luete sint, sie hoernt in. swer zu liebe gewan ie sin, der hoert von liebe gern sagen und liep gein liebe sich erclagen. (V. 7416-22) Was darauf geschrieben war, das sage ich euch mit folgender Erläuterung: Wo immer tugendhafte Menschen sind, hören sie ihn. Wer je auf Liebe seinen Sinn richtete, hört gern von Liebe erzählen und Liebende einander ihr Leid klagen.
Der unmittelbar folgende Brief Aglyes (B11) übt dann auf Wildhelm über die Worte eine geradezu körperliche Wirkung aus39 und wird vom Erzähler akustisch dargereicht: derz gern hoert, so wil ich sagen ir getihte, daz sich dar nach rihte vrawe diu ie lieben man ze lieber trutschaft ie gewan. (V. 7534-38) Wenn man es gerne hört, will ich sagen, was sie da dichtete, damit sich daran jede adlige Dame orientiere, die je einen geliebten Mann zur liebevollen Freundschaft gewann.
Damit sind explizit Leserinnen als Rezeptionspublikum angesprochen! Wenn hier in die intime Briefkommunikation ein potentiell offenes Publikum eingebunden wird, sogar nach Geschlecht von Adressaten unterschieden, erfolgt das über das Konzept einer Gemeinschaft von Liebenden, die empathisch mitfühlen, wobei sich die Lebenden an literarischen Figuren als Vorbildern ausrichten. Das Modell ist von Gottfried von Straßburg (dem Tristan-Prolog) aus entwickelt und auf den Liebesbrief als Text im Text zugespitzt. Die ausgesprochen körperliche Wirkung der geschriebenen Liebesbotschaft erfährt bei Johann von Würzburg im Vergleich zu Rudolf von Ems noch eine Steigerung. Über Wildhelm wird beim Empfang von Brief 9 gesagt (V. 7244 ff.), er las den brief, daran im schin / wart wie er solt werben – d. h., er erhält eine Verhaltensanweisung; diese wirkt aber so: 39
mit siner wolgestalten hant / entstrickt er des brieves sloz. / diu Minne braht im do ain schoz / mit des brieves worten / daz im an allen orten / in dem libe uebte sich (V. 7528-33; „Mit seiner wohlgestalten Hand öffnete er den Verschluss des Briefes. Die Minne schleuderte da auf ihn ein Geschoss mit den Worten des Briefes, das in allen Gliedern seines Leibes zu spüren war.“, oder schoz als ‚Schössling‘?).
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er wand in vræuden sterben von den worten diu er vant: Aglien lust sich in in want, in lip, in sel, in alle lit. (V. 7244-49)40 Er las den Brief, an dem ihm klar wurde, wie er handeln sollte. Er glaubte vor Freuden zu sterben durch die Worte, die er da fand. Das Verlangen nach Aglie bohrte sich in ihn hinein, in Leib, Seele und alle Glieder.
Wie ein Aphrodisiakum, ein lusterregendes, tödliches Gift werden die geschriebenen Worte körperlich und so auch seelisch aufgesogen. Bei Wildhelms Antwortbrief (B10) wird das körperliche Ergriffenwerden der Freundin bei der Zustellung durch den Falken als Gewaltakt ausgemalt. Aglye hat Wildhelm insinuiert, sie könne seinen Falken durch ein an ihrem Fenster ausgesetztes Täubchen locken. Dieser Plan wird ausgeführt: zehant der valk die tuben stiez daz si gehort noch gesach: hin und her er si do trach biz si im in die griffe wart. (V. 7386-89) Sofort stieß der Falke auf die Taube nieder, dass ihr Hören und Sehen verging. Hin und her zerrte er sie, bis er sie fest in seinen Fängen hatte.
Freudig die liebe mær erwartend, zieht Aglye die Stange mit den beiden Vögeln zum Fenster herein. Sie lässt den Falken die Taube rupfen und ihre eigenen Hände blutig kratzen, um den Brief unter seinem Flügel hervorzuholen.41 Die Aggressivität und Destruktivität von Schrift als materialem Objekt der Liebeskommunikation im Prozess einer zerstörerisch-beglückenden Minne wird hier drastisch konkretisiert. Wenn Johann von Würzburg die Brief-Kommunikation konsequent auf die je gegenwärtige körperliche und psychische Wirkung hin zuspitzt, das heißt in der objektivierenden Schrift je neu Gegenwärtigkeit, Präsenz erzeugt, betrifft das auch die geschriebenen Inhalte. Rudolf und in seinem Gefolge Johann entdecken den Brief als literarisches Verfahren, im Minne40 41
Die Verse nur in H und S, Herausgeber zur Stelle: „scheinen aber echt“. en valken si ergramt, / daz tueblin doch erlamt, / des ahte si vil claine: / ir wizzen hende raine, / swa die der valke ruorte, / da krazte er und fuorte / uz hendel bluotes tropfen; / si lie die tuben ropfen [in der verschränkten Reihenfolge werden Taube und Hand parallel gesetzt.] / und graif mit ir verserten hant / an in unblúclich biz daz si vant / den brief under dem fluegel sin. (V. 7399-409; „Den Falken reizte sie auf, und das Täubchen erlahmte, sie achtete wenig darauf. Wo ihre weißen Hände der Falke zu packen bekam, kratzte er und ließ aus ihnen Blutstropfen quellen. Sie ließ es zu, wie die Taube gerupft wurde, und tastete den Vogel mit ihrer verletzten Hand unerschrocken ab, bis sie den Brief unter seinem Flügel fand.“).
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roman in Situationen der Trennung der Liebenden kontinuierlich und über längere Phasen hinweg Intimität herzustellen. Bei beiden fehlt die briefliche Werbung. Die Schrift setzt hier fort, was im mündlichen Gespräch, im Selbstgespräch oder Gedankenmonolog, auch im objektiven Erzählbericht und im Erzählerkommentar bereits hergestellt ist. Minneverträge mit dem Anspruch unverbrüchlicher Geltung und der körperlichen Verwirklichung eines seelisch vollzogenen und erotisch immerhin schon auf den Weg gebrachten Vereinigungsprozesses liegen vor. Intimität ist eine Beziehungsfigur engster personaler Nähe, in der seelische Disposition und äußere Lebensform zusammenwirken. In je neuen äußeren Konstellationen stellt sich die Aufgabe, diese Nähe herzustellen, die offensichtlich nicht nur im direkten Körperkontakt realisiert wird. Die mittelalterlichen Entwürfe anspruchsvoller passionierter Liebe gehen von einem Prä der geistigen Seite aus. Zwar muss das Gegenüber über die sinnliche Erfahrung ins Bewusstsein des potentiell Liebenden treten, was durch körperliche Nähe, durch den Anblick, aber auch durch Hörensagen erfolgen kann. Johanns Wildhelm konzipiert zuerst ein seelisches bilde, das er dann in der Welt sucht und in der Person Aglyes wirklich findet. Die seelische Intimität wird bevorzugt durch Modelle vom Eingehen ins Herz, vom Wohnen im Herzen, von der Dominanz im Herzen und wortspielenden Umschreibungen einer Zwei-Einheit im Herzen beschrieben. Paradigmatisch gibt es das im Minnesang,42 für die Literaturgeschichte des Romans findet Gottfried von Straßburg prägende Formulierungen.43 Diese Muster etablieren Rudolf und Johann bereits in den Anfängen der körperlich noch unerfüllten Kinderminne und setzen sie dann in die Korrespondenz hinein fort. Das Modell vom Herzenstausch und das mögliche visionäre Anschauen der oder des Geliebten im Herzen oder immer wieder neu gewendete Einheitsformeln sind hier geeignet, die Fortdauer seelischer Intimität in der körperlichen Trennung auszudrücken.44 An der Schwelle dieser seelischen Intimität ist jeder der Liebenden allein. Beide Romane betreiben den Ausschluss von Dritten, wenn sich die Protagonisten bei der Abfassung und der Lektüre der Briefe in ir heimlîche zurückziehen. Johann schließt den Einfluss der Helfer weitgehend aus. Die intime Kommunikation ist ganz der Schrift vorbehalten, die dann aber als
42 43 44
Z. B. Heinrich von Morungen MF 127,1. Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Hrsg. von FRIEDRICH RANKE. 11. Aufl., Dublin, Zürich 1967, V. 726-29 (Riwalin und Blancheflour beim Frühlingsfest); V. 11711-40 (Tristan und Isolde beim Minnetrank). Rudolf von Ems B1, Einheitsformel V. 6291-96; B4, V. 8052-58; Johann von Würzburg variiert das Motiv stark B2, V. 2018f., 2022f.; B7, V. 2691f., es folgen Einheitsformeln V. 3017-19; B8, Einheitsformel V. 6728-45; B9, Einheitsformel V. 7046-49; B10, V. 7462-64; B12, Einheitsformel V. 9838f.
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starker, gewissermaßen überwältigender Impuls in den Lebensprozess hinauswirkt, auch auf der Bühne der Rezeption. Schrift erzeugt sogar bei der Korrektur und in der Wiederlektüre der Schreibenden die Affekte, welche seelische Intimität hervorbringen, den paradoxen Status der Zweieinheit stützen können. Auch der auf der Ebene der literarischen Kommunikation veröffentlichte Brief bleibt im Schutzraum einer Gemeinde von Liebenden mit ihrem je eigenen affektbesetzten Beziehungsfokus. Die Korrespondenz wird in diesem Modell nicht als handlungstechnisches Mittel von Intrigen mit falschen Briefen, Verwechslungen der Adressaten usw. eingesetzt. Wildhelms Kinderliebe wird über ein vom Schwiegervater belauschtes Gespräch und nicht einen abgefangenen Brief aufgedeckt. Nach den literarhistorischen Anfängen der Brief-Intrige, bei der sich das neuzeitliche Drama und der Roman bedienen werden, ist dies in unserer Tradition ausgespart.45 Die Schrift als Ersatz von mündlicher Kommunikation pointiert der Wilhelm von Österreich dergestalt, dass er die Briefe durchweg in Situationen räumlicher Nähe einbaut. Sie ergänzen den Blickkontakt und werden so (unter Ausschaltung von Boten als personalen Zwischenträgern) zum eigentlichen Ort der Herstellung von Intimität, ihrer Formung und steigernden Ausbildung. Mit dem Wachsen der Beziehung wird auch der Brief immer länger und anspruchsvoller,46 sein Anspruch sinnlicher, der Pendelausschlag der Affekte weiter, der Umschlag zwischen Freude und Leid dramatischer.47 Die Briefe erhalten eine affekterzeugende und -steuernde Funktion, wobei das Einheitspostulat wie das ruhende Zentrum in der Mitte eines Wirbelsturms unangetastet zu bleiben scheint. Noch nicht bei Rudolf, aber bei Johann kann man, wie ich meine, bereits Ansätze einer intimen Biographie der Protagonisten lesen, die nur hier ihren Ort im Roman hat. Einen Extremzustand, der einem Kollaps der Brief-Kommunikation gleichkommt, erreichen Johanns letzte Stücke des Briefwechsels (B 12 und B13), die unter dem Eindruck einer zweiten erzwungenen Ehe Aglyes geschrieben sind. Die Liebenden treffen sich zu einem Gespräch und tauschen die zuvor geschriebene Briefe aus, welche monologische Seelenbilder 45
46 47
Zu gefälschten und intriganten Briefen ERNST (Anm. 1), S. 320-324: Chrétien de Troyes: Lancelot; Heinrich von Veldeke: Eneas; Mai und Beaflor. Zur Störung der Boten-Kommunikation HORST WENZEL: Boten und Briefe. Zum Verhältnis körperlicher und nichtkörperlicher Nachrichtenträger. In: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hrsg. von HORST WENZEL u. a., Berlin 1997 (Philologische Studien und Quellen 143), S. 86-105; hier S. 111-104. Gefälscht auch im Wilhelm von Österreich, Mahmets Brief (V. 11044-094), s. DIETL (Anm. 30), S. 91f. Vgl. zu B11 V. 7508f.: ain niwe zedel langen / nam si uz ainem schrin. („Ein neues großes Blatt nahm sie aus einer Lade.“) Zum gehobenen Anspruch die Minne-Anrede vor der Abfassung desselben Briefes V. 7497-99 (zit. oben. Anm. 35). Deutlich in der Phase der Belagerung von Smirna B8 - B11.
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formulieren. Zwar fordert Aglye Wildhelm im Gespräch mündlich zur gemeinsamen Flucht auf (V. 9610ff.), der Brief selbst ist pessimistischer und formuliert das Ende der Beziehung: swie ainmuetic si unser muot gevangen in ainem ain, so mag uns doch dehain trutschaft da von werden. (V. 9838-41) Wie einmütig auch unser Sinn in einer einzigen Einheit verschlossen ist, so kann doch keine Liebschaft [hier aber mit dem Ziel einer institutionalisierten Beziehung] daraus werden.
Aglye gibt allen Eigenwillen auf, unterstellt sich Wildhelms Entscheidungen und legt zugleich alle Standesansprüche auf ere und richtuom nieder. Obwohl sie einen Ausgang offen lässt, imaginiert sie mit dem Ende ihrer trutschaft den Liebestod (V. 9860-63; 9869f.). Wildhelms Schreiben zeichnet einen noch depressiveren Zustand. Vor der als Vrœuden trost! mins muotes sin! 48 Angeredeten legt er selbst alle Freuden ab und erklärt, nicht mehr leben zu wollen. Er gibt der Geliebten seine Beziehung als Lehen zurück: nim uf nu swaz ich von dir hab ze lehen! ich wil komen ab des lebens durch die liebe din: ich waiz niht anders, sele min, waz ich dir dienen fuerbaz sol. (V. 10043-47) Nimm jetzt alles zurück, was ich von dir zu Lehen habe! Ich will mein Leben verlieren aus Liebe zu dir. Ich weiß nichts anderes, meine Seele, worin ich dir weiter dienen kann.
Wildhelm verlegt seine ganze geistige Existenz in die Person Aglyes, hat aber nicht die Kraft, daraus eine positive Zukunftsperspektive zu schöpfen. Auch er imaginiert zusammen mit dem Verlust der Geliebten an einen anderen Ehemann den Liebestod. Nun liegen hier die Briefe den hoffnungsvolleren Gesprächen voraus, werden aber erst danach von den Partnern rezipiert und dem Publikum mitgeteilt. Sie sind also eigentlich überholt, was einen Rückstand brieflicher Mitteilung gegenüber dem Stand des Seelendramas und eine Grenze der Leistungsfähigkeit des Mediums ‚Brief‘ anzeigen könnte. Neue Weichen sind bereits gestellt, die Zwangsehe wird später nicht vollzogen, die Liebenden finden schließlich doch zueinander. Im weiteren Horizont aber
48
V. 9989; „Meiner Freuden Hoffnung! Meines Geistes Sinn!“.
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Christoph Huber
erbringen die situationsversetzten Schreiben eine Leistung, die nur in der schriftlichen Fixierung möglich ist. Die Schrift ist in der Lage, bei beiden Partnern die authentische radikale Bereitschaft zu dokumentieren, bis zum ‚Letzten‘ zu gehen, die von der Geschichte zunächst nicht eingefordert wird. Im Blick auf den Schluss des Romans mit Wildhelms Ende in der Einhorn-Aventiure und Aglyes Liebestod sieht das anders aus. Der mit den monologischen zwei letzten Briefen erreichte Tiefpunkt markiert so die Grenze der Gattung und die Überholbarkeit der schriftlichen Verfestigung durch das Leben. Anderseits greifen beide Positionen über die glückliche Wendung hinaus auf den Liebestod vor, ja nehmen dieses Ende vorweg. Die Tiefpunkte der Korrespondenz müssen auch in den früheren Schreiben als affektive Antizipation des Liebestodes gelesen werden, in dem Johann gegenüber Rudolfs harmonischem Ausgang eine pessimistische Perspektive gestaltet. Sie betrifft nicht die dynastische Sukzession, die mit der Geburt des Erben Friedrich gelingt, aber das individuelle Minnedrama. Aus unseren Beobachtungen an zwei Brief-Corpora, die ganz auf die jeweiligen Romankonzeptionen hin komponiert sind und hier ihre literarische Relevanz erhalten, können wir einige Schlüsse zum Prozess der Verschriftlichung und zum Status des Briefes, genauer: des Liebesbriefes in historischer Perspektive ziehen. Für die Briefpartner der beiden Romane setzen die Autoren den Umgang mit der Schrift als eine selbstverständliche Fertigkeit voraus. Der für das Mittelalter konstitutive Anteil der Botenrolle wird bei der erotisch intimen Botschaft zurückgedrängt, das gilt in der mündlichen Kommunikation auch für die im feudaladligen Leben unverzichtbaren Helferfiguren. Als Funktion der Schriftlichkeit lassen sich aber keineswegs die von OESTERREICHER genannten, in der Fernoptik einleuchtenden Merkmale von Traditions- und Herrschaftssicherung mit Tendenzen zur Dogmatisierung ansetzen.49 Zwar gelingt es der Schrift, eine Kommunikation der Liebenden unter den Bedingungen der Trennung fortzusetzen und so gewissermaßen zu stabilisieren, auch eine exemplarische Vorbildlichkeit des Fühlens zu etablieren, die auf die Metaebene der Literaturkommunikation gehoben wird. Das wirkt im Handlungskontext aber als ein Präsenzphänomen, als ein zerdehnter Liebesdialog, der in seiner Affektbestimmtheit auch destabilisierende Effekte hervorbringt. Spontaneität wird nicht ausgeschlossen, sondern gerade stimuliert. Der Austausch von Schriftlichkeit führt wie bei dem von Worten unmittelbar körperliche Reaktionen herbei. Als spezifisch schriftlich zeichnet sich in dem komplexeren Entwurf Johanns, der allerdings ohne den des Vorgängers nicht denkbar ist, die Wiederholbarkeit, auch die zeitliche Versetzung einer Stimulierung durch die 49
OESTERREICHER (Anm. 21), S. 281f.
Minne als Brief
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Schrift ab, so dass über diesen Kanal der Innenraum der Liebe geformt und vertieft werden kann. Im Wechselspiel der Seelenkräfte macht sich auch eine intellektuelle, reflexive Seite stark, die sich aber noch nicht abspaltet, sondern getragen wird vom psychophysischen Gesamterlebnis der Minne, die als personifizierte Instanz agiert und stellenweise mit einem überindividuellen Naturgesetz zusammengeht. Minne ist zugleich Vermittlungsinstanz einer kunstgerechten Rhetorik der Liebe und erfahrene Gegenwart mit transgressiven, anarchischen Zügen. Im Raum der Intimität scheinen so Unmittelbarkeit der Affekte und Intellekt keine Gegensätze zu sein, ebenso wenig Alleinsein und Hingabe. So ist für die intime Minnekommunikation zumindest in den besprochenen Texten eine Verschiebung von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit und eine Abkoppelung vom Körper nicht festzustellen. Es gibt da keine lineare Entwicklung, der Gegensatz und die Spannung zwischen den Kommunikationsformen bleiben bestehen. Das hat zweifellos mit der proteischen Textform ‚Brief‘ zu tun. Literarische Möglichkeiten der Selbstbespiegelung und wechselseitigen Introspektion deuten sich bereits an, die später, etwa im 18. Jahrhundert, in den Vordergrund treten und die Qualitäten der Präsenz in der Briefkommunikation stark machen.50 So hat man dem Brief, besonders dem literarisch komplexen Liebesbrief im Langzeitprozess der Verschriftlichung Sonderkonditionen einzuräumen.
50
Vgl. den substantiellen Theorieteil des Lexikonartikels von W. G. MÜLLER (Anm. 28), hier Sp. 61-65.
MARGRETH EGIDI
Schrift und ‚ökonomische Logik‘ im höfischen Liebesdiskurs: Flore und Blanscheflur und Apollonius von Tyrland I. Dass Schrift und schriftliche Kommunikation in Konrad Flecks Flore und Blanscheflur zentrale Themen sind, ist bekannt;1 in Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland ist dies zumindest in einer entscheidenden Szene der Handlung um Apollonius und seine erste Frau Lucina der Fall. In unterschiedlichen Szenarien akzentuieren die Texte die Struktur literarischer Kommunikation bzw. schriftgestützter Kommunikation. Und sie tun dies im Rahmen einer deutlichen Ausstellung der ‚ökonomischen‘ Logik höfischer Liebe, die in den inszenierten Kommunikationssituationen immer wieder ventiliert wird; auf ihr wird daher in Verbindung mit der Schriftthematik ein weiterer Fokus der Textlektüre liegen. Im Rückgriff auf Derridas Texte zur Gabe verstehe ich unter ‚ökonomischer‘ und ‚anökonomischer Logik‘, sehr verkürzt und holzschnittartig umrissen: einerseits die Ordnung von Tausch, Rückkehr, Verrechenbarkeit, Verschuldung und Wiedergutmachung, Reziprozität und Symmetrie, andererseits die ‚totale Gabe‘, die nicht vergolten wird, Verschwendung, Maßüberschreitung, Asymmetrie und Diskontinuität.2 Verkürzend ist eine solche Umschreibung insofern, als sie ein symmetrisches Gegenüber opposi1
2
Vgl. z. B. WERNER RÖCKE: Liebe und Schrift. Deutungsmuster sozialer und literarischer Kommunikation im deutschen Liebes- und Reiseroman des 13. Jahrhunderts (Konrad Fleck: Florio und Blanscheflur; Johann von Würzburg: Wilhelm von Österreich). In: Mündlichkeit – Schriftlichkeit – Weltbildwandel. Literarische Kommunikation und Deutungsschemata von Wirklichkeit in der Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von DEMS./URSULA SCHAEFER, Tübingen 1996 (ScriptOralia 71), S. 85-107. JACQUES DERRIDA: Falschgeld. Zeit geben 1. Aus dem Französischen von ANDREAS KNOP/ MICHAEL WETZEL, München 1993 (frz.: Donner le temps 1: La fausse monnaie, Paris 1991); DERS.: Wenn es Gabe gibt – oder: ‚Das falsche Geldstück‘, in: Ethik der Gabe. Denken nach Jacques Derrida. Hrsg. von MICHAEL WETZEL/JEAN-MICHEL RABATÉ, Berlin 1993 (Acta humaniora), S. 93-136.
148
Margreth Egidi
tiver Begriffe suggeriert, deren Relationierung selbst gewissermaßen einer ökonomischen Ordnung folgt. Die Aporien der Gabe schließen jedoch aus, das Verhältnis von ökonomischer und anökonomischer Logik als Binarismus zu fassen,3 da beide Logiken sich nicht nur wechselseitig aufheben, sondern zugleich nicht voneinander ablösbar sind. Den Selbstwiderspruch der Gabe führt Derrida am Beispiel von Marcel Mauss’ Gaben-Essay4 mit der Engführung zweier miteinander unvereinbarer Vorverständnisse des Gabenbegriffs vor.5 Dem ersten Vorverständnis zufolge gibt es keine Gabe ohne Erwartung einer Gegengabe welcher Art auch immer – keine Gabe jenseits des Tausches. Das zweite Vorverständnis besagt dagegen, dass es die Gabe, wenn überhaupt, nur jenseits von Tausch und Reziprozität geben kann.6 Sie wird nicht erst durch ihre Erwiderung annulliert, „sondern bereits dadurch, [...] daß sie als Gabe gesagt, bezeugt, anerkannt“ wird,7 da dies unweigerlich die Logik der Zirkulation und der Rückkehr der Gabe erzeugen würde.8 Mein Beitrag setzt diese Begrifflichkeit in pragmatischer Zurichtung ein; er beansprucht nicht, ihre Tragweite und die Komplexität der mit ihr verbundenen reflexiven Bewegungen auch nur annähernd beizubehalten.9 Damit wird u. a. in Kauf genommen, dass die oben verworfenen Binarismen wiederkehren. Insbesondere wird nach den je spezifischen Ausprägungen der ökonomischen Logik der Liebe zu fragen sein sowie danach, mit welchen Modellen von Schrift und schriftlicher Kommunikation dies in Verbindung gebracht wird.
II. Im höfischen Minnediskurs, so meine Vorannahme, ist es gerade die Relation von ökonomischer und anökonomischer Logik, die je neu verhandelt wird. Dass dem so ist, wird schon an den bevorzugten Referenzialisierun3 4 5
6 7 8 9
Vgl. BERNHARD WALDENFELS: Das Un-Ding der Gabe. In: Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida. Hrsg. von HANS-DIETER GONDEK/BERNHARD WALDENFELS, Frankfurt a. M. 1997, S. 385-409, hier S. 405. MARCEL MAUSS: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Mit einem Vorwort von E.E. EVANS-PRITCHARD, übers. von EVA MOLDENHAUER, Frankfurt a. M. 41999 (frz.: Essai sur le don, Paris 1950). Hierzu und zum Folgenden der grundlegende Aufsatz von WALDENFELS (Anm. 3). Zu Derridas Gabenbegriff vgl. ferner weitere Beiträge in: GONDEK/WALDENFELS (Anm. 3), und in: WETZEL/RABATÉ (Anm. 2); ULLA HASELSTEIN: Poetik der Gabe. Mauss, Bourdieu, Derrida und der New Historicism. In: Poststrukturalismus – Herausforderung an die Literaturwissenschaft. DFG-Symposium 1995. Hrsg. von GERHARD NEUMANN, Stuttgart 1997, S. 255-272. DERRIDA: Falschgeld (Anm. 2), S. 22f. WALDENFELS (Anm. 3), S. 389 (Hervorhebung im Original). DERRIDA: Falschgeld (Anm. 2), S. 24f. Auch wird hier ausgeblendet, dass das Paradigma in Derridas Denken der Gabe der Text ist; vgl. HASELSTEIN (Anm. 5), S. 286-288.
Schrift und ‚ökonomische Logik‘ im höfischen Liebesdiskurs
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gen des Minnesangs erkennbar: am Ineinander des Dienst-Lohn-Modells als ständisch-rechtlicher Referenz und des Begriffs der Gnade als religiöser Referenz.10 Minne kann Lohn wie Gnade sein; sie kann schließlich im unaufhebbaren In- und Gegeneinander von ökonomischer und anökonomischer Logik auch beides zugleich sein. Anders als der Liebesdiskurs im Minnesang, wo dieses Aushandeln nicht an ein Ende kommt, scheinen die Minne– und Aventiureromane indes eine deutliche Tendenz zur ‚Ökonomisierung‘ der Liebe erkennen zu lassen. In der Idylle, in der Konrad Fleck die Liebenden Flore und Blanscheflur anfänglich leben lässt, wird die ökonomische Logik der Liebe mit auffälliger Betonung ausgestellt (wie auch im gesamten Roman Momente des Anökonomischen, des Gaben- und Gnadenhaften stark zurückgedrängt werden).11 Das zeigt sich nicht nur in dem von Reziprozität und Symmetrie geprägten Verhalten der Liebenden, sondern z.B. auch in der Kauf- und Geldmetaphorik, mit der ihre Liebe umschrieben wird. Liebe wird hier gleichsam als denkbar engster ‚Tauschzirkel‘ entworfen, in dem nichts gegeben wird, was nicht mit demselben Wert zurückgegeben würde. Reziprozität, Ausgleich und Symmetrie prägen auch die Szenen, in denen die rhetorisch-literarische Repräsentation der Liebe selbst thematisiert wird und in denen insbesondere das Medium der Schrift im Mittelpunkt steht. An ihnen wird vor allem das Verhältnis von Liebe und ihrer Repräsentation zu untersuchen sein. Zunächst wird die schon in der Wiege beginnende Liebe der Kinder als vorreflexiv gekennzeichnet (und sich niht versinneten / waz minne wær und ir gebot, V. 608f.; „und nicht verstanden, was die Liebe und ihre Herrschaft sei“).12 Bereits im Alter von fünf Jahren aber wird ihnen durch das Eingreifen des Liebesgottes ein Wissen über die Liebe zuteil, das der puer senexTopos andeutet: 10 11
12
Vgl. RAINER WARNING: Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Hrsg. von CHRISTOPH CORMEAU, Stuttgart 1979, S. 120-159. Auf das Verhältnis von ökonomischer und anökonomischer Logik in der Idylle wie im gesamten Flore-Roman gehe ich ausführlicher im Rahmen meiner Habilitationsschrift ein. – Zu Flore und Blanscheflur vgl. insbesondere ELISABETH SCHMID: Über Liebe und Geld. Zu den Floris-Romanen. In: Der fremdgewordene Text. Festschrift für Helmut Brackert zum 65. Geburtstag. Hrsg. von SILVIA BOVENSCHEN u. a., Berlin, New York 1997, S. 42-57, und MICHAEL WALTENBERGER: Diversität und Konvention. Kulturkonstruktionen im französischen und deutschen Florisroman. In: Ordnung und Unordnung in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von WOLFGANG HARMS/STEPHEN JAEGER/HORST WENZEL, Stuttgart 2003, S. 25-43; ferner JUTTA EMING: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12. bis 16. Jahrhunderts, Berlin/New York 2006 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 39 [273]). Flore und Blanscheflur. Eine Erzählung von Konrad Fleck. Hrsg. von EMIL SOMMER, Quedlinburg/Leipzig 1846 (Bibliothek der gesammten deutschen Nationalliteratur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 1/12).
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610 so gewaltic was13 der minnen got, daz er kint machte14 wîs, die jungen alt, die tumben grîs. [...]. und dô sie wurden fünf jâr alt, 615 dô begundens sich verstân wie man sol wesen undertân der minne, der sî haben wil. So mächtig war der Liebesgott, dass er Kinder klug, Junge alt und Unerfahrene grauhaarig machte. [...] Und als sie beide fünf Jahre alt wurden, begannen sie zu begreifen, wie man, wenn man Liebe erlangen will, sich ihr unterwerfen muss.
In demselben Alter beginnt für Flore und Blanscheflur der Schulunterricht bei einem clericus. In Kontakt mit der Sphäre der Schrift kommen sie über die gelehrte Liebesliteratur:
715
720 725
730
13
14 15
nû begunden sie lesen diu buoch von minnen allezan. dâ funden sie geschriben an von minnen vil manegen list, der uns an den buochen ist von wîsen pfaffen verliben. dâ bî funden sie geschriben wie manegem der nâch minnen ranc missegie und ouch gelanc. [...] daz machte15 die jungelinge ze minnen verstanden, und daz sie wol erkanden, ê daz es wære zît, wie rehte hôch gemüete gît diu Minne etewenne, doch sî aber denne gebiutet daz man trûre.
Sommer konjiziert ist, gegen die Handschriften BH, die beide was haben, während Golther die Konjektur wieder rückgängig macht (Tristan und Isolde und Flore und Blanscheflur. Hrsg. von WOLFGANG GOLTHER, 2. Teil, Stuttgart o.J. (Deutsche National-Litteratur 4/3), Nachdruck Tokyo 1973, S. 233-470.) mahte BH (Golther); machet Sommer. mahte B (Golther); tete Sommer.
Schrift und ‚ökonomische Logik‘ im höfischen Liebesdiskurs
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Nun begannen sie alle Bücher über die Liebe zu lesen; dort fanden sie allerlei Kluges über sie geschrieben, das uns in den Büchern von weisen Gelehrten bewahrt worden ist. Sie lasen darin, wie manch einer, der nach Liebe strebte, kein Glück hatte, mancher ans Ziel gelangte [...]. Das machte die Kinder zur Liebe verständig, so dass sie, ehe es für sie an der Zeit war, erkannten, wie die Liebe zuweilen wahre Hochgestimmtheit verleiht, manches Mal jedoch auch zu leiden zwingt.
An den buoch von minnen lernen sie zugleich mit dem Umgang mit Schrift die der Minne eigene Gesetzmäßigkeit. Dabei wird zwar die Unbegreiflichkeit ihrer Willkürherrschaft suggeriert, doch zielt die Passage gerade nicht auf die das Begreifen übersteigende Negation von Ordnung: Die Willkür der Minne erscheint als Gegenstand des Wissens, als vermittelbar; mit der Diskursivierung hebt sich ihr anökonomischer Charakter, der ja auch im Eingreifen des Liebesgottes und in seiner Gabe aufscheint (s. o.), auf. Mittags begeben sich die Kinder in einen Baumgarten. Der frühlingshafte locus amoenus bildet den Rahmen für einen Minnedialog (V. 777-801).16 Konstitutiv für ihn ist die Reziprozität der Bekenntnisse und ihrer Sprache wie auch sein betont höfisch-formvollendeter Habitus, der sich schon in den Anreden zum Ausdruck bringt (genâde, frou künginne; Flôre süezer amîs; V. 777 und 787). Wechselseitigkeit und Symmetrie bestimmen auch die beiderseitige Artikulierung von ungemach und kumber (V. 785 und 793). Nach der Mahlzeit in die Schule zurückgekehrt, beginnen sie, ihre Fertigkeiten im Umgang mit Schrift systematisch vervollständigend, zu dichten:
16
Den Minnedialog (V. 777-801) hat der altfranzösische Conte de Floire et Blancheflor nicht (Le conte de Floire et Blancheflor. Hrsg. von JEAN-LUC LECLANCHE, Paris 1983 [CFMA 105]); hierzu und zur Bearbeitungstendenz bei Fleck generell vgl. KAREN PRATT: Rhetoric of Adaption. The Middle Dutch and Middle High German Versions of Floire et Blancheflor. In: Courtly Literature: Culture and Context. Selected papers from the 5th Triennial Congress of the International Courtly Literature Society. Dalfsen 9-16 August 1986. Hrsg. von KEITH BUSBY/ERIK KOOPER, Amsterdam/Philadelphia 1990 (Utrecht Publications in General and Comparative Literature 25), S. 483-497.
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820 an ir tävelîn sie schriben, von den bluomen wie sie sprungen, von den vogelen wie sie sungen, von minnen vil und anders niht; dâ von was gar ir getiht: 825 von minnen was in sorgen buoz, von minnen was ir unmuoz. Auf ihre Täfelchen schrieben sie von blühenden Blumen, vom Gesang der Vögel, von Liebe viel und von nichts anderem; davon handelten ihre Gedichte. Durch Liebe wurden sie von Leid befreit, mit Liebe vertrieben sie sich die Zeit.
Es entsteht eine kohärent erscheinende Reihe von Ereignissen, die Schritt für Schritt vom vorreflexiven Zustand der Liebenden über die Zuteilung von Liebeswissen durch göttliches Eingreifen (noch jenseits diskursiver Verarbeitung) und die Vermittlung durch gelehrte Literatur bis hin zur eigenen Rede über Liebe in Gestalt des Dialoges und der schriftlichen Gedichtproduktion führt. Daneben gibt es jedoch Hinweise darauf, dass die Frage, was vorgängig und was nachträglich ist, auch jenseits dieser Kontinuität betonenden Abfolge von Ereignissen virulent bleibt und nicht notwendigerweise mit einem zeitlichen Nacheinander schon beantwortet ist. So macht die gelehrte Literatur die Kinder ze minnen verstanden (V. 725; „zur Liebe verständig“), doch handelt es sich um ein Wissen, über das sie, als Gabe des Liebesgottes, schon längst verfügen. Zugleich scheint aber auch die literarische Erfahrung ‚vorgängig‘ zu sein, denn sie lernen etwas über die Liebe, ê daz es waere zît (V. 727; „ehe es für sie an der Zeit war“), und inszenieren ihren Minnedialog auf der Basis von Gelesenem. Diese leisen Hinweise, die die Vorstellung von Kontinuität zunächst keineswegs wesentlich irritieren, gehen der Aufhebung der Unterscheidung von Vorgängigkeit und Nachträglichkeit im emphatischen Sinne voraus, die beim Minnedialog und vor allem bei der Gedichtproduktion spürbar wird. Damit verringert sich auch zunehmend die Differenz zwischen Liebe und ihrer Repräsentation: Bei beiden rhetorisch-literarischen Äußerungsformen der Liebenden lässt sich nicht eindeutig zwischen Affektausdruck und einem Einschreiben in den Liebesdiskurs unterscheiden. Ist schon beim Dialog die Rhetorizität stark ausgestellt, so zeigt sich die Nähe, das Verhältnis wechselseitiger Spiegelung noch deutlicher in den Gedichten: Die Erfahrungswelt der Kinder – die Elemente des locus amoenus, an dem sie sich zuvor befanden, und ihre Liebesfreude – wird insofern selbst als topisch markiert, als sie sich in den Gedichten lediglich fortsetzt. Dass Liebe und
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Liebesliteratur, literarische und eigene ‚Erfahrung‘ ineinander projiziert werden, indiziert ein weiteres Detail: Die gängigen Prolog-Topoi über die Funktionen von (auch Liebes-)Literatur, nämlich Traurigkeit zu vertreiben und Mußestunden auszufüllen, werden auf die Liebe übertragen (V. 825f.), wobei nicht entscheidbar ist, ob nicht zugleich auch das Dichten gemeint ist. Wird der Entwurf einer kohärenten Abfolge vom unmittelbaren Erleben bis zur eigenen literarischen Produktion – eine Abfolge, die zunehmende Reflexivität suggeriert – damit zwar auch nicht in Frage gestellt, so entsteht doch quer dazu eine andere Logik, in der Liebe und Liebesrepräsentation eng zusammenrücken. Damit folgt auch die Funktion von Schriftlichkeit einer doppelten Logik: Die geläufigen Implikationen der Ermöglichung von Distanznahme und Reflexivität durch Schrift bestätigen sich am ehesten im Falle des Lesens gelehrter Liebesliteratur; das eigene Schreiben aber scheint mit einer weitgehenden Aufhebung der Distanz und der Unterscheidung zwischen Liebe und ihrer diskursiven Verarbeitung verbunden zu sein.17 An Liebeswissen und Reflexivität ist schließlich ein bestimmtes Moment des Liebesentwurfs gebunden: das der Machtausübung der Minne, das erst als Gegenstand des Wissens überhaupt zum Thema wird. Herrschaft und Unterwerfung tangieren das vom Liebesgott verliehene Wissen zweifach: Es ist selbst Ausdruck seiner Macht (so gewaltic; V. 610), die ihn dazu befähigt, Kinder wissend zu machen, und hat die Unterordnung der Liebenden zugleich zum Gegenstand (V. 616f.). In Bezug auf die eigene Erfahrung der Protagonisten fehlt das Willkürmoment jedoch ganz, und damit auch die Ambivalenz von liebe und leit; Minne, so heißt es, habe von ihren Herzen Besitz ergriffen (V. 700f.), aber mit freuden âne sorgen (V. 703; „leidloser Freude“). Am stärksten ausgeprägt sind jene Motive dagegen im Lesestoff der Kinder, der von der totalen Herrschaft der Minne, der Unterordnung der Liebenden und der unberechenbaren Zuteilung von Glück und Verderben erzählt (manger was verdorben, / manger hâte erworben / nâch herzen gedinge; V. 721-723; „manch einer ging zugrunde, mancher gewann, was sein Herz erhofft hatte“); schließlich von der Traurigkeit, die Minne gebiutet (V. 730f.).18 Das ist ein weiteres Indiz dafür, dass die Liebesidylle, die einerseits eine Differenz zwischen Liebe und Liebesliteratur aufbaut, in einer Gegenbewegung zugleich auf Entdifferenzierung zielt: Denn die Aspekte der Willkürherrschaft und Freude-Schmerz-Ambivalenz, die in der Leseszene die für jene Differenz zwischen selbst erfahrener und literarisch vermittelter Liebe distinktiven Momente sind, werden in den anderen Szenen zurückgedrängt. In der Dialogszene im Garten findet der Liebes17 18
Anders RÖCKE (Anm. 1), S. 95. Vgl. auch V. 728-741.
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schmerz außer als rhetorische Größe19 – je nach Lesart – nur sehr beiläufig oder gar nicht Erwähnung (V. 806).20 Und die eigenen Gedichte lassen den Leidaspekt ganz aus. In wechselseitigen Spiegelungen wird die Trennlinie zwischen Liebe und und ihrer literarischen Diskursivierung unscharf. Im Kontext von Liebesökonomie und Schriftlichkeit verdienen ferner die goldenen Griffel der Liebenden besondere Erwähnung – sind sie doch weit mehr als kostbare Schreibwerkzeuge. Beim erzwungenen Abschied werden sie zu Liebespfändern, die die Kinder tauschen.21 Als solche sind sie Zeugnisse der unauflösbaren Liebesbindung (Flore spricht den Griffel später an als urkünde [...] / der liebe die wir hâten; V. 2382f.; „Zeugnis [...] der Liebe, die wir miteinander erlebten“) und bezeugen das wechselseitige Treueversprechen. Noch auf andere Weise symbolisieren sie Reziprozität und Symmetrie der Liebe: in ihrer Funktion als Selbstmordwerkzeug (V. 1244-1249; 2388-2397). Noch vor dem Pfändertausch versucht Blanscheflur, sich mit ihrem Schreibgriffel das Leben zu nehmen; danach – mit demselben Griffel also – tut Flore es ihr gleich, als er wieder an den väterlichen Hof zurückkommt und von Blanscheflurs angeblichem Tod erfährt. In den verschiedenen Fassungen des Stoffs variiert die Erzählung des Selbstmordversuchs auffällig: So ist in zwei weiteren Versionen die Symbolik der Griffel deutlich abgeschwächt. In einer niederdeutschen Floris-Dichtung ist es schlicht ein Schwert, mit dem der Protagonist versucht, sich das Leben zu nehmen.22 Und der spätmittelalterliche Prosaroman Florio und Bianceffora,23 der eine andere Stofftradition repräsentiert, bietet, allerdings in einem anderen Handlungskontext, wieder eine eigene Lösung: Florio verwirft nach einem Traumgesicht seine Selbstmordabsichten und nutzt den Griffel, statt sich damit umzubringen, um einen Brief an seine Geliebte zu schreiben. Bei Fleck dagegen verdichtet sich in den Griffeln aufgrund ihrer unterschiedlichen Funktionen – Schreibgeräte, Liebespfänder und Selbstmordwerkzeuge – symbolisch die enge Verflechtung von Liebe und Kom-
19 20 21 22 23
Flore: ,wan des lîd ich ungemâch‘; Blanscheflur: ,joch solt ein kint sîn ungewon / solhes kumbers als ich trage‘ (V. 785 u. 792f.); (‚denn ich leide deshalb großen Schmerz‘; ,einem Kind sollte doch solches Leid, wie ich es ertrage, unvertraut sein‘). daz heiz ich liep âne leit Sommer (wohl mit B; „das nenne ich Freude ohne Leid“); Das hies in liep und leit H („das war ihnen Freude und Leid“); Golther konjiziert: daz was in liep âne leit („[...] Freude ohne Leid“). Eine Szene, die sich im französischen Florisroman nicht findet: Im Conte wird von Floire nur das Geschenk eines Griffels von Blancheflor rückblickend kurz erwähnt (V. 999-1003), ohne dass es sich dabei um einen wechselseitigen Tausch von Pfändern handelt. Vgl. SOMMER in den Anmerkungen seiner Ausgabe (Anm. 12), S. 292 (zu V. 1244); zu der niederdeutschen Dichtung ebd., S. XVIf. Florio und Bianceffora. Ein gar schone newe hystori der hochen lieb des kuniglichen fursten Florio vnd seyner lieben Bianceffora. Nachdruck der Ausgabe Metz 1500, mit einem Nachwort von RENATE NOLLWIEMANN, Hildesheim, New York 1975 (Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken A/3).
Schrift und ‚ökonomische Logik‘ im höfischen Liebesdiskurs
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munikation über Liebe;24 zugleich verweisen sie, insofern sie für Reziprozität und Symmetrie stehen, auf die ökonomische Ordnung der Liebe.
III. In der ‚Rahmenhandlung‘ von Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland 25 erleidet der Protagonist in Pentapolis Schiffbruch und gelangt mittellos an den Hof von König Altistratis. Von Anfang an wird hier das Thema von Besitz und Besitzlosigkeit sehr exponiert und mit der Liebesthematik in Verbindung gebracht. Insbesondere ist die Nähe von höfischer Liebe und Freigebigkeit, auf die Haferland hingewiesen hat, hier von zentraler Bedeutung.26 Als Lucina, die Tochter des Königs, Apollonius erblickt, lässt Minne sie sogleich in Liebe zu ihm entbrennen. Diese Liebe äußert sich u. a. in großzügigen Geldgaben an den Fremdling. Zunächst regt allerdings der König dies an, ein Vorschlag, der ihr willkommen ist:27 ‚Nu soltu, liebe tochter mein, 1735 Püssen im die armut sein. Ich laß dich im geben was du wildt, Das mich sein nummer pevildt. Gib im was dir wol pehage, Ergetz in seiner klage.‘ 1749 Das gefiel der rainen art wol: ‚Ich gib im geren, seyt ich soll.‘ 24 25
26
27
Vgl. auch WALTENBERGER (Anm. 11), S. 31. Zum Apollonius-Roman vgl. insbesondere CHRISTIAN KIENING: Apollonius unter Tieren. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hrsg. von MATTHIAS MEYER/HANS-JOCHEN SCHIEWER, Tübingen 2002, S. 415-431; WOLFGANG ACHNITZ: Babylon und Jerusalem. Sinnkonstituierung im ‚Reinfried von Braunschweig‘ und im ‚Apollonius von Tyrland‘ Heinrichs von Neustadt, Tübingen 2002 (Hermaea N.F. 98); ULRIKE JUNK: Transformationen der Textstruktur. ‚Historia Apollonii‘ und ‚Apollonius von Tyrland‘, Trier 2003 (LIR 31); ALMUT SCHNEIDER: Chiffren des Selbst. Narrative Spiegelungen der Identitätsproblematik in Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich und in Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland, Göttingen 2004 (Palaestra 321). „Die Liebe selbst geht aus der gleichen Quelle wie die Freigebigkeit hervor, und sie verhält sich nicht anders als diese. Deshalb gibt es eine natürliche Nähe von Liebe und Freigebigkeit“; HARALD HAFERLAND: Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200, München 1988 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 10), S. 180; Haferland spricht ferner von einem „Konnex zwischen Liebe und Verausgabung“; ebd., S. 181. Heinrich von Neustadt: Apollonius von Tyrland, Gottes Zukunft und Visio Philiberti. Nach der Gothaer Handschrift hrsg. von SAMUEL SINGER, Berlin 1906, Nachdruck Dublin, Zürich 1967 (DTM 7).
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‚Nun sollst Du, meine liebe Tochter, ihn von seiner Armut befreien. Ich erlaube Dir, ihm zu geben, was immer Du willst, ohne dass es mich verdrießen wird. Gib ihm, was Dir gefällt, und entgelte ihn für sein Leid.‘ Das freute die Reine sehr: ‚Ich beschenke ihn gern, da ich es soll.
püssen und ergetzen – das sind Stichworte, die auf eine Wiedergutmachungslogik verweisen, denn das edle Äußere und Gebaren des Apollonius lassen keinen Zweifel daran, dass er seinen Verlust unverdienterweise erleidet, wie im Folgenden noch deutlicher wird. Im weiteren Verlauf ergreift Lucina selbst die Initiative. Wie bei der vorausgehenden milte-Szene vollzieht sich das Geben auch diesmal im harmonischen Zusammenspiel von Vater und Tochter – er gibt seine Zustimmung, sie bestimmt die Höhe der großzügigen Gabe; milte ist gleichermaßen Ausdruck fürstlicher hövescheit wie höfischer Liebe: Sy sprach: ‚sol ich Appolonio Geben?‘ der kunig sprach do ‚Ja, vil schone dochter mein. Was du wilt, das sol sein.‘ 1810 Do sprach die vil märe Zu dem Tyrlandere: ‚Nempt, her Tyrus, nu zestund Rotes goldes zway tausend pfund Und silberis vierhundert.‘ 1815 Die geste alle wundert Das sie hette so milte handt. Sie fragte: ‚Darf ich Apollonius beschenken?‘ Der König erwiderte: ‚Ja, meine schöne Tochter. Was Du willst, das soll geschehen.‘ Da sprach die Vollkommene zu dem von Tyrland: ‚Nehmt, Herr von Tyrus, nun sogleich 2000 Pfund roten Goldes und 400 Pfund Silbers.‘ Die Gäste staunten alle, dass sie eine so freigebige Hand hatte.
Apollonius erweist sich als dankbar und preist die milte des Königs und seiner Tochter. Die fürstliche Freigebigkeit, auf die hier Bezug genommen wird, ist, wie mir scheint, keineswegs per se eine ‚totale Gabe‘, sondern ein Grenzphänomen, das z.B. aufgrund der Zirkulation von êre zur Ökonomi-
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sierung tendiert. Auch auf andere Weise kann der Gabencharakter aufgehoben werden, wie der Beginn des Apollonius zeigt: Dort werden Minne und milte ebenfalls miteinander in Verbindung gebracht. Mit Bezug auf die Negativfigur des Antiochus tadelt der Erzähler Frau Venus: Ich wil euch straffen doch ain tail; 335 Wan ir seyt gar ze milte: Ir furett an ewrm schilte Ain gebend auff stende hant. Ewr milt wird da mit geschant Das ir den swachen werett 340 Der susser mynne nie wardt wertt. Dennoch muss ich Euch ein wenig schelten – denn Ihr seid gar zu freigebig. Ihr führt auf Eurem Schild als Wappen eine schenkende, aufgereckte Hand. Eure Freigebigkeit schändet Ihr jedoch damit, dass Ihr dem Unedlen süße Liebe gewährt, der ihrer nie würdig war.
Der Begriff der milte wird hier in übertragenem Sinne verwendet; auffällig ist dabei die Versprachlichung: Die aufgereckte spendende Hand, Zeichen der Freigebigkeit, wird zum Wappen der Minne. Die Kritik am unterschiedslosen und verschwenderischen Geben der Frau Venus – das wäre ja die totale Gabe – ist genau analog zur Kritik des Strickers an unterschiedsloser fürstlicher milte,28 die vielmehr – wie hier die Minne – Unterschiede machen, nämlich ihre Gaben nach Wert und Verdienst zuteilen soll. Das rückt in die Nähe einer Relation von Leistung und Lohn und impliziert daher eine Ökomisierung der Gabe.29 Am Verhältnis zwischen Altistratis, Lucina und Apollonius bestätigt sich das, wie auch in Details der Handlung deutlich wird. So fordert der König auf Bitten seiner Tochter den Gast auf, ihr Unterricht im Harfenspiel zu erteilen; er betont dabei den Nutzen, den dieser davon haben würde, und den Wiedergutmachungsgedanken (V. 1922-1924): 28
29
Vgl. PETER STROHSCHNEIDER: Fürst und Sänger. Zur Institutionalisierung höfischer Kunst, anläßlich von Walthers Thüringer Sangspruch 9, V [L. 20, 4]. In: Literatur und Macht im mittelalterlichen Thüringen. Hrsg. von ERNST HELLGARDT/STEPHAN MÜLLER/PETER STROHSCHNEIDER, Köln, Weimar, Wien 2002, S. 85-107, bes. S. 98f.; HEDDA RAGOTZKY: Die kunst der milte. Anspruch und Funktion der milte-Diskussion in Texten des Strickers. In: Gesellschaftliche Sinnangebote mittelalterlicher Literatur. Mediävistisches Symposium an der Universität Düsseldorf. Hrsg. von GERT KAISER, München 1980 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 1), S. 77-92 (Textabdrucke S. 93-99; Diskussionsbericht S. 100-111) (zu den beiden Bispeln Die Herren von Österreich und Falsche und rechte Milte des Strickers). Vgl. STROHSCHNEIDER (Anm. 28), S. 99.
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,Es kompt dir auch zu grossen frummen: Was dir das mere hat genumen, Das will ich dir gar wider geben [...].‘ ,Es wird auch Dir von großem Nutzen sein: Was Dir das Meer genommen hat, will ich Dir alles wiedergeben.‘
Der Musikunterricht lässt nun auch bei Apollonius Gegenliebe entstehen. In dieser Situation kommen drei junge reiche Grafen an den Hof des Königs, die schon seit langem um Lucina werben. Sie treffen den König vor der Burg an und mahnen ihn, sich endlich für einen Werber zu entscheiden. Er überlässt seiner Tochter die Entscheidung selbst und schlägt vor, dass jeder der Werber sogleich einen Brief an sie schreiben möge, in dem auch die Höhe der Morgengabe anzugeben ist. Dies setzt der erste Graf sogleich in die Tat um und beginnt, in formelhaften Wendungen, mit dem Preis der Umworbenen: Alsus was der anefangk: ‚Meines hertzen wunne! Mein frewden pernde sunne! 2000 Lucina, mynnickliche magett! Were die salde mir petaget, Das ich ewr mynne solte han, So must mich alles trauren lan. [...] 2010 Und solt ich, fraue, mit euch leben, Funfftzig tausent marck wolt ich euch geben.‘ So lautete der Beginn: ‚Wonne meines Herzens! Meine freudenspendende Sonne! Lucina, liebliche Jungfrau! Wenn mir das Glück zuteil würde, Eure Liebe zu gewinnen, müsste alle Trauer von mir weichen. [...] Und dürfte ich, Herrin, mit Euch leben, so gäbe ich Euch 50.000 Mark.‘
Der zweite Graf sucht das zu überbieten – mit leicht geblümter Rede und der Erhöhung der Summe: ‚Spiegel aller salikait! 2015 Lucina, freudenreiche mait! Meiner selden obedach! Viol, rosen, lilien schmach! [...]
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Meines leibes und der sele sarch! Ich will euch sechtzigk tausent march, Fraw, zu morgengab geben, 2025 Solt ich mit kauffschaft pey euch leben.‘ ,Spiegel allen Heils! Lucina, freudenreiche Jungfrau! Gipfel meines Glücks! Veilchen-, Rosen- und Lilienduft! [...] Schrein meines Leibes und meiner Seele! Ich will Euch, Herrin, 60.000 Mark zur Morgengabe geben, wenn ich dafür in diesem Handel mit Euch leben dürfte.‘
Der Brief des Dritten bringt abermals eine Steigerung: ‚Ey werde creature! Wol gezierte figure! 2030 Lucina, schon frawe mein! Mein hail! mein trost! mein salden schrein! Es was ain wunnicklicher Tag Do Got deiner formen pflag. [...] Nu fug es, schone trosterin! Gut soll die morgengab sein, Wirt mir dann dein mynne kunt: Ich gib dir, roselotter mund, 2050 Silbers hundert tausent pfund.‘ ,Ach, vollkommenes Wesen! Wunderbare Gestalt! Lucina, meine schöne Herrin! Mein Heil, mein Trost, Schrein meines Glücks! Es war ein glücklicher Tag, an dem Gott Deine Gestalt erschuf! [...] Nun füge es, schöne Trösterin! Wird mir Deine Liebe zuteil, so soll Deine Morgengabe hoch sein: Ich gebe Dir, Du rosenfarbener Mund, 100.000 Pfund Silbers.‘
Der Bote soll Apollonius sein; er bringt die versiegelten Briefe zu Lucina, die sich im Burginneren aufhält. Die räumliche Distanz, die hier mit der Innenraum-Außenraum-Differenz angedeutet wird, hat keine weitere Funktion als die, eine ‚zerdehnte‘ Kommunikationssituation herzustellen. Zusammen mit den Werbungsbriefen der Grafen lässt der König seiner Tochter durch Apollonius eine mündliche Botschaft ausrichten: Sie möge
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sich überlegen, wen sie zum Ehemann haben wolle. Sie jedoch funde in nicht geschriben dar an / Den sy wolte zu manne han (V. 2063f.; „den Namen dessen, den sie zum Mann haben wollte, fand sie dort nicht“): Der, den sie haben will, steht ja vor ihr. Konsequenterweise sucht Lucina die face-to-face-Situation, die ja durch die Botenfunktion entstanden ist, umzulenken, indem sie ihr Gegenüber in einer Weise anspricht, die seine Funktion als Bote und Stellvertreter des Absenders, ihres Vaters, ignoriert: Sie fragt Apollonius, ob es ihm recht wäre, wenn sie einen der drei Grafen wählen würde, und versucht damit, seine Botenfunktion aufzulösen. Doch der Versuch, die Minne zwischen ihnen zu thematisieren, misslingt, denn mit respektvoller Höflichkeit und seiner Aufgabe treu bleibend bejaht er die Frage (Ja, frawe, es gefellt mir wol / Und pillich wol gefallen soll, / Wann ir seyt euwres mutes frey; V. 2069-2071; „‚Ja, Herrin, es ist mir recht, und das muss es auch, denn Ihr seid in Eurer Entscheidung frei‘“). Als Stellvertreter des Absenders macht sich der Bote Apollonius weiterhin die Position des Königs zu eigen, der die Entscheidung seiner Tochter in jedem Fall akzeptieren will (V. 2059f.). Lucina nimmt daraufhin, um ihrem Vater zu antworten, ein Wachstäfelchen 2080 Und schraib dar an ir wyderpott Synniclich und ane spot Mit vil schonen spruchen: ‚Ich will den scheffpruchen, Dem das gelucke hat gelogen 2085 Und das wilde mer petrogen.‘ [...] und schrieb darauf verständig und ernsthaft und mit schönen Wendungen ihre Antwort: ‚Den Schiffbrüchigen will ich, den das Glück hintergangen und das wilde Meer betrogen hat.‘
Das Täfelchen bringt Apollonius wieder zum König zurück, der, den Willen seiner Tochter sehr wohl begreifend, es ihm selbst zu lesen gibt. Errötend gibt Apollonius zu, dass ihm der, den Lucina meint, namentlich bekannt ist. Wieder wird er also an der Botenfunktion vorbei unmittelbar miteinbezogen. Beide Kommunikationsversuche – die Briefwerbung der Grafen und das Wachstafelbekenntnis Lucinas – lassen sich systematisch miteinander vergleichen, und zwar hinsichtlich der ‚Logik der Liebe‘, der Funktion der Schrift und der Kommunikationsstruktur. Der Zusammenhang von Liebe und ‚Ökonomie‘ kann wohl kaum deutlicher zum Ausdruck kommen als in der Werbung der Grafen. Der parodistische Effekt, der aus der unmittelbaren Abfolge von Frauenpreis-Formeln und der Nennung konkreter Geldsummen entsteht, impliziert aber
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sicher keine Kritik an einem bestimmten ‚Minnekonzept‘. Die komische Überzeichnung ihrer Sprache ist lediglich Signal dafür, dass die drei Grafen als Kandidaten ohnehin nicht in Frage kommen. Dem entspricht auch eine einfache Form ökonomischer Logik der Liebe, die nur den unmittelbaren Gabe-Gegengabe-Austausch kennt, ohne Zeitaufschub und ohne Überschüsse. Dabei wird der floskelhaften Sprache und der überzeichneten Orientierung am Ökonomischen eine Form nicht gelingender Kommunikation zugeordnet. Das Medium des Briefes ist hier eingebunden in eine Kommunikationssituation, die nicht einfach nur zerdehnt ist, sondern in der darüber hinaus die Verfasser der Briefe nicht identisch sind mit dem Absender der Botschaft – denn das ist der König. Es liegt also keine Einheit von Brief und Botschaft vor, wie sie für das Boteninstitut im Mittelalter zunächst vorausgesetzt werden kann. Das Medium der Schrift ist nicht integriert und erhält kein Eigengewicht; der Kommunikationsversuch läuft ins Leere: Die drei Grafen werden zur bloßen Kulisse der Interaktion zwischen Altistratis, Lucina und Apollonius. Einer ökonomischen Logik folgt indes, wie ich eingangs zu zeigen versucht habe, auch die Liebe Lucinas. Diese Variante einer ökonomischen Ordnung kalkuliert jedoch Zeitaufschübe und Überschussstrukturen mit ein und zielt zudem auf den Ausgleich asymmetrischer, nicht herleitbarer, nicht verschuldeter Situationen wie dem Verlust, den Apollonius durch seinen Schiffbruch erlitten hat. Auch Lucinas Wiedergutmachungstaten werden ihrerseits zuletzt belohnt: Der exzeptionell hohe Wert des Apollonius überwiegt den Wert der von den Grafen gebotenen Morgengaben bei weitem. Die Kette von Verschuldung und Wiedergutmachung, Verdienst und Lohn erstreckt sich also über mehrere Glieder, aber sie ist nichtsdestoweniger einem – allerdings komplexeren – ökonomischen Denken verpflichtet. Apollonius selbst hatte zuvor Neptun als rechte[n] trugenere angeklagt (V. 1320; „rechten Betrüger“) und sein Unglück als unverschuldet bezeichnet (Mein30 laid das det mir nicht so we, / Hiet ich es mit ichti verdienet ee; V. 1348f.; „mein Unglück würde mich nicht so schmerzen, wenn ich es in irgendeiner Weise verdient hätte“), denn ihm selbst sei Falschheit immer fremd gewesen (V. 1350-1353). Nicht zufällig weist Lucinas Umschreibung des von ihr Erwählten, die sie der Wachstafel anvertraut, mit ganz ähnlichen Worten auf diese Ungerechtigkeit hin: Dem das gelucke hat gelogen / Und das wilde mer petrogen (V. 2084f.; „den das Glück hintergangen und das wilde Meer betrogen hat“) – eine Formulierung, die wohl auch den Vergeltungsimpuls impliziert, mit dem die höfische Symmetrie im Verhältnis von Verdienst, Wert, Anerkennung und Lohn wiederhergestellt werden soll. 30
Mer B (so auch in der Ausgabe Singers); Mein D.
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Diese Form einer Liebesökonomie kommt in einer komplexen Kommunikationsstruktur an ihr Ziel, die damit spielt, dass Apollonius ja zugleich mehr als ein Bote ist: Lucinas Wachstafelinschrift spricht ja über ihn, sie bringt gleichsam ihren Referenten in physischer Präsenz mit. Dabei erhält das Medium der Schrift hier deutliches Eigengewicht. Das zeigen auch die Schlussworte von Lucinas Erwiderung: ,Wunderstu dan, herre, dich Das ain junckfrawe zuchten reich Ane scham geschriben hat? Here, das ist des31 wachses tat: 2090 Es sagt dir meinen willen gar Und schamt sich nicht umb ain har.‘ ‚Wunderst Du Dich vielleicht, Herr, dass eine tugendhafte Jungfrau dies so ohne jede Scham niedergeschrieben hat? Herr, dafür muss das Wachs einstehen: Es sagt Dir meinen Willen und schämt sich dafür nicht im geringsten.‘
Ihre diesen Versen vorausgehende Anspielung auf den Schiffbrüchigen (zit. s. o.), die einem Bekenntnis gleichkommt, können nicht in einer face-toface-Interaktion artikuliert werden; das Medium der Schrift muss zwischengeschaltet werden. An dieses können die Worte so vollständig abgegeben werden, dass auch die Scham abgegeben werden kann, und doch gleichzeitig Lucinas Worte bleiben. Durch die Funktion der Entlastung gewinnt die Wachstafelinschrift zusätzliches Gewicht.32 Die Rolle des Boten ist dagegen hier sehr viel instabiler als im Fall der Briefwerbung der Grafen. So wird der, der sie einnimmt, nicht nur Objekt der Rede Lucinas, sondern schließlich sogar ihr Adressat – wird er doch zuletzt selbst mit dem Inhalt der Tafel konfrontiert. Diese Verschiebung weist auf ein Grundprinzip des gesamten Kommunikationsprozesses hin, der sich zwischen der Trias Altistratis – Lucina – Apollonius entfaltet: Nacheinander werden hier alle Konstellationen der unmittelbaren Interaktion zwischen Zweien durchgespielt, wobei der jeweils Dritte nicht präsent ist; der König spricht, nachdem er die Wachstafel gelesen hat, zuletzt allein 31 32
das B (Singer); des AD. Es bietet sich ein Vergleich mit der Wachstafelszene mit Lavinia in Veldekes Eneasroman an. Dort ist die Situation eine etwas andere; es handelt sich im Grunde um eine face-to-face-Interaktion, die jedoch das Medium der Stimme ausspart. Demgegenüber gibt es im Apollonius eine räumliche Distanz, doch geht es wohl nicht primär darum, diese zu überwinden, sondern eher darum, die Kommunikation zu zerdehnen – und gleichsam zu diesem Zweck inszeniert der Text eine räumliche Distanz.
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mit seiner Tocher, während Apollonius vor dem Burgtor wartet, bis er ihn schließlich hereinholen lässt und ihm in Gegenwart seiner Tochter deren Zuneigung offenbart. Vom Ende her betrachtet wirkt diese Struktur wie ein mehrfacher Aufschub der face-to-face-Interaktion zu Dritt, ein Aufschub, der ohne das Medium der Schrift nicht möglich wäre. Es entsteht also ein präziser Rhythmus von Verschiebungen zwischen den drei möglichen Konstellationen, bis gleichsam das Rad einmal herumgedreht ist und alle drei sich gegenüberstehen – das ist der Punkt, an welchem das Paar zusammengegeben wird und dieser Erzählstrang zum Abschluss kommt. Mir scheint, dass hier eine ähnliche Struktur sichtbar wird wie bei der oben erwähnten komplexen Form ökonomischen Denkens, für die ebenfalls Verschiebungen und Weiterverweisungen statt unmittelbarer Vergeltung charakteristisch sind. In beiden Fällen schließt sich über Umwege und Aufschübe zuletzt der Kreis. Unterschiedliche Formen der Liebesökonomie – die Forcierung unmittelbarer Vergeltung einerseits, komplexe Strukturen der ökonomischen Logik andererseits – werden, so das Fazit zum Apollonius, mit unterschiedlichen Strukturen schriftlicher Kommunikation in Verbindung gebracht; dabei wird die erfolgreiche Form der Liebesökonomie, die ‚höfischer Reziprozität‘ entspricht,33 im Rahmen einer Kommunikationsstruktur ventiliert, in der das Medium der Schrift entscheidendes Eigengewicht erhält und Verschiebungen das Verhältnis von face-to-face-Situation und zerdehnter Kommunikation prägen. Eine andere Problematik entfaltet der Flore-Roman am Verhältnis von Schrift und Liebe, der in Szenen, die deutlich von Reziprozität und Ausgleich geprägt sind und in denen Liebe als enger Tauschzirkel gedacht ist, vor allem die literarische Repräsentation der Liebe im Medium der Schrift thematisiert. Dabei war zu beobachten, dass quer zur Abfolge vom unmittelbaren Erleben bis hin zur eigenen Literaturproduktion, die eine zunehmende Distanznahme und Reflexivität suggeriert, zugleich eine andere Tendenz entsteht, in der sich die Differenz zwischen Liebe und ihrer Repräsentation verringert. Schrift erhält somit die widersprüchlichen Implikationen einerseits der Ermöglichung von Reflexivität und andererseits der Aufhebung von Distanz.
33
Vgl. HAFERLAND (Anm. 26), S. 121-206, bes. S. 140.
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Körperzeichen, Zeichenschrift, Schriftkörper: die Liebe der Schrift in Dantes Vita nuova Die ersten Zeilen von Dantes Vita nuova, jenem wohl 1292-93 entstandenen Text, der insbesondere im vergangenen Vierteljahrhundert so häufig die Gemüter der dantisti erhitzt hat und der mit einer Vielzahl von Attributen wie erstes Prosimetrum und erster Liebesroman italienischer Sprache, Amortraktat und Autobiographie, Bildungsroman und Canzoniere etc. bedacht wird, – die ersten Zeilen der Vita nuova, von denen auch der Titel dieses Beitrags seinen Ausgang nimmt, gehören wohl, abgesehen von einigen auch separat tradierten, in Anthologien eingegangenen Gedichten, zu den am häufigsten zitierten dieses kurzen und, wie die Fülle der Ansätze zeigt, so vielschichtigen Textes: In quella parte del libro de la mia memoria dinanzi a la quale poco si potrebbe leggere, si trova una rubrica la quale dice: Incipit vita nova. Sotto la quale rubrica io trovo scritte le parole le quali è mio intendimento d’assemplare in questo libello, e se non tutte, almeno la loro sentenzia. (I)1 In jenem Teil des Buches meiner Erinnerung, vor welchem man nur wenig würde lesen können, findet sich eine Überschrift, die besagt: Incipit vita nova [Hier beginnt das neue Leben]. Unter dieser Überschrift finde ich diejenigen Worte geschrieben, welche ich in diesem Büchlein nachzuzeichnen gedenke; und wenn auch nicht alle, so zumindest ihren Sinngehalt.2
Dass dieses Incipit, das signifikanterweise ein anderes Incipit zu seinem Thema macht, so oft herausgegriffen wird, ist natürlich nicht zufällig, da es 1 2
Der Text wird, unter Angabe der Kapitel statt der Seitenzahlen, zitiert nach der Ausgabe: Dante Alighieri: Vita nuova. Introduzione di EDOARDO SANGUINETI. Hrsg. von ALFONSO BERARDINELLI, Milano 121995. Dante Alighieri: Vita Nova. Das Neue Leben. Übersetzt und kommentiert von ANNA COSERIU und ULRIKE KUNKEL (der italienische Text folgt der Ausgabe von MICHELE BARBI: La Vita Nuova di Dante Alighieri, edizione critica, Florenz 1932. Die deutsche Übersetzung ist eine vollständig neubearbeitete und revidierte Fassung der Übertragung von KARL FEDERN, Berlin 1921), München 1988.
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nicht allein das Buch selbst, sondern zugleich viele Türen zu diesem Buch öffnet. So führt es nicht nur mit dem Buch der Erinnerung und den darin geschriebenen Worten die im Mittelalter so beliebte Buchmetapher ein; vor allem verweist dieser Anfang mit der Erwähnung der sentenzia auf die große Rolle allegorischer Literatur in jener Zeit und umreißt er mit den dem Ich zugeschriebenen Aufgaben dessen vielfältige Funktionen im und für den folgenden Text. Dieses Ich führt sich nicht nur als Leser des von einem anderen Schreiber geschriebenen Buches seiner Erinnerung ein, in dem es zugleich Figur und Erzähler ist; es wählt zudem aus dem Vorgefundenen aus, was es abschreibt, und gibt dem Leser des libello zusätzlich oder an Stelle des Erinnerten dessen Deutung, fungiert also als Kopist und Kommentator in einem. Um die Gewichtung dieser unterschiedlichen Funktionen, mit anderen Worten, um die Frage, ob der Text primär allegorisch oder primär autobiographisch zu verstehen sei, kreist ein gut Teil der Forschung der vergangenen Jahrzehnte; sie soll jedoch hier weniger im Zentrum stehen als die Tatsache, dass mit diesem Incipit die Vita nuova von Anfang an unter das ‚Zeichen der Schrift‘ gesetzt wird, unter dem daher auch der erste Teil dieses Beitrags steht. Gleichzeitig gilt jedoch, dass die zahlreichen Gedichte, die in diesen Text eingehen, undenkbar sind ohne die höfische Liebesdichtung vor allem der Trobadors und der Sizilianer, eine Dichtung mithin, die wesentlich an den Körper gebunden ist und gekennzeichnet durch die Simultaneität von Präsentation und Rezeption, von „Wahrnehmung des Körpers“ oder der Stimme und „Erfahrung des präsentierten Sinns“, wie GUMBRECHT formuliert.3 Weil diese Dichtung nicht allein in den gewählten lyrischen Formen wie insbesondere Sonett und Kanzone Gegenwärtigkeit erlangt, sondern ebenso in der Sprechhaltung des Ich und mehr noch in Topoi wie dem Gruß, der Geheimhaltung, der Verspottung und Demütigung des Liebenden, dem Gerede der anderen, stellt sich die – zweite – Frage, wie solche ‚Körperzeichen‘ sich im libello manifestieren. Der dritten Frage, wie dann aber Körper und Schrift koexistieren, geht der letzte Teil des Beitrags nach, denn die Vita nuova macht schnell deutlich, dass die für das Mittelalter charakteristische „Situation der Bi-Medialität“ nicht unbedingt ein friedliches „Nebeneinander von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, von körpergebundener und schriftgebundener Kommunikation“4 impliziert; vielmehr 3
4
HANS ULRICH GUMBRECHT: Beginn von „Literatur“ / Abschied vom Körper? In: Der Ursprung von Literatur. Medien, Rollen, Kommunikationssituationen zwischen 1450 und 1650. Hrsg. von GISELA SMOLKA-KOERDT/PETER M. SPANGENBERG/DAGMAR TILLMANNBARTYLLA, München 1988 (Materialität der Zeichen), S. 15-50, hier S. 25. HORST WENZEL: Einleitung. In: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hrsg. von HORST WENZEL, Berlin 1997 (Philologische Studien und Quellen 143), S. 9-21, hier S. 11.
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kann durchaus auch ein Konflikt zwischen Körpererfahrung und Bedeutsamkeit, zwischen dem sich entziehenden Körper und dem zeichenhaften Körper entstehen. Wie präsent dieser Konflikt im ganzen Text ist, illustriert schon die autobiographisch geprägte, von Allegoriesignalen durchsetzte ‚Romanhandlung‘, die in hohem Maße stilisierte Liebesgeschichte: Der sich erinnernde Erzähler Dante berichtet nach dem zitierten Proömium zunächst von der ersten Begegnung des erlebenden Ich und Beatrices, als er neun Jahre alt ist und sie im neunten Lebensjahr. Sofort wird er von Liebe zu ihr ergriffen; neun Jahre später kommt es in der neunten Stunde zur zweiten Begegnung, bei der die gentilissima ihn eines Grußes würdigt. Diese das Ich geradezu überwältigende Geste löst zunächst die erste Vision Amors und dann das erste Sonett aus. Um die donna zu ehren und zu schützen, verbirgt das Ich sein Gefühl und bedichtet statt ihrer verschiedene donne di schermo, Frauen, die als schützender ‚Schirm der Wahrheit‘ zwischen ihr und ihm dienen. Es spielt das Spiel der simulacra so gut, dass es üble Nachrede hervorruft und Beatrice ihm bei der nächsten Begegnung den Gruß verweigert. Auf den Rat Amors hin beendet das Ich daher seine Geheimhaltungsstrategie und dichtet eine Entschuldigungs-ballata, doch wenig später kommt es zur berühmten Szene des gabbo: Die Frauen, die Beatrice umgeben, und sogar sie selbst verspotten ihn, weil er den Anblick der Geliebten nicht erträgt, sondern regelmäßig am ganzen Körper zu zittern beginnt, wenn sie in seiner Nähe ist. Durch den Rückzug in die Einsamkeit gelangt er zu der Einsicht, dass seine Seligkeit oder beatitudine nur in dem besteht, was nicht vergeht: nicht im saluto, der auch verweigert werden kann, sondern „in jenen Worten, die meine ‚donna‘ loben“, eine Wende, die sich in der programmatischen Kanzone Donne ch’avete intelletto d’amore und den weiteren Lobgedichten manifestiert. Nach einigen Vorausdeutungen wie dem Tod des Vaters von Beatrice und mehreren Visionen stirbt die gentilissima. In der Imagination erhebt sich das Ich bis zur Kontemplation der jetzt himmlischen Geliebten und fasst nach einer letzten Vision den Entschluss, nicht weiter von ihr zu sprechen, bis es würdiger von ihr sprechen könne, weil es hoffe, von ihr sagen zu können, was noch nie über jemanden gesagt worden sei. So endet das libello nicht nur mit dem visionären Blick auf den erhobenen, entzogenen Körper, sondern einmal mehr mit dem Hinweis auf die – freilich aufgeschobene – Schrift und damit auf die erste der angesprochenen Fragen.
1. Unter dem Zeichen der Schrift Mit den zitierten ersten Worten des Textes, die explizit das geschriebene ‚Buch der Erinnerung‘ vom zu schreibenden libello unterscheiden, verweist das Ich nicht nur auf den anderen, den göttlichen Schreiber, zu dem es sich
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selbst, nicht zuletzt durch die im Begriff sentenzia beschlossene Deutungshoheit, implizit analog setzt. Vor allem verweist es schon an dieser Stelle darauf, dass auch die Prosa gerade nicht einfach das ‚gewesene Leben‘, die so genannte esperienza reale5 wiedergibt, sondern die ‚Schrift des Lebens‘ ihrerseits der Deutung bedarf. Von Anfang an ist damit eine mindestens doppelte Zeit gesetzt, insofern dem ‚Erleben‘ oder dem Einschreiben in die Erinnerung das spätere ‚Abschreiben‘ und Deuten folgt. Gleich das erste Erscheinen Beatrices, quando a li miei occhi apparve prima la gloriosa donna de la mia mente (II; „als meinen Augen zum ersten Mal die glorreiche Herrin meines Geistes erschien“), insistiert auf der Erinnerungsarbeit, wenn das knapp neunjährige Kind von der gloriosa donna im Gedächtnis, d. h. wenn in der jetzigen Darstellung die damalige Erscheinung von der späteren Erinnerung überlagert wird, und noch nachdrücklicher unterstreicht die als Verdoppelung und Steigerung präsentierte zweite Begegnung mit ihren Folgen diese Nicht-Unmittelbarkeit. Wird die erste Begegnung noch unter den Verdacht eines parlare fabuloso (II) gestellt, weil den Kindheitserinnerungen nicht zu trauen sei, entstammt die Erinnerung an die zweite Begegnung bereits jenen im Gedächtnis als bedeutendere Ereignisse eingeschriebenen Worten: verrò a quelle parole le quali sono scritte ne la mia memoria sotto maggiori paragrafi (II; „werde ich [...] zu jenen Worten gelangen, die in meiner Erinnerung unter höheren Paragraphen verzeichnet stehen“). Entsprechend ist sie nicht nur Verdoppelung und Steigerung des Anfangs der Erzählung, sondern als entscheidendes Erlebnis dadurch herausgehoben, dass sie im libello in drei Varianten niedergeschrieben wird:6 als die Erscheinung der mirabile donna selbst in der neunten Stunde des Tages, die in ihrer ineffabile cortesia den ängstlichen Liebenden grüßt, dann in der neuntletzten Stunde der Nacht als Traumvision in eine allegorische Darstellung übertragen und schließlich als Sonett, in dem das Ich seinen Dichterfreunden die Vision
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DOMENICO DE ROBERTIS: Storia della poesia e poesia della propria storia nel XXII della Vita Nuova. In: Studi danteschi 51 (1978), S. 153-177, hier S. 154. JEAN ROUSSET, der sich ausschließlich mit der „scène de première vue“ in Kapitel II und III befaßt, gilt die Vita nuova als „prototype insurpassable de la rencontre sans approche, de l’apparition qui demeurera jusqu’au bout une vision à distance. […] Ce récit a ceci d’unique sans doute dans la longue série des face à face fondateurs, qu’il se construit sur le paradoxe de l’apparition et disparition, vérifiable pour chacun des deux partenaires. Osera-t-on dire qu’on assiste à quelque sublime jeu de cache-cache? La loi du secret propre à l’amour courtois contraint l’amant à s’effacer, à se taire, renonçant à la communication directe; tout se passe comme si, ne pouvant supporter la présence qui lui est révélée, il tentait, pour mieux se consumer dans sa fonction de poète, de se rendre invisible sur le plan de la fiction pour ne plus exister que dans la narration qu’il en fait, par le détour de la mémoire et des sonnets qui multiplient le long du récit les pauses méditatives; ainsi dispose-t-il des écrans devant une lumière qui l’aveugle.“ JEAN ROUSSET: Leurs yeux se rencontrèrent. La scène de première vue dans le roman, Paris 1981, S. 137-140.
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erzählt. Durch die Erinnerung an die Erscheinung in der Einsamkeit des Zimmers also, pensando di lei, wird die Vision ausgelöst; die Erinnerung an die Vision – pensando a ciò che m’era apparuto – lässt das Sonett entstehen, das der Dichter den Freunden zur Beurteilung vorlegt; und aus der Erinnerung an diese Erinnerung schließlich, aus dem Kommentar zum Sonett und den von ihm hervorgerufenen Antworten, entsteht das libello. Die diversen, hier explizit in Tag und Nacht sowie im ora und allora einander gegenübergestellten, mit pensare und giudicio gekoppelten Zeitebenen machen deutlich, dass das Erinnern kein Wiederholen ist, oder genauer: dass das Erinnern ein Wieder-Holen auf je unterschiedlichen Reflexionsstufen bedeutet, das jeweils neue und andere Verschiebungen und Verwerfungen erzeugt. Wie weit entfernt der Text von unmittelbarer Mündlichkeit ist, macht er selbst direkt nach der ersten Vision und noch vor dem ersten Sonett explizit: Pensando io a ciò che m’era apparuto, propuosi di farlo sentire a molti li quali erano famosi trovatori in quello tempo: e con ciò fosse cosa che io avesse già veduto per me medesimo l’arte del dire parole per rima, propuosi di fare uno sonetto, ne lo quale io salutasse tutti li fedeli d’Amore; e pregandoli che giudicassero la mia visione, scrissi a loro ciò che io avea nel mio sonno veduto. E cominciai allora questo sonetto, lo quale comincia: A ciascun alma presa. (III) In Gedanken an das, was mir erschienen war, nahm ich mir vor, es viele wissen zu lassen, die zu jener Zeit berühmte Minnedichter waren. Und weil ich mir damals schon von selbst Einsicht in die Kunst, in Reimen zu sprechen, verschafft hatte, nahm ich mir vor, ein Sonett zu machen, in welchem ich alle Getreuen Amors grüßte; und indem ich sie bat, mein Traumgesicht zu beurteilen, schrieb ich ihnen das, was ich in meinem Schlafe gesehen. Und ich begann also dieses Sonett, das anfängt: A ciascun’ alma presa.
Die Wendung an die berühmten Dichter, der Bezug zur bereits geübten Dichtkunst, die Entscheidung für ein sonetto, die Bitte um ein Urteil: Mit allen Mitteln macht der Text deutlich, dass zwischen ‚Leben‘ und ‚Kunst‘ ein Verwandlungsprozess liegt, dass der Kunstcharakter der Gedichte den Kunstverstand der Lesenden voraussetzt. Immer wieder wendet er sich an diese Verständigen, an chi lo intende (VII, VIII), dem das einleuchten werde, was im Gedicht zu lesen steht, und andere Adressaten als die Eingeweihten interessieren ihn nicht: propuosi di farne alcuna lamentanza in uno sonetto; lo quale io scriverò, acciò che la mia donna fue immediata cagione di certe parole che ne lo sonetto sono, sì come appare a chi lo intende (VII; „beschloß ich, darüber in einem Sonett manche Klage zu führen; dieses werde ich hier aufschreiben, weil meine Herrin der unmittelbare Beweggrund war für gewisse Worte, die in dem Sonett vorkommen, wie jenem klar wird, der es versteht“). Um das Verständnis der Gedichte zu erleichtern, geht ihnen zum einen jeweils die Erzählung in Prosa voraus, die zugleich auf den engen Bezug der Vita nuova zu den Trobadorviten in den provenzalischen Liederhand-
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schriften, den Vidas, weist; zum anderen folgt ihnen nicht immer, aber in aller Regel eine Erläuterung, die nicht nur in scholastischer Manier die Gedichte einer divisione unterzieht und sie in parti gliedert,7 sondern mit dieser divisio textus jeweils auch ihre ragione angibt, so wie in den Liederhandschriften die „Einzellieder zunehmend mit Kommentaren“, mit razos, versehen worden waren, „die ihre Fremdheit aufhellten“.8 Im Unterschied zu den Liederhandschriften, wo diese Einheit von Poesie und Prosa auf den Einzeltext begrenzt bleibt, dehnt Dante das Verfahren auf die 31 Gedichte aus, um ein einheitliches Ganzes, einen als Ganzheit verstehbaren Text zu schaffen, wie die immer wieder eingefügten Reflexionen zeigen: Appresso ciò, cominciai a pensare uno giorno sopra quello che detto avea de la mia donna, cioè in questi due sonetti precedenti; e veggendo nel mio pensero che io non avea detto di quello che al presente tempo adoperava in me, pareami defettivamente avere parlato. E però propuosi di dire parole, ne le quali io dicesse come me parea essere disposto a la sua operazione, e come operava in me la sua vertude; e non credendo potere ciò narrare in brevitade di sonetto, cominciai allora una canzone. (XXVII) Hierauf begann ich eines Tages über das nachzudenken, was ich von meiner Herrin gedichtet hatte, nämlich in diesen beiden vorhergehenden Sonetten; und als mir einsichtig wurde, daß ich nichts von dem gesagt hatte, was sie zu dieser Zeit in mir selbst bewirkte, schien mir, ich hätte lückenhaft gesprochen. Und deshalb nahm ich mir vor, Worte zu dichten, in welchen ich sagen wollte, wie ich meinte, für ihr Wirken empfänglich zu sein, und wie ihre Tugendkraft in mir waltete; und da ich nicht glaubte, dies in der Kürze eines Sonetts erzählen zu können, begann ich also eine Kanzone. 7
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Aber nur dort, wo nötig, und wiederum nur an die Verständigen, die „fedeli d’Amore“ gerichtet: „Questo sonetto non divido in parti, però che la divisione non si fa se non per aprire la sentenzia de la cosa divisa; onde con ciò sia cosa che per la sua ragionata cagione assai sia manifesto, non ha mestiere di divisione. Vero è che tra le parole dove si manifesta la cagione di questo sonetto, si scrivono dubbiose parole, cioè quando dico che Amore uccide tutti li miei spiriti, e li visivi rimangono in vita, salvo che fuori de li strumenti loro. E questo dubbio è impossibile a solvere a chi non fosse in simile grado fedele d’Amore; e a coloro che vi sono è manifesto ciò che solverebbe le dubitose parole: e però non è bene a me di dichiarare cotale dubitazione, acciò che lo mio parlare dichiarando sarebbe indarno, o vero di soperchio“ (XIV; „Dieses Sonett teile ich nicht in Teile, dieweil man die Einteilung nur macht, um den Sinngehalt der unterteilten Sache zu erschließen; da es aber durch den erläuterten Hintergrund hinreichend klar ist, bedarf es keiner Einteilung. Wahr ist, daß sich unter den Worten, in denen der Anlaß zu diesem Sonett erklärt wird, zweifelhafte Worte geschrieben finden, nämlich, wenn ich sage, daß Amor alle meine Geister tötet, und daß die des Gesichtes am Leben bleiben, wenn auch nur außerhalb ihrer Wirkstätten. Aber dieser Zweifel ist unmöglich von jemandem zu lösen, der nicht in gleichem Grade ein Getreuer Amors ist; und denen, die das sind, ist klar, was die zweifelhaften Worte auflösen könnte: und daher ist nicht gut für mich, solches Zweifeln aufzuklären, da doch mein erklärendes Reden vergebens oder aber überflüssig wäre“). WINFRIED WEHLE: Dichtung über Dichtung. Dantes Vita Nuova: die Aufhebung des Minnesangs im Epos, München 1986, S. 25. Vgl. auch: GUGLIELMO GORNI: Vita nuova di Dante Alighieri. In: Letteratura italiana. Le opere. Bd. I. Dalle origini al Cinquecento. Hrsg. von ALBERTO ASOR ROSA, Torino 1992, S. 153-186, hier S. 178-179; MICHELANGELO PICONE: Vita nuova e tradizione romanza, Padova 1979 (Ydioma tripharium 5).
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Wie das erzählende Ich an manchen Stellen Gedichte aus dem libro de la mia memoria auslässt, die dem Verständnis nichts hinzufügten, trägt es an anderen Dinge nach, deren Fehlen bei den Lesern Unverständnis erzeugen könnte. Durch solches Weglassen, Hinzufügen und In-eine-angemesseneForm-Bringen löst das Ich die Gedichte von ihrem punktuellen Anlass und stellt so sein libello in den Horizont der Dichtung, wie insbesondere der wiederum viel zitierte und kommentierte Exkurs über die Natur Amors, über Personifikation und Allegorese im 25. Kapitel zeigt.9 Um möglicher Kritik an seiner Dichtung den Wind aus den Segeln zu nehmen, beruft es sich auf Vorbilder wie Vergil, Lucan, Horaz und Ovid und fordert zugleich für die vulgärsprachliche Dichtung dieselben Freiheiten ein, wie sie der lateinischen eingeräumt würden. con ciò sia cosa che a li poete sia conceduta maggiore licenza di parlare che a li prosaici dittatori, e questi dicitori per rima non siano altro che poete volgari, degno e ragionevole è che a loro sia maggiore licenzia largita di parlare che a li altri parlatori volgari: onde, se alcuna figura o colore rettorico è conceduto a li poete, conceduto è a li rimatori. (XXV) Weil nun aber den Poeten eine größere Freiheit der Rede zugestanden wird, als den Schriftstellern in Prosa, und weil jene, die in Reimen dichten, nichts anderes sind als Poeten der Volkssprache, ist es recht und billig, daß ihnen eine größere Freiheit der Rede eingeräumt wird als den anderen, die sich in der Volkssprache ausdrücken: Wenn daher eine Redefigur oder ein rhetorischer Schmuck den Poeten gestattet wird, so ist er auch den Reimdichtern gestattet.
Kriterium sei nur, dass die Dichtung eines solchen trovatore nicht clus bleiben dürfe, sondern sich – durch Prosa, durch einen Kommentar – auf- oder erschließen lasse: degno è lo dicitore per rima di fare lo somigliante, ma non sanza ragione alcuna, ma con ragione la quale poi sia possibile d’aprire per prosa (XXV; „so ist der Dichter, der in Reimen dichtet, berechtigt, ähnlich zu verfahren, aber nicht ohne eine bestimmte Bedeutung, sondern mit einem Sinn, der sich nachher in Prosa entschlüsseln ließe“). Raffiniert schreibt das Ich so seinem libello implizit Modellcharakter zu und stellt sich damit – wie später der Erzähler Dante in der Commedia neben die Ependichter – in eine Reihe mit den Autoritäten der Zeit in Sachen Literatur, mit den Schulautoren des mittelalterlichen Kanons. Indem das Ich nicht nur die allegorische Deutung und Deutbarkeit rechtfertigt, sondern sie zudem wenig später mit seiner Auslegung der Zahl neun, mit dem Hinweis auf deren häufiges Auftreten, dem Anführen verschiedener Deutungen, dem Vorschlag einer eigenen 9
Vgl. etwa CHRISTIAN KIENING: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt a. M. 2003, S. 276-279; RÜDIGER SCHNELL: Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur, Bern, München 1985 (Bibliotheca Germanica 27), S. 381-386.
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Interpretation sowie dem Einräumen weiterer möglicher Sinnschichten exemplarisch vorführt (vgl. XXIX)10, setzt es das libello ausdrücklich als Schrift, die, wie die Heilige Schrift, der Deutung bedarf, aber auch der Deutung wert ist. Doch obwohl demnach das Büchlein sich von Anfang an als solches präsentiert, von Anfang an und bis zum Ende unter dem Zeichen der Schrift steht, zeugt es – als Schrift selbstverständlich – ebenso von Anfang an von einer großen Präsenz des Körpers, enthält es in seinen Schriftzeichen ebenso nachdrückliche Körperzeichen.
2. Körperzeichen Dass dem Körper in diesem Schriftwerk eine so bedeutende Rolle zukommt, liegt nicht zuletzt daran, dass eines der wesentlichen Strukturierungsmerkmale der Liebesgeschichte und damit auch des Textes die Reihe der Begegnungen von Ich und Beatrice konstituiert. Schon das erste Element dieser Reihe, die unmittelbar auf das Proömium folgende Schilderung der Begegnung des Neunjährigen und der knapp Neunjährigen, konzentriert sich, außer auf die äußere Erscheinung der ‚Beatrice‘, vor allem anderen auf die körperlichen Reaktionen des Ich, genauer, auf die Reaktionen der in den verschiedenen Körperorganen situierten spiriti, die alle das außerordentliche Geschehen in lateinischer Sprache kommentieren. Der im Herzen angesiedelte spirito della vita beginnt aufs heftigste zu zittern, so dass es bis ins letzte Glied sichtbar wird, der spirito animale im Gehirn, wohin alle spiriti sensitivi ihre Wahrnehmungen bringen, wundert sich über das, was die spiriti del viso verkünden, und der im Magen untergebrachte spirito naturale beginnt gar zu weinen, weil er bereits ahnt, dass es ihn in Zukunft häufig treffen wird. Von diesem Augenblick an ist das Ich, dank der Macht seiner Einbildungskraft, völlig der Herrschaft Amors unterworfen, der ihm viele Male befiehlt, das engelsgleiche Wesen aufzusuchen. Löst diese frühe Begegnung die Liebe allererst aus, überwältigt die im folgenden Kapitel erzählte zweite Begegnung neun Jahre später das Ich geradezu, so dass es sich von den Menschen zurückzieht:
10
Die Beantwortung der Frage nach Grund und Bedeutung des häufigen Auftretens der Zahl neun stimmt folglich mit der scholastischen ‚Gattung‘ der quaestio überein: „Sie ging aus von Zitaten aus Autoritäten, zeigte dann, dass andere Autoritäten den erstgenannten Texten widersprechen, holte in einem nächsten Schritt weit aus zu einer eigenen ‚Lösung‘ (determinatio) und zeigte abschließend, wie die Widersprüche der Autoritäten zu harmonisieren sind.“ KURT FLASCH: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, 2., rev. und erw. Aufl., Stuttgart 2000, S. 313.
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volse li occhi verso quella parte ov’io era molto pauroso, e per la sua ineffabile cortesia […] mi salutoe molto virtuosamente, tanto che me parve allora vedere tutti li termini de la beatitudine […]; e però che quella fu la prima volta che le sue parole si mossero per venire a li miei orecchi, presi tanta dolcezza, che come inebriato mi partio da le genti, e ricorsi a lo solingo luogo d’una mia camera, e puosimi a pensare di questa cortesissima. (III) wandte sie die Augen nach der Stelle, wo ich, ganz ängstlich, stand, und in ihrer unaussprechlichen Huld [...], grüßte sie mich mit solcher Tugend, daß ich also den Inbegriff aller Seligkeit zu schauen meinte [...]; und weil dies das erste Mal war, daß ihre Worte sich bewegten, um an mein Ohr zu dringen, spürte ich solche Wonne, daß ich mich wie berauscht von der Menge entfernte, und ich flüchtete in die Einsamkeit eines meiner Zimmer und gab mich den Gedanken an jene Höflichste hin.
Nicht nur der beseligende Gruß als bedeutungs- und folgenschwere Gebärde, auch das Zuwenden des Blicks und die gesprochenen Worte werden quasi körperlich erfahren – le sue parole si mossero per venire a li miei orecchi („ihre Worte [...] bewegten [sich], um an mein Ohr zu dringen“) – und üben eine solche Wirkung auf das Ich aus, dass es wie trunken, wie in Ekstase ist und die körperliche Nähe flieht. Doch auch die von diesem heftigen Eindruck ausgelöste maravigliosa visione übersetzt das Unverständliche in ausdrucksstarke Körperbilder. Nicht nur Amor erscheint dem Ich hier zum ersten Mal in personam, in der Gestalt eines furchterregenden segnore inmitten einer feuerfarbenen Wolke; vor allem erzählt die Vision eine signifikante Variante des im Mittelalter so beliebten Herzmäre, dessen älteste erhaltene Fassung sich in einer provenzalischen Trobadorvita findet.11 Wie dort ist der Liebende ein Dichter oder Sänger – unmittelbar danach wendet er, der sich bereits in der Kunst des Reimeschmiedens geübt hat, sich an die famosi trovatori seiner Zeit –, und wie dort muss die Dame das Herz essen und stirbt sie in der Folge. Doch während in der überlieferten Version die Dame sich selbst das Leben nimmt, wird sie hier mit Amor in den Himmel erhoben, und vor allem fehlt völlig das mit der bekannten Geschichte verknüpfte Motiv der gekränkten Gattenehre. Stattdessen signalisiert das Auffahren in den Himmel, das auf Beatrices Tod und ihre ‚Himmelfahrt‘, auf den definitiven Entzug des Körpers später im Text vorausdeutet, hier die Reinheit der Liebe, so wie die buchstäbliche ‚Inkorporierung‘ als Bild für das Begehren des Ich, für seinen unerfüllbaren Wunsch nach körperlicher Vereinigung steht. Wie die gesamte Vision demnach in Körperschrift geschrieben ist, deren Entzifferung erst durch den Verlauf der Geschichte möglich wird, ist von dieser Vision an, wie der spirito naturale im Magen vorausgesehen hatte, das normale ‚Funktionieren‘ des Körpers unterbunden: 11
Vgl. HANS-JÖRG NEUSCHÄFER: Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, München 1969 (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste 8), S. 33-43. Auf S. 33-35 findet sich der nahezu ungekürzte Text der Vida.
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Da questa visione innanzi cominciò lo mio spirito naturale ad essere impedito ne la sua operazione, però che l’anima era tutta data nel pensare di questa gentilissima; onde io divenni in picciolo tempo poi di sì fraile e debole condizione, che a molti amici pesava de la mia vista. (IV) Seit dieser Vision begann mein natürlicher Geist, in seiner Tätigkeit behindert zu werden, weil die Seele ganz dem Denken an jene Holdseligste hingegeben war; hierdurch wurde ich in kurzer Zeit von so gebrechlicher und schwacher Verfassung, daß mein Anblick viele Freunde bedrückte.
Weil dem Ich die Zeichen Amors im Gesicht geschrieben stehen – io portava nel viso tante de le sue insegne, che questo non si potea ricovrire (IV; „ich [trug] auf meinem Antlitz so viele seiner Zeichen [...], daß sich dies nicht verbergen ließ“) –, werden die Neider neugierig auf das, was es vor den anderen verbergen will, und die Blicke der anderen bestimmen auch die folgende, dritte Begegnung, die wohl in einer Kirche stattfindet: in parte ove s’udiano parole de la regina de la gloria (V; „in einer Stätte [...], wo Worte über die Königin der Herrlichkeit zu hören waren“). Von seinem Platz aus kann das Ich seine beatitudine sehen, doch auf der geraden Linie zwischen ihm und ihr sitzt eine andere gentile donna, die es, in dem Glauben, sein Blick ruhe auf ihr, häufig verwundert anblickt. Dies nehmen auch die anderen wahr und schließen daraus, sie sei die donna, deretwegen es sich so verzehre. Glücklich stellt das Ich fest, dass sein doch so verräterischer Anblick das Geheimnis noch nicht verraten hat: lo mio secreto non era comunicato lo giorno altrui per mia vista (V; „mein Geheimnis [wurde] an jenem Tage nicht durch meinen Blick anderen mitgeteilt“), und es bemüht sich nach Kräften, den Irrtum der anderen aufrecht zu erhalten, was ihm mehrere Jahre lang gelingt, zumal es, um seiner Fiktion noch größere Glaubwürdigkeit zu verschaffen, diesen ‚Schirm der Wahrheit‘ in Gedichten besingt, wie das Minneritual es verlangt: pensai di fare di questa gentile donna schermo de la veritade; e tanto ne mostrai in poco tempo, che lo mio secreto fue creduto sapere da le più persone che di me ragionavano. Con questa donna mi celai alquanti anni e mesi; e per più fare credente altrui, feci per lei certe cosette per rima. (V) gedachte ich, diese edle Frau zu einem die Wahrheit verbergenden Schirm zu machen; und ich machte dies in kurzer Zeit so offensichtlich, daß die meisten Personen, die über mich sprachen, mein Geheimnis zu kennen glaubten. Durch diese Frau verbarg ich mich einige Jahre und Monate; und um die andern in ihrem Glauben noch zu stärken, verfaßte ich für sie einige Kleinigkeiten in Versen.
Wie der Körper der gentile donna den direkten Blick abschirmt und damit verhindert, dass das Geheimnis öffentlich wird, so verhüllt auch das Gedicht an die donna-schermo die Wahrheit, das Geheimnis, dass die eigentliche Adressatin der Blicke wie der Gedichte Beatrice ist. Damit wird die donnaschermo gleichsam zur personifizierten Allegorie: Sie ist das in Körper über-
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setzte Prinzip des alieniloquium, des uneigentlichen Sprechens, zumal die ins Gesicht geschriebenen und den Körper verzehrenden Zeichen durchaus sichtbar bleiben, das ‚Anders-Reden‘ jedoch deren korrekte Entschlüsselung durch Nicht-Eingeweihte verhindert. Dass das uneigentliche Sprechen jedoch nicht nur Schutz bietet, sondern auch Gefahren birgt, wird bei der nächsten Begegnung mit Beatrice deutlich: Verärgert über das Gerede der anderen, das auch das Ich selbst in Verruf bringt, verweigert sie ihren Gruß als jenes Zeichen, in dem alles Glück des Ich liegt: quella gentilissima […], passando per alcuna parte, mi negò lo suo dolcissimo salutare, ne lo quale stava tutta la mia beatitudine (X; „verweigerte mir jene Holdselige [...], als sie an einer gewissen Stelle vorüberging, ihr über die Maßen süßes Grüßen, in welchem doch all meine Seligkeit bestand“). Um die Wirkung dieses ausgebliebenen Zeichens verständlich zu machen, erläutert das Ich seinen Lesern zunächst, welche körperlichen Konsequenzen der Gruß seiner Herrin nach sich zieht: E quando ella fosse alquanto propinqua al salutare, uno spirito d’amore, distruggendo tutti li altri spiriti sensitivi, pingea fuori li deboletti spiriti del viso, e dicea loro: „Andate a onorare la donna vostra“; ed elli si rimanea nel luogo loro. E chi avesse voluto conoscere Amore, fare lo potea mirando lo tremare de li occhi miei. E quando questa gentilissima salute salutava, non che Amore fosse tal mezzo che potesse odumbrare a me la intollerabile beatitudine, ma elli quasi per soverchio di dolcezza divenia tale, che lo mio corpo, lo quale era tutto allora sotto lo suo reggimento, molte volte si movea come cosa grave inanimata. Sì che appare manifestamente che ne le sue salute abitava la mia beatitudine, la quale molte volte passava e redundava la mia capacitade. (XI) Und wenn sie eben zum Gruß anhob, vernichtete ein Geist der Liebe alle anderen Geister der Empfindung und drängte dabei die schwächlichen Geister des Gesichtssinnes hinaus und sagte ihnen: ‚Geht, eure Herrin zu ehren‘; und er selbst blieb an ihrer Statt. Und wer Amor hätte kennenlernen wollen, der hätte es gekonnt, in Anbetracht des Zitterns meiner Augen. Und wenn diese Holdselige mit ihrem Gruß grüßte, war Amor nicht etwa ein Hindernis, das mir die unerträgliche Seligkeit hätte verdunkeln können, sondern wurde gleichsam durch ein Übermaß an Süße sogeartet, daß mein Körper, der dann vollkommen unter seiner Herrschaft stand, vielmals sich hinschleppte wie etwas Schweres, Unbeseeltes. So daß ganz offensichtlich ist, daß ihrem Gruße meine Seligkeit innewohnte, eine Seligkeit, die viele Male meine Kräfte überstieg und überforderte.
Es vermag nichts mehr zu sehen, wie überhaupt alle Sinne betäubt sind; an seinen zitternden Augen kann ein jeder Amor erkennen, und sein Körper wirkt wie ein lebloses Etwas, so sehr übersteigt die durch den Gruß verspürte Seligkeit seine Kräfte. Die Zeichen des Körpers sind eindeutig – appare manifestamente –; am Körper lässt sich das Außer-sich-Sein, die Ekstase ablesen. Entsprechende Wirkung muss zwangsläufig auch das Ausbleiben des Grußes ausüben: Nicht nur die Gebärde, sondern ineins das von ihr
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Bezeichnete wird verweigert – la mia beatitudine mi fue negata (XII) –, denn wie bei jedem Kult-Bild sind Zeichen und Bedeutung nicht zu trennen,12 und dem Ich bleiben nur amarissime lagrime, ungehörte Klagen und das Flehen um Barmherzigkeit, bis es endlich come un pargoletto battuto lagrimando einschläft und ihm wiederum Amor in einer Traumvision erscheint. Er rät ihm, die simulacra zu beenden, mithin vom uneigentlichen zum eigentlichen Sprechen überzugehen und das bisher Geheimgehaltene offenzulegen. Entstand nach der ersten Vision das an die Dichterfreunde gerichtete Sonett, verfasst das Ich nun eine ballata, die es als Botin auf den Weg zu seiner Madonna schickt, damit sie ihr mit einer demütigen Bitte um Verzeihung erkläre, warum es eine andere angeblickt habe; nur die Augen, nicht das Herz hätten sich abgewandt, denn im Herzen sei es stets ihr treuer Diener geblieben, dessen Gehorsam bis zum von ihr befohlenen Tod reiche: Con dolze sono, quando se’ con lui, comincia este parole, appresso che avertai chesta pietate: „Madonna, quelli che mi manda a vui, quando vi piaccia, vole, sed elli ha scusa, che la m’intendiate. Amore è qui, che per vostra bieltate lo face, come vol, vista cangiare: dunque perché li fece altra guardare pensatel voi, da che non mutò ’l core“. Dille: „Madonna, lo suo core è stato con sì fermata fede, che ’n voi servir l’ha ’mpronto onne pensero: tosto fu vostro, e mai non s’è smagato“. Sed ella non ti crede, dì che domandi Amor, che sa lo vero: ed a la fine falle umil preghero, lo perdonare se le fosse a noia, che mi comandi per messo ch’eo moia, e vedrassi ubidir ben servidore. (XII, V. 15-34) Mit süßem Klang, wenn du mit ihm zusammen, beginne diese Worte, sobald du um Gnade gebeten hast: ‚Meine Herrin, der mich zu Euch schickt, wünscht, wenn es Euch gefällt, sofern es eine Entschuldigung für ihn gibt, daß Ihr sie von mir vernehmt. 12
Vgl. ULRIKE LANDFESTER: Tertium datur. ‚Schrift und Bild und Körper‘ als kulturtheoretische Denkfigur. In: Schrift und Bild und Körper. Hrsg. von ULRIKE LANDFESTER, Bielefeld 2002 (Schrift und Bild in Bewegung 4), S. 9-41, hier: S. 12. Vgl. ferner HANS BELTING: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 52000, auf den sich LANDFESTER mit ihren Überlegungen stützt.
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Amor ist hier, der ihn kraft Eurer Schönheit sein Aussehen ändern läßt, nach seiner Willkür: drum urteilt selbst, warum er ihn eine andere anschauen hieß, dabei er doch sein Herz nicht wandelte.‘ Sag ihr: ‚Meine Herrin, sein Herz ist von so steter Treue gewesen, daß jeder Gedanke ihm eingeprägt hat, Euch zu dienen: Früh war er Euer, und ist nie weniger geworden.‘ Wenn sie dir keinen Glauben schenkt, sag ihr, sie möge Amor fragen, der die Wahrheit kennt: Und am Ende bitte sie untertänig, falls die Verzeihung ihr widerstreben sollte, mir durch einen Boten zu befehlen, daß ich stürbe, und man wird einen guten Diener gehorchen sehen.
Doch trotz dieser Entschuldigungs-ballata und trotz des nun eigentlichen Sprechens sind die Schwierigkeiten nicht beseitigt, wie die folgende Begegnung illustriert, die wiederum den Körper zum allen lesbaren Text macht: Das Ich verspürt links in der Brust ein unerklärliches Zittern, das sich sofort auf den gesamten Körper ausdehnt, muss sich festhalten, hebt die Augen und erblickt unter den Frauen Beatrice, so dass ihm wieder alle Sinne schwinden, es sich selbst nicht mehr kennt – io fossi altro che prima – und die Frauen sich gemeinsam mit Beatrice in der berühmten scena del gabbo über es lustig machen (vgl. XIV). Erst wenn es außer Sichtweite Beatrices ist, erwachen seine toten Geister wieder zum Leben, kehren die vertriebenen an ihren ursprünglichen Ort zurück und kann das Ich das Geschehene erklären, doch erneut bleiben ihm nur der Rückzug in die Einsamkeit und das Weinen nach dem körperlichen Außer-sich-Sein, ein Rückzug, der nach diesem Gipfelpunkt die Wende bewirkt: die Unabhängigkeit von der Huld der donna, weil dank der Huld oder merzede Amors die Seligkeit nunmehr in quelle parole che lodano la donna mia (XVIII) beschlossen liegt. In dieser matera nuova e più nobile che la passata (XVII), im Lob der donna, das zugleich mit einem neuen modo verbunden ist (XIX), liegt die Neuheit des neuen Dichtens, ihr fine […] novissimo (XVIII). Sämtliche Begegnungen, die der Text erzählt, von der ersten, die die unerhörte Wirkung auf den ganzen Körper schildert, bis zu dieser fünften und letzten, die den endgültigen Verzicht auf die körperliche Präsenz bewirkt, erscheinen demnach als konsequenzenreiche Schlüsselszenen, insofern es eben die fünf Begegnungen sind, die das gesamte Geschehen auslösen: das Lieben zuerst und dann das Dichten, als drittes das Verbergen und als viertes das Offenlegen, und schließlich das Abbrechen des bisherigen Weges, den Wendepunkt in der Geschichte dieses Ich und den Beginn einer neuen Dichtweise. Zumindest auf einen ersten Blick ist damit ein Weg vom Körper zur Schrift zurückgelegt, ein Weg, der von der konkreten, aktuellen Situation, wie sie die Werbungssituation der Minnedich-
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tung entwirft, zur von Raum, Zeit und vor allem Körper unabhängigen Imagination als dem neuen Raum dieses Dichtens führt. Dass damit jedoch längst nicht alles über den komplexen Text gesagt ist, darauf deutet nicht allein die Tatsache, dass das libello an dieser Stelle keineswegs an seinem Ende angekommen ist. Gegen einen solch einsinnigen Prozess spricht insbesondere, dass sich das Bedauern des Ich ob seiner Vergangenheit, das Petrarcas berühmten Vers aus dem Eröffnungsgedicht des Canzoniere, di me medesmo meco mi vergogno, vorwegzunehmen scheint, sich nicht auf allzu große Körperlichkeit richtet, sondern wiederum auf die Schrift, auf sein bisheriges Dichten, das nun als mangelhaft erscheint: quasi vergognoso mi partio da loro, e venia dicendo fra me medesimo: ‚[…] perché altro parlare è stato lo mio?‘ (XVIII; „recht beschämt [ging ich] von ihnen und kam dahin, bei mir selbst zu denken: ‚[...] warum habe ich je von anderem geredet?‘“). Und in der Tat enthüllt ein zweiter Blick auf die fünf Begegnungen, dass sie nicht nur die Bewegung des Textes bis zu dieser Stelle bedingten, sondern das Ich sich mit ihnen quasi an den Topoi des Minnesangs abarbeitete, an Topoi, die viel mehr als nur Hilfsmittel bei der inventio eines Liebeslieds sind: Der Anblick und die Geste des Grußes, das Geheimnis und die demütige Bitte um Verzeihen sowie schließlich die Verspottungsszene dienen alle dazu, die Körperlichkeit der unmittelbaren Begegnung und die Momente der mündlichen Darbietung zu inszenieren, wie sie die Trobadorlyrik charakterisieren. Es geht folglich nicht allein um eine Sublimierung des körperlichen Begehrens mit den Mitteln christlicher Metaphysik; der Kampf, den der Text ausficht, ist zugleich einer zwischen zwei konkurrierenden Medien, zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, und es ist vor allem ein Kampf zwischen unterschiedlichen Dimensionen von Schrift wie von Körper.
3. Körperschrift und Schriftkörper Bekanntermaßen bewirkt der Wechsel von der mündlichen zur schriftlichen Kommunikation eine „Entlastung der Sinnübertragung vom hic et nunc eines […] Körpers“, so dass eine „Kommunikation […] über die Grenzen von Zeit und Raum“ hinweg möglich wird.13 Auf eben diese Funktion bezieht sich ausdrücklich auch die Vita nuova, wenn das Ich ein Gedicht verfasst, das die Wirkung der donna auf ihre Umgebung gleichsam auf Dauer stellen soll:
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HORST WENZEL: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 203.
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propuosi di dicere parole, ne le quali io dessi ad intendere de le sue mirabili ed eccellenti operazioni; acciò che non pur coloro che la poteano sensibilemente vedere, ma li altri sappiano di lei quello che le parole ne possono fare intendere. (XXVI) [ich nahm mir vor] Worte zu dichten, in denen ich ihr wunderbares und hervorragendes Wirken zu verstehen gäbe; auf daß nicht bloß jene, die sie leibhaftig sehen konnten, sondern auch andere von ihr das erführen, was Worte davon begreiflich machen können.
Nicht zufällig handelt es sich dabei um ein Gedicht, das wieder den Gruß und seine Wirkung zum Anlass nimmt, wie bereits das erste Quartett dieses wohl berühmtesten Sonetts von Dante überhaupt ausspricht: Tanto gentile e tanto onesta pare la donna mia quand’ella altrui saluta, ch’ogne lingua deven tremando muta, e li occhi no l’ardiscon di guardare. (XXVI, V. 1-4) So edel und so sittlich gut erscheint meine Herrin, wenn sie andere grüßt, daß jede Zunge zitternd verstummt, und die Augen es nicht wagen, sie anzuschauen.
Auch das folgende Sonett soll jenen, denen der Anblick der donna nicht vergönnt ist, kundtun, wie sie von allen geehrt und gelobt wird: volendo manifestare a chi ciò non vedea, propuosi anche di dire parole, ne le quali ciò fosse significato (XXVI; „da ich [...] willens war, es denen zu offenbaren, die dergleichen nicht sehen konnten, nahm ich mir vor, darüberhinaus Worte zu dichten, in welchen dies bezeichnet würde“); der Übergang zum stilo de la sua loda, von der konkret erfahrenen Situation zu ihrer Reflexion impliziert demnach zugleich den Übergang von der individuellen zu einer verallgemeinerten Erfahrung, wie auch die dem Sonett Tanto gentile vorausgehende Prosa nicht nur die Pluralisierung der Redeinstanz signalisiert – Diceano molti […]. E altri diceano […]. Io dico […] (XXVI; „Viele sagten [...]. Und andere sagten [...]. Ich sage [...]“) –, sondern durch die Anrufung der Zeugen das Gesagte beglaubigt: di questo molti, sì come esperti, mi potrebbero testimoniare a chi non lo credesse (XXVI; „dies könnten mir viele aus eigener Erfahrung bezeugen vor denjenigen, die es nicht glauben möchten“). Das mündliche Zeugnis der Vielen bestätigt das individuelle schriftliche Zeugnis und illustriert so das Ineinander der beiden Medien.14 14
Die Passage zeigt den „langsamen ‚Übergang‘ von der Mündlichkeit“, den man sich „nicht zu einfach vorstellen [darf]“, weil er als Prozess, als ein Hin und Her geschieht, in dem etwa persönliche Zeugenschaft und schriftliche Urkunden einander gegenüber stehen. Vgl. WENZEL (Anm. 12), S. 360-361.
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Dennoch dient die Schrift nicht allein dazu, ein – von vielen mündlich bestätigtes – Zeugnis abzulegen, das die Zeiten überdauert und auch jene erreicht, die der selig machenden Beatrice nicht selbst begegnen, sondern in anderen Räumen oder Zeiten zu Hause sind. Einen Hinweis gibt bereits der Kommentar des Ich zum Urteil der anderen, die Beatrice einfach als Wunder bezeichnen und Gott für sie danken: Io dico ch’ella si mostrava sì gentile e sì piena di tutti li piaceri, che quelli che la miravano comprendeano in loro una dolcezza onesta e soave, tanto che ridicere non lo sapeano; né alcuno era lo quale potesse mirare lei, che nel principio nol convenisse sospirare. (XXVI) Ich sage, daß sie sich so huldvoll und so reich an Liebreiz zeigte, daß jene, die sie ansahen, eine reine und zarte Wonne umfing, so sehr, daß sie es nicht zu schildern wußten; und keinen gab es, der sie hätte anschauen können, ohne sogleich seufzen zu müssen.
Die Entscheidung für die Schrift liegt in der Emotionalität des Liebenden begründet, der sich – als Dichter – weder mit der topischen Unsagbarkeit, dem ridicere non lo sapeano der anderen, noch mit dem bloßen sospirare begnügen will, aber erkennen muss, dass nicht erst eine räumliche Trennung oder das Vergehen der Zeit, sondern schon die Heftigkeit des Begehrens das Vergessen und damit die Unmöglichkeit von Erfahrung bewirkt, wie das Ich nach der gabbo-Episode und vor der Entscheidung für die nuova matera lebhaft vor Augen stellt, indem es sein Begehren und seine bereits erlittenen Leiden personifiziert: sì tosto com’io imagino la sua mirabile bellezza, sì tosto mi giugne uno desiderio di vederla, lo quale è di tanta vertude, che uccide e distrugge ne la mia memoria, ciò che contra lui si potesse levare; e però non mi ritraggono le passate passioni da cercare la veduta di costei. (XV) sobald ich mir ihre wunderbare Schönheit vorstelle, [ergreift mich] sogleich ein Verlangen [...], sie wirklich zu sehen, und [...] dieses [ist] von solcher Wirkungsmacht [...], daß es in meinem Gedächtnis tötet und vernichtet, was sich dagegen erheben könnte; und deshalb halten mich die vergangenen Leiden nicht davon ab, ihren Anblick zu suchen.
Das Begehren also zerstört und tötet im Gedächtnis, was sich gegen das Begehren erheben könnte; die vergangenen Leiden haben nicht die Kraft, das Ich zurückzuziehen, es davon abzuhalten, jenen Anblick zu suchen, der ihm alle Lebensgeister entzieht, es wie tot sein lässt. Wenn also die – körperliche – Liebe hier zur Aporie wird, so nicht in der Weise, dass die donna sich dem werbenden Sänger per definitionem entziehen muss, nicht in der Weise des Minnerituals, das sich nur um den Preis der Berücksichtigung dieser Spielregeln fortsetzen lässt, sondern weil der Körper Einspruch erhebt. Der Liebeskrieg, der in der battaglia d’Amore ebenso wie in den Verben
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assalire, pugnare, disconfiggere überdeutlich präsent ist, findet nicht zwischen der abweisenden Herrin und dem werbenden Liebenden statt, sondern im Innern des Ich. Dessen Erinnerung reicht nur so weit, dass es sich ein Bild davon macht, wie Amor es zurichtet – la mia memoria movesse la fantasia ad imaginare quale Amore mi facea (XVI; „mein Gedächtnis [bewog] meine Einbildungskraft dazu [...], sich vorzustellen, was Amor aus mir machte“) –, aber es stellt nicht den Zusammenhang mit dem Körper der donna her: Jedes Mal aufs neue vergisst es, dass der Glaube, der Anblick der Geliebten werde es in dieser Schlacht verteidigen, sich als Irrglaube erweisen wird, weil die Nähe des geliebten Körpers Lebensentzug bewirkt: cotale veduta non solamente non mi difendea, ma finalmente disconfiggea la mia poca vita (XVI; „wie dieser Anblick mich nicht nur nicht schützte, sondern mein weniges Leben endgültig zerstörte“). Die battaglia d’Amore ist eine Schlacht der unterschiedlichen Vermögen des Ich, eine Schlacht von Begehren und Vernunft oder auch, wie kurz zuvor, eine Schlacht unterschiedlicher Gedanken, die dem Ich seine Ruhe rauben: mi cominciaro molti e diversi pensamenti a combattere e a tentare, ciascuno quasi indefensibilemente; tra li quali pensamenti quattro mi parea che ingombrassero più lo riposo de la vita. (XIII) viele und verschiedenartige Gedanken [begannen] mich anzufechten und zu versuchen, fast jeder davon auf unwiderstehliche Weise; unter diesen Gedanken schienen mir vier die Ruhe des Lebens am meisten zu stören.
Zwischen den vier Gedanken, die das folgende Sonett in anaphorischer Reihung antithetisch nebeneinander stellt und die vier Liebeskonzeptionen, vier Poetiken entsprechen,15 ist das Ich hin- und hergerissen quasi come colui che non sa per qual via pigli il suo cammino, e che vuole andare e non sa onde se ne vada (XIII; „fast wie einer, der nicht weiß, welchen Weg er für seinen Gang einschlagen soll und der gehen möchte, und weiß nicht wohin“): ch’altro mi fa voler sua potestate, altro folle ragiona il suo valore, altro sperando m’apporta dolzore, altro pianger mi fa spesse fiate (XIII, V. 3-6) daß einer mich dessen Herrschaft wünschen läßt, ein anderer erklärt, seine Macht sei Wahnsinn, ein weitrer bringt mir in der Hoffnung Süße, ein anderer wieder läßt mich häufig weinen […]. 15
Vgl. hierzu vor allem PICONE (Anm. 8) sowie dessen zahlreiche Aufsätze zu diesem Text, insbesondere: MICHELANGELO PICONE: Il prosimetrum della Vita Nova. In: Studi e problemi di critica testuale 15 (1977), S. 50-61.
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Die amorosa erranza (V. 11), in der sich das Ich befindet, enthüllt sich als ein Umherirren in den verschiedenen Arten, von Liebe zu reden; die Metaphern, die andernorts dazu dienen, die Liebe zu illustrieren – das Umherirren, der Kampf oder die Schlacht –, verschieben sich hier zu Metaphern für das Schreiben und deuten in dieser verdächtigen Identität darauf, dass es sich – lange vor der so genannten Entkörperlichung der Dame – um eine Liebe der Schrift im doppelten Wortsinn handelt: eine Liebe der Schrift als genitivus subiectivus, insofern diese Liebe fast ausschließlich in der Schrift existiert, und als genitivus obiectivus, insofern sie wesentlich aus der Liebe, die der Dichter der Schrift entgegenbringt, entsteht. Denn schon zu Beginn hatte das Gedicht als Gruß an die Dichterfreunde Beatrices Geste des Grußes in der Schrift wiederholt, und auch die erwähnten Sonette, deren Schrift Beatrice verewigen soll, machen deutlich, dass die von der donna und die vom Gedicht ausgeübte Wirkung dieselbe ist: Ihr Anblick verschafft dolcezza al core (XXVI, Tanto gentile, V. 10; „[gibt] dem Herzen Wonne“), und wer das Gedicht liest und sich folglich ihrer erinnert, kann nicht umhin, vor dolcezza d’amore zu seufzen (XXVI, Vede perfettamente, V. 14; „der Liebe Süße“) – wie in den vielen Sonett-Dialogen oder tenzoni der Zeit wird die Korrespondenz zusätzlich durch den von einem Sonett zum nächsten weitergereichten Reim unterstrichen. Im Laufe des Textes findet mithin eine sprechende Umkehrung statt: Bewirkte anfangs die Erinnerung an die Erscheinung Beatrices das Buch, so bewirkt nun das Buch (als Erinnerung) die Wirkung Beatrices und wird buchstäblich zum Supplement, das zum einen als Ergänzung fungiert, indem es Beatrice auch in jenen Räumen oder Zeiten präsent macht, wo sie nicht ist, zum anderen sich letztlich an ihre Stelle setzt, insofern die eigentliche Seligkeit, der fine […] novissimo, im Gedicht oder im Dichten selbst, in der Schrift dieser Liebe, besteht. Wichtiger aber noch als dieser supplementäre Charakter der Schrift ist das Verschieben durch den Aufschub, den die Schrift gewährt, ein Verschieben, das sich immer wieder daran zeigen lässt, dass die Gedichte keineswegs nur das zuvor in Prosa Erzählte wiederholen (oder vorwegnehmen, gemäß der Entstehungsreihenfolge, wie der Text sie darlegt), sondern grundlegend anderes sind, etwa aus der Todesvision, aus der erronea fantasia und dem fallace imaginare, das die Prosa schildert, eine amorosa cosa da udire machen (XXIII), genauer, die große Kanzone Donna pietosa e di novella etate, die nicht zufällig als 16. von 31 Gedichten genau das Zentrum markiert und über vielerlei zahlensymbolische Elemente mit dem Ganzen verwoben ist.16 Das von der Schrift verursachte Verschieben wird noch offensichtlicher im Zusammenhang mit jener Grenze, die der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht gesetzt ist und die auf ein Jenseits als Horizont des Danteschen Textes deutet, im Zusammenhang mit dem Tod selbst. Der Tod der Geliebten, der das Dichten einer Kanzone unterbricht, ist selbst unsagbar; daher tritt als ‚andere Rede‘ an seine Stelle zum einen ein Zitat
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aus den Klageliedern Jeremias in lateinischer Sprache (XXVIII), zum anderen und vor allem die allegorische Deutung der Zahl neun, die für Beatrice steht und sie zum Wunder erhebt (XXIX): wieder ein buchstäbliches Anders-Reden, ebenso wie das Sonett, um das der Freund bittet, ohne zu sagen, dass es für Beatrice ist, so wie das dichtende Ich ihm nicht verrät, dass es im Grunde in seinem eigenen Namen geschrieben ist (XXXII). Wo die mündliche Situation aufgrund der emotionalen Betroffenheit beider Fiktionen entlarven und die scheinbar persönliche Klage als Rollengedicht vorführen würde, erlauben die Verwandlung in Schrift und die Ablösung von der konkreten Situation die vorgeschobene Adressatin ebenso wie den vermeintlichen Sprecher. Dank der Schrift kann ein Sonett demnach nicht nur zwei unterschiedliche Anfänge besitzen, die nebeneinander existieren, ohne dass das Gedächtnis den einen durch den anderen überschreibt (XXXIV); dank der bloßen Pronomen statt der für die Rede einstehenden Personen, wie Platon sie in seiner Verurteilung der Schrift im Phaidros eingefordert hatte, kann vor allem die Klage weitergereicht werden, können, wie in der Folge, unterschiedliche Strophen zu einem Gedicht zusammengefasst werden, so dass allenfalls derjenige, chi sottilmente le mira (XXXIII; „wer sie [...] genau betrachtet“), die Verschiebung vom einen zum anderen Sprecher bemerkt. Der Tod als Bild für die äußerste Grenze mündlicher Kommunikation und als Auslöser all dieser Schriftexperimente wird damit in besonderem Maße zu einer Reflexion über die unterschiedlichen Bedingungen und Möglichkeiten beider Medien, zu einer Reflexion über die Möglichkeiten der Kommunikation, die außer durch das Vergessen, durch räumliche Ferne und unterschiedliche Zeiten auch bedroht ist durch die Unverfügbarkeit des Du, die sich etwa in der Verweigerung des Grußes oder in der prinzipiellen Unerreichbarkeit manifestiert, ebenso wie durch die Unverfügbarkeit des Ich selbst, das dem eigenen Körper, dem übermächtigen Begehren wie dem Schwinden der Lebensgeister, ausgeliefert ist. Gerade an der unüberschreitbaren Körperlichkeit des Todes, der das Supplement der Schrift fordert, wird deutlich, dass es in der Vita nuova nicht einfach um eine Op-
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Beispielsweise besteht das Gedicht aus 84, also zweimal 42 Versen, und 42 ist die Zahl, die gematrisch für den Namen Dante steht und der Zahl der Kapitel des gesamten Werks entspricht. Erzählt dieses Werk als Ganzes Dantes vita nova, wie das erste Kapitel angekündigt hatte, so stellt das Gedicht in der Mitte dessen altes und neues Leben nebeneinander. Genau in V. 42 heißt es: Morra’ti, morra’ti („Du wirst sterben, sterben wirst du“), während am Ende, nachdem die Engel in V. 61, dessen Zahl auf den Namen Beatrice verweist, die Selig-Machende mit dem Ruf Osanna gegrüßt haben, das Ich dem alten Leben abgestorben ist und durch die Schau der ‚schönen Seele‘ die Seligkeit erlangt: – Beato, anima bella, chi te vede! – Voi mi chiamaste allor, vostra merzede (V. 83f.; „‚Selig der, schöne Seele, der dich schaut!‘ Da aber rieft ihr mich, Dank sei eurer Güte“).
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position von Körper und Schrift, von Mündlichkeit und Schriftlichkeit geht, sondern vielmehr um ein ‚sottilmente mirare‘, um das genaue Hinsehen, das statt des Gegensatzes eine vielfältige Überschreitung vermeintlicher Eigenheiten offenbart. So werden nicht nur die Körper zu Zeichen – etwa wenn Beatrice anfangs rot gekleidet erscheint, beim zweiten Mal weiß und in der letzten Vision wieder rot – oder auch zur Einschreibfläche, dank der das Ich lesbar wird wie ein Text; auch die Schrift wird zu Körper, wie sich an vielen Stellen des Textes zeigt. Auffälligstes Beispiel solcher Verkörperung oder ‚Verkörperlichung‘ ist sicherlich die Verwandlung des Gedichts in einen Boten, wie sie die große Entschuldigungs-ballata inszeniert und dabei weit über jene Wendung an die Kanzone hinausgeht, die auch in provenzalischer Lyrik, etwa bei dem von Dante so geschätzten Arnaut Daniel,17 bereits vorkommt. Schon bei Giacomo da Lentini, dessen Gedichte sich von der topischen Werbungssituation der provenzalischen Dichtung abwenden, findet sich in der Kanzone Meravigliosamente eine Reflexion über die Medialität seines Dichtens, die wie eine Umkehrung der Platonischen Kritik an der Schrift klingt.18 Zum einen spricht die Kanzone von der Unfähigkeit, der Geliebten zu begegnen, sie anzuschauen; zum anderen wird eben diese unerträgliche Situation 17
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Etwa am Ende der Kanzone Quan chai la fuelha, die mit den Worten schließt: Vai t’en chansos. denan lieis te presenta. que s’ill no fos. no-i meir’ Arnautz s’ententa. („Brich auf, Kanzone, geh zu ihr; wäre es nicht für sie gewesen, hätte Arnaut sich dieser Mühe nicht unterzogen.“) In: Mille et cent ans de poésie française. De la Séquence de Sainte Eulalie à Jean Genet. Hrsg. von BERNARD DELVAILLE, Paris 1991, S. 154. Während Platon im Phaidros (274c-278b) an der Schrift erstens moniert, sie schwäche das Gedächtnis, da sie sich auf eine äußere Stütze, auf fremde Zeichen verlasse, unterstreicht Giacomo da Lentini, das geschriebene Gedicht entstehe eben aus der Erinnerung und halte das Bild lebendig, statt das Vergessen zu befördern. Gegen den zweiten Einwand Platons, die Schrift biete nur einen stummen Text, sie könne keine weitere Erklärung geben, sondern immer nur dasselbe wiederholen, führt das Gedicht vor, dass die konkrete Situation der Begegnung gerade die Rede verhindert, dass sie verstummen lässt und folglich die ‚Rede‘ mit der Geliebten nur als geschriebene möglich ist. Dem dritten Vorwurf, die Schrift kursiere auch unter jenen, für die sie nicht bestimmt sei und die sie nicht verstünden, während die mündliche Rede sich an einen ausgewählten Kreis von Adressaten richte, steht entgegen, dass gerade der mündliche Vortrag des Gedichts die Gegenwart derer bewirke, für die diese Rede nicht bestimmt sei, während die Schrift den Rückzug in die Privatheit der stillen Kammer gestatte und so eine ganz neue, eigene Form der Unmittelbarkeit erzeuge. Und auch der Kritik, die Schrift ermögliche die Ablösung von der konkreten Gesprächssituation und damit vom Vater oder Autor der Rede, so dass vieles in einer geschriebenen Rede aufgrund der Abwesenheit des Autors, der nicht mit dem Ernst seiner ganzen Person für die vorgebrachte Lehre einstehen müsse, zwangsläufig nur Spiel sei, hält das Gedicht entgegen, erst die Schrift könne, dank dieser Ablösung und der damit möglichen Reflexion, über das eigene Ich, das sich ob der Überwältigung durch die Emotionen nicht mehr (er-)kennt, Klarheit schaffen, eben weil es nicht mehr im Spiel der höfischen Geselligkeit, im Ritual des Liebeswerbens, befangen ist, sondern gleichsam sich selbst in vollem Ernst und unausweichlich gegenübersteht.
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der Unmittelbarkeit zum Anlass für das Gedicht, das selbstbewusst als neues Dichten präsentiert wird, als eine canzonetta novella, die eine nova cosa besingt. Auch hier entsteht die Schrift aus der Erinnerung und hält das Bild lebendig, vermag sie das Verstummen in der Situation der Unmittelbarkeit zu überwinden und verschafft sie Klarheit über das eigene Ich, das sich selbst fremd – altro che prima – geworden ist.19 Eben diese Reflexion greift die Vita nuova auf und integriert sie in einen umfassenden Zusammenhang: Es ist Amor, der dem liebenden und dichtenden Ich den Auftrag gibt, das Botengedicht zu verfassen und auf den Weg zu schicken: Queste parole fa che siano quasi un mezzo, sì che tu non parli a lei immediatamente, che non è degno (XII; „Aber mach, daß deine Verse wie ein Mittler seien, so, daß du nicht unmittelbar zu ihr sprichst, was sich nicht ziemt“), und entsprechend dieser Auffassung von der Lyrik als Medium wendet sich statt des Ich die ballata an die donna (vgl. XII, V. 18-24). Nicht nur thematisiert die oben zitierte Kanzone, dass das Außen und Innen, die vista und ’l core, im Widerstreit sind; vor allem wird sie selbst als Botin, als „Verkörperung der Botschaft“, zum Sinnbild dafür, dass, wie WALTER HAUG schreibt, „eine Schranke zwischen Innen und Außen, zwischen Leidenschaft und Bekenntnis“ bleibt, dass Innen und Außen, anders als beim beide vermittelnden Geständnis, nicht übereinstimmen20. Was beim Blick auf das einzelne Gedicht als Manko erscheinen könnte – die Notwendigkeit des Boten aufgrund der Unfähigkeit zum Geständnis –, relativiert sich beim Blick auf den gesamten Text. Denn gerade indem der Schriftkörper an die Stelle des eigenen Körpers gesetzt wird, eröffnet sich eine Vielzahl von Möglichkeiten für alle Aspekte der Kommunikation.21 So erlaubt das Gedicht als schermo oder ‚Schutzschild‘ die in der konkreten Situation festgelegten Möglichkeiten aufzufächern; die Schrift wird Körper, der sich als Verhüllung zwischen die Liebenden stellt; aber zugleich, eben weil sie erscheinender Körper ist, verbirgt sie das Verbergen, indem sie zwar das Innen nach außen dringen lässt, sich jedoch an eine falsche Adressatin richtet. Umgekehrt vervielfältigt sich in den für den 19 20 21
Vgl. MICHAEL BERNSEN: Die Problematisierung lyrischen Sprechens im Mittelalter. Eine Untersuchung zum Diskurswandel der Liebesdichtung von den Provenzalen bis zu Petrarca. Tübingen 2001 (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie 313), S. 241-248. WALTER HAUG: Das Geständnis. Liebe und Risiko in Rede und Schrift. In: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hrsg. von HORST WENZEL, Berlin 1997 (Philologische Studien und Quellen 143), S. 23-41, hier S. 30. Schon die ballata selbst evoziert mit Worten wie servir und ben servidore den Minnedienst, in dem der treue Diener, sollte sie nicht verzeihen, sondern seinen Tod verlangen, auch in diesem Punkt gehorchen werde; sie entlarvt aber diesen Gehorsam bis in den Tod als Topos, weil sie als Schriftkörper gerade den Körper des Ich überflüssig macht. Möglicherweise ist auch der Provenzalismus smagato (V. 28) als Hinweis auf die herbeizitierte, aber bereits verlassene Welt der Trobadorlyrik zu verstehen.
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anderen, aber doch über die eigene Trauer geschriebenen Gedichten das sprechende Ich, so dass das Sonett wie ein vom Ich abgelöster Körper wird, der unabhängig von ihm als seinem ‚Autor‘, losgelöst von der Situation des Redenden weiterleben kann22. Als ein solches vom einmaligen Anlass sich lösendes Objekt war bezeichnenderweise bereits das erste Sonett der Vita nuova eingeführt worden, das, gerichtet an andere Dichter mit der Bitte um ein Urteil, die Funktionen eines Briefs übernimmt: Es geht von vornherein als ein Körper aus Schrift in den Text ein und transzendiert die in der Folge der Begegnungen evozierte Situation der Unmittelbarkeit und der Mündlichkeit; mehr noch, es wird zum Zeichen für die Schrift selbst, in deren Zeichen die ganze Liebesgeschichte steht. Und selbst dort, wo das Ich in eigenem Namen spricht, wo es der donna die Zerrissenheit seines zwischen Innen und Außen gespaltenen Ich schildert, löst sich die Schrift gewordene Rede vom Ich selbst ab, werden die Sonette zu Erzählern, zu narratori di tutto quasi lo mio stato (XVII), den die mündliche Rede ebenso wenig wie der eigene Körper zuverlässig und umfassend vermitteln kann. Freilich ist mit solchem nach außen verlagerten Erzählen des Innen, mit der Zerrissenheit des Ich zwischen seinem Empfinden und seinem Körper und mit der Schrift als anderem Körper, der den Körper der anderen supplementiert, nicht eine Vereinnahmung von Dantes Text als Beispiel für ‚neuzeitliche Subjektivität‘, für ein ‚modernes, gespaltenes Individuum‘ gemeint; vielmehr steht hinter den vorgestellten Überlegungen der Gedanke, dass sich zu jeder Zeit „das Subjekt in seinem Konfliktcharakter als Grenzraum sich gegenseitig in Frage stellender Erkenntnis- und Wertbereiche definiert“ und folglich „die Geschichte der Subjektivität wesentlich im Neubestimmen und Neuverhandeln solcher Grenzen und Wertsphären“ besteht.23 Vor einer modernistischen Vereinnahmung ebenso wie vor einer eindimensionalen teleologischen Lektüre warnt in – zumindest aus heutiger Sicht – fast ironischer Weise eine letzte Körperinschrift kurz vor Ende des Textes. Die gentile donna giovane e bella molto (XXXV), die den Trauernden voll Mitleid aus ihrem Fenster anblickt, zeigt nicht nur selbst in ihrer Blässe die Zeichen der Liebe – d’un colore palido quasi come d’amore (XXXVI) –; auch das
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„Die Rede von der ‚Situation‘ des Redenden zu abstrahieren, sie ‚für sich‘ zu betrachten, verhindert die Präsenz des Sprechers. Das gilt nicht mehr für die verschriftete Rede, weil der ‚Autor‘ sich von ihr entfernt, ja durch diese Entfernung überhaupt erst als ‚Autor‘ konstituiert wird“. WENZEL (Anm. 12), S. 205. ROLAND HAGENBÜCHLE: Subjektivität: Eine historisch-systematische Hinführung. In: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Hrsg. von RETO LUZIUS FETZ/ROLAND HAGENBÜCHLE/PETER SCHULZ, Bd. 1, Berlin, New York 1998 (European cultures 11), S. 1-88, hier S. 14.
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Ich selbst erfreut sich bald zu sehr an ihrem Anblick und tadelt sich in seinem Herzen dafür: li miei occhi si cominciaro a dilettare troppo di vederla; onde molte volte me ne crucciava nel mio cuore ed aveamene per vile assai (XXXVII; „meine Augen begannen, sich bei ihrem Anblick allzusehr zu ergötzen; weswegen ich mich viele Male in meinem Herzen bekümmerte und mich für recht nichtswürdig hielt“). Unter erneuten sospiri […] grandissimi e angosciosi kommt es wieder zu einem inneren Kampf, zu einer battaglia che io avea meco, und wieder zu einer orribile condizione (XXXVII), vor der folglich die „Entkörperlichung der Dame“ und die Verlagerung der beatitudine vom Körper zur Schrift nicht definitiv zu schützen vermochten. Hier steht nichts mehr fest, die battaglia de’ pensieri ist ebenso wenig ausgefochten wie die Position des pro und contra. Alles muss erklärt werden, weil alles vieldeutig wird: Das Gedicht spricht von einem Gentil pensero, doch der edle Gedanke ist zugleich niedrig, die einstigen Gegenbegriffe fallen zusammen: dico ‚gentile‘ in quanto ragionava di gentile donna, ché per altro era vilissimo (XXXVIII; „und ich sage ‚hold‘, nur soweit er von einer holden Frau sprach, denn im übrigen war er äußerst erbärmlich“); umgekehrt scheint das in cuore cioè l’appetito („[Herz], das heißt [...] Begehren“) und anima cioè la ragione („Seele, das heißt die Vernunft“) gespaltene Ich einmal für und einmal gegen das Herz zu sprechen und muss erklären, was im einen und im anderen Fall mit den identischen Begriffen gemeint ist (XXXVIII). Mühsam wird die Zerrissenheit des Ich noch einmal eingeholt, indem diesem unorthodoxen Hin und Her die doxa antwortet: Der malvagio desiderio wird verjagt; das Herz bereut bitter, der Beständigkeit der Vernunft Widerstand geleistet zu haben, und das Ich schämt sich für seine begehrlichen Augen; der desiderio malvagio und die vana tentazione müssen zerstört werden, doch weil das ganze religiöse Vokabular offenbar nicht ausreicht, um einem erneuten Brechen der Dämme der Vernunft Vorschub zu leisten, bedarf es der körperlichen Einschreibung, die nicht nur, dem religiösen Diskurs gemäß, mit den Folterqualen der Märtyrer verglichen wird und auf das Prinzip des contrappasso in der Commedia vorausweist: li miei occhi pareano due cose che disiderassero pur di piangere; e spesso avvenia che per lo lungo continuare del pianto, dintorno loro si facea uno colore purpureo, lo quale suole apparire per alcuno martirio che altri riceva. Onde appare che de la loro vanitade fuoro degnamente guiderdonati; sì che d’allora innanzi non potero mirare persona che li guardasse. (XXXIX) meine Augen [schienen] zwei Gebilde [...], die nur noch weinen mochten; und oft geschah es, daß sich infolge des langen ununterbrochenen Weinens um sie herum ein purpurroter Rand bildete, wie er gewöhnlich dann auftritt, wenn einer ein Martyrium erduldet. Daraus ergibt sich, daß ihnen ihre Eitelkeit angemessen heimgezahlt wurde; so daß sie von da an niemanden mehr betrachten konnten, der sie [...] anschaute.
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Der rechte Lohn, der hier die gerechte Strafe meint, deutet zugleich auf das Vokabular der Trobadorlyrik und in dieser Umwendung einmal mehr, ebenso wie die Verschiebung der merzede, der gewährten Huld, von der donna auf Amor,24 auf die Veränderung gegenüber dem traditionellen Minnesang, da dieses Ich keinen guiderdone mehr von seiner donna erwartet oder auch nur erfleht, im Gegenteil: Mit seinen Stigmata, den rot geränderten Augen als dem ins Gesicht geschriebenen Lohn, kann es sich keiner donna mehr präsentieren; der gemarterte Körper schützt vor dem begehrten Körper und, mehr noch, vor dem Begehren tout court. Signifikanterweise aber geschieht dieses Einschreiben in den Körper, durch das das unversehens wieder Aufgebrochene notdürftig gekittet wird, gerade nicht durch die Vernunft, sondern durch die Einbildungskraft, eine forte imaginazione, die sich mit einer erneuten Erscheinung Beatrices wie am ersten Tag machtvoll gegen den Widersacher erhebt: Contra questo avversario de la ragione si levoe un die, quasi ne l’ora de la nona, una forte imaginazione in me, che mi parve vedere questa gloriosa Beatrice con quelle vestimenta sanguigne co le quali apparve prima a li occhi miei; e pareami giovane in simile etade in quale io prima la vidi. Allora cominciai a pensare di lei; e ricordandomi di lei secondo l’ordine del tempo passato, lo mio cuore cominciò dolorosamente a pentere de lo desiderio a cui sì vilmente s’avea lasciato possedere alquanti die contra la costanzia de la ragione. (XXXIX) Gegen diesen Widersacher der Vernunft erhob sich eines Tages, beinah zur neunten Stunde, in mir eine mächtige Erscheinung, denn es war mir, als sähe ich die glorreiche Beatrice in denselben blutroten Gewändern, in denen sie sich meinen Augen beim ersten Mal gezeigt hatte; und sie erschien mir jung, im gleichen Alter, in welchem ich sie das erste Mal gesehen hatte. Da begann ich an sie zu denken; und als ich mich ihrer gemäß der Abfolge der vergangenen Zeit erinnerte, begann mein Herz schmerzlich das Begehren zu bereuen, dem es sich wider die Standhaftigkeit der Vernunft einige Tage so schmählich hingegeben hatte.
Erst das Er-Innern Beatrices bringt den Konflikt zwischen Begehren und Vernunft zum Schweigen; erst das Imaginieren, das Vor-Augen-Stellen des Körpers von Beatrice schafft den ersehnten Einklang von Begehren und Vernunft oder sospiri und pensieri. Erinnerung und Imagination fungieren als die zentralen Kräfte in dieser neuen ‚Schrift der Liebe‘, die die Vita nuova ist, wie auch die am Ende erzählte Rückkehr zur ersten Erscheinung Beat24
Wie sich die Seligkeit vom Anblick der Dame auf das Schreiben des Gedichts verschoben hat, wird als Signal für diese Verschiebung die gewährte Huld von der donna auf Amor verlagert: lo mio segnore Amore, la sua merzede, ha posto tutta la mia beatitudine in quello che non mi puote venire meno (XVIII; „mein Gebieter Amor – Dank sei es ihm [bzw. in seiner Huld] – [hat] alle meine Seligkeit in das verlegt, was mir nie geschmälert werden kann“).
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rices und damit zum Beginn des Textes zeigt. Das Kommentieren der jeweils entstandenen Gedichte, die schriftauslegende Schrift, erlaubt, das Er-Innerte secondo l’ordine del tempo passato nicht zu wiederholen, aber doch wiederzuholen und nun, ora, dank dieser Liebe der Schrift, dank der Imagination in einer neuen Weise, anders als allora, zu lesen (vgl. III). Der Prozess, den die Vita nuova vorführt, scheint demnach komplexer zu sein als einfach in einer „Entkörperlichung der Dame“ zugunsten christlicher Metaphysik (nach KABLITZ) oder einem „Abschied vom Körper“ zugunsten der Entstehung von Literatur (nach GUMBRECHT) zu bestehen: Auf nahezu jeder Seite des libello befinden sich Körper und Schrift in einem Widerstreit, und dieses Problem wird, wie die erneute Gefährdung durch die donna gentile am Ende zeigt, nicht durch die „paradoxe Integration einer Transgression“ gelöst, durch die „Entkörperlichung der Dame“, dank der der prekäre „Brückenschlag zwischen der metaphysischen Ordnung und einer Erklärung der außergewöhnlichen Passion für die exklusive Dame“ gelänge.25 Was der Text vielmehr überschreitet, was sich im Schrift gewordenen Reden über die Liebe gerade auflöst, statt zementiert zu werden, sind die scheinbar klaren Grenzen von Körper und Schrift, indem durch die Liebe der Körper zu Schrift, die Schrift der Liebe selbst aber Körper wird, corpus oder volumen,26 das die vom Tod gesetzten Grenzen überwindet.
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ANDREAS KABLITZ: Petrarcas Lyrik des Selbstverlusts: Zur Kanzone Nr. 360 – mit einem Exkurs zur Geschichte christlicher Semantik des Eros. In: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Hrsg. von RETO LUZIUS FETZ/ROLAND HAGENBÜCHLE/PETER SCHULZ, Bd. 1, Berlin, New York 1998 (European cultures 11), S. 567-611, hier S. 602-603. Vgl. WOLFGANG HÜBNER: Volumen. Zur Metaphorik der Buchrolle in der Antike und bei Michel Butor. In: Vir bonus dicendi peritus. Festschrift zum 65. Geburtstag von Alfons Weische. Hrsg. von BEATE CZAPLA/TOMAS LEHMANN/SUSANNE LIELL, Wiesbaden 1997, S. 153-174, hier S. 188 und S. 191.
LUDGER LIEB
Minne schreiben Schriftmetaphorik und Schriftpraxis in den ‚Minnereden‘ des späten Mittelalters Die „Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien“1 im Europa der Frühen Neuzeit ist bekanntlich wesentlich an die Erfindung und Ausbreitung des Buchdrucks gebunden. Der Buchdruck gilt als einer der bedeutendsten Marker für die Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit. Gleichzeitig ist vielfach bemerkt worden, dass diese Medienrevolution der Frühen Neuzeit ein komplexer und langwieriger Prozess ist, dessen Anfänge weit ins Mittelalter zurückreichen. Viele Argumente z. B., die die Zeitgenossen im 15. und 16. Jahrhundert als Vorteile des Buchdrucks ausgegeben haben, wurden im Mittelalter schon als Vorteile der Schriftlichkeit gegenüber der Mündlichkeit vorgebracht.2 Die Zäsur also zwischen Buchdruck und Handschrift, zwischen der Kultur des ‚Gutenbergzeitalters‘ auf der einen Seite (mit ihrer anonymen Distribution und anonymen Rezeption von Texten, mit ihrer Popularisierung und Demokratisierung textueller Kommunikation, mit ihrer Distanz vom Körper) und der mittelalterlichen Manuskriptkultur auf der anderen Seite, in der – mit HORST WENZEL zu sprechen – Texte vorwiegend mündlich und unter Anwesenden in Räumen wechselseitiger Wahrnehmung kommuniziert wurden,3 – diese Zäsur findet ihre Vorgeschichte in dem ebenfalls langwierigen Prozess des Übergangs der mittelalterlichen Kultur von einer dominant oralen zu einer dominant skripturalen Kultur. Problematisch für die Erforschung dieses Übergangs zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ist unter anderem der Umstand, dass die Produk1 2 3
MICHAEL GIESECKE: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Mit einem Nachwort zur Taschenbuchausgabe 1998, Frankfurt a. M. 1998. DENNIS H. GREEN: Medieval Listening and Reading. The primary reception of German literature 800–1300, Cambridge 1994, S. 12-14. HORST WENZEL: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 16.
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Ludger Lieb
te mündlicher Kommunikation flüchtig sind4 und sich nur dann nicht vollständig verflüchtigt haben, wenn sie – meist eher zufällig – im Netz der Schrift hängen geblieben sind. Aus diesem Grund ist hier – gerade für die volkssprachliche Literatur des Mittelalters – jene Differenz so wichtig, die WULF OESTERREICHER terminologisch mit Verschriftung und Verschriftlichung bezeichnet hat.5 Verschriftung meint die Tatsache, „daß ein gegebener Wortlaut [...] ins graphische Medium transferiert wird“ (S. 272). Die Schriftlichkeit eines solcherart verschrifteten Textes ist daher nur medial (man könnte in gewisser Hinsicht das ahd. Hildebrantslied als Beispiel anführen). Verschriftlichung meint dagegen, dass bestimmte Texte – die durchaus auch mündlich vorgetragen werden – Ergebnisse eines konzeptionell fundierten Prozesses sind, in dem das Potenzial der Schrift benutzt wird, das sich vor allem als hoher Grad an kommunikativer Distanz manifestiert (Situationsabstraktheit, Öffentlichkeit, Reflexion, Planung, kaum Emotionalität, keine Kooperationsmöglichkeit des Rezipienten etc.). Die Schriftlichkeit eines solchen Textes ist eine ‚konzeptionelle Schriftlichkeit‘. Schon für die Heldenepen und Romane des Hohen Mittelalters wird man eine solch konzeptionelle Schriftlichkeit sicher annehmen dürfen (S. 274f.), auch für einen großen Teil der Lyrik.6 Doch konzeptionelle Schriftlichkeit bedeutet nicht auch schon, dass die Verfasser ihre Texte selbst schreibend verfassten,7 vielmehr bestand die Benutzung der Schrift im Mittelalter weitgehend im Diktieren, also in einer Trennung von Textproduzent und Schreiber. OTTO LUDWIG betont in seiner Geschichte des Schreibens, dass der Übergang vom Schreiben als Diktieren mündlicher Rede zum Schreiben als eigener Textproduktion des Verfassers sich erst im Spätmittelalter allmählich vollzog und dass sich mit diesem Übergang auch die Funktion des Schreibens veränderte.8 Es gab zwar schon früher auch den selbst schreibenden Textproduzenten – gerade den großen Gelehrten des Hohen Mittelalters ist dies wohl nicht abzusprechen
4 5 6 7 8
Vgl. HANS-ULRICH GUMBRECHT: Schriftlichkeit in mündlicher Kultur. In: Schrift und Gedächtnis. Hrsg. von ALEIDA ASSMANN/JAN ASSMANN/CHRISTOF HARDMEIER, München 1983 (Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation 1), S. 158-174, hier S. 159. WULF OESTERREICHER: Verschriftung und Verschriftlichung im Kontext medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit. In: Schriftlichkeit im frühen Mittelalter. Hrsg. von URSULA SCHAEFER, Tübingen 1993 (ScriptOralia 53), S. 267–292. Vgl. THOMAS CRAMER: Waz hilfet âne sinne kunst? Lyrik im 13. Jahrhundert. Studien zu ihrer Ästhetik, Berlin 1998 (Philologische Studien und Quellen 148). Vgl. GIESECKE (Anm. 1), S. 346: Zunächst musste (in der Gelehrtenkultur des 15. Jahrhunderts) „immer etwas ausgesprochen sein [...], bevor es in einem sekundären Transformationsprozeß ge- oder beschrieben werden konnte.“ OTTO LUDWIG: Geschichte des Schreibens. Band 1: Von der Antike bis zum Buchdruck, Berlin, New York 2005, bes. S. 170-186. Vgl. auch die These von GUMBRECHT (Anm. 4), S. 171, „daß sich die Volkssprache als schriftliches Medium der Laienkultur erst im XV. Jahrhundert konstituierte“.
Minne schreiben
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–, doch für die volkssprachliche Literatur adliger Trägerschichten darf man nicht einfach das neuzeitliche Modell des ‚schreibenden Autors‘ voraussetzen. Schreiben war bis ins 13. Jahrhundert hinein noch eine dienende Tätigkeit, die kodifizierte, was der Verfasser – unter Benutzung der Schriftlichkeit – stimmlich produzierte.9 Im vorliegenden Beitrag möchte ich der Frage nachgehen, wie ‚Schreiben‘ und ‚Schrift‘ in den Minnereden,10 der umfangreichsten Gattung weltlicher Dichtung des deutschen Spätmittelalters, thematisiert werden, welche Funktionen sie dort haben und welche ihnen von diesen Texten zugewiesen werden. Damit möchte ich einen Beitrag leisten zur Erforschung der Skripturalisierung der mittelalterlichen Kultur, die sich im Spannungsfeld von mündlicher Kommunikation, konzeptioneller Schriftlichkeit und Schreiben als eigenhändiger Textproduktion vollzieht. Es wird nicht darum gehen, denkbare Formen der performance für Minnereden zu rekonstruieren,11 nicht um den unvollständigen Status schriftlicher Texte des Mittelalters, die (wahrscheinlich) ‚ursprünglich‘ für Aufführungssituationen verfasst wurden,12
9 Vgl. DIETMAR RIEGER: ‚Chantar‘ und ‚faire‘. Zum Problem der trobadoresken Improvisation. In: Zeitschrift für romanische Philologie 106 (1990), S. 423-435, hier S. 427. – Ex negativo lässt sich die dienende Rolle des Schreibens auch am Autornamen „Der Tugendhafte Schreiber“ ablesen. Dass ein Dichter mit eigenem Œuvre in der Manessischen Liederhandschrift (und als Teilnehmer am Wartburgkrieg) einen solchen Namen (mit dem nicht gerade spezifischen Epitheton ‚tugendhaft‘) trägt, indiziert, dass sich alle anderen Dichter nicht als Schreiber verstanden (dass sie sich nicht als ‚tugendhaft‘ verstanden, kann man wohl ausschließen). Schreiber zu sein ist ein Differenzkriterium gegenüber anderen Dichtern. Das gilt wohl auch, wenn ‚Schreiber‘ eine „Berufsbezeichnung“ wäre (GISELA KORNRUMPF: Der Tugendhafte Schreiber. In: 2VL 9 [1995], Sp. 1138-1141, hier Sp. 1138). 10 Vgl. TILO BRANDIS: Mittelhochdeutsche, mittelniederdeutsche und mittelniederländische Minnereden. Verzeichnis der Handschriften und Drucke, München 1968 (MTU 25); WALTER BLANK: Die deutsche Minneallegorie. Gestaltung und Funktion einer spätmittelalterlichen Dichtungsform, Stuttgart 1970 (Germanistische Abhandlungen 34); INGEBORG GLIER: Artes amandi. Untersuchung zu Geschichte, Überlieferung und Typologie der deutschen Minnereden, München 1971 (MTU 34). 11 Eine solche Rekonstruktion wurde von mir und andern verschiedentlich unter den Begriffen der Anschlusskommunikation oder der Minnereden-Kommunikationsgemeinschaften versucht, vgl. z. B. LUDGER LIEB/PETER STROHSCHNEIDER: Die Grenzen der Minnekommunikation. Interpretationsskizzen über Zugangsregulierungen und Verschwiegenheitsgebote im Diskurs spätmittelalterlicher Minnereden. In: Das Öffentliche und Private in der Vormoderne. Hrsg. von GERT MELVILLE/PETER VON MOOS, Köln, Weimar, Wien 1998, S. 275-305. 12 Um diesen Aspekt des schriftlich überlieferten Textes hat sich die Mediävistik in den vergangenen Jahrzehnten zurecht sehr verdient gemacht; vgl. neben vielem anderen z. B. PAUL ZUMTHOR: The Text and the Voice. In: New Literary History 16 (1984/85), S. 67-92; JANDIRK MÜLLER: Ritual, Sprecherfiktion und Erzählung. Literarisierungstendenzen im späteren Minnesang. In: Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik. Hrsg. von MICHAEL SCHILLING/PETER STROHSCHNEIDER, Heidelberg 1996 (GRM-Beiheft 13), S. 43-76; wiederabgedruckt in: DERS.: Minnesang und Literaturtheorie. Hrsg. von UTE VON BLOH/ARMIN SCHULZ, Tübingen 2001, S. 177-208.
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sondern um die Entdeckung der Schrift als eines Mediums, das nicht nur als Hilfmittel für das Verfassen, Memorieren und Vorlesen von langen und komplexen Texten verwendet werden konnte, sondern auch der personalen Identitätsstiftung des adligen oder stadtbürgerlichen Dilettanten diente.13 Die so genannten Minnereden bilden eine sehr umfangreiche Textmasse,14 deren überraschend großes Potenzial für kulturwissenschaftliche und philologische Fragen derzeit in einem von der Fritz Thyssen Stiftung finanzierten Projekt an der TU Dresden erschlossen wird.15 Dieses Projekt hat 13
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Man mag sich aus einsichtigen Gründen scheuen, einen Vergleich zwischen den Verfassern von Minnereden und Petrarca zu ziehen, doch mit vielen Abstrichen kann man die Bedeutung, die Petrarca dem eigenhändigen Schreiben zumisst, auch dem Produzieren von Minnereden zubilligen: Schreiben als „Akt der Selbstprüfung und Selbsthilfe“, ja der „Selbstkonstitution“ (LUDWIG [Anm. 8], S. 198, in Rekurs auf KARLHEINZ STIERLE: Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts, München, Wien 2003, S. 396f.). Über 500 verschiedene Minnereden sind überliefert, mehr als die Hälfte davon in mehreren Handschriften. Gemeinsam ist ihnen inhaltlich das Thema Minne. Formal zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie in Reimpaarversen abgefasst, also nicht sangbar sind (Minnereden sind keine Minnelieder; sie sind auch meist viel umfangreicher) und dass in ihnen nicht das Erzählen im Vordergrund steht, sondern Reflexion, Didaxe, Allegorie und Exemplarik (Minnereden sind also keine Romane oder Mären); vgl. zur Einführung meinen Artikel: Minnerede. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von HARALD FRICKE, Bd. 2, Berlin 2000, S. 601604, sowie den vorzüglichen Forschungsbericht von WOLFGANG ACHNITZ: Minnereden. In: Forschungsberichte zur Internationalen Germanistik. Germanistische Mediävistik. Hrsg. von HANS-JOCHEN SCHIEWER unter Mitarbeit von JOCHEN CONZELMANN, Bern 2003 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe C, Forschungsberichte 6), S. 197-255. Ziel dieses von mir geleiteten Projekts ist die Publikation eines Handbuchs Minnereden (mit Auswahledition). Dieses Werk, das voraussichtlich 2008 bei de Gruyter, Berlin, New York erscheinen wird (hrsg. von JACOB KLINGNER und LUDGER LIEB), umfasst erstens eine völlige Neubearbeitung des Repertoriums von BRANDIS (Anm. 10), das durch detaillierte Überlieferungsbeschreibungen und ausführliche Inhaltsangaben ergänzt wird. Umfangreiche Register werden diese Datenmassen erschließen. Zweitens gehört eine Edition zu diesem Handbuch, die eine repräsentative Auswahl verschiedenster Minnereden für Forschung und Lehre bereitstellt. Drittens soll eine Einführung in mehreren Durchgängen das Textkorpus unter inhaltlichen und funktionalen Aspekten erschließen und dabei wichtige Aspekte und Faszinationstypen der ‚Minne-Kultur‘ des 14. und 15. Jahrhunderts erarbeiten. Der vorliegende Aufsatz versteht sich als Vorarbeit zu einem solchen Aspekt („Medien der Liebe“); Vorarbeiten zu anderen Aspekten wurden bereits publiziert, vgl. etwa JACOB KLINGNER/LUDGER LIEB: Flucht aus der Burg. Überlegungen zur Spannung zwischen institutionellem Raum und kommunikativer Offenheit in den Minnereden. In: Die Burg im Minnesang und als Allegorie im deutschen Mittelalter. Hrsg. von RICARDA BAUSCHKE, Frankfurt a. M. 2006 (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung 10), S. 139-160; LUDGER LIEB/OTTO NEUDECK: Zur Poetik und Kultur der Minnereden. Eine Einleitung. In: Triviale Minne. Konventionalität und Trivialisierung in spätmittelalterlichen Minnereden. Hrsg. von DENS., Berlin, New York 2006 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 40), S. 1–17; LUDGER LIEB: Umschreiben und Weiterschreiben. Verfahren der Textproduktion von Minnereden. In: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von ELIZABETH ANDERSEN/MANFRED EIKELMANN/ANNE SIMON, Berlin, New York 2005 (Trends in Medieval Philology 7), S. 143–161; LUDGER LIEB/PETER STROHSCHNEIDER: Zur
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es überhaupt ermöglicht, das Material für den vorliegenden Aufsatz zu bergen und auf diese Weise zu präsentieren.16 Gegliedert habe ich die Beispiele in drei große Gruppen: zunächst die Beispiele für eine Metaphorik von Schreiben und Schrift (I.), sodann die intradiegetischen, d. h. in der erzählten Welt vorkommenden Formen der Schriftlichkeit und des Schreibens (II.), schließlich die Praxis des Schreibens von Minnereden selbst (Minnereden als schriftlich verfasste Texte), deren Erforschung sich allerdings im wesentlichen ebenfalls auf intradiegetische Phänomene stützen muss (III.). Das Ende des Aufsatzes bildet eine zusammenfassende Perspektivierung der Minnerede im Kontrast zur Liebeslyrik (IV.).
1. Schriftmetaphorik 1.a. Schreiben als Sich Einschreiben: ‚Schreiben ins Herz‘ In der Minnerede mit dem Forschungstitel Glückliche Werbung wirbt das personifizierte Glück als Bote des männlichen Ich-Sprechers um die Gunst der Dame. Um die Authentizität der Liebe seines Mandanten zu bezeugen, argumentiert das Glück folgendermaßen:17 Ich wais das woll furwar Das er nit wenckt als vmb ain har Aus ewr lieb zuo kainer stund Wann im ist rechter lieb grundtt Geschriben in das hertze sein Von ewrn clarn ewglen schein Was soll ich nw sprechen mer Er tuot nach ewrs hertzen ger (V. 97-104)18 Ich weiß das ganz sicher, dass er sich in der Liebe zu euch nie auch nur ein kleines bisschen unsicher wird, denn ihm ist von dem Schein eurer klaren Augen der rechte Urgrund der Liebe in sein Herz hineingeschrieben. Was soll ich nun noch weiter davon sagen? Er tut, wie euer Herz es will.
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Konventionalität der Minnerede. Eine Skizze am Beispiel von des Elenden Knaben ‚Minnegericht‘. In: Literatur und Wandmalerei II. Konventionalität und Konversation. Hrsg. von ECKART CONRAD LUTZ/JOHANNA THALI/RENÉ WETZEL, Tübingen 2005, S. 109-138. Ich danke herzlich meinen Mitarbeitern JACOB KLINGNER und CHRISTOPH HAGEMANN für Hilfe und Rat. BRANDIS (Anm. 10), Nr. 231: Glückliche Werbung. London, British Library, Ms. Add. 24946, fol. 145r-148r, unediert, V. 97-104. Die Hervorhebungen in diesem und in allen folgenden Zitaten stammen von mir.
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Anthropologisch gesehen hat die Metaphorik einer solchen ‚Herzschrift‘ mindestens zwei Dimensionen:19 Erstens wird Schreiben hier zu einem Akt der Verinnerlichung, Schreiben ist ein Hineinschreiben, es ist nicht ein Schreiben auf ein Trägermedium, sondern ein Schreiben unmittelbar ins Herz, in das Zentrum des Menschen. Und zweitens ist es ein Festschreiben, damit das Geschriebene dort im Herzen unauslöschlich sei. Der Vers 103 (Was soll ich nw sprechen mer?) lässt sich in dieser Hinsicht verstehen: Weil es geschrieben steht, bedarf es weiterer Beweise nicht. Eine neue Dimension fügt das folgende Zitat aus einem Neujahrsgruß hinzu, in dem dieser Aspekt des Festschreibens noch gesteigert wird:20 Darumb, mein aller schönstes weib, Mein stätten dienst also b e s c h r e i b In deines hertzen marmelstain, Mit rechter lieb mich wider main. (V. 43–46) Darum schreibe, meine allerschönste Frau, meinen beständigen Dienst in den Marmor deines Herzens. Und denke deinerseits mit rechter Liebe an mich.
Das marmorne Herz der geliebten Dame, das auch ein Bild für ihre ‚HartHerzigkeit‘ sein könnte, wird hier umcodiert: Der Marmor des Herzens wird zum unvergänglichen Trägermedium einer Schrift, so dass die Schrift und die Aussage der Dienstversicherung dauerhaft in ihrem Inneren bestehen bleibe und dauerhaft gewusst werde. Das Bild des Einschreibens ins Herz impliziert aber auch die Vorstellung einer Medialisierung des Herzens zu einem hermeneutischen Innenraum: Das Innere des Menschen wird zum Ort hermeneutischer Akte, hier kann geschrieben und gelesen werden. Genauerhin schreibt die Dame hier in den Marmor ihres Herzen den Dienst des Mannes, d. h. sie schreibt die Taten des Mannes auf, so dass sie dort im hermeneutischen Innenraum ihres Herzens unauslöschlich immer wieder gelesen werden können. Die archivalische Funktion eines solchen ‚Dienstaufschreibe-Apparats‘ findet ihren Sinn nicht zuletzt darin, dass mit ihr auch die Forderung nach 19
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Zum biblischen Bild vom ‚Schreiben ins Herz‘ vgl. FRIEDRICH OHLY: Cor amantis non angustum. Vom Wohnen im Herzen [zuerst 1970]. In: DERS.: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 21983, S. 128-155, hier S. 130 mit Anm. 1 und 135f. mit Anm. 14. Das alttestamentliche Bild wird im neuen Testament aufgenommen, vgl. z.B. 2 Kor 3,3: Gott schreibt mit den Fingern des Hl. Geistes non in tabulis lapideis, sed in tabulis cordis carnalibus; „nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf die fleischlichen Tafeln des Herzens“. BRANDIS (Anm. 10), Nr. 164: Neujahrsgruß auf 1444. Edition: Liederbuch der Clara Hätzlerin. Hrsg. von CARL HALTAUS, Quedlinburg, Leipzig 1840 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 8). Neudruck mit einem Nachwort von Hanns Fischer, Berlin 1966, Nr. II 37.
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einer Gegenleistung verbunden ist: Mit rechter lieb mich wider main (V. 46). Zu Grunde liegt hier das für die Minnereden typische Denkmodell, dass der Dienst des Mannes die Liebe der Frau als Gegengabe fordert, ja dass der dienende Mann die Gegenliebe sogar einklagen könne. Diese Ökonomisierung der Liebe als Tauschhandel führt z. T. regelrecht zu einer Minne-Bürokratie (auch das ist anthropologisch interessant, gehört aber nicht hierher). Eine interessante Variante der Metapher vom ‚Schreiben ins Herz‘ findet sich in der Minneburg. Hier bittet das Ich Frau Minne um Hilfe bei seiner Liebeswerbung:21 In ires hertzen zedeln Entwirf mich sunder wenken! (V. 1544f.) Auf den Zetteln ihres Herzens zeichne ein unwandelbares Bild von mir!
Die metaphorische ‚Verzettelung‘ des Herzens weist bereits auf das voraus, was unten (Abschnitt III.) eine wichtige Rolle spielt: die Schreibpraxis von Minnereden als Liebespraxis. Hier sei zunächst auf die Funktionslogik der Metapher hingewiesen: Auch hier ist – im Sinne des hermeneutischen Innenraums – das Abbild des Ichs, das Frau Minne in das Herz der Dame hineinschreiben soll (der ‚Entwurf‘), der Grund dafür, dass die Frau an den Geliebten denken muss: Hilff daz sie muß gedenken Truwe und allez gutes mir! (V. 1546f.) Hilf, dass sie mir Treue und alles Gute zudenken muss!
Wie sehr die Bildlichkeit des Schreibens ins Herz eine lesbare Schrift aus Buchstaben konnotiert, mag eine Stelle aus dem fünften Dresdner Liebesbrief zeigen:22 Du pist mir in das hercz begraben Mit hundert tausent buochstaben (V. 44f.) Du bist mit 100.000 Buchstaben in mein Herz eingraviert.
21 22
BRANDIS (Anm. 10), Nr. 485: Die Minneburg. Edition: Die Minneburg. Nach der Heidelberger Pergamenthandschrift (cpg 455) unter Heranziehung der Kölner Handschrift und der Donaueschinger und Prager Fragmente hrsg. von HANS PYRITZ, Berlin 1950 (DTM 43). BRANDIS (Anm. 10), Nr. 123: Liebesbrief. Edition: Codex Dresden M 68. Bearbeitet von PAULA HEFTI, München 1980, S. 326-328.
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Dass der hermeneutische Innenraum des Herzens nicht nur einer ist, in dem geschrieben wird, sondern in dem auch das Geschriebene wieder und wieder gelesen werden kann, hat Hans Folz in seiner Minnerede Der neu gülden Traum explizit ausgedrückt. Als die Dame in der Kammer erscheint, sagt sie als erstes folgendes:23 „eins ich dich fragen muß. Sag, hastu auch in meim abwesen Ye i n d e i m h e r c z e n ü b e r l e s e n : Unser peyder glüpnus und trew, Die in meym herczen noch sint new, Mynderten sich nie um ein har?“ (V. 132-137) „Nach einer Sache muss ich dich fragen. Hast du auch in meiner Abwesenheit immer in deinem Herzen unser beiderseitiges Gelöbnis und Treueversprechen durchgelesen, die in meinem Herzen noch immer neu sind und deren Geltung sich kein bisschen vermindert hat?“
Wie mit den angeführten Beispielen (die noch um viele ergänzt werden könnten) gezeigt werden konnte, impliziert die Metaphorik von Aufschreiben und Einschreiben des Dienstes oder der Treue in das Herz zwei anthropologisch relevante Dimensionen: 1. Schreiben wird zum Akt des unmittelbaren Zugangs zum Herzen, d. h. zum innersten Zentrum der oder des Geliebten. 2. Das Herz wird medialisiert zu einem hermeneutischen Innenraum, in dem aufgeschrieben und gelesen wird, in dem das Geschriebene dauerhaft archiviert und immer wieder abgerufen werden kann.24 23
24
BRANDIS (Anm. 10), Nr. 252: Der Traum. Edition: Hans Folz: Die Reimpaarsprüche. Hrsg. von HANNS FISCHER, München 1961 (MTU 1), Nr. 31. Zu diesem Text vgl. jetzt JACOB KLINGNER: ‚Der Traum‘ – ein Überlieferungsschlager? Überlieferungsgeschichtliche Beobachtungen zu einer ‚populären‘ Minnerede des 15. Jahrhunderts. In: Triviale Minne? Konventionalität und Trivialisierung in spätmittelalterlichen Minnereden. Hrsg. von LUDGER LIEB/OTTO NEUDECK, Berlin, New York 2006 (Quellen und Forschungen zur Literaturund Kulturgeschichte 40), S. 91-118, hier S. 104-111. Die Metaphorik kann so dominant werden, dass sie auf den ganzen Text ausgreift. So wird eine Minnerede des 14. Jahrhunderts komplett und regelgerecht als Urkunde der Minne gestaltet: BRANDIS (Anm. 10), Nr. 14: Urkunde der Minne. Edition: Lieder-Saal. Sammlung altdeutscher Gedichte. Hrsg. von JOSEPH FREIHERR VON LASSBERG, Bd. 3, o. O. 1825. Nachdruck Hildesheim 1968, S. 459-463, Nr. 232. Gelegentlich verlangt auch die geliebte Dame eine solche Urkunde vom Werbenden, z. B. im Liebesgespräch des Fröschel von Leidnitz: BRANDIS (Anm. 10), Nr. 235. Edition: Mittelhochdeutsche Minnereden II. Die Heidelberger Handschriften 313 und 355. Die Berliner Handschrift Ms. germ. fol. 922. Aufgrund der Vorarbeiten von WILHELM BRAUNS hrsg. von GERHARD THIELE, o. O. 1938 (DTM 41). Nachdruck mit einem Nachwort von INGEBORG GLIER, Dublin, Zürich 1967, S. 5-9, Nr. 3 sowie S. 214220, Anhang Nr. 3a. Die Frau begründet ihr Verlangen damit, dass sie sich auf die versiegelte Urkunde (68: brieff) im Falle des Betrugs (70: ob du mich wollest troffiernn;) berufen könne.
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1.b. Schrift als Speichermedium: ,Aufgeschrieben sein‘ Häufig trifft man in den Minnereden die Metapher eines Buchs oder eines Verzeichnisses, in dem die Namen der Liebenden schriftlich gespeichert sind. Vor allem tritt die Metapher dann auf, wenn es um die Angst geht, aus diesem Minnespeicher herausgestrichen zu werden, was mit dem im klassischen Mittelhochdeutschen noch nicht belegten Wort abschrîben ausgedrückt wird. In der Minnerede Der Minner im Garten droht Frau Minne folgende Strafe an für jene Frau, die einem Mann, der die Frauen nicht lobt, Heil widerfahren lässt:25 ob dem ymmer heil geschiht von keinem guten wibe, die wil ich a b s c h r i b e von aller hohen, werden art. (V. 258-261) falls einem solchen [Frauenverächter] jemals Heil widerfährt von irgendeiner guten Frau, dann will ich diese aus der Gemeinschaft der Hochgesinnten und Würdigen herausstreichen.
Und in der Minneburg klagt das Ich an die Dame gerichtet:26 Wiß, ich wird a b g e s c h r i b e n Von dem lebendigen briefe. (V. 2514f.) Denke daran: ich werde gestrichen aus der Urkunde, auf der die Lebenden verzeichnet sind.
Die folgenden Verse stammen ebenfalls aus der Minneburg, genauer: aus einer Werbungsrede des Ichs an seine Dame, in der der Sprecher seine vollkommene Abhängigkeit von ihr dadurch ausdrückt, dass er sich mehrfach als ihr Leibeigener bezeichnet, u. a. auch in der Wendung: Ich sten auch an den r o d e l n 27 Do eygen lut sin angeschriben. (V. 1720f.) Ich stehe auch auf den Rotuli, auf denen die Leibeigenen aufgeschrieben sind. 25
26 27
BRANDIS (Anm. 10), Nr. 424: Der Minner im Garten. Edition: Mittelhochdeutsche Minnereden I. Die Heidelberger Handschriften 344, 358, 376 und 393. Mit drei Tafeln. Hrsg. von KURT MATTHAEI, Berlin 1913 (DTM 24). Nachdruck mit einem Nachwort von INGEBORG GLIER, Dublin, Zürich 1967, Nr. 5. In dieser Minnerede, V. 6, findet sich auch die Metaphorik vom Schreiben ins Herz. BRANDIS (Anm. 10), Nr. 485: Die Minneburg. Edition: Die Minneburg (Anm. 21). rodeln sind Rotuli, also urkundliche Pergamentrollen, auf denen in diesem Fall die Leibeigenen einer Herrschaft aufgeschrieben sind.
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Hier wird eine Basisfunktion von Schriftlichkeit im Mittelalter sichtbar, die darin besteht, Eigentumsverhältnisse zu fixieren. Diese Metaphorik benutzt der Sprecher, um seine Liebessehnsucht auszudrücken. Es ist offenbar die Sehnsucht, aufgeschrieben zu sein. Ähnlich wie der Gläubige ins Buch des Lebens eingeschrieben sein möchte, so ist es für die Minnenden absolut entscheidend, dass sie aufgeschrieben sind, dass sie selbst gespeichert sind in einem Schrifttext. Denn dies bedeutet Zugehörigkeit und dauerhafte Legitimierung ihrer eigenen Praxis des Liebens und ihres Redens über die Minne. ‚Schrift als Speichermedium‘ kehrt auch nicht-metaphorisch in den Minnereden wieder, dort nämlich wo von Büchern oder Briefen erzählt wird, in denen die Minnenden aufgeschrieben sind. Damit komme ich zum zweiten Abschnitt, in dem Beispiele ‚intradiegetischer Schriftlichkeit‘ vorgeführt werden.
2. Intradiegetische Schriftlichkeit Ich unterscheide hier insgesamt vier Funktionsaspekte von Schrift und Schreiben. Die erste Funktion (II.a. Schrift als Speichermedium) war gerade schon in der Metapher des Aufgeschrieben-Seins Thema. Es folgen zwei Funktionen, die in gegensätzlicher Weise auf die Minnekommunikation bezogen sind: II.b. Schrift als Diskursstörung und II.c. Schrift als Diskursgenerator. Die vierte Funktion besteht in einer affektiven Distanzierung und Rationalisierung, die durch die Schrift gewährleistet wird (II.d. Schrift als Reflexionsmedium). Alle diese Funktionen haben letztlich auch mit der Schreibpraxis der Minnereden zu tun (Abschnitt III.), weshalb ich mich hier gelegentlich kurz fasse bzw. auf den letzten Abschnitt vorausweise. 2.a. Schrift als Speichermedium Im Minnegericht des Elenden Knaben wird dem Sprecher (dem Ich) in der jenseitigen Welt der Minnepersonifikationen ein Buch gezeigt, in dem sowohl die Minneregeln als auch alle Liebenden namentlich aufgeführt sind:28 28
BRANDIS (Anm. 10), Nr. 459: Des Elenden Knaben Minnegericht. Edition: Mittelhochdeutsche Minnereden I (Anm. 25), Nr. 1; EKKEHARD SCHMIDBERGER: Untersuchungen zu „Der Minne Gericht“ des elenden Knaben. Zum Problem der Tradierung, Rezeption und Tradition in den deutschen Minnereden des 15. Jahrhunderts. Mit einem Textanhang, MikroficheAusg. 1978; zum Minnegericht vgl. auch MARGRETH EGIDI: Ordnung und Überschreitung in mittelhochdeutschen Minnereden. ‚Der Minne Gericht‘ des Ellenden Knaben. In: Triviale Minne? Konventionalität und Trivialisierung in spätmittelalterlichen Minnereden. Hrsg. von LUDGER LIEB/OTTO NEUDECK, Berlin, New York 2006 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 40), S. 225-240; LIEB/STROHSCHNEIDER (Anm. 15).
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Ich ward gefiert in ain haimlich gemach, dar an ich a i n b u o c h sach, d a r i n g e s c h r i b e n w a ß der lieben recht; und wer ye waß geweßen ir kneht, der namen waren da all g e s c h r i b e n . (V. 1095-1099) Ich wurde in ein separiertes Zimmer geführt, in dem ich ein Buch sah, in das die Regeln der Minne geschrieben waren und die Namen derjenigen, die jemals ihre Knechte gewesen waren.
Doch nicht der Sprecher liest im Folgenden in diesem Buch, vielmehr unterrichten ihn die Personifikationen, indem sie ihm alle Gesetze und Regeln der Minne vortragen (der schriftlich kodifizierte Text wird also mündlich weitergegeben). Die Schrift und das Buch erweisen sich hier als dauerhafte Speicher sowohl der Namen der Minnenden als auch der Regeln der Minne. Durch die unüberhörbare Ähnlichkeit zum Buch des Lebens, das im Himmel liegt und in das die Erlösten eingeschrieben sind (Apc 3,5 und öfter), wird hier auch eine pseudo-religiöse Letztbegründung für die Gemeinschaft der Minnenden und für die Regeln ihres Zusammenlebens gesucht. Diese Vorstellung von einem Buch, einer Schrift der Minne, hat vielleicht etwas zu tun mit der Schriftpraxis der Minnereden selbst. Man könnte hypothetisch annehmen, dass eine Motivation des Schreibens von Minnereden genau darin bestünde, einerseits sich selbst in dieses imaginäre Buch hineinzuschreiben und andererseits durch die Produktion von Schrifttext überhaupt erst das Buch und die Schrift der Minne zu erzeugen. Dieser Gedanke hat zumindest bezüglich des Minnegerichts des Elenden Knaben eine gewisse Plausibilität: Das Produkt seines Schreibens über das Buch der Minne erzeugt im Endeffekt einen Text von knapp 2000 Versen. Damit aber ist es selbst ein Minnebuch, in dem die Regeln und Gesetze der Minne kodifiziert sind und mit dem der Verfasser (sofern man ihn mit dem Ich-Sprecher identifiziert) sich selbst initiiert, sich selbst hineinschreibt in die Gemeinschaft der ‚Minne-Heiligen‘, insofern er nämlich von den Instanzen der Minne, den Personifikationen, zum Verkünder dieser Regeln und Gesetze und damit zum Vertrauten gemacht wird. 2.b. Schrift als Diskursstörung Die zweite Funktion kommt insbesondere in Fällen vor, in denen falsche oder negative Minnelehren als Schrifttexte verbreitet werden. Die beiden ausgewählten Beispiele indizieren eine genuine Problematik der Schrift, dass sie sich nämlich gegenüber dem Verhältnis von Sender und Empfän-
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ger einer Botschaft verselbständigen kann.29 Vor allem können schriftlich kommunizierte Texte in Situationen auftauchen, in denen der Verfasser für seine Verfasserschaft nicht habhaft gemacht werden kann und der kommunizierte Text durch Mangel an Kommunikationsmöglichkeit von Verfasser und Rezipient eine Irritation hervorruft. Positiv ausgedrückt: Die Schrift kann für eine gelingende Minnekommunikation nur dann ihren Sinn erfüllen, wenn die produzierten Texte in Kommunikationsgemeinschaften aufgehoben bleiben, wenn sie gewissermaßen intern zirkulieren und nicht in die Anonymität einer literarischen Öffentlichkeit geraten. Die folgenden zwei Beispiele kommen darin überein, dass in ihnen schriftliche Dokumente vorgebracht werden, in denen negative und falsche Minnelehren erteilt werden. Schrift erscheint hier als Medium der Antiminne, als Stein des Anstoßes. In der Ironischen Minnelehre beklagt sich der Sprecher einleitend über die Frauen, die häufig jene Männer als Liebhaber bevorzugen, die unmoralisch und untreu allen Frauen schöne Augen machen. Im Folgenden zitiert er – und nur das interessiert hier – einen anonymen Verfasser eines Textes (V. 64: ain schreiber gar untugenthaft), der für die schlechten Liebhaber die Lehren verfasst habe:30 Darzu so haut sein maisterschaft ain schreiber gar untugenthaft gelert von allen mannen. man solt in zwar verpannen, der frawen also ab gestat und w i d e r s i g e d i c h t e t haut. nun hörend zuo dem faigen wicht, das er so übel hat gedicht. er set als py namen: „man, du solt dich nit schamen gen weiben weder groß noch clain. dein hertz mach aller welt gemain. [...]“ (V. 63-74)
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Dies ist natürlich vor allem beim Liebesbrief eine Gefahr, die allerdings in den Minnereden nur selten thematisiert wird, z. B. in der Minnerede Die getrennten Liebenden (BRANDIS [Anm. 10], Nr. 215), vgl. dazu LIEB/STROHSCHNEIDER (Anm. 11). BRANDIS (Anm. 10), Nr. 350: Ironische Minnelehre. Edition: Zwölf Minnereden des Cgm 270. Kritisch hrsg. von ROSMARIE LEIDERER, Berlin 1972 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 27), Nr. 10. Gegenüber der hier zitierten Fassung im cgm 270 überliefert der andere Textzeuge (Weimar, Herzogin Anna Amalia-Bibliothek, Ms. O 145, fol. 151r-160v) diese einleitenden und ausleitenden apologetischen Bemerkungen nicht, so dass man eigentlich sagen muss: Im cgm 270 liegt ein Fall von reflektierter schriftlicher Rezeption vor, die den Inhalt des rezipierten Textes zwar wiedergibt, aber mit Zusätzen versieht, so dass der ursprüngliche Text als schriftlicher fixiert wird und dadurch auf Distanz gehalten wird.
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Zudem hat ein Schreiber seine Fähigkeiten für eine ganz tugendlose Lehre aller Männer gebraucht. Man sollte den auf jeden Fall verbannen, der auf diese Weise von den Damen abfällt und gegen sie dichtet. Hört nun dem bösen Kerl zu, was er so Übles gedichtet hat. Er sagt wahrhaftig: „Mann, du brauchst gegenüber Frauen, ob sie groß oder klein sind, keine Scham empfinden. Schenke dein Herz jeder auf der Welt. [...]“
Auf diese Weise geht es 200 Verse lang weiter. Die Problematik, die aus der Abkoppelung der schriftlichen Texte von der gemeinsamen Face-to-faceKommunikation resultiert, findet sich auch in der erzählenden Minnerede Der Frau Venus neue Ordnung. Hier trifft der Ich-Sprecher im amoenen Wald auf zwei Damen, die ihn fragen, wie er denn die neue Ordnung der Liebe finde. Der Sprecher weiß nichts von dieser neuen Liebe und bittet daher die Damen, ihn aufzuklären. Eine der Damen tut dies:31 Sie sprach: ‚es ist vns b e s c h r i b e n g e b e n Jr mensur vnd Jr geferte *Doch ist Jr ordenn nicht so hertt *Als der fordern liebe was‘ Sie zeiget mir e i n e n b r i e f d e n I c h l a s Sie sprach: ‚den hat fraw Venus gesant Jren besundern freünden In das lant‘ der hub von ersten an Als Ich Jn verstan han Das ist der brieff Wir Venus von gotes gnaden Erlauben das on vnsern schaden Das ein yetlich mensch, fraw oder man Sol fürpas drej pulen han. [...] Sie sagte: „Uns ist schriftlich ihre Regel und ihre Verhaltensweise mitgeteilt worden. Jedenfalls ist ihre Ordnung nicht mehr so hart wie die der früheren Minne.“ Sie zeigte mir einen Brief, den ich las. 31
BRANDIS (Anm. 10), Nr. 356: Der Frau Venus neue Ordnung. Edition: Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Hrsg. von ADELBERT VON KELLER, Bd. 3, Stuttgart 1853 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart), S. 1407-1414, v. 104-116; *v. 106f. nach der Parallelüberlieferung in Berlin, SBB-PK, Ms. germ. fol. 488. – Zu den Fassungen und zur Überlieferungsgeschichte dieser Minnerede vgl. LIEB (Anm. 15), S. 152-154.
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Sie sagte: „Den hat Frau Venus ihren ausgewählten Freunden im ganzen Land zugesandt.“ Er begann, so wie ich ihn damals verstanden habe, folgendermaßen: Das ist der Brief: Wir, Frau Venus von Gottes Gnaden, erlauben im Einklang mit uns selbst, dass jeder Mensch, ob Frau oder Mann, fortan drei Liebesbeziehungen gleichzeitig haben soll. [...]
Die Norm der Vermittlung von Lehren war oben im Minnegericht des Elenden Knaben zu beobachten. Sie wird garantiert von einer quasi priesterlichen Exegesekompetenz. Die Norm ist, dass Frau Minne (oder eine ihrer Personifikationen) in einer Face-to-face-Kommunikation ihre Lehren vermittelt. In solchen Interaktionen kann die Lehre kontrolliert werden. Dass sie hier einen Brief ausgibt, ist schon an sich ein Zeichen der Verkehrung. Dass solche nicht-konformen Lehren intradiegetisch in der Schrift erscheinen, hat meines Erachtens damit zu tun, dass in diesen Fällen Schriftlichkeit nicht mehr umgeben und kontrolliert ist von den produzierenden Kommunikationsgemeinschaften. Das ist gefährlich. Schrift kann Inhalte transportieren, die außerhalb der Diskursregeln stehen und auf diese Weise den konventionalisierten Diskurs zum Erliegen bringen. Im letzten Beispiel kann das daran abgelesen werden, dass nach der Wiedergabe des Briefes und der Irritation des Sprechers (er stellt indigniert fest, dass ihm eine Buhlschaft schon anstrengend genug sei) gerade keine Minnekommunikation mehr stattfindet, sondern die zwei Damen sich vom Sprecher verabschieden. 2.c. Schrift als Diskursgenerator Die dritte Funktion ist gewissermaßen das positive Gegenstück zur Diskursstörung. Schrifttexte, die diskursgenerierend wirken, die also Anschlusskommunikation hervorbringen und kontrollieren, sind entweder literarisch ausgezeichnete Prätexte der ganzen Minneredentradition (z. B. der Tristanroman)32 oder persönlich weitergegebene Texte, wie der Brief von Frau Venus im folgenden Beispiel. Der Ich-Sprecher im Liebesgespräch (I) erzählt, wie er einst seiner Geliebten begegnete und zur Einleitung des Liebesgesprächs einen Brief benutzte, den ihm Frau Venus geschrieben hat:33 32 33
Diesen Aspekt habe ich mit PETER STROHSCHNEIDER (Anm. 11) bereits ausführlicher behandelt, so dass ich mir erlaube, diesen Abschnitt etwas kürzer zu fassen. BRANDIS (Anm. 10), Nr. 239: Liebesgespräch. Edition: Die Haager Liederhandschrift. Faksimile des Originals mit Einleitung und Transkription. Hrsg. von ERNST FERDINAND KOSSMANN, Haag 1940, Nr. 44.
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Sus dwanch mich die goete, Das ich ir so holt was. Sehant ich einen brief las, Den sande mir Venus, Und hies mir sprechen zus: „Vrouwe, dir in darf nit wonderen, Das ich dir ussonderen Vor allen anderen wiben. Du eyne machs verdriben Mine sorge und clage, Die ich in min hertze drage [...].“ (V. 36-50) So [aufgrund ihrer Schönheit] konnte ich es nicht verweigern, der Guten ganz gewogen zu sein. Sogleich las ich einen Brief, den mir Frau Venus gesandt hatte; sie riet mir, folgendermaßen zu sprechen: „Herrin, du brauchst dich nicht zu fragen, warum ich dich aus allen Frauen ausgewählt habe. Du allein kannst meine Sorge und Klage vertreiben, die ich in meinem Herzen trage [...].“
Der Brief von Frau Venus, den der Sprecher hier benutzt, um im schwierigen ersten Anfangen des Gesprächs nicht topisch zu verstummen,34 ist ganz konventionell. Es wird nichts anderes formuliert als das, was in vielen Minnereden an Formeln und stereotypen Argumenten vorgeführt wird. Daran ist zu sehen, wie wichtig die schriftlich distribuierten konventionellen Minnereden für die konkrete Minnekommunikation sein können. Was in der Schrift verfügbar ist, hat man als Wiedergebrauchsrede zur Hand, und man kann auf diese Weise die Kommunikation zumindest erfolgreich in Gang bringen. 2.d. Schrift als Reflexionsmedium Eine vierte Funktion textinterner Schriftlichkeit ist die Schrift als Reflexionsmedium, als Distanzierungsstrategie und Affektkontrolle. Ich habe ein Beispiel gewählt, in der diese Funktion ex negativo deutlich hervortritt: Der Liebesbrief von Gozold. In dieser Minnerede tritt der Ich-Sprecher als Schreiber auf: Als er eine trauernde Dame im Wald trifft, bietet er ihr seine
34
Zur Topik des Verstummens vgl. KATHARINA WALLMANN: Minnebedingtes Schweigen in Minnesang, Lied und Minnerede des 12. bis 16. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. u. a. 1985 (Mikrokosmos 13).
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Hilfe an. Er will in ihrem Auftrag einen Liebesbrief an ihren Geliebten schreiben. Sie freut sich darüber. Doch als er sie bittet, ihm etwas zu diktieren, sagt sie:35 ‚s c h r e i b a l s u s t , Das ist meins hertzen gelust: „Lieb vnd lieb, ée lieb vnd nóch lieb! Also bin ich dir hie Meins hertzen lieb on end!“‘ (V. 105-109) ,schreib folgendermaßen, so wie es der Lust meines Herzens entspricht: „Lieb und lieb, früher lieb und noch immer lieb so bist Du, Liebster meines Herzens, mir hier lieb ohne Ende!“‘
Die Dame, die von der Minne entzündet ist, ist offensichtlich unfähig einen Brief zu diktieren, denn sie beherrscht nur die rhetorische Stilfigur der Wiederholung: lieb vnd lieb... Dass hier ein unzulänglicher Text produziert wird, sieht man auch daran, dass die drei Verse sich nicht reimen bzw. nicht mehr als eine Assonanz (lieb : hie) installieren. Der Schreiber wiederum moniert, dass das Diktierte keineswegs ausreichend sei. Er erwartet offenbar, dass die Dame – rhetorisch versiert – den Konventionen des Minneredens gemäß mehr Text produziert: Ich sprach: ‚fraw, mit meiner hennd Hab ich das p a l d g e s c h r i b e n . Seit ir by synnen beliben, So sagent mer, d a s s c h r e i b i c h f u r t .‘ [...] Sy sprach: ‚Ey, lasz mich ruen bas, Wann ich des wol bedarff.‘ Vor zoren ich die vedern hin warff. Da sy nit mer kunt kallen, Da sach ich empfallen Der zarten lid vnd leib, In onmächt viel das schön weib. Da sach ich an der selben stund Ain haissen flamm vs irem mund, Das von der hitz der mund was truck. (V. 110-131) Ich sagte: ‚Herrin, mit meinen Händen habe ich das schnell geschrieben. Wenn ihr noch bei Sinnen seid, 35
BRANDIS (Anm. 10), Nr. 213: Der Liebesbrief von Gozold. Edition: Liederbuch der Clara Hätzlerin (Anm. 20), Nr. II 10.
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dann sagt noch mehr, was ich weiter aufschreiben kann.‘ [...] Sie sagte: ‚Ach lasst mich lieber ausruhen, denn ich brauche das jetzt.‘ Aus Zorn warf ich die Feder hin. Sie konnte nun nicht mehr reden. Da sah ich, dass die Schöne die Kontrolle über ihre Glieder und ihren Körper verlor. In Ohnmacht fiel die gut aussehende Frau. Da sah ich zur gleichen Zeit eine heiße Stichflamme, die aus ihrem Mund kam, so dass ihr Mund von der Hitze ganz trocken wurde.
Vielleicht könnte man hier – mit FOUCAULT gesprochen – eine externe Prozedur bei der Produktion des Minnediskurses beobachten, nämlich die Grenze von Vernunft und Wahnsinn: In der Figur der verliebten Frau wird vorgeführt, wie der Prozess einer Verschriftlichung scheitert (und dieses Scheitern erzeugt Zorn), weil diese Frau zu affektgeladen, zu emotionalisiert an das Liebesthema herangeht. Sie verkörpert den nicht diskursivierbaren Wahnsinn der Minne. Dieser wird quasi mit physiologischer Evidenz ausgestattet: Weil offenbar aus dem Herzen eine Hitze emporsteigt und als Flamme sichtbar wird, die aus dem Mund kommt, ist der Mund der Dame ausgetrocknet. Ihre Sprache ist ‚trockengelegt‘. Abgesehen von der genderThematik, die für die Minnereden noch weitgehend unbeachtet geblieben ist,36 ist diese Minnerede deswegen interessant, weil sie die Notwendigkeit einer reflektierenden distanzierten Thematisierung von Minne bewusst macht: Liebesbriefe und Minnereden haben als Texte nur Erfolg, wenn die Liebe mit Verstand und der souveränen Verfügung über ästhetische Ausdrucksformen einhergeht.
3. Schreibpraxis: Minnereden als Schrifttexte Vorweg möchte ich eine Hypothese formulieren, die an die bisherigen Ausführungen anschließt und die sich im Laufe der letzten Beispiele plausibilisieren sollte: Minnereden sind Texte der konzeptionellen Schriftlichkeit und sie sind überwiegend Texte, die nicht mehr diktierend entstanden, son36
Eine Ausnahme bilden vor allem die Arbeiten von ANN MARIE RASMUSSEN, z. B.: Gendered Knowledge and Eavesdropping in the Late Medieval German Minnerede. In: Speculum 77 (2002), S. 1168–1194; und zuletzt: Masculinity and the Minnerede: Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. oct. 186 (Livonia, 1431). In: Triviale Minne? Konventionalität und Trivialisierung in spätmittelalterlichen Minnereden. Hrsg. von LUDGER LIEB/ OTTO NEUDECK, Berlin, New York 2006 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 40), S. 119-138.
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dern im Vollzug eigener Schreibpraxis.37 Dieser Vollzug eigenen kreativen Schreibens hätte allerdings nicht die Funktion, literarische Texte für eine literarische Öffentlichkeit zu produzieren (Minnereden sind keine Literatur).38 Das Schreiben von Minnereden zielte vielmehr einerseits auf die Konstitution und Gestaltung eines hermeneutischen Innenraums, also auf die Codierung der Innerlichkeit des schreibenden Verfassers und zielte andererseits auf die Konstitution einer imaginären oder auch realen Minnekommunikationsgemeinschaft, die die Textproduktion fordert und kontrolliert und den minnenden Schreiber involviert. Über die Praxis des Minnereden-Schreibens haben wir kaum textexterne Aussagen. Wir sind also auch hier – eingedenk der methodischen Probleme, die dieses Vorgehen aufwirft – auf die Selbstaussagen der Texte angewiesen. Im Folgenden sind daher Textpassagen zusammengestellt, in denen das schriftliche Verfassen von Minnereden oder minnereden-ähnlichen Texten thematisiert wird. Vorweg seien aber auch Indizien erwähnt, die die zunehmende Dominanz des Schreibens im Kontext literarischer Kommunikation unterstreichen mögen. Das sind z. B. die Erwähnungen des Schreibens als eines herausragenden Aktes menschlicher Kommunikation. So heißt es etwa in der Minnerede Der erste Buchstabe der Geliebten:39 Ee ist ain anfang meiner fräden, Ee, ich muosz dir geüden! Was der himel hatt beschlossen, Was wunn von himel ist geflossen, Was edler frucht vff erden lebt, Was in hochen lüften schwebt, Was in wasser hat sein wesen, Wa s s p r e c h e n , s c h r e i b e n k a n n v n d l e s e n ; Das grüsz das zart E von mir. (V. 1-9) Das ‚E‘ ist ein Anfang meiner Freuden, ‚E‘, ich muss dir zujubeln! Was auch immer der Himmel umschließt, was auch immer an Wonne vom Himmel herabkommt, welche edle Frucht auch immer auf Erden lebt, was auch immer in der Luft oben sich bewegt,
37 38 39
Das Scheitern von Gozolds Liebesbrief im vorigen Beispiel wäre vielleicht auch ein Indiz dafür, dass das Diktieren im Bereich der Minnekommunikation nicht länger funktioniert. Vgl. LUDGER LIEB: Eine Poetik der Wiederholung. Regeln und Funktionen der Minnerede. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450. Hrsg. von URSULA PETERS, Stuttgart 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), S. 506-528. BRANDIS (Anm. 10), Nr. 4: Der erste Buchstabe der Geliebten. Edition: Liederbuch der Clara Hätzlerin (Anm. 20), Nr. II 11.
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was auch immer im Wasser lebt, was auch immer sprechen, schreiben und lesen kann – alles möge das liebliche ‚E‘ von mir grüßen!
Alles soll das zarte ‚E‘ grüßen. Bemerkenswert ist die Ordnung dieses ‚Alles‘: Wonne des Himmels, jede edle Frucht auf Erden (dazu die Lebewesen in Luft und Wasser) und schließlich: Was sprechen, schreiben kann vnd lesen (V. 8), d. h. doch wohl das, was unter den menschlichen Akten das hervorragende ist. In einem solch weltlichen Hymnus würde man eher die alte Formel ‚was singen und sagen kann‘ erwarten, aber neben dem Sprechen sind in diesen Kontexten der Minnekommunikation eben offenbar vor allem die Kompetenzen des Schreibens und Lesens von zentraler Bedeutung.40 In der Minnerede Das Wesen der Minne (II) wendet der Sprecher gegen die klerikale Kritik an der Minne ein, aus seinem Buchwissen gehe hervor, dass man die Minne nicht meiden solle. Sein Buchwissen über die Minne aber – und das interessiert hier – unterstreicht er mit dem kodikologischen Fachbegriff des Quaternio (quatern), einer Lage aus vier Blättern: ich han manchen quatern / beid her unnd dar gewant.41 Neben dem Hinweis auf die schriftliche Rezeption lässt sich in dieser Aussage eventuell auch ein Verweis auf die Überlieferungstypik des Einzelfaszikels für solches minnetheoretisches Schrifttum (oder gar für Minnereden?) gewinnen. Quaternionen waren immerhin nicht selten als Einzelfaszikel im Umlauf.42 Auch Minnereden wie der Alphabetische Liebesgruß 43 sprechen dafür, dass Minnereden für die schriftliche Kommunikation gedacht waren, ebenso die relativ vielen Texte mit festen Verszahlen (50, 100, oder in der Minneburg auffallend häufig Einheiten mit 346 Versen). Nachdem die Annahme eine gewisse Plausibilität erreicht hat, dass Minnereden zu einem guten Teil sich als Schrifttexte verstanden und wohl auch für die ‚private‘ Lektüre bestimmt waren, soll das nächste Beispiel das Verhältnis von Schriftpraxis und Eingeschrieben-Werden beleuchten: Im Schloss Immer versucht der Ich-Sprecher vergeblich, ein Schloss zu erobern
40
41 42 43
Eines von vielen weiteren Beispielen wäre die Minnerede BRANDIS (Anm. 10), Nr. 267: Neujahrsgruß an die Frauen. Edition: GEORG K. FROMANN: Neujahrsgruß an die Frauen von Hans Krug. In: Germania 25 (1880), S. 107-108, hier S. 107f.: Der Sprecher lobt die Frauen: Durch sy man alle kurtzweil treibt. / Von in man l i ß t s i n g t t v n d s c h r e i b t (V. 27f.; um derentwillen man alle Kurzweil veranstaltet. Von ihnen liest, singt und schreibt man.) BRANDIS (Anm. 10), Nr. 285: Das Wesen der Minne. Edition: Mittelhochdeutsche Minnereden II (Anm. 24), Nr. 8, V. 8f.: ich habe viele Quaternionen hin- und hergewendet. Vgl. KARIN SCHNEIDER: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung, Tübingen 1999 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte. B. Ergänzungsreihe 8), S. 175-178. BRANDIS (Anm. 10), Nr. 141: Alphabetischer Liebesgruß. Edition: Mittelhochdeutsche Minnereden II (Anm. 24), S. 108-109, Nr. 20.
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(eine Allegorie auf die missglückte ‚Eroberung‘ seiner geliebten Dame). Anschließend kommt er traurig und einsam in einen tiefen Wald. Dort trifft er eine klagende Frau, die sich als Personifikation der Trauer entpuppt und ihn fragt, ob er auch traurig sei. Das bestätigt das Ich:44 ‚[...] Das sült ir wol gelauben mir! Nembt hin den b r i e f , den leszt ir!‘ Daran es g a n t z g e s c h r i b e n was. (V. 477–479) ‚Das könnt ihr mir glauben! Nehmt diesen Brief und lest ihn!‘ In diesem Brief war alles aufgeschrieben.
Was das Ich hier also bei sich hat, ist ein schriftlicher Text, der das Leiden und die Trauer des Ichs ausdrückt. Dieser ‚Brief‘, der kein Brief in unserem Sinne, sondern eher eine Selbstauskunft des Verfassers ist (also eine Minnerede!), dieser Brief legitimiert das Ich als einen traurigen Minnenden vor einer Instanz der imaginären Welt. Dort und nur dort findet der Brief sein Recht und seine Funktion. Gelesen wird der Brief nicht von anderen Minnenden, sondern allein von dieser Instanz der imaginären Minne-Welt: Da sy den brief vsz gelas, Sy sprach: ‚als ich vernomen han, Du bist ain frädenloser man! Dein hertz hatt trauren besessen, Ich hab das wol gemessen; Du bist auch ellends genosz, Dein hertz ist an fräden plosz.‘ (V. 480-486) Nachdem sie den Brief durchgelesen hatte, sagte sie: ‚So wie ich vernommen habe, bist du ein freudenloser Mann! Traurigkeit hat dein Herz besetzt, ich habe das gut verstanden; du leidest auch am Unglück und dein Herz ist ganz ohne Freude.‘
Mit der Schrift seiner ‚Minnerede‘ hat der Ich-Sprecher also die Authentizität seines Minneleidens bewiesen, so dass Frau Trauer ihrerseits diesen Zustand des Sprechers schriftlich festhalten, ihn einschreiben kann in das ‚Buch der Elenden‘.
44
BRANDIS (Anm. 10), Nr. 486: Schloß Immer. Edition: Liederbuch der Clara Hätzlerin (Anm. 20), Nr. II 14.
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Wilt du also beleiben, So will ich dich hie s c h r e i b e n I n d a s p u o c h der ellenden; Doch muost du dein hertz wennden Von der welt gantz vnd gar [...]‘ (V. 487–491) Willst du also hier bleiben, so werde ich dich hier in das Buch der Elenden schreiben, doch musst du dafür dein Herz vollständig von der Welt abwenden [...]‘
Die letzte Bedingung, die Aufforderung zur Abkehr von der Welt, zeigt, worum es hier auch geht: um eine andere Welt, eine Welt des Herzens, die einen exklusiven Anspruch hat. Diese andere imaginäre Minnewelt ist im Wesentlichen nur über die Schrift zu haben. In der umfangreichen Minnerede Der neuen Liebe Buch kommt der IchErzähler gar nicht mehr selbst zu dem utopischen Ort einer anderen, besseren Welt der Minne, sondern diese Welt ist ihm nurmehr als Buch zugänglich. Als der Ich-Erzähler mit seinem Freund einmal auf der Jagd ist, wird er von einem fliegenden schwarzen Reiter überrascht. Dieser ist auf dem Weg in die Stadt der neuen Liebe und übergibt dem Erzähler ein Buch, das gewissermaßen den Geheimcode für den Zugang in diese Stadt enthält:45 Er zoch ain buoch herfür Darinnen stuond von pluot Schrifft vnd karacter guot Vnd namlich zirckel dry Etlich figur darby Beschwerungen der gaist Das minst vñ och das maist Zuo disem experiment Wie man die kunst vollent Vnd grüntlich practiciert (V. 922-931) Er zog ein Buch heraus, in dem – mit Blut geschrieben – Schrift und gute Zeichen standen, auch auf gleiche Weise drei Zirkel und viele Figuren dabei, Beschwörungen der Geister
45
BRANDIS (Anm. 10), Nr. 441: Der neuen Liebe Buch. Edition: HANS HOFMANN: Ein Nachahmer Hermanns von Sachsenheim, Diss. phil. Marburg 1893; vgl. zu dieser Minnerede demnächst auch JACOB KLINGNER: Minnereden im Druck [Diss. Berlin 2004].
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sowie alles, vom Unwichtigsten bis zum Wichtigsten, für das Experiment, wie man die Kunstfertigkeit vollenden könne und von Grund her richtig praktiziere.
Dass dieses Buch mit Blut geschrieben ist, markiert seine Verbundenheit mit (Herkunft aus?) dem Innern des Körpers. – Statt nun selbst in diese Stadt der Liebe zu reiten oder zu fliegen, schickt der Ich-Sprecher seinen Freund dorthin, der ihm nach 7 Jahren endlich ein Buch zukommen lässt, in dem der utopische Weltentwurf einer Stadt der Minne grundgelegt ist. Da nam ich her zehand Das buoch mit lust vnd flyß Es was vff birment wyß Von hand geschriben kluog Mit maisterlichem fuog Gerymet vnd gedicht Ich spart mich lenger nicht Vnd was darzuo behend Bis ich es het zeend Gelesen gantz vnd gar Ob ich gesagen thar Was sin inhaltung sy Da wont mir zwyfel by (V. 1740-1752) Da nahm ich sofort das Buch mit Lust und Begierde zur Hand. Es war auf weißes Pergament schön von Hand geschrieben, mit meisterlicher Formkunst gereimt und gedichtet. Ich wartete nicht länger und war sehr schnell dabei, bis ich es vollständig und bis zum Ende gelesen hatte. Ob ich sagen darf, was in dem Buch drin steht, bezweifle ich.
Aus diesem Grunde wird das Buch nicht vorgelesen. Doch in einem begleitenden Brief beschreibt jener Freund, was in dem Buch steht, und so – doppelt über die Schrift vermittelt – erfährt auch der Rezipient schließlich von der Stadt der neuen Liebe. Mein letztes Beispiel ist die Minneburg.46 Die Minneburg, die in der Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden sein dürfte, ist eine der längsten Minnereden (über 5000 Verse) und wohl auch die in der Forschung bekannteste Minnerede. Sie lässt sich als Metatext oder Programmtext für die ganze
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Minneredentradition beschreiben, denn in ihr finden sich zahlreiche ‚Binnen-Minnereden‘, also Minnereden, die in Form einer Metadiegese in die allegorische Haupthandlung bzw. in die so genannten unterbint inseriert werden (unterbint sind ihrerseits Unterbrechungen der Haupthandlung, in denen das Ich von seiner eigenen Minnebeziehung berichtet). Diese Binnen-Minnereden entwerfen eine ganze Palette von Ausdrucksformen, die in den Minnereden des 14. und 15. Jahrhunderts typisch werden. WALTER BLANK legt plausibel dar, wie die Minneburg zwei „Stränge“ miteinander kombiniert:47 Den einen Strang bilden Allegorie, Auslegung und Lehre, wobei der Schwerpunkt auf einer ausführlichen Minnelehre liegt, die Ursprung, Wesen, Entwicklung und Regeln der Minne darlegt. Den anderen Strang bildet die persönliche Minne des Ich-Sprechers, der einer Frau bereits seine Liebe gestanden hat, aber von ihr keine Gegenliebe (widerminne)48 erfährt. Der Text besteht zunächst nur aus dem ersten Strang; der zweite Strang wird erst nach und nach und mit wachsender Intensität in den ersten Strang hineingeflochten. Dies geschieht vor allem in den so genannten unterbinden. Am Ende – das fünfte und letzte Kapitel besteht fast nur aus einem umfänglichen Minnegericht 49 – bestimmt der zweite Strang den Text vollständig, denn in diesem ‚Minnegericht‘ geht es – im Anschluss an zwei kürzere Gerichtsfälle – um einen Kasus, in dem die Minne des IchSprechers, der sich zugleich auch als Verfasser der Minneburg präsentiert, verhandelt wird. Um die Präsentation dieses Kasus, der in den letzten 1350 Versen des Textes behandelt wird, geht es mir im Folgenden. Denn hier wird das Verhältnis von Schreiben und Lieben auf eine ganz spezifische Weise entwickelt.50 Doch zunächst soll noch eine Stelle aus dem dritten unterbint erwähnt werden: Der Ich-Sprecher erzählt hier, dass er einst im Gebirge auf Amor 46
47 48 49 50
Die neuesten Arbeiten zur Minneburg: DAVID F[LETCHER] TINSLEY: When the Hero Tells the Tale. Narrative Studies in the Late-Medieval ‚Minnerede‘. Diss. Princeton University 1985, S. 94-125; RALF SCHLECHTWEG-JAHN: Minne und Metapher. Die „Minneburg“ als höfischer Mikrokosmos, Trier 1992 (Literatur, Imagination, Realität 3); ANJA SOMMER: Die Minneburg. Beiträge zu einer Funktionsgeschichte der Allegorie im späten Mittelalter. Mit der Erstedition der Prosafassung, Frankfurt a. M. u. a. 1999 (Mikrokosmos 52); DOROTHEA KLEIN: Zur Metaphorik der Gewalt in der ‚Minneburg‘. In: Würzburg, der große Löwenhof und die deutsche Literatur des Spätmittelalters. Hrsg. von HORST BRUNNER, Würzburg 2004, S. 103119; DIES.: Allegorische Burgen. Variationen eines Bildthemas. In: Die Burg im Minnesang und als Allegorie im deutschen Mittelalter. Hrsg. von RICARDA BAUSCHKE, Frankfurt a. M 2006 (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung 10), S. 113-137. BLANK (Anm. 10), S. 216-223. widerminne ist ein Leitbegriff in der Minneburg. Eine ausführliche, in erster Linie narratologische Analyse des Minnegerichts liefert TINSLEY (Anm. 46), S. 109-116. Um die Rolle der Schrift und des Schreibens in der Minneburg hat sich die Forschung bisher wenig bemüht.
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und Venus getroffen und von diesen aufgefordert worden sei, seine Frau zu beschreiben. Er habe dies als unmöglich zurückgewiesen:51 Wer ich als wise als Salomon [...] Dannoch kuende ich volloben nitt Daz aller mynste und cleinste gelitt, Daz uz ir ist gekirnet. Wie ich sie undervirnet In der wysheit alter, Yd o c h i r e s l o b e s s a l t e r Wil ich uch lesen hie ein blat, Als ir mich gebeten hat: [...] (V. 3356. 3361–3368) Wäre ich so weise wie Salomon [...], ich könnte trotzdem nicht das allergeringste und kleinste Körperglied vollständig loben, das aus ihr entsprossen ist. Wie jung ich auch bezogen auf das Alter der Weisheit bin, ich will euch doch ein Blatt aus dem Psalter ihres Lobes vortragen, wie ihr mich gebeten habt: [...]
und hier nun beginnt die extrem hyperbolische Binnen-Minnerede: Irs namen luchtig gymme / Ist durch sußet als ein zimme [...] (V. 3369f.; „der leuchtende Edelstein ihres Namens / ist ganz und gar süß wie Zimt ...“). Der IchSprecher liest also einen Text vor. Die Angabe, er lese ein Einzelblatt aus dem Psalter ihres Lobes vor, scheint dabei mehr zu sein als eine hübsche Metapher. Dahinter steht offenbar die Vorstellung, dass das minnende Ich bereits eine ganze Sammlung von Minnereden angelegt habe, die es vor den Instanzen der imaginären Minnewelt vortragen könne. Diese Vorstellung scheint im Übrigen auch in dieser vorgetragenen hyperbolischen Minnerede selbst auf, wenn es von ihrer Schönheit heißt: Solt man an ein brives zedeln Daz halbes schriben unde sagen, Ez kunde ein karre kaum getragen. (V. 3458-3460) Würde man auf Zetteln nur die Hälfte davon aufschreiben und sagen, könnte man es mit einem Karren kaum transportieren.
Das Modell eines Vortrags von eigenen schriftlich verfassten Minnereden ist der Kulminationspunkt der ganzen Minneburg. In ihrem sehr umfangreichen fünften und letzten Kapitel wird – wie gesagt – ein Minnegericht 51
BRANDIS (Anm. 10), Nr. 485: Die Minneburg (Anm. 21).
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erzählt, das am Ende ausschließlich darin besteht, dass zur Bestätigung der rechten Minne des Ich-Sprechers dessen ‚eigene‘, ‚selbst verfasste‘ Minnereden vor Frau Minne und ihrem Hofstaat vorgetragen werden. Insgesamt handelt es sich um fünf Binnen-Minnereden (von der letzten ist nur der Anfang erhalten). Die ersten drei Reden haben übrigens annähernd denselben Umfang (je ca. 346 Verse)52 wie das erste und zweite Kapitel der Minneburg (354 bzw. 346 Verse), was ein Indiz dafür sein könnte, dass es sich hier um eine Art von Einschachtelung oder re-entry handelt: Was als konventionell literarisch ausdifferenzierter und bestimmbarer Text beginnt, umschließt am Ende in seinem Innen, in seiner Diegese mehrere Texte, die auf dieselbe Weise ausdifferenziert sind. Dadurch gewinnt der ganze Text die Qualität eines sich selbst reproduzierenden Systems. Eine treibende Kraft spielt dabei Frau Treue, die als Anwältin ihren Mandanten, ihren Diener, vor Gericht vertritt. Um das Recht immer noch evidenter zu machen, fordert sie nämlich Frau Minne auf, mit ihrem Urteil noch zu warten und lieber noch eine Rede anzuhören. Dabei kommt es zunächst für den Rezipienten zu einer Irritation, denn der Diener der Frau Treue entpuppt sich nach und nach als der Ich-Sprecher selbst. Vor der ersten Binnen-Minnerede, die offenbar Frau Treue vorträgt, berichtet diese schon, dass die folgende Rede vom Verfasser der Minneburg auf den Diener der Treue gedichtet worden sei und zudem dass diese beiden der Geburt nach Zwillinge seien (V. 4246-4266). Nach dem Vortrag dieser Rede schlägt Frau Treue vor, der Diener solle nun selbst eine Rede vortragen und zwar wiederum eine Rede, die im durch lieb getichtet hat, / Der ditz buch hat vor getichtet (V. 4636f.; „die ihm aus Liebe derjenige gedichtet hat, der auch das ganze Buch [die Minneburg] zuvor schon gedichtet hat“). Frau Minne stimmt zu, und es heißt von diesem Diener der Treue: Ich [!] sprach: ‚hoert zu; ich sag uch daz, Als ich aller ferste kan.‘ Hie hebt sich die rede an. (V. 4650-4652) Ich sagte: ‚hört zu, ich sage euch diese Rede, wie ich es am besten vermag.‘ Hier beginnt die Rede:
Es wurde bemerkt, dass in V. 4650 „der Autor selbst oder aber einer der Abschreiber die Kontrolle über die Identitäten kurzfristig verloren hat“.53 Hier müsste eindeutig „er sprach“ stehen, weil der Erzähler diesen Diener von Frau Treue an allen anderen Stellen mit dem Personalpronomen der dritten Person Singular bezeichnet. 52 53
1. Binnen-Minnerede: V. 4267-4612 = 346 Verse; 2. Binnen-Minnerede: V. 4653-4998 = 346 Verse; 3. Binnen-Minnerede: V. 5013-5342 = 330 Verse. SCHLECHTWEG-JAHN (Anm. 46), S. 234.
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Nach dem Vortrag dieser zweiten Binnen-Minnerede redet Frau Treue erneut auf Frau Minne ein, sie solle noch warten und den Diener bitten, eine weitere Rede vorzubringen (V. 5004-5007). Auch dem wird ohne große Diskussion entsprochen. Erst das Gespräch nach der dritten und vor dem Vortrag der vierten Binnen-Minnerede (diese Rede beginnt mit V. 5362) ist für die vorliegende Fragestellung wieder von Bedeutung, und ich zitiere es daher vollständig: ‚O Venus, keyserynne, Hie horet ware mynne Von dem getruwen diner min! Heizzet uech noch sagen ein rede fin: Die vert erst uz der smitten. Und nach der virden und dritten Rede so fragt an gunderfeit, Als die rede sy fur geleit.‘ Also so rett fraw Truwe. ‚Fraw Mynne, durch gantze ruwe Horet zu dem diner min!‘ Do entwurt Mynne die richterin Und sprach: ‚fraw Truwe, ich wolde Daz ich der rede solde Nach ein ander horen hundert; Wann ich wol merk daz lundert Min fuer in im gar brunsticlich. Ey geselle, heb an und sprich Die rede durch die frawen din!‘ (V. 5343-5361) ‚O Venus, Kaiserin, hier hört ihr wahre Minne von meinem treuen Diener. Befehlt, dass er noch eine schöne Rede vortrage, eine, die gerade erst aus der Schmiede kommt. Und nach der dritten und der vierten Rede stellt dann erst in Wahrheit Fragen, je nach dem, wie die Rede vorgelegt wurde.‘ So sprach Frau Treue. ‚Frau Minne, hört wegen des ganzen Kummers meinem Diener zu.‘ Da antwortete Frau Minne, die Richterin, und sagte: ‚Frau Treue, ich möchte am liebsten nacheinander hundert solcher Reden hören, denn ich merke sehr gut, dass mein Feuer in ihm ganz heftig lodert. Wohlan, Geselle, beginne und trage die Rede um deiner Dame willen vor.‘
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Hier kommt die Minnerede zu sich selbst: Permanenter Vortrag schriftlich verfasster Texte vor der imaginären Instanz der Frau Minne, die daran ihren Gefallen findet. Und diese Permanenz äußert sich schließlich ganz folgerichtig darin, dass der Text der Minneburg unabgeschlossen ist. Nachdem der Verfasser/Ich-Sprecher/Diener der Treue seine vierte Minnerede vorgetragen hat, heißt es: Die rede die lig reht als sie lyt; / Ein andere wil ich sagen ein wille (V. 5480f.; „Soll diese Rede sein wie sie ist; ich will euch derweil eine andere vortragen“). Und mit dem nächsten Vers beginnt dann die fünfte Minnerede, von der aber nurmehr die ersten sieben Verse überliefert sind.54 Die in der Forschung durchgängig bestätigte Vermutung, dass der ‚ursprüngliche‘ Text der Minneburg nur wenig länger war,55 entbehrt jeder Grundlage. Dasselbe hätte man jedenfalls auch dann vermuten müssen, wenn der überlieferte Text bereits 1000 Verse früher geendet hätte. Vielmehr muss festgestellt werden, dass es so noch ewig weitergehen könnte; mit Frau Minne gesprochen: Solcher Reden kann man Nach ein ander horen hundert (V. 5357). Ein Ende ist in dieser Konstellation eigentlich gar nicht möglich, es muss im Prinzip vor der Instanz der Minne unendlich weitergedichtet werden. BLANK hat beobachtet, dass diese „Herauszögerung des Endurteils von innen her sogar schlüssig“ scheint,56 denn nachdem in den ersten zwei Gerichtsfällen bereits die angeklagten hartherzigen Damen von Frau Minne hart bestraft wurden, kann der Urteilsspruch von Frau Minne über die Geliebte des Ich-Sprechers auch nur sehr hart ausfallen – doch der IchSprecher will bis zum Schluss die Möglichkeit offen halten, dass die Geliebte ihm die Gnade doch noch gewährt. Zugleich wird mit der „Herauszögerung“ des Urteils die lebensweltliche Dimension des zweiten Strangs (BLANK), die persönliche Minne des Ich-Sprechers, ästhetisiert und als solche im permanenten Produzieren von Minnereden auf Dauer gestellt. Die Bemerkung von Frau Treue vor der vierten Binnen-Minnerede, diese Rede komme gerade erst uz der smitten (V. 5347), ist jedenfalls offensichtlich ein Selbstreflex des Schreibprozesses: Der Verfasser kommt ans Ende und schreibt weiter. Das andere, alles, was davor kam, das hatte schon Bestand, war zusammengestellt, geordnet etc., aber hier schreibt er gerade noch so weiter (und bricht dann auch nach kaum mehr als 100 Versen ab!?). Wo aber ist er hingekommen: vor das Minnegericht, vor dem er ewig seine 54
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Offenbar ging der Text aber noch auf der letzten Seite der Handschrift, cpg 455, fol. 202v, weiter, doch laut PYRITZ (Anm. 21), S. XIX, ist diese Seite „so beschmutzt und abgerieben, daß der Text (der bis zum Ende der Seite durchläuft) bis auf einige Buchstaben und kleine Wörtchen unleserlich ist.“ PYRITZ (Anm. 21), S. XIX: „Groß wird der Umfang des Verlorenen nicht sein“; ebd., S. LXVII: „kaum mehr als ein kleines Stück“; BLANK (Anm. 10), S. 223. BLANK (Anm. 10), S. 223.
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Treue bestätigen darf und soll. Erzählzeit und erzählte Zeit fallen am Ende der Minneburg zusammen: Das erzählte Ich kommt als weiterdichtendes Ich im Präsens der Erzählzeit des erzählenden Ichs an.
4. Schluss Um das besondere Verhältnis von Schreiben und Lieben in den Minnereden zusammenfassend zu beschreiben, möchte ich als Vergleichsfolie den Minnesang heranziehen. Dabei geht es mir nicht darum, eine Aussage über den Minnesang zu machen, sondern hinsichtlich der Rolle der Schriftlichkeit die Besonderheiten der Minnerede herauszustellen. Ich erlaube mir zu diesem Zweck, den Minnesang etwas vereinfacht zu beschreiben als: tendenziell für die öffentliche Aufführung bestimmtes Minnelied mit künstlerischem Anspruch. Vier Merkmale stecken neben dem Thema ‚Minne‘ in dieser Beschreibung: Der Minnesang ist 1. kunstvoll, 2. für die Öffentlichkeit bestimmt, 3. aufführungsorientiert und 4. als Lied sangbar. Diesen vier Merkmalen möchte ich jeweils einen Gegenbegriff hinzufügen, der das Potenzial der Schrift für die Minnerede ausleuchten soll: 1. nicht kunstvoll, sondern verfügbar: Es geht in den Minnereden nicht um hohe Kunst eines Meisters, nicht um Werke mit ästhetischem Geltungsanspruch und elaborierten Formen, in denen sich ein Autorbewusstsein manifestierte oder das Bewusstsein, in einer literarischen Tradition zu stehen. Es geht nicht um ein Gesamtkunstwerk aus Text, Musik, Gesang und Gebärde, sondern es geht um die textuelle Selbstermächtigung eines Minnenden, am Minnediskurs teilzuhaben, es geht um Einübung und Benutzung symbolischer Codes57, um mit anderen Minnenden oder auch mit einer imaginären Minnediskursgemeinschaft zu kommunizieren. In der Schriftlichkeit werden diese Codes verfügbar gemacht. Im Bereich der Minnereden ist Schrift ein Diskurszugang, eine Ermöglichung von Ausdruck, eine Verfügbarmachung einer Sprache über die Liebe.58 2. nicht öffentlich, sondern heimlich-exklusiv: Über die Minne, d. h. über eine den politischen und kirchlichen Institutionen (z. B. der Ehe) fernstehende zwischengeschlechtliche Beziehungsform, konnte im Spätmittelalter nicht einfach öffentlich kommuniziert werden. Bedingung der Möglichkeit, dass dennoch eine Kommunikation über die Minne zustande kam, war daher einerseits eine Kommunikationsgemeinschaft mit starken Inklusions- und 57 58
NIKLAS LUHMANN: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M. 1982. Vgl. LIEB (Anm. 38); LUDGER LIEB/OTTO NEUDECK: Zur Poetik und Kultur der Minnereden. Eine Einleitung. In: Triviale Minne? Konventionalität und Trivialisierung in spätmittelalterlichen Minnereden. Hrsg. von DENS., Berlin, New York 2006 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 40), S. 1-17.
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Exklusionsmechanismen.59 Andererseits konnte gerade auch das eigenhändige Schreiben dem Minnenden ermöglichen, Persönliches und Intimes zu kommunizieren, denn das eigenhändige Schreiben gewährleistete im Spätmittelalter – anders als noch das Diktieren in den Jahrhunderten zuvor – die dazu „nötige Privatheit“60: Niemand ist zugegen, vor dem es peinlich sein könnte, Dinge auszudrücken, die man sonst nie aufgeschrieben hätte. Dreifach war die soziale Kontrolle der produzierten Texte zuvor: beim Diktat, wenn eine andere Person zugegen war, die als Zeuge hätte auftreten können; bei der Lectio, ihrer öffentlichen Verlesung, wenn das Kollektiv selbst zugegen war und lauschte, und schließlich bei ihrer Reproduktion durch Abschriften [...]. Jede dieser Barrieren wurde mit der Zeit aus dem Wege geräumt: das Diktat durch eigenhändiges Schreiben, die öffentliche Lectio durch stilles Lesen und die sozial kontrollierte Überlieferung durch private Abschriften, die unter der Hand weitergereicht wurden.61
Das eigenhändige Schreiben sowie das Weiterreichen ephemerer privater Abschriften „unter der Hand“ – oder besser: unter Freunden – dürfte für die Minnereden eine der primären Produktion- und Distributionsweisen gewesen sein.62 3. nicht aufführungsorientiert, sondern textorientiert: Der Akt des Dichtens einer Minnerede findet sein Ziel nicht in der Aufführung des Textes, sondern in der auf Dauer gestellten Textproduktion, in der Einschreibung in den Diskurs und in der Fortschreibung des Diskurses. Die Textproduktion selbst ist schon das, um was es geht: um die Produktion von Texten einer Diskursformation, die nur durch die Texte selbst lebendig wird. Minnereden wurden sicher in irgendeiner Weise rezipiert und sie zirkulierten wohl auch als schriftlich fixierte Texte, sonst hätte man sie nicht an verschiedenen Stellen (z. B. in den heute noch erhaltenen Sammelhandschriften) ‚sammeln‘ können. Aber sie wurden offensichtlich weniger als zur Performanz geeignete Produkte aufgefasst, sondern als transitorische Produkte:
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Vgl. LIEB/STROHSCHNEIDER (Anm. 11). PAUL SAENGER: Lesen im Spätmittelalter. In: Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Hrsg. von ROGER CHARTIER/GUGLIELMO CAVALLO, Frankfurt a. M., New York 1999, S. 181-217, hier S. 189. SAENGER berichtet hier unter anderem von Guibert von Nogent, der in seiner Schrift De vita sua sive Monodiarum libri tres „eine Erfahrung von Privatheit [beschreibt], die für die spätmittelalterliche Schriftkultur prägend werden sollte. Guibert verfaßte insgeheim Liebesgedichte in schriftlicher Form, die er antiken Mustern nachbildete und die er dann vor seinen Mitbrüdern versteckte.“ LUDWIG (Anm. 8), S. 196. Für die von JACOB KLINGNER wieder aufgefundene Handschrift aus Lana vgl. demnächst: JACOB KLINGNER: Gattungsinteresse und Familientradition. Zu einer wieder aufgefundenen Sammelhandschrift der Grafen von Zimmern (Lana XXIII D 33). In: ZfdA (im Erscheinen).
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Ludger Lieb
als Akte des Einschreibens eines Minnenden in den Diskurs, die dann wieder von den anderen Minnenden zu eigener Kreativität verwendet werden konnten. Dieses Einschreiben ist somit auch Ausweis von Rede- und Schreibkompetenz im Bereich der Minnedichtung, ja es wird selbst zu einem Akt des Minnens, wie PETER VON MOOS im Bezug auf die Epistolae duorum amantium formuliert: „Liebe und Liebesdichtung [fließen] als ein und dieselbe Kunst ästhetischer Sublimierung harmonisch zu ‚einer säkularen Religion der Liebe‘ ineinander.“63 Die Textpraxis der Minnereden ist Liebespraxis – zumal wenn man Liebe definiert als ‚Gedenken‘, als imaginatives Anfüllen des Ichs ‚mit der Dame‘ und mit dem Sprechen über die Minne. So ließe sich auch RAINER WARNINGs Formel für den Minnesang: „Singenkönnen ist Ausweis von Liebenkönnen“64 modifizieren. Für die Minnereden gilt: Schreibenkönnen ist Ausweis von Liebenkönnen. 4. nicht liedhaft, sondern episch: Das Minnelied bleibt meist auf die gegenwärtige Situation und auf die diesseitige Welt bezogen. Die Minnereden dagegen (vor allem die Minnereden mit stark narrativen Anteilen) machen sich auf die literarische Suche nach einer besseren Welt. Sie versuchen eine andere, ‚epische‘ Welt zu entwerfen, in der die Minne zu ihrem Recht kommt und reflektiert gehandhabt wird. Minnereden träumen sich in die ‚säkulare Religion der Liebe‘ hinein: In keiner anderen weltlichen Gattung des Spätmittelalters wird der Traum vom besseren Menschen – und damit von der besseren Welt – so intensiv und so dauerhaft geträumt wie in den Minnereden, in keiner wird die Liebe so ausschließlich zum Prüfstein und zum erklärten Ziel menschlichen Glücksstrebens.“65
Diese utopische Dimension eines epischen Weltentwurf erlangen die Minnereden unter anderem durch ihre Schriftlichkeit, in der sie die Anderwelt der Minne entwerfen können. Mit der im Spätmittelalter so ausgreifenden Kultur des Schreibens wird erstmals die Welt der Minne gestaltbar. Schreiben ermöglicht einen Entwurf, eine Gestaltung des Ichs und seiner inneren Welt.
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PETER VON MOOS: Die Epistolae duorum amantium und die „säkulare Religion der Liebe“. Methodenkritische Vorüberlegungen zu einem einmaligen Werk mittellateinischer Briefliteratur. In: Studi Medievali 44.1 (2003), S. 1-115, hier S. 99. RAINER WARNING: Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Gedenkschrift Hugo Kuhn. Hrsg. von CHRISTOPH CORMEAU, Stuttgart 1979, S. 120–159, hier S. 129. GLIER (Anm. 10), S. 13.
SUSANNE REICHLIN
Gescheiterte Liebeserziehung – gelungene Beschriftung: Sprache und Begehren im Märe Des Mönchs Not In den Kulturwissenschaften hat sich der linguistic turn in den letzten Jahren auch für das Verhältnis von Sprache, Körper und Begehren durchgesetzt: In unterschiedlichen Theorieströmungen ist man sensibel dafür geworden, dass das Begehren nicht in erster Linie körperlich zu verstehen ist. Stattdessen wird es als Produkt eines Diskurses oder als Effekt sprachlicher Prozesse konzipiert.1 In der mediävistischen Literaturwissenschaft hat insbesondere HOWARD BLOCH das Verhältnis von Sprache und Begehren in den Fabliaux analysiert und kommt zu fast schon programmatischen Thesen: To our initial question concerning the origin of desire, the response can only be something on the order of language or [...] the fabliau itself.2 The language which covers – and always covers imperfectly – does not stand in specular relation to the body (or to any body of representation), but on the contrary, seems even to engender that of which it speaks.3
Die Annahme, dass der Sprache Vorrang vor dem Körper gebühre, hat sich mit einer solchen Insistenz eingebürgert, dass sie oft geradezu plakativ wirkt. Differenzierungen zwischen unterschiedlichen Ebenen des Textes und den verschiedenen medialen Ausprägungen von ‚Sprache‘ werden verwischt. In einer Erzählung ist das Verhältnis von Sprache und Begehren immer ein zweifaches: Einerseits kann auf der Handlungsebene von sprachlich 1
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Als theoretische Eckpfeiler dieser Entwicklung könnte man u. a. nennen: MICHEL FOUCAULT: Sexualität und Wahrheit. Bd. 1. Der Wille zum Wissen. Übers. von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt a. M. 1999 (stw 716) ; ROLAND BARTHES: Die Lust am Text. Übers. von Traugott König, Frankfurt a. M. 1986 (Bibliothek Suhrkamp 378); NIKLAS LUHMANN: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M. 1994 (stw 1124) sowie die Arbeiten JACQUES LACANS, vgl. dazu: ALAIN JURANVILLE: Lacan und die Philosophie. Übers. von Hans-Dieter Gondek, München 1990 (Reihe Forschungen 3), S. 133-204. R. HOWARD BLOCH: The Scandal of the Fabliaux, Chicago, London 1986, S. 87. BLOCH (Anm. 2), S. 83.
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erzeugtem Begehren erzählt werden, andererseits kann die Erzählweise eines Textes Begehren evozieren. Der Begriff des „Textbegehrens“, der von HELGA GALLAS4 diesbezüglich eingeführt wurde, ist der Psychoanalyse Lacans verpflichtet und eignet sich deshalb nur bedingt für eine Analyse mittelalterlicher Erzählungen. Dennoch scheint es zentral, immer beide Darstellungsebenen von Begehren – deren Zusammenspiel und Diskrepanz – im Blick zu behalten. Um dennoch beide Darstellungsebenen genauer analysieren zu können, möchte ich im Folgenden ein Märe untersuchen, in dem die sprachlichdiskursive Produktion von Begehren scheitert, – zumindest auf der Handlungsebene. Das Märe Des Mönchs Not wird einem Zwickauer zugeschrieben.5 Es erzählt von einem Mönch, der im Kloster aufwächst und seine Tage mit Lesen, Singen und Beten zubringt. Eines Tages stösst er lesend auf den Ausdruck minne bant (V. 26; „Die Fessel der Liebe“) und fragt sich, was es bedeuten könnte. Er wendet sich an den Knecht des Klosters, der ihm mittels der üblichen Topoi von der Minne erzählt: Sie mache krank und gesund, binde und erlöse zugleich und wohne in einem Haus, guter spise und wines vol (V. 54; „voll von feinen Speisen und gutem Wein“). Dies klingt so verführerisch, dass sich der Mönch in Begleitung des Knechtes sogleich auf den Weg macht. In ihrer ersten Herberge bezahlt der Knecht die Wirtin, damit sie den Mönch in die Liebeskunst einführt. Dieser weigert sich aber, seine Kutte auszuziehen und bleibt steif im Bett liegen. Die Wirtin schlägt ihn wiederholt, sodass er zurück ins Kloster flieht. Doch nun glaubt er sich schwanger, weil der Knecht ihm erzählt hatte, dass derjenige der unten liege, auch die Kinder ‚austrage‘ (V. 261). Um dem Ehrverlust zu entgehen, versucht er eine Abtreibung. Er lässt sich von einem Knaben gegen Bezahlung schlagen, der auf diese Weise auch schon bei einem Kalb eine Abtreibung bewirkt hatte. Als ein Hase davonrennt, erkennt er darin sein eigenes Kind und folgt ihm weinend. Im 4 5
HELGA GALLAS: Das Textbegehren des ‚Michael Kohlhaas‘. Die Sprache des Unbewussten und der Sinn der Literatur, Reinbek bei Hamburg 1981 (das neue buch 162). S. u. Abs. VI, insbesondere Anm. 60. Ich zitiere im Folgenden (auch die Übersetzungen) nach: Der Zwickauer: Des Mönchs Not. In: Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Hrsg. von KLAUS GRUBMÜLLER, Frankfurt a. M. 1996 (Bibliothek des Mittelalters 23), S. 666-695. Zu Überlieferung, Edition und Datierung vgl. den Kommentar, S. 1250-1258 und HANNS FISCHER: Studien zur Märendichtung, Tübingen 1968, S. 205, der das Märe einer anderen Handschrift entsprechend einem Zwingäuer zuschreibt. Über den Verfasser ist nichts bekannt. Der „einzige verläßliche Anhalt“ für die Entstehungszeit ist die Überlieferung zweier Handschriften, die auf vor 1300 schliessen lassen (GRUBMÜLLER, S. 1251). Das Märe findet sich z. T. auch unter dem Titel Der schwangere Mönch (so z. B. in Gesamtabenteuer. Hundert altdeutsche Erzählungen: Ritter- und Pfaffen-Mären. Stadt- und Dorfgeschichten. Schwänke, Wundersagen und Legenden. 3 Bde. Hrsg. von FRIEDRICH HEINRICH VON DER HAGEN, Darmstadt 1961, Bd. II, Nr. 24, S. 53-69).
Gescheiterte Liebeserziehung – gelungene Beschriftung
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Wald trifft er einen Mitbruder, der ihn mit Gewalt ins Kloster zurückbringt. Da er weiterhin nach seinem Kind sucht, gilt er als besessen. Mit Gewalt und Beichte wird ihm dies aber ausgetrieben, so dass er am Ende – wie zu Beginn – seine Tage mit Lesen, Singen und Beten verbringt. Die bisherige Forschung6 interessierte sich vor allem für die Schwangerschaft des Mönchs. Für ROBERT ZAPPERI7 verbildlicht die Schwangerschaft die Effemination des Mönchs. Er liest das Märe als Kritik an Klerus und Adel, die beide die Herrschaft des Mannes über die Frau zu sichern versuchten. Der Mönch spreche am Ende als hysterisches Subjekt. ZAPPERI liest dies als utopisches Moment, weil dabei das Geschlechterverhältnis nicht mehr als hierarchisches, sondern als komplementäres gezeigt werde. Für ANDRÉ SCHNYDER8 sind das Scheitern des ‚Minneabenteuers‘ und die Schwangerschaft Anzeichen für die Homosexualität des Mönchs.9 Dank anthropologischer Konstanten10 unterstellt er auch da noch ein sexuelles Begehren, wo es gerade fehlt. Dem Mönch werde vom Klerus ein „sexuelles Wissen“ vorenthalten, „dessen Besitz ihn erst zum Menschen mach[e]“.11 SCHNYDER versteht den Mönch mit dem entsprechenden Verweis auf Foucault als „Opfer sexueller Repression“. Beide Analysen gleichen sich somit darin, dass sie ein Begehren voraussetzen, das von einer Macht unterdrückt oder verhindert wird.12 Sie lesen das Märe soziohistorisch als Spiegel von Herrschaftspraktiken und vernachlässigen dabei die Erzählebene, d.h. die (sprachliche) Art und Weise, in der die Geschichte erzählt wird. Dabei versperrt die Fokussierung auf die 6 Ausführlichere Angaben zur bisherigen Forschung finden sich bei FISCHER (Anm. 5), S. 377 und GRUBMÜLLER (Anm. 5), S. 1258 und ANDRÉ SCHNYDER: Art: Zwickauer. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 10. Hrsg. von BURGHART WACHINGER u. a., Berlin, New York 1999, S. 1623-1625. 7 ROBERT ZAPPERI: Geschichten vom schwangeren Mann. Männer, Frauen und die Macht. Übers. von Ingeborg Walter, München 21994 (Beck’sche Reihe 1068), S. 139-170. 8 ANDRÉ SCHNYDER: Des Mönchs Not. Mit Michel Foucault neu gelesen. In: Wirkendes Wort. Deutsche Sprache in Forschung und Lehre 5 (1987), S. 269-283. 9 „Deutlichstes Indiz, dass bei unserem Mönch der Wunsch nach homosexuellen Beziehungen namentlich zu seinen Vorgesetzten durch das Verlangen, Frau Minne zu treffen, und dann durch die Idee, schwanger zu sein sich andeutet, ist die Hoffnung, Abt, Prior und Cellerar als Paten (Väter !) des Kindes zu gewinnen“ SCHNYDER (Anm. 8), S. 273. 10 SCHNYDER (Anm. 8), S. 273, beruft sich auf problematische Art und Weise auf Ethnologie und Psychoanalyse Freuds, um die Schwangerschaft als Verweis auf homosexuelle Wünsche zu lesen. Bei seiner Paraphrase der Thesen Foucaults hebt er hingegen hervor, dass „Sexualität nicht als ausserhistorisches, natürliches Faktum [...], sondern als Bewußtseinsinhalt, der sich erst und nur unter konkreten historischen Bedingungen konstituieren kann“ zu begreifen sei (S. 274). Seine Interpretation kann jedoch genau diesen Anspruch nicht einlösen. 11 SCHNYDER (Anm. 8), S. 271. 12 Ganz ähnlich argumentiert auch BRIGITTE SPREITZER: Die stumme Sünde. Homosexualität im Mittelalter. Mit einem Textanhang, Göppingen 1988 (GAG 498), S. 101-103, die die Teufelsaustreibung am Ende als ‚Verteufelung‘ der Homosexualität versteht.
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Handlungsebene den Blick auf intertextuelle Beziehungen, insbesondere die Verweise auf andere literarische Darstellungsformen von Begehren. IRMGARD MEINERS’13 Interpretation beschäftigt sich dagegen mit der Rolle der Sprache im Märe. Die Komik entstehe dadurch, dass der Mönch dem „Wort“ [minne] einen „falschen Begriff“ zuordne und aufgrund falscher Analogien weitere Fehlschlüsse zieht.14 MEINERS versteht das Märe als Kritik an einer Vernunft, die sich vollständig von der Wirklichkeit entfernt habe.15 Sicherlich ist MEINERS darin zu folgen, dass das Märe nicht von einem anthropologisch verstandenen Begehren, sondern vom diffizilen Umgang mit Sprache erzählt. Doch greift ihre Gegenüberstellung von ‚Wort‘ und ‚Begriff‘ oder von ‚Denken‘ und ‚Realität‘ zu kurz. Denn das Märe interessiert sich gerade für die Unterschiede zwischen verschiedenen medialen Ausdrucksweisen von ‚Denken‘ und dafür, wie Diskurs und ‚Lebenswirklichkeit‘ ineinander verflochten sind.16 Im Folgenden soll das Verhältnis von Sprache und Begehren auf den unterschiedlichen Ebenen des Textes und in verschiedenen medialen Konstellationen genauer analysiert werden. Zuerst werde ich untersuchen, wie sich das Scheitern der Liebeserziehung auf den Körper des Mönchs auswirkt und fragen, was das für die Darstellung des Begehrens bedeutet. Anschliessend soll gezeigt werden, wie das Märe mit der Metaphorik des höfischen Liebesdiskurses und den Erzählstrategien anderer Mären spielt. Abschliessend werde ich das Verhältnis des schriftlichen Ausdrucks minne bant zum Begehren auf den verschiedenen Erzählebenen analysieren.
1. Erotische Naivität Im Märe Des Mönchs Not fällt als erstes die Entgegensetzung zweier Räume auf, nämlich die Opposition zwischen dem abgeschlossenen Innenraum
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IMGARD MEINERS: Schelm und Dümmling in Erzählungen des deutschen Mittelalters, München 1967 (MTU 20), S. 115-122. MEINERS (Anm. 13), S. 117. MEINERS (Anm. 13), S. 120: „Das Denken entfernt sich immer mehr von der Realität, und schließlich fallen Realität und Denken völlig auseinander, wie am Schicksal des schwangeren Mönchs und seiner geistigen Verwandten zu sehen ist.“ Vgl. KURT OTTO SEIDEL: Bücherwissen und Erfahrung im Märe. Die Auseinandersetzung mit Lebensformen hinter Mauern, in: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. FS Volker Mertens. Hrsg. von MATTHIAS MEYER und HANSJOCHEN SCHIEWER, Tübingen 2002, S. 691-711, hier S. 698. Er postuliert, dass das Märe die „Unzulänglichkeit der klösterlichen Lebensform“ aufzeige, da diese nur ‚Buchwissen‘ und kein ‚Erfahrungswissen‘ ermögliche.
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des Klosters und dem des Außen. Die räumliche Aufteilung ist auch eine biographische, motiviert sie doch die erotische Naivität des Mönches: Ein kleines kint wart gegeben zu einem münch in ein reinez leben. im was diu werlt unbekant. (V. 9-11) […] er konde singen unde lesen vil baz denne minnen. (V. 172f.) Ein kleines Kind wurde einem Mönch anvertraut, damit es keusch lebe. Die Welt kannte es nicht. [...] Er konnte viel besser singen und lesen als lieben.
Die biographisch-räumliche Aufteilung motiviert eine beschränkte Sichtweise des Protagonisten. Der naiven Figur fehlt sowohl die diskursive Vertrautheit als auch die Erfahrung von Minne und Sexualität. Diese Ausgangslage teilt das Märe mit vielen anderen, die von erotischer Naivität17 erzählen. Eine unerfahrene, abgeschieden lebende Figur kennt den Liebesdiskurs nicht. Oft ist es das Wort minne, das die Neugier der naiven Figur erweckt. minne, herre, was ist daz?,18 fragt etwa das Mädchen im Häslein.19 17
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Bei FISCHER (Anm. 5), S. 97 stellt „Verführung und erotische Naivität“ einen eigenen Themenkreis (mit 12 Vertretern) dar. MONIKA JONAS: Der spätmittelalterliche Versschwank. Studien zu einer Vorform trivialer Literatur, Innsbruck 1987 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe 32), S. 42-47, nennt den gegenüber FISCHER etwas erweiterten Themenkreis „Sexuelle Unerfahrenheit/Verführung“ (S. 47). JONAS geht davon aus, dass die Schwankerzählungen von einem „Spannungsverhältnis zwischen über- bzw. unterlegener Partei“ beherrscht werden. In den Texten über die „sexuelle Unerfahrenheit“ besteht die Überlegenheit im Wissen um Sexualität (S. 46). Dadurch, dass JONAS von einem nicht weiter spezifizierten „Wissen“ ausgeht, kann sie gerade die Dissoziation von Sprache und Erfahrung, die in vielen Geschichten dominant ist, nicht fassen. HERIBERT HOVEN: Studien zur Erotik in der deutschen Märendichtung, Göppingen 1978 (GAG 256), S. 316318, versteht die erotische Naivität einerseits als Möglichkeit „zur Entlarvung erstarrter Normen und Verhaltensweisen“, andererseits zeige sie „die Ohnmacht einer Norm, die den Trieb einzudämmen sucht“ (S. 317). Wie SCHNYDER (Anm. 8) stützt sich HOVEN auf die anthropologische Konstante des Triebs. Ein Erklärungsversuch, der von Des Mönchs Not unterlaufen wird. Das Häslein. In: GRUBMÜLLER (Anm. 5), 590-617, V. 85; „Minne, Herr, was ist das?“ In Der Sperber. In: GRUBMÜLLER (Anm. 5), 568-589, sagt sie: daz ir mir hât vür gezelt / und ez minne hât genant, /daz ist mir leider unbekant. (V. 130-133; „Das, was Ihr da erwähnt / und Minne genannt habt, / das ist mir leider völlig unbekannt.“) In Des tiuvels âhte. In: VON DER HAGEN (Anm. 5), Bd. II, Nr. 24, S. 127-135, verfügt das Mädchen über die Erfahrung, doch fehlt ihr das Wort: sagt mir, herre, waz ist daz, / Des wir mit ein ander pfligen? (V. 50f.); „Sagt mir, mein Herr, was ist es, / das wir miteinander treiben“ (Übers. S. R.).
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Im Eneasroman Heinrichs von Veldeke20 antwortet die Mutter Lavinia auf diese Frage mit einer ausführlichen Beschreibung (literarischer) Liebessymptome. In den Mären hingegen leiten die Verführer die naive Figur meist gezielt in die Irre,21 um minne nicht zu erklären, sondern zeigen zu können. Den misogynen Stereotypen der Mären entsprechend führt dies vor allem bei den weiblichen Figuren dazu, dass sich die semantische Neugier in ‚unersättliches‘ Begehren verwandelt. Doch damit wird minne keineswegs als etwas dargestellt, das sich nur erfahren und nicht beschreiben lässt. Denn meist besteht die Pointe darin, dass die naive Person auch nach der sexuellen Initiation den Diskurs nicht beherrscht:22 In Des tiuvels âhte23 etwa wird dem Mädchen gesagt, der Beischlaf sei dazu da, den Teufel zu bannen und so erzählt sie nach der Hochzeitsnacht den Verwandten begeistert, wie oft sie in der Nacht den Teufel geächtet hätten. Im Gänslein24 glaubt ein Mönch, Frauen würden Gänse genannt und wünscht sich – nach der Liebesnacht mit der Meierstochter – solche zum Weihnachtsessen im Kloster. Dass die naiven Figuren auch nach der sexuellen Erfahrung den Diskurs nicht beherrschen, zeigt das Verhältnis von Diskurs und Erfahrung als komplexes. Diskurs und Erfahrung verweisen zwar aufeinander und eignen sich deshalb gut zur Verführung. Doch erscheinen sie in den oben genannten Mären als zwei separat operierende Systeme, die unterschiedlichen Codes unterliegen. Die Mären erzielen ihre Pointen dank Diskrepanzen zwischen den beiden Systemen: so etwa, wenn die naive Figur glaubt, das Wort minne verweise auf ein tauschbares Objekt und dieses zurücktauschen möchte oder wenn sie den Beischlaf als ganz andere Handlung bezeichnet. 20
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Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller. Hrsg. und übers. von DIETER KARTSCHOKE, Stuttgart 1986 (Universal-Bibliothek 8303). Lavinia fragt die Mutter: dorch got, wer is diu Minne? (V. 261,27; „Um Gottes Willen, wer ist ‚die Minne‘?“) und sô saget mir denne waz minne is. (V. 262,6; „So sagt mir also, was Minne ist.“). Liebe zeigt sich hier somit – ganz im Sinne der am Anfang vorgestellten Thesen – als Effekt des Diskurses. Vgl. dazu: MIREILLE SCHNYDER: Imagination und Emotion. Emotionalisierung des sexuellen Begehrens über die Schrift. In: Codierung von Emotionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von INGRID KASTEN/C. STEPHEN JAEGER, Berlin, New York 2003 (Trends in Medieval Philology 1), S. 237-250. Sie geben beispielsweise vor, minne sei ein tauschbares Objekt; vgl. Der Sperber (Anm. 19), V. 146ff; 169, und Das Häslein (Anm. 18), V. 105f. Ähnlich im Fragment Dulciflorie. In: Der Sperber und verwandte mhd. Novellen. Hrsg. von HEINRICH NIEWÖHNER, Berlin 1913 (Palaestra. Untersuchungen und Texe aus der deutschen und englischen Philologie 119), S. 95-105, V. 170ff. Vgl. HOVEN (Anm. 17), S. 337: „In den Mären Des Teufels Ächtung, Ehren und Höhnen, Rache für die Helchensöhne u.a. geht ein komischer Reiz von Koitus-Umschreibungen aus, welche auf eine möglichst grosse Distanz zwischen sprachlichem Zeichen und Gemeintem hinzielen.“ Des tiuvels âhte (Anm. 19). Das Gänslein. In: GRUBMÜLLER (Anm. 5), S. 648-665.
Gescheiterte Liebeserziehung – gelungene Beschriftung
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Des Mönchs Not zitiert das Erzählmuster der ‚erotischen Naivität‘ an, doch setzt es sich zugleich davon ab. Der Mönch wird nicht von einem Dialogpartner gezielt trügerisch in den Minnediskurs eingeführt, sondern ein geschriebener Ausdruck (minne bant) weckt seine Neugier. Der Mönch versteht den Ausdruck nicht.25 Um dessen Bedeutung zu ergründen, legt er das Buch weg. Er wendet sich nicht an eine klösterliche Schriftautorität wie den Abt, sondern an den Grenzgänger, den Knecht. Seine semantische Neugierde führt ihn zwar aus dem Kloster, nicht aber aus dem Diskurs hinaus. Denn die Antworten des Knechtes zitieren ganz unterschiedliche höfische und nicht-höfische Liebesdiskurse an. Einerseits erzählt der Knecht vom Wechsel von Freud und Leid, der Liebeskrankheit und der Heteronomie des Liebenden. Andererseits schildert er den Minnehof als Ort, an den man nur mit Geld hingelangen kann und der vor allem leibliche Gelüste befriedigt.26 Das Märe erschöpft sich aber keineswegs in der Konfrontation unterschiedlicher literarischer Diskurse.27 Vielmehr werden damit gezielt falsche Erwartungen auf alternative Erzählverläufe geweckt. Der Ausdruck minne bant weckt zwar die sprachreferentielle Neugier des Mönches, doch kein sexuelles Begehren. Während der Liebesnacht liegt er steif da. Die Liebeserziehung führt nicht – wie bei den vorwiegend weiblichen naiven Figuren der anderen Mären – zu einem ‚unersättlichen‘ Begehren, sondern zu wiederholter Gewalt.
2. Kongruenz von Körper und Sprache Während die oben beschriebenen Mären mittels erotischer Naivität von der Dissoziation von Sprache und Erfahrung erzählen, kommt es in des Mönchs Not zur irritierenden Übereinstimmung derselben. Obwohl die sexuelle Initiation und alle minneclichen Empfindungen fehlen, treten die vom Knecht angekündigten Symptome und Folgen der minne ein. Der Mönch wird aufgrund der gewaltsamen Begegnung mit der Frau ganz bleich (V. 245) und
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Siehe unten Abs. V. und VI. Diese Konfrontation unterschiedlicher literarischer Diskurse wiederholt sich auf der Erzählebene. Der Erzähler beschreibt beispielsweise die Wirtin mit den üblichen höfischen Schönheitstopoi von Kopf bis Fuss (V. 125-129). Doch stellt er dem die Lobpreisung ihres Mundes voran, der niht an worten laz ist (V. 124; „munter drauflos [redete]“) und so auf die listigen Frauenfiguren der Mären verweist. So etwa SCHNYDER (Anm. 8), S. 277 oder DIRK MATEJOVSKI: Das Motiv des Wahnsinns in der mittelalterlichen Dichtung, Frankfurt a. M. 1996 (stw 1213), S. 96-119, hier S. 116, 118.
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an rucke und an herzen begond ez in sere smerzen, als er verbrant wære (V. 185-187) Im Rücken und an der Brust hatte er solche Schmerzen, als wenn er verbrannt wäre.
Die Wirtin verkürzt dem Mönch die wile (V. 209; „vertrieb [...] ihm die Zeit“) und spendet ihm vreude[ ] (V. 216; „Freude“). Zurück im Kloster gienc der münch sochen (V. 278; „fing der Mönch zu kränkeln an“) und dies bestätigt ihm seine Schwangerschaft. Der höfische Liebesdiskurs geht in den Topoi der Liebeskrankheit von der Übereinstimmung von Körper und Sprache aus. Liebe, die sprachlich behauptet wird, ist auch am Körper sichtbar.28 Der Witz vieler Mären besteht hingegen in der Dissoziation von Sprache und Körper. Eheleute tauschen – wie z.B. im heissen Eisen29 – höfische Liebesworte aus, während sie sich gegenseitig Gewalt zufügen. Wenn in Des Mönchs Not die Wirtin ihre Schläge als Minnebriefe bezeichnet, wird auf diese Form der Pointen-Erzeugung angespielt. Zugleich wird sie aber nochmals gesteigert. Denn ohne alle Erfahrung von minne zeigt der Körper des Mönchs genau die Symptome auf, die diskursiv angekündigt wurden. Körper und Sprache stimmen – zumindest auf der literalen Ebene – überein. Sie zitieren damit nicht nur den höfischen Liebesdiskurs, sondern auch andere Mären, die auf dessen Kosten Komik erzeugen.30 Die ironische Kongruenz von Körper und Diskurs hat noch einen weiteren Effekt, nämlich den, die Absenz des Begehrens prominent sichtbar zu machen. Die oben beschriebenen Mären Das Gänslein und Des tiuvels âhte erzeugen ihre Pointe aus der Dissoziation von Sprache und Erfahrung. Des Mönchs Not verfährt genau umgekehrt. Die Pointe besteht u. a. in der irritierenden Übereinstimmung von Liebesdiskurs und Körpersymptomen.
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Dies gilt ausschliesslich für die Topoi wie Erröten, Erbleichen oder Ohnmacht. Bereits die höfischen Texte spielen mit solchen Topoi und erzeugen Bedeutung gerade durch deren Nicht-Übereinstimmung. Vgl. etwa INGRID HAHN: Zur Theorie der Personenkenntnis in der deutschen Literatur des 12.-14. Jahrhunderts. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 99 (1977), S. 395-444, und HORST WENZEL: Hören und Sehen. Zur Lesbarkeit von Körperzeichen in der höfischen Literatur. In: Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von HELMUT BRALL, Düsseldorf 1994 (Studia humaniora 25), S. 191-218. Der Stricker, Das heiße Eisen. In: GRUBMÜLLER (Anm. 5), S. 44-55. Auf der Erzählebene gibt es weitere Textsignale, die – im Spiel mit bekannten Erzählmustern – den Vollzug der Liebesnacht andeuten, ohne dass er stattgefunden hätte. So wird etwa der Preis für den scheinbaren Ehebruch sorgsam ausgehandelt (V. 97ff.) und als der Mönch am anderen Morgen in aller Frühe ins Kloster zurück eilt, ist der Knecht überzeugt, der gehörnte Ehemann sei der Anlass für den frühen Aufbruch (V. 234).
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Das sexuelle Begehren wird als Leerstelle dargestellt; als ein Fehlen, auf das mittels einer irritierenden Übereinstimmung von Körper und Sprache hingewiesen wird. Dies wirft auch ein anderes Licht auf die eingangs aufgeworfene Frage nach dem Vorrang von Körper oder Sprache „concerning the origin of desire“. Des Mönchs Not verweist auf das literarische Muster, Begehren mittels Dissoziation oder Übereinstimmung von Körpersymptomen und Diskurskonvention darzustellen. Durch die irritierende Übereinstimmung der beiden macht das Märe die Absenz von etwas sichtbar, das der Opposition von Körper vs. Sprache entgeht. Dabei geht es weniger um ontologische Aussagen über ‚das Begehren‘, als vielmehr um Fragen der Darstellung. Für die narrative Evokation von Begehren scheint die Opposition von Körper und Sprache zentral; aber nicht als eine stabile, sondern als eine, die konstante Verschiebungen ermöglicht. Gerade weil sowohl Körper als auch Sprache letztendlich immer mit sprachlichen Mitteln dargestellt werden, stösst das Erzählen weder auf der einen noch auf der anderen Seite jemals zu einem ‚Ursprung‘ oder gar zu einer soziohistorischen Realität vor.31
3. Konkretisierungen höfischer Liebesmetaphorik Wenn der Mönch aufgrund der Schläge der Wirtin Herzschmerzen hat und sich verbrannt fühlt, ist dies offensichtlich ein Spiel mit der Konkretisierung höfischer Liebesmetaphorik. Dies ist in vielen Mären eine beliebte Technik, Komik zu erzeugen.32 Insbesondere das Umfeld der höfischen dienst-lôn-Metaphorik wird in fast allen Mären ökonomisiert und sexualisiert. Der Dienst des Mannes ist immer materiell, sein Lohn sexuell. 31
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Vgl. BLOCH (Anm. 2), S. 90: „the erotic interest of the fabliaux consists neither of anything like a natural act (a naturalism of the body) nor of the use of direct speech to describe such an act (a naturalism of language) but of the refusal of the proper that characterizes the tales analyzed above: a denaturing.“ Vgl. auch UDO FRIEDRICH: Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen. In: Geltung in der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter. Hrsg. von BEATE KELLNER, PETER STROHSCHNEIDER und FRANZISKA WENZEL, Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen 190), S. 227-249, hier S. 238-242 und HOVEN (Anm. 17), S. 327: „Metaphern werden ihrer herkömmlichen Metaphorik entkleidet und in komisierender Weise ‚wörtlich‘ genommen“. Als Beispiel kann man Heinrich Kaufringer: Der Zehnte von der Minne. In: Werke. Studienausgabe. Hrsg. von PAUL SAPPLER, Tübingen 1972, S. 131-139, anführen. Die theologische Metaphorik des almuosen (V. 57; „Almosen“) und des waingart[s] (V. 276; „Weinbergs“) wird sexualisiert und ökonomisiert. Der Pfarrer erschleicht sich den Ehebruch, indem er den zehenden (V. 59; „der Zehnte“) von der Frau verlangt. Der Ehemann rächt sich, indem er dem Pfarrer den Urin der Frau als frucht (V. 287; „Ernte“) vorsetzt (Übers. S. R.).
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Auch in Des Mönchs Not werden die Minnetopoi des Knechtes schnell märentypisch konkretisiert: Die personifizierte ‚Frau Minne‘ entpuppt sich als kaufbare Frau, ihr hof 33 als gewöhnliche Herberge. Doch im Unterschied zu den anderen Mären, wo der Witz der Rekonkretisierung der Liebesmetaphorik in deren Sexualisierung besteht, ist die Sexualisierung hier bloss eine kalkuliert geschürte, aber falsche Lese-Erwartung. Das Verkürzen der wile (V. 209; „Zeit“), die verbreitete vreude (V. 216; „Freude“) und der stoz (V. 178; „Stoß“) der ‚Frau Minne‘ werden nicht als blumig verschleierte Sexualität entlarvt,34 sondern es handelt sich um literale Stösse, d. h. um gewöhnliche Gewalt. Die vom Leser erwartete Konkretisierung findet zwar statt, doch wird vorgeführt, dass auch das märenübliche Sexualvokabular selbst wiederum metaphorisch verstanden werden kann. Der naive Blick, als Technik der Rekonkretisierung literarischer Liebesdiskurse, ist keine Rückführung auf einen scheinbaren Ursprung wie Sexualität, sondern bloss eine literarische Technik der Bedeutungsverschiebung. Damit blitzt die generelle Metaphorizität von Sprache auf: Es gibt nicht die eine Konkretisierung einer Metapher, sondern die Konkretisierung ist eine sprachliche Verschiebung, die in ganz unterschiedliche Richtungen vorgenommen – und erst noch wiederholt werden kann. Es geht hier also erneut um eine doppelte Bezugnahme. Des Mönchs Not zitiert die Form, in der andere Mären auf den höfischen Liebesdiskurs Bezug nehmen (Konkretisierung der Minne-Topoi) und verschiebt diese Bezugnahme nochmals, indem die Konkretisierung nun metaphorisch gelesen wird.
4. Verschiebungen HOWARD BLOCH geht – wie eingangs erwähnt – davon aus, dass in den Fabliaux die Sprache das Begehren erzeuge. Er begründet dies damit, dass „the eroticism of the fabliaux“ nicht in einer ‚konkreteren‘ Darstellung von
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V. 93; „Hof der Minne“. KARL-HEINZ SCHIRMER: Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle, Tübingen 1969 (Hermaea. Germanistische Forschungen, N.F. 26), S. 272f., liest den Minnehof als Anspielung auf die „‚Institution‘ der Minnehöfe [...], bei denen höchste adlige Kreise in geselligen Zirkeln zusammenkamen, um über pikante amouröse Themen amüsante Diskussionen zu führen.“ Die Sexualmetaphorik des Stosses wird etwa in Claus Spaun: Fünfzig Gulden Minnelohn. In: Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts. Hrsg. von HANNS FISCHER, München 1966 (MTU 12), S. 351-361, benutzt: der [Liebhaber] gap ir [Ehefrau] manchen herten stoß (V. 141, „der Liebhaber gab der Frau einige harte Stösse“ (Übers. S.R.). Vgl. zur erotischen Metaphorik auch HOVEN (Anm. 17), 332.
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Sexualität35, sondern in sprachlichen Verschiebungen bestehe: „It is [...] the deflection of the proper transformed into story, that constitutes the eroticism of the fabliaux.“36 BLOCH geht für die Beschreibung der ‚Erotik der Fabliaux‘ nicht von der Handlungsebene und der Repräsentation von Sexualität aus, sondern von den sprachlichen Mechanismen ihrer Darstellung. Dies scheint mir auch für das Märe Des Mönchs Not ein viel versprechender Ansatz. Während BLOCH unter „deflection of the proper“ hauptsächlich „the turning of language from a proper signification to an improper or metaphoric one“37 versteht, sind in Des Mönchs Not auf unterschiedlichen Ebenen sprachliche Verschiebungen sichtbar: Nicht nur der naive Mönch missversteht Metaphern, Personifikationen etc., sondern auch die Wirtin und der Erzähler setzen Wörter in einem fremden Kontext ein. Der Erzähler etwa nennt die Schläge der Wirtin einen leczen.38 Die Wirtin bezeichnet sie hingegen als Liebesbriefe: si sprach: ‚daz ist der ander brief, den iu vrow minne hat gegeben (V. 214f.; „Sie rief: ‚das ist der zweite Brief, / den Euch Frau Minne schickt.‘“) Obwohl die Liebeserziehung gescheitert ist und die Wirtin anfängt, den Mönch zu schlagen, hält sie am Liebesdiskurs fest. Wie bereits im Lehrgespräch zwischen Mönch und Knecht werden Liebesdiskurs-Fragmente beibehalten, der Kontext aber verändert. Auf der Handlungsebene hat dies zur Folge, dass der Mönch weiterhin glaubt, er erfahre nun, was minne sei und sich deshalb am nächsten Tag schwanger glaubt. Wie in vielen anderen Mären entstehen durch die Diskrepanz zwischen der von der Figur ausgeübten Gewalt und der sie bezeichnenden Wörter komische Effekte, die über die kleine Szene hinausweisen. Die doppelte Bezeichnung der Schläge – einerseits als leczen (lectio), andererseits als Minnebriefe – stiftet eine Verbindung zwischen Kloster- und Minnediskurs, die beim Auffinden des Ausdruckes minne bant fehlte. Es ist jedoch keine harmonisierende Verbindung, die hier entsteht, vielmehr werden beide Diskurse so radikalisiert, dass ihre Unmöglichkeit aufscheint. Wenn die Unter35
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R. HOWARD BLOCH: Postface. In: Fabliaux Érotiques. Textes de jongleurs des XIIe et XIIIe siècles. Hrsg. von LUCIANO ROSSI, Paris 1992 (Lettres gothiques), S. 531-545, hier 537: „l’acte lui-même est rarement représenté dans les fabliaux. A la rapidité de la description, qui est un élément stylistique du conte comique, correspond la rapidité de l’accouplement.“ BLOCH (Anm. 2), S. 87. R. HOWARD BLOCH: Modest Maids and Modified Nouns. Obscenity in the Fabliaux. In: Obscenity. Social Control and Artistic Creation in the European Middle Ages. Hrsg. von JAN M. ZIOLKOWSKI, Leiden, Boston, Köln 1998 (Cultures, beliefs and traditions 4), S. 293-307, hier S. 300. einen leczen si im do las (V. 224; „Sie gab ihm eine Lektion“). Das dreimalige Schlagen wird von SCHNYDER (Anm. 8), S. 277, auf die drei nächtlichen Horen (Komplet, Vigilien und Laudes) bezogen.
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weisung (lectio) zur unmotivierten Gewalt wird, führt sie – wie in diesem Märe – nicht zu Sinnstiftungen, sondern bloss zu weiterer Gewalt. Liebesbriefe wiederum sind eine literarisch viel genutzte Möglichkeit, Liebe als Kommunikation zwischen Getrennten darzustellen.39 Verabsolutiert man jedoch die Darstellungsform, wird Distanz zur Voraussetzung von minne und Nähe unmöglich: in [Mönch] duht im wære diu minne zu na (V. 212; „So war ihm die Minne zu nah“). Die von Figur oder Erzähler ironisch-verschobenen Bezeichnungen sind für die Erzählung äusserst produktiv. Auf der Handlungsebene lösen sie weitere Missverständnisse aus und motivieren so den Fortgang des Märes. Auf der Erzählebene fallen sie aufgrund ihrer Kontext-Fremdheit auf und ermöglichen so eine Reihe intra- und intertextueller Bezüge. Kleinste sprachliche Verschiebungen haben in einer Erzählung, die als differentielles System begriffen wird, immer weitere Verschiebungen zur Folge, wie ich etwa anhand der intra- und intertextuellen Verweise deutlich zu machen versuchte. Des Mönchs Not verschiebt das von neuem, was andere Mären bereits verschoben haben, z. B. die Konkretisierung der Metaphorik oder das Verhältnis von Körper und Diskurs.40 Man könnte sich also fragen, ob die einsträngige Handlungsstruktur41 der Mären stärker als diejenige anderer Gattungen, zu intertextuellen Verschiebungen und auf diese Weise zum Weiter- und Neuerzählen einlädt.
5. Kontextlosigkeit Im Sperber steht das Mädchen auf der Klostermauer, also bereits auf der Grenze, als sie von einem Objekt (Vogel) und dem Mann, die beide außerhalb des Klosters stehen, verführt wird. In Des Mönchs Not kommt die Verführung nicht von außen, sondern von innen. Es ist nicht das konkrete Objekt ausserhalb, sondern das geschriebene Wort innerhalb, das verführt.
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Vgl. HORST WENZEL: Fernliebe und Hohe Minne. Zur räumlichen und zur sozialen Distanz in der Minnethematik. In: Liebe als Literatur. Aufsätze zur erotischen Dichtung in Deutschland. FS für Peter Wapnewski. Hrsg. von RÜDIGER KROHN, München 1983, S. 187-208 und ZAPPERI (Anm. 7), S. 149. Diese ‚Technik der Verschiebung‘ wird anhand der berühmten Frage nach der minne ansatzweise reflektiert: Heisst es etwa im Häslein (Anm. 18): minne, herre, was ist daz? (V. 85; „Minne, Herr, was ist das? “), so wird in Des Mönchs Not die Frage nur noch indirekt wiedergegeben: er […] vraget in waz minne wære (V. 40; „Er fragte ihn, was die Minne sei“). Die Indirektheit der Frage macht ihre Zitathaftigkeit hörbar. Dazu zuletzt KLAUS GRUBMÜLLER: Schein und Sein. Über Geschichten in Mären. In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von HARALD HAFERLAND/MICHAEL MECKLENBURG, München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 1985), S. 243-257, hier S. 246.
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eines morgens nach metten saz er vor sinem betten und las, waz er geschriben vant. do sach er ‚der minne bant‘ geschriben an einem bletelin. er daht waz ez mohte sin oder waz ez mohte bediuten, daz ez bunde diu liute. zu hant tet er daz buch hin und leit dar uf sinen sin, daz im wurde bekant, welchez wær der minne bant. (V. 23-34) Eines Morgens nach der Frühmesse saß er vor seinem Bett und las in den Büchern. Sein Blick fiel auf ‚Die Fessel der Liebe‘, die in einem kleinen Bändchen niedergeschrieben war. Er überlegte, was das sei und was es bedeute, wenn es die Menschen binde. Schnell legte er das Buch beiseite und dachte darüber nach, was die Fessel der Liebe sei.
Der Mönch will keine Beschreibungen der Minne, sondern er will sie erfahren: so wil ich dar, / e daz werde ein halbez jar (V. 55f.; „Da muß ich hin, / noch bevor ein halbes Jahr um ist.“). Damit folgt er gezielt einem weiteren Topos der literarischen Liebeserziehung, nämlich der ‚Unsagbarkeit‘: Liebe kann nicht beschrieben, sondern nur erfahren werden: diu Minne sal dichz lêren sagt die Mutter zu Lavinia.42 Auch der Knecht sagt zum Mönch: si [die Wirtin] sol iu zeigen (V. 135; „Sie soll es Euch zeigen“).43 Doch gerade das Zeigen oder Erfahren von Minne scheitert. Der Unsagbarkeitstopos wird verkehrt vollzogen. Statt dass die Unsagbarkeit wortreich betont wird, wird die Erfahrung ausgespart und somit die Ohnmacht der Sprache, Begehren zu konstituieren, vorgeführt. Doch ist es wirklich die Ohnmacht der Sprache, von der das Märe erzählt? 42 43
Eneasroman (Anm. 20), V. 261,26; „Die Minne wird es dich lehren.“ Vgl. auch das Märe von Johannes von Freiberg: Das Rädlein. In: GRUBMÜLLER (Anm. 5), 618-647, in dem der Unsagbarkeitstopos ein strategisch wichtiger Teil der Verführung ist: Der Verführer macht das Mädchen glauben, sie sei von ihm bereits entjungfert worden, ohne dass sie es gemerkt habe. Sie möchte, dass er ihr erzählt, wie er es getan habe. Er sagt ich muoz dirz zeigen, / ich kan dirz anders niht gesagen (V. 328f.; „Ich muß es Dir zeigen, / ich kann es Dir anders nicht erklären“) und so bittet sie ihn um das, was er erstrebt. Vgl. MIREILLE SCHNYDER: Schriftkunst und Verführung. Zu Johannes von Freiberg: Das Rädlein. In: DVjs 89 (2006), S. 517-531.
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Der Mönch ist mit der Schrift alleine. Im Unterschied zu allen anderen naiven Figuren begegnet er der Minne nicht in einem handlungsweltlichen, sondern in einem schriftlichen Kontext. Der eigentliche Auslöser, der Ausdruck minne bant, erscheint in der Erzählung kontextlos: einmal ist von einem Blatt, einmal von einem Buch die Rede, doch erfahren wir nichts über den Satz oder den Text, in dem er steht. Der Mönch wendet der Schriftkultur den Rücken zu und sucht die Antwort ausserhalb des Klosterbereiches. Er stellt zuerst einige Fragen zur Bedeutung,44 interessiert sich aber anschliessend nur noch für den Referenten: welchez wær der minne bant oder wo man si [die minne] mochte finden (V. 41; „wo man sie finden könne“). Er behandelt die Wörter als Verweis auf etwas Konkretes und sucht in der ‚Welt‘ danach.45 Damit erweist er sich als Abkömmling einer scholastischen Schriftkultur, so wie sie etwa IVAN ILLICH dargestellt hat. Die räumliche Separation der Worte (die sich in Europa ab dem 7. Jh. durchsetzt) erleichtert die Loslösung des Wortes aus dem Kontext.46 Sie erscheint damit als Voraussetzung für die Phantasmen, denen der Mönch hinterherjagt: einem objekthaften Referenten und einer kontextunabhängigen Bedeutung, auf die die einzelnen isolierten Worte verweisen.47 Das Märe erzählt auf der Handlungsebene davon, dass die Suche des Mönches nach einem ausser-sprachlichen Referenten und einer kontextlosen Bedeutung scheitert. Auf der Erzählebene führt das ‚Scheitern‘ zugleich eine andere Konzeption von ‚Bedeutung‘ und ‚Kontext‘ vor: Der Ausdruck minne bant erscheint am Beginn des Märes bereits als zitierter, ohne dass die Lesenden wüssten, welchem Kontext er entstammt. Der Ausdruck wird nicht wie z. B. in Des tiuvels âhte von der naiven Figur ‚falsch‘ benutzt, sondern es erscheint als eine Grundbedingung von Schrift, dass Worte in einem anderen, ungewohnten Kontext auftauchen. Der Aus-
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waz ez mohte sin / oder waz ez mohte bediuten (V. 28f.; „was das sei / und was es bedeute“). So wie das Mädchen im Sperber (Anm. 19; V. 95f.) nach dem Namen des Vogels fragt, macht das Substantiv glauben, es sei ein Name. IVAN D. ILLICH: Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. Ein Kommentar zu Hugos ‚Didascalicon‘, Übers. von YLVA ERIKSSON-KUCHENBUCH. Frankfurt a.M. 1991 (Luchterhand Essay), S. 91f. Man kann sich sogar fragen, ob auch die weiteren Komplikationen auf dem Weg des Mönchs mit einer „Textkultur“ im Zusammenhang stehen. Die weiteren Missverständnisse des Mönchs resultieren alle daraus, dass der Mönch sich allzu sklavisch an Definitionen und Regeln hält. Vgl. auch MEINERS (Anm. 13). Folgt man den kulturtheoretischen Analysen zum 12 Jh., dann löst sich hier der abstrakte Text vom konkreten (BRIAN STOCK: The implications of literacy. Written language and models of interpretation in the 11th and 12th centuries, Princeton, N.J. u. a. 1983, S. 11). Damit entsteht ein Graben zwischen Type und Token, Regelgesetz und Praxis. Eine Möglichkeit, diesen Graben zu füllen, ist das sklavische Befolgen der Regel, im Glauben daran, dass sie die Praxis bestimme.
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druck minne bant verweist auf eine ‚andere‘ Verwendung des Ausdrucks in einem ‚anderen‘ Kontext, die aber nicht mehr erschliessbar ist. Ganz im Sinne DERRIDAS erscheinen die Worte von Beginn an als verschobene, ohne dass ein Grund für die Verschiebung und ein ‚richtiger‘ oder ‚ursprünglicher‘ Kontext bekannt wäre.48 Anstatt dass die Spur des Ausdrucks minne bant im Verlauf der Erzählung zurückverfolgt würde, geht es um deren Folgen: Der Mönch begibt sich in den Raum ausserhalb des Klosters. Das rein diskursive Minneabenteuer hat reale Konsequenzen, die das scheinbare Aussen in das Kloster hineinbringen. Die Abtreibung macht zum einen klösterliche Minnepraktiken sichtbar,49 zum anderen resultiert daraus das Begehren des Mönches nach dem Hasenkind. Dieses wiederum muss von den klösterlichen Instanzen mit Beichtpraktiken, Psalmenlesungen und Gewalt ausgemerzt werden.50 Der Ausdruck minne bant verschafft dem Mönch keine sexuelle Erfahrung. Aber er ermöglicht neue Erzählzusammenhänge, aus denen neue (den Mönch lenkende) Verweise hervorgehen. Die Abgeschlossenheit eines Zeichensystems hat zur Folge, dass Bedeutungen stabilisiert werden. Indem der Mönch das Buch weglegt und den textexternen Verweisen folgt, verlässt er den eben nur partiell abgeschlossenen Zeichen-
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Vgl. JACQUES DERRIDA: Signatur Ereignis Kontext. In: Randgänge der Philosohpie, Wien 1988, S. 291-314: „Jedes […] Zeichen kann als kleine oder große Einheit zitiert, in Anführungszeichen gesetzt werden; dadurch kann es mit jedem gegebenen Kontext brechen, unendliche viele neue Kontexte auf eine absolut nicht saturierbare Weise erzeugen. Dies setzt nicht voraus, daß das Zeichen (marque) außerhalb von Kontext gilt, sondern im Gegenteil, daß es nur Kontexte ohne absolutes Verankerungszentrum gibt.“ (S. 304; Herv. J.D.). Ein Zeichen entsteht gemäss DERRIDA aufgrund seiner „Iterabilität“, d.h. der Möglichkeit, es an einem anderen ‚Ort‘ zu wiederholen. Dies impliziert, dass ein Zeichen immer auf sein eigenes ‚anderes‘ (früheres und späteres) Vorkommen in einem ‚anderen‘ Kontext verweist. „Diese Kraft des Bruches [eines schriftlichen Zeichens mit seinem Kontext] ist kein akzidentelles Prädikat, sondern die Struktur des Geschriebenen selbst.“ (S. 300). Eine solche Zeichenkonzeption darf jedoch ihrerseits nicht als ahistorische verstanden werden. Vielmehr wird sie, wie bspw. ILLICH (Anm. 46) und STOCK (Anm. 47) deutlich machen, erst im Rahmen einer Schriftkultur denkbar. ‚Kontext‘ soll im Folgenden im Sinne DERRIDAS als (v. a. diskursiver) Rahmen einer Markierung (i. e. eines realisierten Zeichens) verstanden werden, der bei jedem neuen Auftreten des Zeichens ein anderer ist. Der jeweilige Kontext und die jeweilige Markierung prägen sich gegenseitig, so dass DERRIDA behaupten kann, dass ein (realisiertes) Zeichen einen neuen Kontext hervorbringt. 49 Der Junge, der die so genannte Abtreibung vornehmen soll, fragt, wer denn der Vater sei, der Prior oder der Abt (V. 323ff.). Dies lässt sich als Anspielung auf Homosexualität in Klöstern lesen, bedeutet aber nicht, dass der Mönch selbst von einem homosexuellen Begehren getrieben werde; anders SCHNYDER (Anm. 8), S. 273. 50 Zum unterstellten ‚Wahnsinn‘ des Mönchs und dessen Austreibung, vgl. MATEJOVSKI (Anm. 27).
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raum des Klosters.51 Er überlässt sich einem unabgeschlossenen Zeichensystem und wird von einer Spur auf die nächste verwiesen. Am Ende wird er gewaltsam ins Kloster zurückgeführt, in dem er nun wieder liest und singt, wie am Anfang. Doch so zirkulär das Ende auch erscheinen mag, der Ausdruck minne bant geht dabei verloren. Die Kontextlosigkeit des Ausdruckes minne bant hat nicht nur handlungsweltliche Konsequenzen. Das Wort steht auch innerhalb des Märes so kontextlos da, dass es viele Fragen aufwirft. Was unterscheidet die Frage nach dem zusammengesetzten Ausdruck von den topischen Fragen nach der minne?52 Verweist der Ausdruck – wie ein Teil der Forschung meint53
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Das Kloster erweist sich als nur partiell abgeschlossen, weil einerseits die Zeichen im Innern (und im Text) auf das Aussen (das Nicht-Sprachliche) verweisen. Andererseits finden sich ausserhalb des Klosters ‚Agenten‘ (der Mitbruder), die den Mönch ins Kloster zurückführen. In diesem Sinne verweist das Märe auf andere Erzählungen, in denen das Verhältnis von klösterlichem Innen und Aussen ebenfalls Thema ist; so z.B. der Mönch Felix. In: Erzählungen des späten Mittelalters und ihr Weiterleben in Literatur und Volksdichtung bis zur Gegenwart. 2 Bde. Hrsg. von LUTZ RÖHRICH, Bern, München 1962, Bd. 1, S. 124-128, in der sich die religiöse Transzendenzerfahrung durch das Transzendieren der Kloster-Grenzen ergibt. MEINERS (Anm. 13), S. 117, missachtet gänzlich, dass es um der minne bant geht und baut ihre ganze Argumentation auf der Frage nach der minne auf. ZAPPERI 1984 (Anm. 7), S. 148 versteht es als Zitat aus Heinrichs von Rugge MF 102,3. Auch MATEJOVSKI (Anm. 27), S. 116 ist der Ansicht, dass der Ausdruck „eindeutig auf die ‚mit dem Minnesang heimisch gewordene höfische Liebeslyrik‘ (ZAPPERI) Bezug nimmt.“ Bereits SCHNYDER (Anm. 8), S. 283, Anm. 21, weist aber darauf hin, dass der Ausdruck häufiger überliefert ist. Er vertritt die These, dass der Ausdruck auf Unterdrückung und Unfreiheit anspiele (S. 275). GRUBMÜLLER (Kommentar (Anm. 5), S. 1259) glaubt, dass mit dem Ausdruck auf einen „(realen oder fiktiven) Minnetraktat“ angespielt werde oder „dass nur das Thema, dann in beliebigem Zusammenhang, gemeint ist.“ SEIDEL (Anm. 16), S. 695 verweist auf Hosea 11,4 und Col. 3,14. Es bleibt unbeachtet, dass der Ausdruck auch in Mären mehrfach benutzt wird: Im Studentenabenteuer A (Die mittelhochdeutsche Novelle vom Studentenabenteuer. Hrsg. von WILHELM STEHMANN, New York 1967 [Nachdr. von 1909] (Palaestra. Untersuchungen und Texte aus der deutschen und englischen Philologie 67), S. 198-216) soll einer der beiden Studenten der Tochter des Hausherrn das Lesen beibringen, macht ihr aber stattdessen den Hof. Er tut dies so lange biz si [das Mädchen] gevie der minne bant (V. 234; „bis sie vom Band der minne ergriffen wurde“). Aufgrund des Austauschs der Blicke erröten die beiden und der Erzähler kommentiert: des twanc si der minne bant (V. 245; „dazu zwang sie das Band der minne “). In anderen Mären wird die Metapher des Minnebandes wiederum ansatzweise konkretisiert: So etwa wenn im nur in wenigen Handschriften überlieferten Epimythion des Herzmaeres beklagt wird, dass das minne bant nicht einmal mehr die Stärke einer Weidenfaser habe (V. 544 547; zit. n.: Kleinere Dichtungen von Konrad von Würzburg. Bd. I: Der Welt Lohn – Das Herzmaere – Heinrich von Kempten. Hrsg. von EDWARD SCHRÖDER, mit einem Nachwort von LUDWIG WOLFF, Berlin 1959, S. 12-40 sowie S. XVII-XXI). Im Borten des Dietrich von der Glezze verhandelt ein fremder Ritter mit einer Ehefrau um den Preis des Beischlafs. Er bietet ihr zwei Hunde an: di winde gibe ich uch zuhant: / enstricket mir der minnen bant (V. 239f.; „Die Hunde gebe ich euch sofort, wenn ihr für mich das Minneband auflöst“ (Übers. S.R.);
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– auf den Minnesang? Oder dominieren die sexuellen Konnotationen?54 Oder steht der Ausdruck doch eher für einen geistlichen Kontext, in dem das ‚Liebesband‘ die Gläubigen mit Gott verbindet?55 Die Kontextlosigkeit des Ausdruckes minne bant scheint sehr kalkuliert, ist sie doch eine doppelte: Zum einen löst das Wort – wie bereits dargelegt – handlungsweltliche Missverständnisse und Fehldeutungen aus. Zum anderen sind die Lesenden selbst mit der Kontextlosigkeit des Ausdruckes konfrontiert. Das Wort weckt unterschiedliche Assoziationen, ohne dass sich diese eindeutig zuordnen lassen. Im Unterschied zum Wort minne, bei dem Lesende zumindest ansatzweise unterschiedliche Kontexte kennen und zu dem es mehrfache literarische Reflexionen zur Unfassbarkeit der Bedeutung gibt, fehlt dies beim selteneren Ausdruck minne bant. Er wird als eine Art Signalwort eingeführt, das verspricht, dass sich seine Bedeutung im Verlauf des Textes konkretisieren werde. Doch wie der Mönch, so werden auch die Lesenden in die Irre geführt. Sie erfahren nur eine Ge-
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zit. n.: Der Borte des Dietrich von der Glezze. Untersuchungen und Text. Hrsg. von OTTO RICHARD MEYER, Heidelberg 1915 (Germanistische Arbeiten 3)). Die Frau lehnt dieses Angebot zwar ab, tauscht aber ihre minne kurz darauf gegen einen magischen Gürtel (borte) ein, der unbesiegbar macht (V. 279-337). Der fremde Ritter kann somit seine metaphorische ‚Gebundenheit‘ durch die minne mit Hilfe eines konkreten kostbaren Bandes, dem Gürtel, lösen. Erwähnt sei zudem, dass der Ausdruck minne bant auch im Titurel gebraucht wird (Str. 48,4: op daz alter minnen sich geloubet, / dannoch diu iugent wont in der minne bant; „Wenn auch das Alter auf Minne verzichten kann, bleibt doch die Jugend in den Fesseln der Minne“), wo wahrscheinlich die Ausschöpfung des Konnotationsreichtums des (Minne-)Bandes ihren Höhepunkt findet (zit. n.: Wolfram von Eschenbach: Titurel. Hrsg. von HELMUT BRACKERT und STEPHAN FUCHS-JOLIE, Berlin, New York 2003). Im Sperber (Anm. 19) wird der Beischlaf als ‚Knüpfen des Bandes‘ bezeichnet: diu süeze minne si [die Liebenden] beide bant (V. 168; „die süße Minne band sie aneinander“). Im Märe Der Mönch als Liebesbote A. In: GRUBMÜLLER (Anm. 5), S. 524-543, ist das ‚Liebesband‘ hingegen objekthaft. Der Erzähler beschreibt einen Gürtel, den die Frau ihrem Liebhaber zukommen lässt, als es was ain gross liebe pant (V. 241; „Es war ein großes Minneband“). Im Märe Aristoteles und Phyllis. In: GRUBMÜLLER (Anm. 5), S. 492-523, ist das Liebesband wiederum stärker ideell konzipiert: ir beider [Liebende] bant vil gar zerbrach / dâmite sî gebunden / [...] von der strengen minne (V. 162-165; „Die Fessel war gesprengt, / mit der sie [...] durch die unerbitterliche Minne / gebunden gewesen waren“). „Super omnia autem haec, charitatem habete, quod est vinculum perfectionis.“ (Col. 3,14; „Vor allem aber liebt einander, denn die Liebe ist das Band, das alles zusammenhält und vollkommen macht“ (Einheitsübersetzung)). Zur geistlichen Tradition vgl. auch SARAH STANBURY SMITH: ‚Adam Lay I-Bowndyn‘ and the vinculum amoris. In: English Language Notes XV/2 (1977), S. 98-102, hier S. 99-101; sowie UWE RUBERG: ‚Wörtlich verstandene‘ und ‚realisierte‘ Metaphern in deutscher erzählender Dichtung von Veldeke bis Wickram. In: ‚Sagen mit sinne‘. FS für Marie-Luise Dittrich. Hrsg. von HELMUT RÜCKER und KURT OTTO SEIDEL, Göppingen 1976 (GAG 180), S. 205-220, hier S. 212-214. RUBERG zeigt, dass der Ausdruck minne bant in Hartmanns Gregorius (V. 834) auf die riuwen bande (V. 2727) bezogen und in der Beinfessel des Gregorius konkretisiert wird.
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schichte, in der der Ausdruck nicht mehr auftaucht. Wie der Mönch können sie aus der Erzählung, in der zwar die einzelnen Bestandteile des Ausdrucks öfters auftreten,56 einige Vermutungen anstellen. Doch zeigt ihnen die Geschichte zugleich, dass sie mit diesen Vermutungen ebenso falsch liegen könnten. Die Kontextlosigkeit erscheint dadurch als ein Stilmittel, das nicht nur komische Fehlschlüsse ermöglicht, sondern das das literarische Potential der Vieldeutigkeit von Schrift vorführt. Die Kontextlosigkeit eines Wortes birgt die Möglichkeit unendlich vieler Formen der Konkretisierung. Es weckt die Neugier der Lesenden. Das langsame Herausdestillieren einer bestimmten Bedeutung aus einem zunächst unbestimmten oder anders konturierten Bedeutungsspektrum ist eine oft genutzte Form der Strukturierung einer Erzählung. Wenn Des Mönchs Not nun gezielt mit dieser Erwartung bricht, wenn die Spannung auf eine Konkretisierung des Ausdruckes minne bant zwar geweckt, aber nicht erfüllt wird, ist dies eine Liebeserziehung der Lesenden: Ganz im Sinne der Liebeserziehung des Sperbers werden sie auf ihr eigenes ‚textuelles Begehren‘ verwiesen. Sie erfahren den Wunsch nach einer Kontextualisierung von potentiellen Bedeutungsträgern.
6. Verschobene Rekontextualisierung Der zitierte, dem Kontext enthobene Ausdruck generiert ein zweifaches Begehren. Er beinhaltet für die Figur das Versprechen, einen aussertextuellen Referenten zu finden. Den Lesenden verspricht es das Umgekehrte, nämlich dem scheinbar kontextlosen Ausdruck eine Geschichte zu geben. Weder das eine, noch das andere wird erfüllt. Der Ausdruck ist einerseits bloss Initiator, der die Handlung ins Rollen bringt und sie somit in Kontexte führt, in denen der Ausdruck selbst nicht mehr vorkommt. Andererseits ist der Ausdruck so eng dem Kontext dieses Märes verhaftet – und in dem Sinne überhaupt nicht kontextlos –, dass keine Kontext übergreifende Bedeutungsstiftung möglich ist. Doch gerade das ungestillte Begehren der Lesenden verdeutlicht, weshalb die Suche des Mönches scheitert. Er sucht nach einem konkreten Referenten und schafft doch jedes Mal nur einen neuen Kontext für dekontextualisierte Diskursfragmente. Semiotisch könnte dies bedeuten, dass der Kontext, in den ein Zeichen verschoben wird, nicht vorgängig besteht, sondern im Moment der Rekontextualisierung erst entsteht. Während der Mönch von einem Abenteuer ins nächste strauchelt, werden die Lesenden von einem Erzählzusammenhang zum nächsten geführt. 56
Z. B. werden dem Mönch am Ende vom Mitbruder die Hände ‚gebunden‘ (V. 444f.).
Gescheiterte Liebeserziehung – gelungene Beschriftung
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Jeder Erzählzusammenhang verweist auf bestimmte märentypische Erzählmuster57 und verspricht so den Lesenden eine abgerundete Pointe. Doch statt einem Abschluss folgt stets ein weiteres Abenteuer, bis die Geschichte auf den Anfang zurück gebogen wird. Auf diese Weise strukturiert sich das Märe entlang einzelner Diskursfragmente, die von einem Kontext zum nächsten verschoben werden. Die Erzählung wiederholt auf unterschiedlichen Ebenen das, was auf der Handlungsebene den Mönch als naiv charakterisiert: Wörter und Diskursfragmente werden isoliert und in einem fremden Bereich rekontextualisiert.58 Die Schriftszene am Anfang lässt sich auf diese Weise als ‚poetologische Urszene‘ verstehen. Der zitierte (und damit verschobene) Ausdruck minne bant ist nicht nur der Auslöser der Märenhandlung, sondern stellt gleich zu Beginn die das Märe prägende Technik der Verschiebung vor; Verschiebungen von Literalsinn und Trope, von Diskursfragmenten in Diskurs-fremde Kontexte oder von einem überlieferten Topos oder Erzählmuster zum nächsten. Die Folgen solcher Verschiebungen sind, wie ich zu zeigen versucht habe, ganz unterschiedlich: Körper und Diskurs stehen in einer irritierenden Kongruenz und machen das Begehren als absentes sichtbar. Die Opposition von Körper und Sprache als Mittel zur Darstellung von Begehren wird in Frage gestellt. Und die Erzähltechniken anderer Mären, insbeson-
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Es fällt auf, dass die meisten Mären mit ähnlichen Motiven ‚stringenter‘ erzählt sind. Sie haben nur einen Höhepunkt, während Des Mönchs Not mehrere Pointen aufweist, die dementsprechend auf unterschiedliche Erzählungen verweisen: In GIOVANNI DI BOCCACCIO: Das Dekameron. Übers. von Albert Wesselski. 2 Bde., Leipzig 1912, Bd. 2 (Novelle 9.3), S. 386-391, besteht die Pointe in der Schwangerschaft und deren ‚Ausmerzung‘. (Weitere Belege zur Schwangerschaft eines Mannes bei GRUBMÜLLER (Anm. 5), S. 1257f. und ZAPPERI (Anm. 7). Das fetischisierte Begehren nach dem Hasenkind ist parallel zum Begehren des Mädchens im Von dem Űtrigl. In: Codex Vindobonensis 2885. Hrsg. von URSULA SCHMID, Bern, München 1985 (Deutsche Sammelhandschriften des späten Mittelalters. Bibliotheca Germanica 26), S. 580-591. Die diskursive Unerfahrenheit im Umgang mit Sexualität findet sich in den im Abs. I behandelten Mären. Sowohl von Unerfahrenheit als auch von Schwangerschaft erzählt das Märe Von einem Müller. In: Der Endkrist des Friedrich von Saarburg und die andern Inedita des Cod. Vind. 2885. Hrsg. von UTE SCHWAB, Napoli 1964 (Quaderni della Sezione Germanica degli Annali I), S. 97-105, doch wird hier nicht motiviert, weshalb dem Müller unkunt waz die minne (V. 20). Die Schrift als Stimulus für die Transgression des Klosterbereichs spielt hingegen in Mönch Felix (Anm. 51) und Die Legende vom zwölfjährigen Mönchlein. In: Mittelalter. Texte und Zeugnisse. Hrsg. von HELMUT DE BOOR, München 1965 (Die Deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse 1), S. 351-355, eine wichtige Rolle. Wenn der Erzähler den dem Hasen nachjagenden Mönch mit einem tobende[n] hunt (V. 409; „tollwütiger Hund“) vergleicht, wird dies erneut besonders deutlich. Der Erzähler verschiebt – genau wie der Mönch, wenn er glaubt, sein imaginäres Kind könne wie ein Kalb abgetrieben werden – Eigenschaften und Bezeichnungen von Tieren auf Menschen und umgekehrt. Erzählen besteht hier – auch in einem nicht komischen Sinne – aus Verschiebungen und Rekontextualisierungen.
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dere der naive Blick als Mittel zur Konkretisierung von Metaphern, werden gesteigert und dadurch ansatzweise als Technik reflektiert. Die Eingangsszene verdeutlicht, dass solche Formen der Verschiebung einer Schriftkultur entspringen, die verstärkt angefangen hat, das Wort aus dem Text und den abstrakten Text vom konkreten zu lösen. Zugleich ist das verschobene Zitat, das in der Verschiebung selbst neue weiterführende Spuren generiert, eine der zentralen literarischen Techniken der Gattung Märe. Das Märe Des Mönchs Not grenzt sich mittels des verschobenen Zitats – wie mehrfach gezeigt wurde – von anderen Mären ab und schreibt sich damit doch genauso deutlich in den Gattungszusammenhang ein. Statt der Lust an der Konkretisierung und Rekontextualisierung eines Signalwortes, wird den Lesenden also die Lust an der Verschiebung geboten. Diese Lust generiert sich aus kalkuliert gesetzten Versprechen, die immer nur verschoben, nicht aber erfüllt werden. Das, was ich in diesem Märe als ‚textuelles Begehren‘59 bezeichnen möchte, wird in dem Sinne über die Nicht-Einlösung von Lese-Erwartungen generiert: Erwartungen, die durch Verschiebungen immer wieder genährt, nie aber eingelöst werden. Im Unterschied zu HELGA GALLAS Begriff des „Textbegehrens“60 59
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Der Begriff orientiert sich an BLOCHS „eroticism of the fabliaux“ (BLOCH (Anm. 2), S. 87, s.o. Abs. IV). Es scheint mir jedoch wichtig, mit dem Begriff des ‚textuellen Begehrens‘ genauer als BLOCH zwischen Handlungs- und Erzählebene zu unterscheiden. Für die Frage nach der Darstellung von Begehren ist auch ANDREAS KRAß’ Analyse des Märes Der Borte äusserst aufschlussreich (ANDREAS KRAß: Queer Studies – eine Einführung. In: Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität (Queer Studies). Hrsg. von ANDREAS KRAß, Frankfurt a. M. 2003 (Edition Suhrkamp 2248), S. 7-28.). KRAß spricht von einem „Textbegehren, das in einer unterschwelligen symbolischen Ordnung kodiert und nicht mit jenem Begehren deckungsgleich ist, das sich in den Stimmen des Autors, des Erzählers und der Figuren artikuliert“ (S. 22). In einem weiteren Aufsatz (ANDREAS KRAß: Männerfreundschaft. Bündnis und Begehren in Michel de Montaignes Essay De l’amitié. In: Bündnis und Begehren: ein Symposion über die Liebe. Hrsg. von ANDREAS KRAß/ALEXANDRA TISCHEL, Berlin 2002 (Geschlechterdifferenz & Literatur 14), S. 127-141) geht er bei Montaigne vom „Begehren seines Textes“ aus, das zeige, „was der Text auf seiner Oberfläche zu verdrängen sucht“ (S. 140). Ich möchte KRAß insoweit folgen, als dass ich das ‚textuelle Begehren‘ in Des Mönchs Not ebenfalls auf der Ebene der „symbolischen Ordnung“ ansiedeln würde. Problematisch scheint mir hingegen die Unterscheidung zwischen „Oberfläche“ und „Subtext“, zwischen „heteronormativer Zeichenökonomie“ und „Schattengeschichte“. Mir scheint, dass mit einer solchen ‚Hermeneutik‘ das komplexe Ineinandergreifen unterschiedlicher Textstrategien nicht erfasst werden kann. GALLAS (Anm. 4) interpretiert Kleists Text mittels einer struktural-psychoanalytischen Lesart. Die ‚manifeste‘ Textebene versteht sie analog dem Traum als Ausdruck eines latenten Begehrens, das sich in verschobenen Signifikanten zeigt. Sie bestimmt dieses ‚Begehren‘ als dasjenige des Subjekts, das seine Abhängigkeit und Gespaltenheit erfährt, aber nach Autonomie strebt (S. 95, 109f.). Problematisch ist daran zum einen die Reduktion des manifesten Textes auf ein einziges, beschreibbares Begehren. Zum anderen konzipiert sie das Begehren als ahistorisches. Sie thematisiert nicht, inwiefern das von ihr festgestellte Textbegehren spezifisch für den einen Text von Kleist ist oder ob es sich dabei – da es sich mit der für die LACANSCHE Psychanalyse zentralen Form des Begehrens deckt – um ein generelles Textbegehren aller Texte handelt.
Gescheiterte Liebeserziehung – gelungene Beschriftung
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verweist diese Form des ‚textuellen Begehrens‘ nicht auf ein Unbewusstes des Textes, das – auch wenn es nicht dem Autor zugeschrieben wird – doch Subjekt-analog konzipiert ist.61 Vielmehr ist es eine Textstrategie, die durch unerfüllte Erwartungen Spannung erzeugt. Begehren wird somit in Des Mönchs Not nicht auf der Handlungs-, sondern allein auf der Erzählebene erzeugt. Dies bedeutet aber nicht – wie dies etwa BLOCH postuliert62 –, dass das ,textuelle Begehren‘ dasjenige auf der Handlungsebene hervorbringen würde. Denn Des Mönchs Not führt gerade die Unterschiede zwischen textuellem, hermeneutischem und sexuellem Begehren deutlich vor. So hat der Mönch, wenn er die Bedeutung des Ausdrucks minne bant erfahren möchte, ein ‚hermeneutisches Begehren‘, doch fehlt ihm ein sexuelles. Der Text stellt das sexuelle Begehren durch Verweise auf andere Mären als absentes dar. Das ‚textuelle Begehren‘ ist dagegen auf der Ebene der vom Text erzeugten Effekte anzusiedeln. Das Märe strukturiert sich über Erwartungen, die geschürt, aber nur verschoben eingelöst werden. Mittels der Schriftszene wird deutlich, dass dieses geschürte Begehren nicht einem generell ,hermeneutischen Begehren‘ nach Sinn entspricht,63 sondern an die Schriftpraxis des Zitats, an Isolierung und Rekontextualisierung gekoppelt ist. Während das ‚hermeneutische Begehren‘ einer Unfassbarkeit (Mangel) von Sinn entspringt und das sexuelle Begehren mittels einer Absenz dargestellt wird, so geht es beim ,textuellen Begehren‘ darum, einen Mangel zu erzeugen. Das Märe Des Mönchs Not erzeugt diesen ‚Mangel‘ auf eine historisch spezifische Art und Weise, indem es sich sowohl auf andere Mären als auch auf ‚höfische Literatur‘ bezieht und deren Erzählmuster verschiebt. Das ‚textuelle Begehren‘ entsteht parallel zum Handlungsverlauf, in dem Diskursfragmente immer wieder verschoben und neu rekontextualisiert werden. Insofern führt die Erzählung nicht nur das Scheitern, sondern zugleich auch das Gelingen der schriftlichen Stimulierung von Begehren vor.
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Dies wird z.B. daran deutlich, dass GALLAS (Anm. 4), S. 96, dann doch am Ende auch wieder auf den Autor Kleist verweist. BLOCH (Anm. 2), S. 83: „To what degree is the doubleness of the text a function of the poet’s desire? Desire a function of the duplicity of the text? [...] For if dismemberment of the body [...] is linked to the dismemberment of meaning, then the dismemberment of meaning becomes the source of sexual desire [...].“ Vgl. GALLAS (Anm. 4), S. 96, die ihre Form des Textbegehrens (als Mangel des nicht-autonomen Subjekts) am Ende – ohne genauer auf Differenzen hinzuweisen – mit dem Begehren der Interpretin nach Sinn gleichsetzt.
ANDREAS KRAß
Ein sehr herrlich Gestalt eins Weibsbilds Helena als Figur des Begehrens in der Historia von D. Johann Fausten Sie mueste schoen gewest seyn / dieweil sie jrem Mann geraubet worden. (Historia, Kap. 49)
1. Die Historia als erotischer Roman Wollte man die Historia von D. Johann Fausten, die im Jahr 1587 vom Verleger Johann Spieß in Frankfurt am Main publiziert wurde, als Liebesroman lesen, so ließe sich eine erotische Biographie rekonstruieren, die sechs Stationen umfasst.1 Diese verteilen sich auf die gesamte Frist jener 24 Jahre, die der Teufel seinem Vertragspartner zugestanden hat, kulminieren aber gegen Ende der Erzählung. Im ersten Jahr äußert Faustus einen Heiratswunsch, der ihm jedoch von Mephostophiles versagt wird; stattdessen führt dieser ihm Teufel in Gestalt der schoenen Weiber2 zur Befriedigung seiner Wollust zu. Im 16. Vertragsjahr, als sich Faustus von Mephosto auf eine Weltreise führen lässt, gelangt er auch nach Konstantinopel; dort beglückt er in einer schwankhaften Episode mit seinen enormen Liebeskünsten den Harem des türkischen Kaisers, wobei er sich als Papst verkleidet und behauptet, er sei Gott Mahomet 3 selbst. Im eigentlichen Schwankteil, der in einer Zeitschleife zwischen dem 16. und 17. Jahr anzusiedeln ist, kommt es 1
2 3
Zitierte Ausgabe: Historia von D. Johann Fausten. Text des Druckes von 1587. Kritische Ausgabe. Mit den Zusatztexten der Wolfenbütteler Handschrift und der zeitgenössischen Drucke. Hrsg. von Stephan STEPHAN FÜSSEL/HANS JOACHIM KREUTZER, Stuttgart 1999 (Reclam UB 1516). – Zur Komposition der Historia vgl. ANDREAS KRAß: Schwarze Galle, schwarze Kunst. Poetik der Melancholie in der Historia von D. Johann Fausten. In: Zeitsprünge 7 (2003), S. 537-559. Historia (Anm. 1), Kap. 10, S. 29, Z. 15 f. Historia (Anm. 1), Kap. 26, S. 69, Z. 29.
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Andreas Kraß
zur ersten Begegnung mit der schönen Helena[ ] auß Graecia4; Faust beschwört ihren Geist und führt ihn seinen Studenten bei einem nächtlichen Gelage vor Augen (Kap. 49). Im 17. Jahr, unmittelbar nach der Erneuerung des Teufelspaktes, betätigt sich Faust als Kuppler, der unter Anwendung eines Liebeszaubers einem liebeskranken Adeligen ein vberauß schoen Weibsbildt 5 zuführt. Im 19. und 20. Jahr beginnt Faustus ein Saeuwisch vnnd Epicurisch leben,6 um sich vom nahenden Fristende abzulenken, und treibt es mit siben Teuffelische[n] Succubas,7 die ihm in Gestalt zweier Niederländerinnen, einer Ungarin, einer Engländerin, zweier Schwäbinnen und einer Fränkin erscheinen (Kap. 57). Im letzten Lebensjahr, bevor ihn der Teufel holt, besinnt er sich noch einmal auf die schöne Helena und gebietet Mephostophiles, ihre Gestalt anzunehmen und ihm als Concubina beizuwohnen; mit ihr führt er fortan ein eheähnliches Leben, und sie gebiert ihm sogar einen Sohn, den er Iustum Faustum nennt (Kap. 59). Fasst man die sechs Liebesabenteuer zusammen, von denen die Historia erzählt, so lassen sich drei Episodenpaare unterscheiden. In den ersten und letzten beiden Episoden ist es Faust selbst, der mit dämonischen und leibhaftigen Frauen Unzucht treibt, während er in den mittleren Episoden als Kuppler und Geisterbeschwörer auftritt, der die erotischen Wünsche liebestoller Männer erfüllt. Die Liebesgeschichte des Protagonisten ist zugleich eine Geistergeschichte, denn in jedem Falle sind teuflische Künste im Spiel, die die Grenze zwischen Schein und Sein, Realität und Imagination überspielen. Drei Typen sind zu unterscheiden, je nach dem Verhältnis, das Faustus mit den Geistern eingeht. In drei Fällen schläft er mit Teufelsgeistern, wie es im Text heißt;8 einmal gibt er sich selbst als Geist aus, wenn er den Haremsdamen als Mohammed erscheint, und einmal lässt er einen Geist erscheinen, den Geist der Helena. Im Falle der Kuppelei ist von Geistern nicht die Rede, doch gelingt es Faust mit Hilfe eines Liebeszaubers, der Waschung mit destilliertem Wasser, das Angesicht des Verliebten so zu verschönern, dass die Umworbene, die sich zuvor nicht für ihn interessierte, plötzlich mit Cupidinis Pfeilen durchschossen9 ist; somit wird auch hier, wie im Falle der erregten Studenten und befriedigten Haremsdamen, eine erfolgreiche erotische Verblendung initiiert. Dass Helena in dieser erotischen Vita die zentrale Rolle einnimmt, erhellt schon daraus, dass sie zweimal auftritt. Doch unterscheiden sich diese 4 5 6 7 8 9
Historia (Anm. 1), Kap. 26, S. 97, Z. 10. Historia (Anm. 1), Kap. 54, S. 105, Z. 17 f. Historia (Anm. 1), Kap. 57, S. 109, Z. 5 f. Historia (Anm. 1), Kap. 57, S. 109, Z. 6 f. Historia (Anm. 1), Kap. 10, S. 29, Z. 16: Teuffel; Kap. 57, S. 109, Z. 7: Succubas; Kap. 59, S. 110, Z. 12 f.: Helena als Concubina. Historia (Anm. 1), Kap. 54, S. 106, Z. 19 f.
Ein sehr herrlich Gestalt eins Weibsbilds
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Auftritte fundamental. Im ersten Fall agiert Faustus als souveräner Meister, der Helena erscheinen lässt, um das Begehren seiner Schüler zu stillen, ohne selbst affektiv beteiligt zu sein. Im zweiten Fall hingegen ist Faust Sklave seiner Wollust; nun ist es der Teufel, der Helena erscheinen lassen muss, um das Begehren seines zunehmend verzweifelnden Paktgenossen zu erfüllen. Es kommt also zu einer Umkehrung der Dominanzverhältnisse, die sowohl mit der gattungspoetischen Spaltung der Historia in einen Schwankteil und einen Romanteil sowie mit der psychischen Disposition des Protagonisten zwischen Euphorie und Melancholie zu tun hat.10 Die erste Szene gehört zu den Schwänken; hier ist Faustus selbstmächtig, und der Teufel tritt in den Hintergrund zurück; die zweite Szene hingegen hat ihren Platz gegen Ende des Romans; hier ist Faustus zunehmend ohnmächtig, und der Teufel gewinnt wieder Oberhand. Diese Differenz ist auch durch die begriffliche Opposition von Vorstellung und Darstellung markiert.11 Bei der Vorstellung der Helena geht es um eine Vorführung ihres Geistes durch Faustus, bei ihrer Darstellung hingegen um die Verkörperung ihres Geistes durch Mephostophiles. Im ersten Fall bleibt Helena ein körperloses Trugbild, das nicht berührt werden kann und darf;12 im zweiten Fall hingegen leiht der Teufel ihr eben deshalb seinen Leib, damit Faust mit ihr sexuell verkehren kann. Eine weitere Verknüpfung besteht zwischen der zweiten Helena-Episode (Kap. 59) und der ersten Station der erotischen Karriere, nämlich jenem Kapitel, in dem Faustus seinen Heiratswunsch äußert (Kap. 10). Denn während ihm durch den Teufelspakt die Ehe verboten ist, gründet er im letzten Jahr seiner Lebensfrist mit Helena einen Liebesbund und schließlich, mit der Geburt des gemeinsamen Kindes, eine unheilige Kleinfamilie. Doch steht außer Frage, dass es sich nur um die Illusion einer Ehe und Familie handelt, denn mit Fausts Tod verschwinden auch Helena und der Sohn. Tatsächlich setzt Faust sein säuisches und epikureisches Leben fort, das er nach dem Heiratsverbot begonnen und seitdem als Genießer (Kap. 16, 57) und Vermittler (Kap. 49, 54) erotischer Freuden praktiziert hat. So wird deutlich, dass die zweite Helena-Episode den finalen Höhepunkt einer steigernden Episodenreihe darstellt, die von Unzucht, Kuppelei und Buhlerei erzählt.
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Vgl. KRAß (Anm. 1). Historia (Anm. 1), Kap. 49, S. 97, Z. 17 f.: wil ich euch dieselbige fuerstellen; Kap. 59, S. 110, Z. 12: er solte jm die Helenam darstellen. Historia (Anm. 1), Kap. 49, S. 97, Z. 22-24: Darauff verbote D. Faustus, / daß keiner [...] sie zuempfahen anmassen [solte].
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Andreas Kraß
2. Helena als Figur des Begehrens Wenn man im Falle der Historia von D. Johann Fausten von einer Liebesgeschichte sprechen kann, so ist noch fraglich, wer eigentlich als erotisches Gegenüber des Protagonisten zu adressieren ist. Denn wenn es auch Helena ist, die von Faustus geliebt und geschwängert wird, so ist sie es doch nur als Verkörperung des Teufels, der ihr seinen Leib leiht. Ein Lebensbund wird ja nicht wirklich zwischen Faustus und Helena geschlossen, sondern zwischen Faustus und Mephostophiles, wobei Helena nur eine der Rollen ist, in denen der Teufel seinem Vertragspartner zu Diensten steht. Im Folgenden soll dieser Aspekt zunächst noch zurückgestellt und vielmehr gefragt werden, in welchem Sinn von Helena als einer Figur des Begehrens die Rede sein kann. Als solche wird sie in der Historia explizit adressiert: Faust lässt Helena erscheinen, weil seine angetrunkenen Studenten so begirig sind, ihre schoene gestalt 13 zu sehen. Mindestens drei Aspekte lassen sich anführen. Helena ist eine Figur des Begehrens erstens hinsichtlich ihrer schönen Körpergestalt, deren Beschreibung sich am poetischen Muster der Vertikaldescriptio orientiert; sie ist es zweitens als Urbild aller schönen Frauen, was sie letztlich der literarischen Autorität Homers verdankt; und sie ist es drittens als Fokus einer Figuration männlich-heterosexuellen Begehrens, die mimetisch strukturiert ist. Diese Bedeutungsaspekte sind zu veranschlagen, wenn es in der Historia heißt, dass Helena ein sehr herrlich gestalt eins Weibsbilds14 sei. Die Beschreibung der Schönheit Helenas erfolgt in jenem Moment, als Faust sie in die Stube hinein und seinen Studenten vor Augen führt. Der Leser der Historia wird somit seinerseits in die Rolle eines Schülers verwiesen, der seinen Blick innbruenstig auf die schoene Helenam auß Graecia15 richtet: Diese Helena erschiene in einem koestlichen schwartzen Purpurkleid / jr Haar hatt sie herab hangen / das schoen / herrlich als Goldfarb schiene / auch so lang / daß es jr biß in die Kniebiegen hinab gienge / mit schoenen Kollschwartzen Augen / ein lieblich Angesicht / mit einem runden Koepfflein / jre Lefftzen rot wie Kirschen / mit einem kleinen Muendlein / einen Halß wie ein weisser Schwan / rote Baecklin wie ein Roeßlin / ein vberauß schoen gleissend Angesicht / ein laenglichte auffgerichte gerade Person.16
Bei dieser Passage handelt es sich keineswegs um ein individuelles Portrait, sondern um eine konventionalisierte Beschreibung, die mehrere Referenzpunkte aufweist: erstens die wenigen Details, die Homer über Helenas äußeres Erscheinungsbild verrät, zweitens das poetische Muster der vertika13 14 15 16
Historia (Anm. 1), Kap. 49, S. 97, Z. 14. Historia (Anm. 1), Kap. 49, S. 98, Z. 17. Historia (Anm. 1), Kap. 49, S. 97, Z. 9 f. Historia (Anm. 1), Kap. 49, S. 97, Z. 28-S. 98, Z. 2.
Ein sehr herrlich Gestalt eins Weibsbilds
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len Descriptio, drittens eine markierte intratextuelle Referenz, nämlich die Beschreibung der Gattin Alexanders des Großen, die Faust in einer früheren Geisterbeschwörung präsentierte (Kap. 33). Alles, was in den Aussagen über Helena zur Geltung kommt, ist abgeschrieben, ist kopiert und kompiliert aus Homers Ilias und Odyssee, aus Quellen frühneuzeitlicher Enzyklopädie, aus poetologischen Traditionen, aus der Historia selbst. Begehren wird von Schönheit geweckt, aber die Schönheit der Helena ist ein Produkt schriftgelehrten Wissens – und der individuelle Zug ihrer Schönheit nichts anderes als die spezifische Weise, wie der Verfasser der Historia hier abschreibt und zusammenschreibt. Homer gibt keine detaillierte Beschreibung der schönen Helena, obgleich sie es ist, deren Entführung den Anlass für den Trojanischen Krieg gibt; er belässt es bei austauschbaren Epitheta weiblicher Schönheit. Der dritte Gesang der Ilias, in dem Helena näher vorgestellt wird, erwähnt an einer Stelle ihre weißen Arme (Il. 3,121), an einer anderen ihr schönes Haar (Il. 3,329).17 Die Odyssee vermerkt noch die schönen Wangen (Od. 15,123; vgl. Il. 1,143 über Chryseïs und Il. 24,607 über Leto). Helena ist schönhaarig, weißarmig und schönwangig, das war’s. Ansonsten begnügt sich Homer mit der konstatierenden Behauptung ihrer Schönheit: Helena sei „ein schönes Weib“, eine „blühende Gattin“, gleiche „einer Göttin von Ansehn“, sei „schön gestaltet“ und „die göttliche unter den Weibern“ (Il. 3,48.53.158.159.171). Ein sinnlich vorstellbares Bild ihres Körpers evoziert er nicht, auch nicht ihrer Kleidung. Homer teilt nur mit, dass sie ein „wallendes“ (Il. 3,228), „nektarduftendes“ (Il. 3,385) Kleid getragen, dazu einen „Schleier von silberglänzendem Linnen“ (Il. 3,141.419). Wiederum fehlen die Details, die ein anschauliches Bild erzeugen könnten. Die Historia hält sich in der Beschreibung der körperlichen Schönheit insoweit an Homer, als auch sie das schöne Haar, die schönen Wangen und die weiße Haut anführt. Die Entsprechungen beschränken sich jedoch auf die Ebene der erwähnten Körperteile, in allen anderen Punkten weicht die Historia von Homer ab. Dabei erotisiert sie das Bild der Helena und konstituiert es als Objekt des Begehrens. Der erste Eingriff besteht darin, dass die Historia die in der Ilias und der Odyssee verstreuten Hinweise zu einem Gesamtbild integriert. Die zweite Modifikation betrifft die Fokussierung von Helenas Angesicht: Die Historia erweitert die Beschreibung um Augen, Mund und Lippen; außerdem erwähnt sie die runde Form des Kopfes, umschreibt also die erwähnten Einzelheiten mit einem Kreis. Indem sie die weiße Farbe nicht auf die Arme, sondern den Hals bezieht, entsteht ein Bild nicht nur ihres Gesichtes und Kopfes, sondern der gesamten Büste. Der restliche Kör-
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Homer: Ilias. Griechisch und deutsch. Übertragen von HANS RUPÉ. Mit Urtext, Anhang und Registern, Düsseldorf, Zürich 2001 (Sammlung Tusculum).
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per kommt nicht mehr in den näheren Blick; die Historia betont nur den aufrechten Wuchs, geht damit aber wiederum über Homer hinaus. Die dritte Veränderung betrifft die Rhetorik der Beschreibung. Bereits der Sachverhalt, dass die Teile (Haar, Wangen, Augen, Mund, Lippen) auf das Ganze (Gesicht, Kopf) bezogen werden, ist ein relevantes rhetorisches Merkmal. Bedeutender noch ist der Befund, dass die Historia die Schönheit der körperlichen Details mit Farbattributen, die durch metaphorische Vergleiche gestützt werden, illuminiert. Die Wangen sind nicht nur schön, sondern rot wie Rosen (rote Baecklin wie ein Roeßlin), die Lippen rot wie Kirschen (jre Lefftzen rot wie Kirschen), die Augen schwarz wie Kohle (mit schoenen Kollschwartzen Augen), der Hals weiß wie ein Schwan (einen Halß wie ein weisser Schwan). Die Haare sind blond wie Gold (herrlich als Goldfarb); außerdem betonen sie Helenas hohen Wuchs, denn sie trägt es lang herabfallend bis zu den Knien (jr Haar hatt sie herab hangen [...] / auch so lang / daß es jr biß in die Kniebiegen hinab gienge). Das ästhetische Ensemble erweist sich somit als mustergültig im Sinne poetischer Schönheitsbeschreibungen, es umfasst zum einen die aus Rot, Weiß und Schwarz bestehende Trikolore des Gesichts sowie den Glanz des goldenen Haares, das Kopf und Körper umrahmt. Zieht man die Quersumme der Vergleiche, so ergibt sich ein schwellendes Naturbild aus Rosen, Kirschen und Schwänen, ein sekundäres Bild, das die körperliche Erscheinung metaphorisch überblendet. Was die Kleidung betrifft, so weiß die Historia von einem koestlichen schwartzen Purpurkleid zu erzählen. Homer erwähnt, dass Helena ein wallendes, nektarduftendes Gewand und einen silbern glänzenden Schleier getragen habe. Wieder greift die Historia modifizierend ein, indem sie einerseits Material und Farbe des Kleides spezifiziert und andererseits den Schleier fallen lässt, vielleicht weil er das Gesicht, das sie im Einzelnen beschreibt, verhüllt hätte.18 Wie bereits angedeutet, kommt neben den Vorgaben Homers und dem Muster poetischer Schönheitsbeschreibungen noch eine dritte, textinterne Referenz hinzu. Helena ist nicht die erste Frau, der die Historia eine Beschreibung widmet. Im Rahmen der ersten Geisterbeschwörung, die Faustus im Laufe seiner Schwankreise unternimmt (Kap. 33), wird bereits eine andere Griechin porträtiert, nämlich die Gattin Alexanders des Großen. Dieser paradigmatische Bezug wird im Text ausdrücklich markiert, wenn es heißt, dass Faust den Geist der schönen Helena beschwört habe wie zuvor schon die Geister Alexanders und seiner Frau am kaiserlichen Hofe Karls V.19 Alexanders namenlose Gemahlin wird wie folgt beschrieben: 18 19
Zum vestimentären Code in mittelalterlicher Literatur vgl. ANDREAS KRAß: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel, Tübingen/Basel 2006 (Bibliotheca Germanica, Bd. 50). Historia (Anm. 1), Kap. 33, S. 97, Z. 19-22: dergleichen ich auch Keyser Carolo Quinto auff sein begeren / mit fuerstellung Keysers Alexandri Magni vnd seiner Gemaehlin / willfahrt habe.
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Bald darauff / nach dem sich Alexander wider neiget / vnd zu der Thuer hinauß gieng / gehet gleich sein Gemahl gegen im herein / die thet dem Keyser auch Reuerentz / sie gieng in einem gantzen blawen Sammat / mit guelden Stuecken vnd Perlen gezieret / sie war auch vberauß schoen vnnd rohtbacket / wie Milch vnnd Blut / lenglicht / vnd eines runden Angesichts.20
Dieses Portrait, bestehend aus einer Beschreibung der Kleidung und des Körpers und szenisch gerahmt durch das Hereintreten und Fortgehen der beschriebenen Frau, bereitet den späteren Auftritt Helenas vor. Wie Alexanders Gattin wird auch Helena durch eine Tür hereintreten, umhergehen und den Raum wieder verlassen. Wie jene wird auch Helena zunächst hinsichtlich ihrer Kleidung, dann ihres Körpers beschrieben. Wie jene trägt auch Helena ein kostbares Gewand und zeichnet sich durch ihre rote Wangen (rote Baecklin), ihre weiße Haut (einen Halß wie ein weisser Schwan), ihren hohen Wuchs (ein laenglichte auffgerichte gerade Person) und ihr rundes Gesicht (mit einem runden Koepfflein) aus. Doch ist dies eben nicht eine individuelle, sondern eine typologische Auszeichnung: Wer so beschrieben wird, ist die Schönste aller Frauen, und die Steigerung der Schönheit Helenas gegenüber der Gattin Alexanders wird rhetorisch als quantitative Steigerung inszeniert: Mehr Körperteile werden beschrieben, mehr Farben aufgelegt, mehr bildhafte Vergleiche eingesetzt. Die überbietende Schönheit Helenas ist die überbietende Nutzung eines rhetorischen Beschreibungsmusters. Wenn es sich bei der Beschreibung der Helena immer schon um eine Abschrift handelt, so vermag dieser Befund eine These zu bestätigen, die JUDITH BUTLER in ihrer geschlechtertheoretischen Studie Gender Trouble aufgestellt hat.21 BUTLER argumentiert, „dass das ‚Sein‘ der Geschlechtsidentität ein Effekt“ (S. 60) sei, und dass das heterosexuelle Begehren niemals für sich beanspruchen könne, ein Original zu sein, das vom homosexuellen Begehren kopiert werde, sondern selbst immer schon eine „Kopie“ sei. Mit Bezug auf die Parodie weiblicher Schönheit durch männliche Darsteller kommt sie daher zu folgendem Schluss: „Die parodistische Wiederholung des ‚Originals‘ [...] offenbart, dass das Original nichts anderes als eine Parodie der Idee des Natürlichen und Ursprünglichen ist“ (S. 58). Mir scheint, dass die Historia von D. Johann Fausten diese Erkenntnisse im Rahmen ihrer literaturgeschichtlichen Bedingungen und Möglichkeiten vorwegnimmt. Die weibliche Schönheit Helenas ist letztlich nichts anderes als ein rhetorischer Effekt, der eben durch die Anwendung eingeübter Techniken der Beschreibung erzeugt wird. Die Ästhetik von Glanz und Farbe 20 21
Historia (Anm. 1), Kap. 33, S. 79, Z. 2-5. JUDITH BUTLER: Gender Trouble, Feminism and the Subversion of Identity, New York, London 1990 (Thinking Gender); deutsche Ausgabe: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991 (edition suhrkamp 1722).
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und die Metaphorik der Naturerscheinungen übernehmen die Funktion, den Eindruck von Natürlichkeit, den Eindruck eines sinnlich erfahrbaren Seins zu erzeugen; aber es sind eben doch nur literaturwissenschaftlich klassifizierbare ästhetische, rhetorische und poetische Strategien, die diesen Effekt produzieren. Das Naturhafte, Seinshafte der weiblichen Geschlechtsidentität wird, darauf kommt es an, metaphorisch erborgt. Wenn aber die Beschreibung der Helena eine Wiederholung ist, eine Wiederholung von Homerversen, deskriptiven Techniken und textinternen Vorbildern, so bestätigt dies den mimetischen Charakter der Geschlechtsidentität. Wenn man den Textbefund ernst nimmt, dass es tatsächlich der Teufel ist, der im 59. Kapitel jenen Geist der Helena, den Faust im 49. Kapitel seinen Studenten vorstellte, nun seinerseits für Faustus darstellt, dass er also, ganz im Sinne der frühneuzeitlichen Dämonologie, eine diabolische Parodie vollzieht, indem er für Faust die schöne Helena als Succubus und Concubina verkörpert, so liegt diese Darstellung durchaus auf der Linie des von BUTLER angeführten Arguments. Pointiert gesagt, arbeiten in der Historia Text und Teufel Hand in Hand, indem sie beide performativ und mimetisch agieren, um Helena als Bild einer schönen Frau und als Objekt männlichen Begehrens hervorzubringen. Der mimetische Charakter des Begehrens lässt sich aber nicht nur mit JUDITH BUTLER, sondern auch mit RENÉ GIRARD analysieren. Wie dieser in seiner literaturwissenschaftlichen Studie Mensonge romantique et verité romanesque (1961) – deren Titel in der deutschen Übersetzung Figuren des Begehrens (1999) lautet und für den Titel meines Beitrags Pate gestanden hat – darlegt, eignet dem Begehren eine mimetische, und das heißt trianguläre Struktur.22 Die zentrale These lautet, dass ein Subjekt, wenn es ein Objekt des Begehrens wählt, dies nicht unmittelbar aus sich selbst tut, sondern dass die Objektwahl vielmehr auf der Nachahmung eines Vorbildes beruht.23 Wenn also die Studenten in der Historia Helena als schönste aller Frauen begehren, so tun sie es deswegen, weil Paris, der Entführer Helenas, sie ihnen gewissermaßen andiente. So heißt es im Text: Als nu der Wein eingienge / wurde am Tisch von schoenen Weibsbildern geredt / da einer vnder jnen anfieng / daß er kein Weibsbildt lieber sehen wolte / dann die schoene Helenam auß Graecia / derowegen die schoene Statt Troia zu grund gangen were / Sie mueste schoen gewest seyn / dieweil sie jrem Mann geraubet worden / vnd entgegen solche Empoerung entstanden were.24 22 23 24
RENÉ GIRARD: Mensonge romantique et vérité romanesque, Paris 1961; deutsche Ausgabe: Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität, München 1999 (Beiträge zur mimetischen Theorie, Bd. 8). Vgl. ANDREAS KRAß: Queer lesen. Literaturgeschichte und Queer Theory. In: CAROLINE ROSENTHAL/THERESE FREY STEFFEN/ANKE VÄTH (Hgg.): Gender Studies. Wissenschaftstheorien und Gesellschaftskritik, Würzburg 2004, S. 233-248, hier S. 239-242. Historia (Anm. 1), Kap. 49, S. 97, Z. 7-13.
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Was hier vorgestellt wird, ist zunächst eine Männerrunde, die dem Alkohol zuspricht und in Abwesenheit von Frauen über Frauen spricht. Wie der Alkohol scheint auch das Reden über schöne Frauen eine gemeinschaftsstiftende Wirkung zu entfalten. Die schöne Frau wird hier zum Schauplatz einer Verbrüderung zwischen Männern.25 Entscheidend ist nun die Begründung, die dafür gegeben wird, dass Helena die schönste aller Frauen und somit für jeden Mann begehrenswert sei. Der Grund besteht darin, dass sie geraubt worden sei und dieser Raub einen verheerenden Krieg ausgelöst habe. Als Objekt des Begehrens wird Helena also in der Weise konstituiert, dass zwei Männer, Paris und Menelaos, um sie rivalisieren und dass diese Rivalität in eine kriegerische Auseinandersetzung und schließlich in die Zerstörung Trojas mündet. Geht man nun konsequenterweise davon aus, dass jener Mittler, dessen Vorbild das Begehren des Subjekts induziert, seinerseits das Begehren einem Mittler verdankt, so ergibt sich wiederum eine unabschließbare Reihe der Nachahmung – so wird wiederum deutlich, in welchem Maße Begehren nicht auf ein letztes Original reduzibel, sondern immer schon Kopie einer Kopie ist.
3. Schönheit und Liebe, Schrift und Bild Bedenkt man, dass es sich bei der Dreiecksgeschichte um Paris, Helena und Menelaos, in die sich die Studenten einschreiben, um einen schriftliterarisch überlieferten Mythos handelt und nicht zuletzt um Schul- und Bücherwissen, über das Studierende in der Tat verfügen sollten, so darf man wohl behaupten, dass die Historia eine besonders reizvolle und aufschlussreiche Variante des Themas „Schrift und Liebe“ anzubieten hat, eine Variante, die man mit der abgewandelten Formulierung „Abschrift und Liebe“ titulieren könnte. Um im Wortfeld der Schrift zu bleiben, könnte man auch von „Beschreibung und Liebe“ sprechen, denn Helena als Objekt des Begehrens tritt ja in der Weise auf, dass ihr Körper beschrieben wird, und zwar in einem doppelten Sinn. Vorderhand handelt es sich um eine Descriptio, die so tut, als referiere sie auf etwas Reales, dessen Authentizität man zum Beispiel durch die Überprüfung eines versteckten Muttermals verifizieren könnte, wie es Karl V. im Falle der Gattin Alexanders des Großen tut. Hintergründig aber handelt es sich um eine Beschreibung im wörtlichen Sinne, in dem Sinne also, dass der Körper Helenas letztlich eine tabula rasa, ein weißes Blatt Papier ist, das erst mit der Schrift der Schönheit und des Begehrens beschrieben werden muss, um Anschaulichkeit zu gewinnen. 25
Zur literaturgeschichtlichen Produktivität dieser Konstellation vgl. EVE KOSOFSKY SEDGBetween Men. English Literature and Male Homosocial Desire, New York 21992.
WICK:
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Helenas Körper ist somit nicht das Muster, an dem sich alle schönen Frauen messen lassen müssen, sondern bereits eine Kopie, die als Original gehandelt wird. Ein weiterer Aspekt des Zusammenhangs von Schrift und Liebe ist noch anzuführen, ein medientheoretischer Aspekt, auf den Gotthold Ephraim Lessing in seiner ästhetischen Schrift Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) hinweist.26 Lessing kommt im 20. und 21. Kapitel seiner Abhandlung ausführlich auf das Fallbeispiel der schönen Helena und das Problem der Abbildbarkeit ihrer Schönheit in Dichtung und Malerei zu sprechen. Er vertritt einerseits die These, dass das Bild der Schrift überlegen sei, weil die Malerei „die Elemente der Schönheit“ nebeneinander, die Dichtung aber nur nacheinander darstellen könne. Das Nacheinander füge sich aber nicht zu jenem ästhetischen Gesamteindruck zusammen, den das Bild im Nebeneinander zu erzeugen vermöge. Daher sei Homer klug genug gewesen, die Schönheit der Helena nicht in ihren Einzelheiten zu beschreiben: Und auch hier ist Homer das Muster aller Muster. Er sagt: Nireus war schön; Achilles war noch schöner; Helena besaß eine göttliche Schönheit. Aber nirgends läßt er sich in die umständlichere Schilderung dieser Schönheiten ein. Gleichwohl ist das ganze Gedicht auf die Schönheit der Helena gebauet. Wie sehr würde ein neuerer Dichter darüber luxuriert haben!27
Wenn es einen Dichter gibt, der über die Schönheit der Helena luxuriert hat, so ist es der hochmittelalterliche Dichter Konrad von Würzburg, der sich in seiner Epoche, der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, durchaus als „neuerer Dichter“ verstehen konnte. In seinem Trojanerkrieg liefert er eine Descriptio, die über ein halbes Tausend Verse umfasst; in 137 Versen beschreibt er Helenas Körper (19908-20054), in 427 Versen ihre Kleidung (19855-20281) in allen Einzelheiten.28 Der Blick des Erzählers tastet ihren Körper vom Scheitel bis zur Sohle ab; er weiß alles über Haar, Augenbrauen, Augen, Nase, Wangen, Mund, Zähne, Atem, Kinn, Hals, Hände, Finger, Arme, Haut, Taille, Wuchs, Beine und Füße der Schönen. Dagegen nimmt 26 27 28
Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Mit den beiläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte. Mit einem Nachwort von INGRID KREUZER. Stuttgart 2001 (Reclam UB 271). Laokoon (Anm. 25), Kap. XX, S. 145 f. Konrad von Würzburg: Der Trojanische Krieg. Hrsg. von ADELBERT VON KELLER, Stuttgart 1858 (StLV, Bd. 44), Nachdruck Amsterdam 1965. – Die Schönheitsbeschreibung ist auch separat als Minnerede überliefert (für diesen Hinweis danke ich LUDGER LIEB, Dresden); vgl. TILO BRANDIS: Mittelhochdeutsche, mittelniederdeutsche und mittelniederländische Minnereden. Verzeichnis der Handschriften und Drucke, München 1968 (MTU 25), Nr. 2: „Lob der Geliebten“ (BSB München, cgm 714, fol. 182v-186v, entstanden um 1480 im Nürnberger Raum). Die Minnerede entspricht Konrads Versen 19893-20054.
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sich die Historia bescheiden aus. Dies heißt aber nicht, dass Konrads Darstellung von ermüdender Redundanz wäre; vielmehr gilt für ihn, was Lessing als eigentlichen Sinn einer ausführlichen Schönheitsbeschreibung veranschlagt: dass sie nämlich, mehr noch als die Schönheit der Frau, die Dichtkunst selber preise. Konrads Beschreibung der schönen Helena lässt sich durchaus als poetologische Allegorie lesen, als eine Poetik, die sich im Akt ihrer Anwendung zugleich konstituiert und reflektiert. Hiervon ist die Historia weit entfernt. Wenn sie sich einer poetologischen Allegorie bedient, so ist dies – ganz im Sinne Lessings – die Malerei, denn die Studenten bitten ihren Lehrer darum, Helenas Geist am nächsten Tag noch einmal zu beschwören: so wolten sie einen Mahler mit sich bringen / der solte sie abconterfeyten.29 Faustus versagt ihnen diese Bitte, stellt aber eine Alternative in Aussicht: Er wolte jhnen aber ein Conterfey darvon zu kommen lassen / welches sie die Studenten abreissen moechten lassen / welches dann auch geschahe / vnd die Maler hernacher weit hin vnd wider schickten / dann es war ein sehr herrlich gestalt eins Weibsbilds. Wer aber solches Gemaeld dem Fausto abgerissen / hat man nicht erfahren koennen.30
Wenn also die Studenten am Ende ein Bild in der Hand halten, so ist dies wiederum nur die Kopie einer Kopie, während das vermeintliche Original, Helena selbst, ihnen als Phantom entzogen bleibt. Dies ist eine Aussage, die sich wiederum doppelt lesen lässt: als Dekonstruktion eines essentialistischen Konzepts von Geschlecht und Begehren, aber auch als Dekonstruktion eines essentialistischen Konzepts von Dichtung, das sich an die garantierende Instanz des Autors knüpft. Denn wie der Verfasser der Historia anonym bleibt, so bleibt auch der Name des Malers unbekannt, der jenes von den Studenten kopierte Gemälde schuf. Wenn Lessing argumentiert, dass die Schrift dem Bild unterlegen sei, so gilt dies nur hinsichtlich der Darstellung der Schönheit als solcher. Wie er weiter ausführt, gibt es durchaus zwei Hinsichten, in denen umgekehrt die Schrift dem Bild überlegen sei. Weil der Dichtung ein prozessualer, der Malerei hingegen ein statischer Charakter eigne, könne die Dichtung Schönheit als Reiz und Wirkung inszenieren. Wieder könne Homer als Muster gelten: Eben der Homer, welcher sich aller stückweisen Schilderung körperlicher Schönheiten so geflissentlich enthält, von dem wir kaum einmal im Vorbeigehen erfahren, daß Helena weiße Arme und schönes Haar gehabt; eben der Dichter weiß demohngeachtet uns von ihrer Schönheit einen Begriff zu machen, der alles weit übersteiget, was die Kunst in dieser Absicht zu leisten imstande ist. Man erinnere sich der Stelle, wo Helena in die Versammlung der Ältesten des trojanischen Volkes tritt. Die ehrwürdigen Greise sehen sie, und einer sprach zu den andern: [...] 29 30
Historia (Anm. 1), Kap. 49, S. 98, Z. 10 f. Historia (Anm. 1), Kap. 49, S. 98, Z. 13-19.
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[„Tadelt nicht die Troer und hellumschienten Achaier, Die um ein solches Weib so lang’ ausharren im Elend! Einer unsterblichen Göttin fürwahr gleicht jene von Ansehn!“ (3,156-158)]. Was kann eine lebhaftere Idee von Schönheit gewähren, als das kalte Alter sie des Krieges wohl wert erkennen lassen, der so viel Blut und so viele Tränen kostet?31
Den Reiz der Schönheit fängt Homer in der Weise ein, dass er Schönheit in Bewegung präsentiert, dass er zeigt, wie Helena herannaht. Die Wirkung der Schönheit fängt er in der Weise ein, dass selbst die Greise von ihrer Wohlgestalt so überwältigt sind, dass sie Helena als kriegswert erachten. Über diese Möglichkeiten verfüge die Malerei kaum, so Lessing. Wenn sie Reiz und Wirkung im statischen Medium des Bildes zu zeigen versuche, so müsse sie zum Mittel der Überzeichnung greifen; dabei laufe sie aber Gefahr, die Geste zur Grimasse zu verzerren. Wie Homer, so weiß auch die Historia Helenas Schönheit als Reiz und Wirkung zu präsentieren. Helena bewegt sich im Raum: Sie wird zunächst von Faustus in die Stube geführt,32 geht dann in der Stube umher, wobei sie ihre Augen spielen lässt,33 und wird schließlich von Faustus wieder hinausgeführt.34 Die Schönheitsbeschreibung ist genau zwischen dem Eintreten und Umhergehen Helenas platziert, sie wird somit durch den Reiz der Bewegung bestätigt, aber auch durch die Wirkung, die sie in den Betrachtern hervorruft: dass nämlich die Studenten gegen jr in Liebe entzuendet waren,35 und als sie zu Betth kommen / haben sie vor der Gestalt vnd Form / so sie sichtbarlich gesehen / nicht schlaffen koennen.36 Auch dies ist nicht ohne Relevanz für die Frage nach dem Status von Geschlecht und Begehren. Helena ist nichts als ein Geist; das Begehren der jungen Männer richtet sich letztlich auf ein Phantom, das auch dadurch nicht greifbar wird, dass sie sich ein Bild von ihm machen, ein Bild, das wiederum nur das Abbild eines Abbildes unbestimmter Provenienz ist. Das 49. Kapitel schließt mit einer moralischen Sentenz, die andeutet, dass es Mephostophiles selbst ist, der Helena vor den Studenten verkörpert wie zuvor schon Alexander den Großen und dessen Gattin vor Karl V. Was 31 32 33 34 35 36
Laokoon (Anm. 25), Kap. XXI, S. 155 f.; die von Lessing zitierten griechischen Verse habe ich durch die deutsche Übersetzung (vgl. Anm. 16) ersetzt. Historia (Anm. 1), Kap. 49, S. 97, Z. 24-26: Als er wider hinein gehet / folgete jm die Koenigin Helena auff dem Fuß nach. Historia (Anm. 1), Kap. 49, S. 98, Z. 3 f.: sie sahe sich allenthalben in der Stuben vmb / mit gar frechem und buebischem Gesicht. Historia (Anm. 1), Kap. 49, S. 98, Z. 7 f.: vnd gienge also Helena mit D. Fausto widerumb zur Stuben hinauß. Historia (Anm. 1), Kap. 49, S. 98, Z. 4 f. Historia (Anm. 1), Kap. 49, S. 98, Z. 19-21.
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die Studenten zu sehen bekommen, ist ein maskierter Teufel, eine satanische Drag Queen, die sie ins Verderben zu ziehen sucht. Diesen Bezug markiert der Text in der Weise, dass es von beiden, Frau und Teufel, wörtlich übereinstimmend heißt, sie hätten die Studenten in Liebe entzuendet.37 Damit ist das 59. Kapitel vorbereitet, in dem Faustus der Illusion, die er in der Schwankepisode wie ein Impresario veranstaltet, selbst zum Opfer fällt. War dort die Vorstellung der Helena noch ein täuschendes Spiel, das vom Herein- und Hinaustreten durch die Stubentür begrenzt wird wie ein Bühnenakt durch den sich öffnenden und schließenden Vorhang, so ist die Darstellung der Helena in Fausts letztem Lebensjahr bitterer Ernst. Begrenzt wird die Verkörperung Helenas, zu der Faust seinen Teufel verpflichtet, erst durch den eigenen Tod. Helena, das scheinbare Urbild einer schönen Frau, ist nichts als ein Phantasma, das keine Existenz hat über die Vorstellungskraft des Phantasten hinaus. Wenn es dennoch weiterlebt, so nur deswegen, weil die Geschichte aufgeschrieben, abgeschrieben und fortgeschrieben wird – wie auch vom Verfasser dieses Beitrags.
37
Historia (Anm. 1), Kap. 49, S. 98, Z. 5, vgl. Z. 22: in Lieb entzuendt.
Register * = in Fußnote zitiert Personen und Werke Abaelard und Heloise 23, 25–28, 30–32, 35f., 39, 43, 45 – Klosterbriefe/Parakletbriefe 28, 29, 31*, 33, 35, 45* Abaelard 26, 27*, 30, 32, 33, 45*, 47* – Historia calamitatum 30, 33 – Dialectica 27* Aélis (Geliebte des Jean de Gisors) 35 Alanus ab Insulis 7 – De Planctu Naturae 7* Alphabetischer Liebesgruß 209 Andreas Capellanus 131 – De amore libri tres 131* Aristoteles und Phyllis 237* Baldrich von Bourgueil 5*, 37 – Qua intentione scripserat 5* Bamberger Beichte 50 Barthes, Roland – Die Lust am Text 221* Bernhard von Clairvaux 42*, 45* Beroaldo, Filippo d. Ä. 45* – De duobus amantibus 45* Bibel – Die Klagelieder des Jeremias 183 – Lukas 6,45 23 – Paulus, 2. Brief an die Korinther 3,3 196* Bichilinus 41 Blumenberg, Hans 66 – Arbeit am Mythos 66* Boccaccio, Giovanni 37, 41 – Il Decamerone 239* – Il Filocolo (it. Floris-Dichtung) 37* Boncompagno da Signa – Rota Veneris 35 Bruni, Leonardo 45* Caesarius von Arles 52 Cantica canticorum prosaice 45*
Capitularium Regum Francorum 50, 126 Carmina Burana 5*, 50, 56 Cicero 45*, 46* Corone amantium tractatus 45* Cum plurima sint tempora transcursa 46* Dante Alighieri 20, 44 – La Divina Commedia 171, 187 – Vita nuova 20, 165–189 Der elende Knabe – Minnegericht 200f., 204 Derrida, Jacques – Falschgeld. Zeit geben 1 147f. – Signatur Ereignis Kontext 235 – Wenn es Gabe gibt – oder: ‚Das falsche Geldstück’ 147f. Der Tugendhafte Schreiber 193* Dialogus senis et juvenis de amore disputantibus 45* Dietmar von Aist – Diu welt noch ir alten site MF 36,5 59* – Slâfest du, vriedel ziere? MF 39,18 59* Dietrich von der Glezze – Borte 236* Dresdner Liebesbrief 197 Dû bist mîn, ich bin dîn MF 3,1 55 Dulciflorie 226* Dum transirem Danubium 5* Eilhart von Oberg – Tristrant 56 Ekkehard IV. von St. Gallen – Carmen in laude s. Galli 52 Epistulae duorum amantium 16, 23, 24*, 25, 27f., 30, 31*, 32f., 35f., 41f.*, 43, 45, 220 Fleck, Konrad 149, 151*, 154 – Flore und Blanscheflur (mhd. Floris-Dichtung) 19, 147, 149–155, 163 Florio und Bianceffora (fnhd. Floris-Dichtung) 154
258 Flos und Blankflos (ndd. Floris-Dichtung) 154 Folz, Hans – Der neu gülden Traum 198 Foucault, Michel 207, 223 – Der Wille zum Wissen 221* Der Frau Venus neue Ordnung 203 Freud, Sigmund 63, 223* Fröschel von Leidnitz – Liebesgespräch 198* St. Galler Spinnwirtelspruch 14*, 52, 55 St. Galler Spottverse 52 Das Gänslein 226, 228 Die getrennten Liebenden 202* Giacomo da Lentini 184 – Meravigliosamente 184 Gisela (Kaiserin, Gattin Konrads II.) 51 Glückliche Werbung 195 Gottfried von Strassburg 141 – Tristan 63°, 70, 84*, 139, 141*, 204 Gozold – Liebesbrief 205, 206*, 208* Guibert von Nogent – De vita sua sive Monodiarum libri tres 219* Guillaume de Machaut 34*, 36, 39, 42 – Le livre du voir dit 34*, 36, 42, 44* Graf von Zimmern 219 Das Häslein 225, 226*, 232* Hartmann von Aue – Erec 113* – Gregorius 237* Der heimliche Bote 59 Heinrich von Morungen – Fragment aus Kremsmünster 56* – Tagelieder 59* – West ich, ob ez verswîget möchte sîn MF 127,1 141* Heinrich von Neustadt – Apollonius von Tyrland 19, 147, 155–163 Heinrich von Rugge – Leich 56, 236* Heinrich von Veldeke 17, 18 – Tristan muose sunder sînen danc MF 58,35 70 – Eneasroman 17, 18, 63–82, 83–124, 126, 162*, 226, 233* De Heinrico 53, 55 Heloise 30, 31, 31*, 32, 33, Hermann Konemund 38* Hildebert von Lavardin 41*
Register Hildebrantslied 192 Hirsch und Hinde 51f., 55 Historia von D. Johann Fausten 22, 243–255 Homer 246–248, 252–254 – Ilias 247 – Odyssee 247 Horaz 171 Humbert von Romans – Regel für Dominikanerinnen 38 Ironische Minnelehre 202 Jean de Gisors 35 – Brief an Aélis 35 Jean de Meun 30 Johannes de Vepria 24, 26, 32, 34*, 35, 38f., 41, 42*, 44, 45* – Deflorationes, Ex epistolis duorum amantium 24 Johannes von Freiberg – Das Rädlein 15*, 233* Johann von Salisbury – Policraticus 46* Johann von Würzburg 18 – Wilhelm von Österreich 91*, 94*, 125, 134–145 Kaufringen, Heinrich – Der Zehnte von der Minne 229* Kicila-Vers/Hicila-Vers 50f., 55, 58 Klagelied eines Abtes über die alte Wachsschreibtafel 6* Kleriker und Nonne 53–55 König Rother 84* Konrad von Würzburg 252 – Das Herzmaere 236* – Trojanerkrieg 252f.* Krug, Hans – Neujahrsgruss an die Frauen 209* Lacan, Jacques 221*, 222, 240* Lampert von Hersfeld 37*, 38* Le Conte de Floire et Blancheflor (frz. FlorisDichtung) 151*, 154* Die Leda-Parodie 16* Die Legende vom zwölfjährigen Mönchlein 239* Lessing, Gotthold Ephraim 252f. – Laokoon 252–254 Liederbuch der Clara Hätzlerin – Der erste Buchstabe der Geliebten 208 – Der Liebesbrief 206 – Neujahrsgruss auf 1444 196 Lucan 171
Register Luhmann, Niklas 4* – Die Gesellschaft der Gesellschaft 4* – Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität 4*, 218*, 221* Matthäus von Vendôme – De arte metrificandi 45* Mauss, Marcel – Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften 148 Meinhard von Bamberg 37*, 38* Die Minneburg 197, 199, 209, 212–218 Der Minner im Garten 199 Der Mönch als Liebesbote A 237* Der Mönch Felix 236*, 239* Des Mönchs Not 21, 221–241 Montaigne, Michel de – De l’amitié 240* Von einem Müller 239* Der neuen Liebe Buch 211f. Notker III. von St. Gallen – Psalter 51 – Iob quoque incepi 51 De nuncio sagaci 46* Ovid 42, 46*, 67, 171 – De amore 45* – Metamorphosen 120* Ovidius moralisatus 45* Ovidius puellarum 46* Pamphilius 46* Paracliuts Cornetanus 45* – Bucolicon carmen ad Pium papam 45* Peter von Hagenbach 34*, 38* – Briefe/Korrespondenz mit der Kanonissin von Remiremont 34*, 38* Petrarca, Francesco 41, 45*, 46*, 194* – Canzionere 46*, 165 Petruslied 52 Petrus von Vinea 46* Piccolomini, Enea Silvio 45* – De duobus amantibus historia 39 – De remedio amoris 45* Pierre de Virey 45* Platon 96*, 183 – Phaidros 183, 184* Polenton, Sicco 46* Polizian 45* Pontus de Tyard 23, 42* Prosalancelot 84*, 106*
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Richard de Bury – Philobiblion 6* Roman d’Eneas 66-82, 85-89, 97–103, 113, 116*, 117, 120*, 123f. de Rougemont, Denis 63f., 82 Rudolf von Ems 18 – Willehalm von Orlens 18, 125-145 Ruodlieb 55* Schloss Immer 209, 210* Der schwangere Mönch 222* Sigismund von Tirol 38* Söflinger Briefe 38* Spaun, Claus – Fünfzig Gulden Minnelohn 230* Der Sperber 225*, 226*, 232, 233*, 234*, 237*, 238 Spieß, Johann 243 Der Stricker 157 – Falsche und rechte Milte 157* – Die Herren von Österreich 157* – Das heisse Eisen 228 Von dem Strigl 239* Studentenabenteuer A 236* Sueton 45* Tegernseer Liebesbriefe (= Tegernseer Briefsammlung) 46*, 55, 98* Terenz 45* Thomas von Britannien – Tristan 67 Des tiuvels âhte 225*, 226, 228, 234 Trierer Floyris (mhd. Floris-Dichtung) 56 Ulrich von Türheim – Kliges 133 Urkunde der Minne 198* Venus-Spiel 16* Vergil 64, 171 – Aeneis 66-69, 72, 81, 84, 88°, 100, 105*, 117*, 171 Walter von Châtillon – Declinante frigore 6* Walther von der Vogelweide 133 Wartburgkrieg 57*,193* Weisheits- und Zeitlyrik (= Namenlose Lieder MF I. I-V) 56 Das Wesen der Minne 209
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Register
Wirnt von Grafenberg – Wigalois 126 Wolfram von Eschenbach 61, 133 – Tagelieder 59 – Den morgenblic 60 – Sîne klâwen 60 – Parzival 84*, 126 – Titurel 237*
Krakau, Biblioteka Jagiellon´ska – Berol. mgq 661 56* – Berol. mgq 1418 56* Kremsmünster, Stiftsbibliothek – Cod. 248 56*
Der Zwickauer – Des Mönchs Not 21, 221–241 – (= Der schwangere Mönch) 222*
München, Bayerische Staatsbibliothek – Cgm 19 60 – Cgm 63 127 – Cgm 270 202* – Cgm 5249/31 56* – Cgm 5249/42a 56* – Clm 4570 56* – Clm 7792 59
Handschriften Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz – Ms. Germ. Fol 488 203* Berlin, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz – XX. HA Hs. 33 57* Brüssel, Bibliothèque Royale Albert Ier – Cod. 8860-8867 51 Cambridge, University Library – Cod. Gg 5.35 (Cambridger Liederhandschrift) 53f. Heidelberg, Universitätsbibliothek – Cpg 455: 197 – Cpg 848 (Große Manessische Liederhandschrift) 193* – Cpl 52: 50 Karlsruhe, Landesbibliothek – Cod. Donaueschingen 69 56*
London, British Library – Ms. Add. 24946 195*
Regensburg, Bischöfliche Zentralbibliothek – Fragm. I.5.1 56* St. Gallen, Stiftsbibliothek – Cod. 105 52 Trier, Stadtbibliothek – Mappe X, Fragm. 13 56* – Mappe X, Fragm. 14 56* Troyes, Bibliothèque Municipale – Cod. 802 45* Weimar, Herzogin Anna Amalia Bilbiothek – Ms. O 145 202* Wien, Österreichische Nationalbibliothek – Cod. 160 56* Zürich, Zentralbibliothek – Ms. C 58 56*