Das Argument n°41 (1966)
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Der Primat der Politik Politik und Wirtschaft im Nationalsozialismus1 Eine der Hauptfragen einer marxistischen Geschichtswissenschaft ist die nach dem Verhältnis von Ökonomie und Politik in der Epoche des Kapitalismus; ihre zentrale These kann vielleicht folgendermaßen umrissen werden: die Politik stellt im großen und ganzen einen — wenn auch oft vielfach vermittelten — Überbau der jeweiligen Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur dar, darauf abgestellt, deren Bestand zu sichern. Die Existenz eines autonomen politischen Bereichs mit eigenen Gesetzmäßigkeiten wird von der marxistischen Geschichtswissenschaft generell verneint, bzw. vorübergehende Verselbständigungstendenzen auf ein Gleichgewicht der sozialen und wirtschaftlichen Kräfte zurückgeführt 2 . Auf jeden Fall bleibt die Politik als solche solange unverständlich, bis die sie bestimmenden Kräfte der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung aufgeklärt sind. Alle historischen Darstellungen und Analysen, die den Versuch dieser Aufklärung unterlassen oder den Sinn des Versuchs ausdrücklich leugnen, gelten zu Recht bestenfalls als unwissenschaftlich, schlimmstenfalls als ideologisch motivierte Rechtfertigungen der bestehenden Gesellschaftsordnung. Daß sich die marxistische Fragestellung in der Praxis der Forschung und Geschichtsschreibung bewährt hat, bedarf hier keiner näheren Erläuterung". Gerade deren Vernachlässigung aber kennzeichnet die überwiegende Mehrheit der im Westen erschienenen Abhandlungen zur Geschichte des Nationalsozialismus, die allzu schnell die Wirtschaft als einen Bereich des öffentlichen Lebens neben vielen anderen apostrophieren, die sämtlich und gleichmäßig dem drakonischen Zwang einer hemmungslosen politischen Diktatur ausgesetzt gewesen seien 4 . 1 Dem Argument-Redakteur Bernhard Blanke ist der Verfasser zu großem Dank verpflichtet, sowohl für seine sprachliche Hilfe wie auch für mehrere theoretische Anregungen. 2 Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich; Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte. Siehe auch in diesem Heft den Aufsatz von Griepenburg und Tjaden: Faschismus und Bonapartismus. 3 Siehe z. B. die grundlegenden Werke von Kehr, Rosenberg, Fischer und Franz Neumann zur neueren deutschen Geschichte. 4 So Gerhard Schulz in Bracher, Sauer, Schulz: Die nationalsozialistische Machtergreifung, Köln und Opladen 1960, Teil 2, Kap. V; Ingeborg Esenwein-Rothe: Die Wirtschaftsverbände von 1933 bis 1945, Berlin 1965; auch David Schoenbaum vertritt diese These in seinem sonst wichtigen neuen Buch: Hitler's Social Revolution, New York 1966; zudem läuft die gesamte Totalitarismus-Diskussion auf dasselbe Ergebnis hinaus. Die einzigen nennenswerten Ausnahmen in der wissenschaftlichen Nachkriegslite-
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Andererseits steht die Forschung der Zeitgeschichte in der DDR immer noch im Zeichen von Dimitroffs Definition des Faschismus als der „offen terroristischen Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals" 5 . Diese Definition hatte wohl 1935 ihre Funktion und Plausibilität, kann aber heute, angesichts der späteren Entwicklung des nationalsozialistischen Deutschlands, nur begrenzt als Ausgangspunkt einer Untersuchung und schon gar nicht als Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Wirtschaft und Politik im Nationalsozialismus dienen. Nicht daß die Wahrheit irgendwo in der Mitte zwischen den beiden, hier fast karikaturhaft dargestellten Positionen zu finden wäre. Um das Ergebnis dieser — allerdings noch vorläufigen — Untersuchung vorwegzunehmen: es ist offensichtlich so gewesen, daß die Innen- und Außenpolitik der nationalsozialistischen Staatsführung ab 1936 in zunehmendem Maße von der Bestimmung durch die ökonomisch herrschenden Klassen unabhängig wurde, ihren Interessen sogar in wesentlichen Punkten zuwiderlief. Dieser Tatbestand ist aber einmalig in der ganzen Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Regierungen seit der industriellen Revolution 6 ; gerade diesen Tatbestand gilt es zu erklären. Der marxistischen Theorie zufolge ist er nicht allein durch die Errichtung einer unbeschränkten staatlichen Gewaltherrschaft, also nicht allein durch die Politik zu erklären; dafür sind die Eigengesetzlichkeiten des kapitalistischen Wirtschaftssystems zu stark, ihre Bedeutung für die Politik zu groß. Vielmehr müssen sich schwerwiegende Strukturveränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft vollzogen haben, um die Verselbständigung des nationalsozialistischen Staatsapparats, den „Primat der Politik", erst zu ermöglichen. Der methodologische Ansatz, die Fragestellung muß also im Zeichen der vom Marxismus gewonnenen Erkenntnisse stehen. Ziel dieses Versuchs ist es, den besagten Tatbestand zu belegen und dessen Gründe in der Wirtschaftsgeschichte des nationalsozialistischen Deutschlands zu suchen. Um mögliche Mißverständnisse im ratur im Westen sind die Arbeiten von Schweitzer: Big Business in the Third Reich, Bloomington 1964; und Petzina: Der nationalsozialistische Vierjahresplan, Diss. Mannheim 1965. 5 Zit. nach Dietrich Eichholtz: Probleme einer Wirtschaftsgeschichte des Faschismus in Deutschland, im Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1963, Teil III, S. 103; der Aufsatz enthält wichtige Ansätze zur Differenzierung des marxistisch-leninistischen Faschismus-Begriffs, aber noch schreibt der Autor von den „Aufträgen des Finanzkapitals an seinen Nazi-Faschismus" (S. 105) usw. Siehe hierzu vor allem den Aufsatz von Blanke, Reiche und Werth: Die Faschismus-Theorie der DDR, in Das Argument Nr. 33. Die im Westen erschienenen marxistischen Arbeiten unterscheiden sich von denen der DDR nur in ihrer wesentlich geringeren Kenntnis des Quellenmaterials; vgl. Fritz Vümar: Spätkapitalismus und Rüstungswirtschaft, in Das Argument, 8. Jhrg., Heft 3. 6 New Deal 1933, Volksfront in Frankreich 1936 und Labour-Regierung 1945 stellen Ausnahmen anderer Art dar, die aber durch ihre begrenzten Reformen auch zur Erneuerung der bürgerlichen Gesellschaft beitrugen.
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voraus zu vermeiden, sei betont, daß es sich hier nicht um die Frage handelt, was für ein Wirtschaftssystem damals bestanden habe: ob im Grunde noch marktwirtschaftlich, ob staatsmonopolistisch, ob zentralverwaltungswirtschaftlich 7 . Es würde ebenfalls den Rahmen des Aufsatzes sprengen, die Frage nach der eigentlichen Struktur des Regierungssystems und nach seiner grundlegenden Motivation und Zielsetzung systematisch zu stellen (— setzt man voraus, daß die Regierung etwa als geschäftsführender Ausschuß der Monopolbourgeoisie nicht mehr sinnvoll gedeutet werden kann). Die Vorarbeiten zur Beantwortung dieser Fragen reichen erst für Mutmaßungen aus 8 . Auch innerhalb dieser Grenzen ist der vorliegende Versuch noch stark vorläufigen Charakters; er entstand aus einer Untersuchung der Lage der Arbeiterklasse unter dem Nationalsozialismus, und weder die Sammlung noch die Auswertung des überaus umfangreichen Materials ist bis jetzt abgeschlossen. Es geht also hier im wesentlichen um Arbeitshypothesen. Der Übergang Die nationalsozialistischen Führer behaupteten immer wieder, sie hätten den Primat der Politik wiederhergestellt. An Stelle der schwächlichen Regierungen der Weimarer Zeit, die weitgehend unter dem Einfluß der ihnen nahestehenden Verbände handelten, sei ,eine politisch selbständige und tatkräftige Staatsführung' getreten, die es nicht mehr nötig hätte, bei wichtigen Entscheidungen ,die egoistischen, kurzsichtigen Wünsche sozialer und wirtschaftlicher Interessengruppen' zu berücksichtigen. Als Schlagwort war der Primat der Politik zweifelsohne sehr wirksam, denn er versprach, der endlos scheinenden wirtschaftlichen und nationalen Misere ein Ende zu setzen. Vom Standpunkt ihrer Träger her gesehen, bestand die Misere der Weimarer Republik darin, daß keine dauerhaften Kompromisse zwischen den in ihr verfaßten gesellschaftlichen Klassen und Interessen und ihren politischen Gruppierungen zustande kamen. In ihrer Verfassung war der Widerspruch institutionalisiert, daß die Arbeitnehmer die Möglichkeit politischer Macht ohne gesellschaftliche Garantie und die Besitzenden gesellschaftliche Macht ohne politische Garantie besaßen 9 . Von noch größerer, unmittelbar politischer Bedeutung war die Tatsache, daß auch die Besitzenden unter sich nicht einig waren: unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise fiel das — schon durch den ersten Weltkrieg und die Inflation schwer erschütterte — politi7 Diese Frage ist u.E. von sekundärem Interesse; s. hierzu J.S. Geer: Der Markt der geschlossenen Nachfrage, Berlin 1961. 8 Andreas Hillgrubers sehr materialreiche Studie: Hitlers Strategie, Frankfurt a. M. 1965, konnte bei der Verfassung dieses Aufsatzes noch nicht berücksichtigt werden. Aber entscheidend in diesem Zusammenhang ist der bisher ganz ungeklärte W i l l e n s b i l d u n g s p r o z e ß des NSSystems. 9 Vgl. Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich, in: Marx, Politische Schriften, Bd. 1, hrsg. v. H. J. Lieber, Stuttgart 1960, S. 162.
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sehe und soziale Gefüge des bürgerlichen Deutschland erst recht auseinander10. Die ursächlichen Zusammenhänge zwischen Weltwirtschaftskrise und nationalsozialistischer Machtergreifung sind nicht eindeutig — starke Ansätze einer rechtsradikalen Entwicklung in der deutschen Politik waren schon 1928 vorhanden 11 . Die ökonomische Krise trug aber in zweifacher Hinsicht entscheidend zur Machtergreifung bei: sie raubte dem Bürgertum die einzig mögliche Politik, indem sie die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den USA undurchführbar machte 12 . Das Bürgertum zerfiel daraufhin sowohl wirtschaftlich als auch politisch in seine elementar gegensätzlichen Gruppierungen; die neue Einigung mit den Westmächten (im Juli 193213) kam zu spät, als daß sie diese Entwicklung hätte rückgängig machen können. Zweitens brachte die Massenarbeitslosigkeit die Klassengegensätze wieder unmittelbar zu dem politischen Ausdruck, der ihnen durch die grundsätzliche Übereinstimmung der bürgerlichen Parteien mit der SPD und dem ADGB seit 1924 genommen worden war. Die grundlegende strukturelle Schwäche der Weimarer Republik trat wieder, diesmal in Form eines starken Machtzuwachses der KPD und einer Radikalisierung der Unternehmerverbände, politisch verschärft in Erscheinung. Die zurückgestaute Problematik einer Strukturveränderung der Gesellschaft war in der Weltwirtschaftskrise erst recht nicht zu lösen. Angesichts dieser Problematik suchten Bürgertum, Kleinbürgertum und Bauern ihr Heil in einem besinnungslosen Aufbruch in die „reine Politik": propagandistische Schau, nationale Erhebung, Führerkult, Juden- und Kommunistenhaß, Sehnsucht nach einer idealisierten, vorindustriellen Gemeinschaft als Ersatzlösungen der strukturellen Probleme der Weimarer Gesellschaftsordnung. In den Jahren 1924—1929 hatten die jeweiligen bürgerlichen Koalitionsregierungen einen gewissen Spielraum, worin gegensätzliche wirtschaftliche Interessen im Endeffekt abgestimmt werden konnten, ohne die Position des Kapitals ernstlich zu gefährden 14 . Die wachsende wirtschaftliche Not verschärfte die Klassen- und Interessenkämpfe und nahm dem Staat diesen Spielraum. Aus demselben Grund schwand auch der Spielraum der Parteiführer (insbes. der SPD) ihren eigenen Anhängerschaften gegenüber und damit die Möglichkeit einer parlamentarischen Koalitionsbildung. Unter diesen Umständen konnte die relative Autonomie des Staates, gar seine Existenz, nur dadurch bewahrt werden, daß staatliche Herrschaft und politische Interessenkonflikte durch die Ernennung von Präsidialkabinetten getrennt wurden. Obwohl das Kabinett Brüning eine 10 Eine wissenschaftliche Untersuchung der gesellschaftlichen Folgen der Wirtschaftskrise steht noch aus; es wäre eine Studie von großer Bedeutung. 11 Vgl. Arthur Rosenberg: Geschichte der deutschen Republik; Rudolf Heberle: From Democracy to Nazism, Baton Rouge 1945. 12 Rückzug der amerikanischen Kredite; Rückgang des Welthandels. 13 Vertrag von Lausanne; Ende der Reparationen. 14 Für Stresemanns Spielraum gegenüber der Schwerindustrie s. Henry Ashby Turner: Stresemann and the Politics of the Weimar Republic, Princeton 1963 (deutsche Ausgabe in Vorbereitung).
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bedeutende Senkung des Lebensstandards der Arbeiterschaft durchsetzte, war es nicht imstande, durch Lösung der außen-, innen- und wirtschaftspolitischen Probleme der bürgerlichen Gesellschaft ein neues Gefüge mit einer neuen Entwicklungsrichtung zu geben. Und während der „unpolitischen" Herrschaft Brünings waren die Fragen der Öffentlichkeit nach dem Gefüge und der Zielsetzung der Gesellschaft notwendigerweise eher dringender und hysterischer geworden. Bis auf die SPD waren im Jahr 1932 alle politischen Gruppierungen davon überzeugt, daß ein vollkommen neues Herrschaftssystem erforderlich war, ob katholischer Ständestaat, ob bonapartistische Autokratie (Schleicher), ob nationalsozialistischer Führerstaat oder aber Diktatur des Proletariats. Der Staatsapparat vermehrte zwar in diesen Jahren sein Eigengewicht, hatte aber aufgehört, eine faktisch funktionierende und nach außen hin (propagandistisch) plausible Gesamtrepräsentation der besitzenden Klassen, geschweige denn des Volks zu sein 15 . Der Prozeß der gesellschaftlichen Reproduktion war ins Stocken gekommen. Unabdingbare Voraussetzung zur Überwindung dieser Situation war eine Belebung der Wirtschaft, die das Kapital aus eigener Dynamik — hauptsächlich wegen der Macht der schwerindustriellen Kartelle — nicht in Gang setzen konnte. Eine Belebung im bürgerlichen Sinne konnte vielmehr nur von einer Regierung durchgesetzt werden, die stark genug war: 1. die auseinanderklaffenden Interessen von Schwer- und Konsumgüterindustrie auszugleichen und die Sonderinteressen der Landwirtschaft zu wahren; 2. der Wirtschaft allgemeine „Ruhe und Ordnung" zu verschaffen; 3. den Lebensstandard der breiten Bevölkerung vorerst auf dem Krisenniveau festzuhalten — das hieß effektiv Ausschaltung der Gewerkschaften, denn die Periode eines zyklischen Aufschwungs ist bekanntlich die einer erhöhten gewerkschaftlichen Aktivität; 4. eine strenge Bewirtschaftung der sehr knapp gewordenen Devisen durchzusetzen; 5. der tiefverwurzelten Inflationsangst im Volk wirksam entgegenzutreten, um somit eine staatliche Kreditexpansion zu ermöglichen. Allein mit politischen Mitteln konnte die gesellschaftliche Reproduktion fortgesetzt werden 16 . Anfang 1933 erfüllte nur der Nationalsozialismus diese Mindestbedingungen. Seine Unsichèrheit — gleich Opportunismus — in ,Sachfragen', der Sammelbeckencharakter seiner Gefolgschaft, seine Rücksichtslosigkeit in der Durchführung getroffener Entscheidungen und der erwiesene Erfolg seiner Propaganda-Methoden machten ihn zum scheinbar am besten geeigneten 15 Brachers einleuchtender Begriff des politischen M a c h t v a k u u m s in den Jahren 1930—1933 (s. Die Auflösung der Weimarer Republik, Stuttgart 1960) muß noch durch Erforschung der Aufsplitterung im wirtschaftlichen und sozialen Bereich untermauert werden. 16 Daß es hier um einen Ausnahmezustand für die bürgerliche Gesellschaft geht, mag am Beispiel der BRD verdeutlicht werden, wo Politiker und Politik (nicht dagegen der Staatsapparat) für die gesellschaftliche Reproduktion so gut wie überflüssig geworden sind; nicht umsonst heißt das Gesellschaftsmodell der Ideologen der „Formierten Gesellschaft" d e r G e samtbetrieb ohne Unternehmer.
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Träger einer Erneuerung der bürgerlichen Gesellschaft. Spätestens als Reichskanzler Schleicher mit ADGB und SA verhandelte, zog die Schwerindustrie die notwendigen Konsequenzen. Hauptfunktion der Politik einer stabilen liberalen Demokratie ist es, die Interessen der herrschenden Gesellschaftsgruppen aufeinander abzustimmen, diese gemeinsamen Bedürfnisse zu interpretieren und mit den geeignetsten Mitteln nach außen und nach innen wahrzunehmen. Diese harmonische Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Staat verlangt auf die Dauer das Vorhandensein eines dem Kapital erträglichen Ausgleichs mit den Interessen der Arbeiterklasse und einen Konsens der stärksten Meinungsorgane in Grundsatzfragen. In Deutschland dagegen wurde es zur Funktion des Nationalsozialismus, gerade den fehlenden Ausgleich, den fehlenden Konsens, also eine neue Gesamtrepräsentation des Volks mit politischen Mitteln herzustellen; und das hieß 1933 mit offener Gewalt. Der im Jahr 1933 unwiderlegbar vorhandene Primat der Politik (Terror, politische und kulturelle Gleichschaltung) ergab sich also aus einer gesellschaftlichen Konstellation, der es abzuhelfen galt. In diesem Sinne hofften Schacht, v. Papen, Teile der Reichswehr u. a. m., die Nationalsozialisten verdrängen zu können, sobald der Wiederaufbau einer lebensfähigen bürgerlichen Gesellschaft einen erneuten Machtanspruch der alten herrschenden Klassen ermöglichen würde. Diese Gruppen erwarteten, ihre auf dem Privateigentum beruhende, von der KPD bedrohte gesellschaftliche Machtstellung durch vorübergehende Aufgabe der direkten Ausübung der politischen Macht sichern zu können. Die Erwartung hat sich bekanntlich nicht erfüllt. In historischer Sicht bedeutete das Unvermögen der politischen Vertreter der alten Bourgeoisie, Politik zu machen, ihr — wenn auch teilweise durch unbesorgtes Mitläufertum gekennzeichnetes — A b danken zugunsten des Nationalsozialismus, ihre größte Niederlage 17 . Die politische Führung des „Dritten Reiches" hat es verstanden, auf ganz ungeplantem Wege ihre aus der Krise gewonnene Selbständigkeit der alten herrschenden Klasse gegenüber zu behaupten. Die Machtverteilung im nationalsozialistischen
Regierungsapparat
Eine Grundbedingung des Primats der Politik war für den Nationalsozialismus ohnehin eine Selbstverständlichkeit — eine starke Konzentration der Macht in den Händen eines selbst von seinen engsten Mitarbeitern angebeteten Führers. Aus Taktik wie aus charakterlicher Disposition hat sich Hitler den routinemäßigen Regierungsarbeiten weitgehend ferngehalten; seine Funktion im Regierungssystem des Dritten Reichs war, mit Ausnahme der Außenpolitik (später der Strategie) und seiner persönlichen Hobbies (Waffentechnik und Architektur), die Funktion einer bloßen letzten Instanz. 17 Eine Ahnung dieser Niederlage drückten die schon 1932 in diesen Kreisen weitverbreiteten Bedenken (Hindenburg, Thyssen, Spengler) gegen die Mobilisierung der NS-Gefolgschaft und die damit verbundene Unruhe und scheinbar große Rolle „der Straße" aus; diese Kreise waren im Grunde gegen jegliche politische Regung des Volkes.
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Alle wichtigen Entwürfe oder Vorschläge der Ressortchefs und der Parteiführer bedurften dennoch seiner persönlichen Zustimmung; kollektive Verantwortung innerhalb der Regierung hat es nie gegeben; seine Entscheidungen konnten nachträglich von den ausführenden Instanzen kaum vereitelt oder umgestaltet werden. Diese Feststellung besagt natürlich nicht, daß Hitler allein die historische Verantwortung für die gesamte nationalsozialistische Politik zu tragen hat; es geht vielmehr darum, daß in wichtigen Fragen die verschiedenen Herrschaftsgruppen im Dritten Reich ihre jeweiligen Interessen nur über diesen Weg durchsetzen konnten; und die Zustimmung des Führers war keine Formalität18. Eine politische Letztinstanz wurde verherrlicht, die ein vorwiegend ästhetisches Verständnis der Politik als Wille, Machtgenuß, Schau und taktisches Fingerspitzengefühl besaß, die alle Struktur- und Sachprobleme den Fachmännern überließ, über deren gegensätzliche Lösungsvorschläge jedoch nicht entscheiden wollte bzw. konnte. Der Gruppe der alten Kämpfer in der Führungsschicht des nationalsozialistischen Systems — denjenigen also, die den besten Zugang zu Hitler hatten — war das Denken in wirtschaftlichen Kategorien fremd 19 . Unter Wirtschaft verstand Hitler nur das Produzierte. Seine Denkschrift zum 2. Vierjahresplan verlangte ausschließlich und wiederholt die simple Anhäufung von Rohstoffen und Waffen 20 ; und seine Reichstagsrede vom 20. Februar 1938 — wohl seine einzige zu diesem Thema — bestand nur aus einer protzigen Aufzählung des Produktionsanstiegs in Deutschland seit der Machtergreifimg. Für die Frage des Wie in der Wirtschaftspolitik hatte er gar kein Verständnis, und es gibt kaum ein Indiz dafür, daß er sich jemals um die wirtschaftlichen Folgen seiner politischen Richtlinien oder außenpolitischen Entscheidungen gekümmert hat 21 . Bis 1942 gehörte kein nennenswerter Wirtschaftsexperte dem engeren Kreis der Führerberater an. Von den ersten Verbindungsmännern zwischen Partei und Wirtschaft ging Funk ins Propagandaministerium, Keßler erwies sich als unfähig, und Kepplers Einfluß entsprach nie seinem Ehrgeiz 22 ; schon im Sommer 1933 war Thyssens 18 Hitler gab mehreren von den Fachministern beschlossenen Gesetzentwürfen nicht seine Zustimmung; darunter waren wichtige wirtschaftspolitische Vorschläge; sie traten nicht in Kraft — Beispiele im Bundesarchiv Koblenz, R 43 II, Bde. 417 a, 810 a. 19 Der Landwirtschaftsminister Darré und der Reichskommissar für die Preisbildung, Wagner, wurden mit der Zeit durch die großen Schwierigkeiten auf diesen Gebieten gezwungen, sich diese Kategorien zu eigen zu machen; dem Führer standen sie beide nicht nahe. 20 Text in Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 1955, Nr. 3, S. 204 ff. 21 Auszüge aus der Rede in Max Domarus (Hrsg.): Hitler, Reden und Proklamationen, Bd. I, S. 793 ff. (Würzburg 1962). Ein Musterbeispiel für die Nichtachtung wirtschaftlicher Folgen von politischen Entscheidungen bietet der beschleunigte Bau des Westwalls im Sommer 1938, der die schon aufs äußerste angespannte Bauindustrie an den Rand des Chaos führte. 22 Funk, früher bei der B e r l i n e r B ö r s e n z e i t u n g , war 1931 bis 1933 Kontaktmann für die NSDAP zu Industriellenkreisen und ab 1938
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Position als Lieblingsindustrieller des Führers ausgehöhlt — seine Unterstützung eines „ständischen Aufbaus" Spann'scher Prägung vertrug sich nicht mit dem Machtanspruch der NSDAP. 1934 und 1935 durfte Schacht, zugleich Reichsbankpräsident und Reichswirtschaftsminister, die Wirtschaftspolitik praktisch ungestört bestimmen; seine Kontakte mit Banken, Konzernen und Verbänden waren sehr eng, das uneingeschränkte Vertrauen der Partei und des Führers aber hat er nie gehabt. Diese Regie konnte nur so lange bestehen, wie es keine Krisenerscheinungen in der Wirtschaft gab. 1936 war das nicht mehr der Fall 23 . Ab Anfang dieses Jahres mußten Grundsatzentscheidungen getroffen werden, die Stellungnahmen des Führers laufend erforderlich machten. Schon aus dem Grund war es notwendig, einen alten Kämpfer, der Hitlers Vertrauen genoß, zum Chef der Wirtschaft zu ernennen. Dem Preußischen Ministerpräsidenten und Generaloberst der Luftwaffe, Göring, paßte diese Rolle insofern gut, als seine ideologische Voreingenommenheit weitaus geringer war als die der anderen Spitzenfunktionäre der Partei — er war den sachlichen Argumenten der Ministerialbürokratie in hohem Maße zugänglich, ohne daß seine Vertrauensposition in der Reichskanzlei effektiv darunter zu leiden gehabt hätte. Der zweifachen Aufgabe, eine Wirtschaftsplanung durchzusetzen und eine Berücksichtigung der Forderungen der Wirtschaft bei der Formulierung und Durchsetzung der Außenpolitik zu erzwingen, war Göring jedoch keineswegs gewachsen; immer wenn die Ministerialbürokratie und die Wirtschaft glaubten, ihn in der Hand zu haben, neigte er dazu, umzufallen und die sachliche Argumentation seiner Loyalität zur Bewegung und seiner Angst vor dem Führer preiszugeben 24 . Erst im Februar 1942, als Speer zum Minister für Bewaffnung und Munition ernannt wurde, dehnte sich der Wirkungsbereich wirtschaftlicher Fragen bis ins Vorzimmer der letzten politischen Instanz im Dritten Reich aus. Diese Entwicklung der politischen Struktur entsprach mit erheblicher Verzögerung dem Heranwachsen einer tiefgreifenden Wirtschaftskrise seit Ende 1935. Die durchaus geringe Bedeutung, die der Wirtschaft in der staatlichen Struktur des Dritten Reichs bis 1942 beigemessen wurde, ist wohl einmalig in der Geschichte der industrialisierten Länder. Die politische Struktur und die Persönlichkeit des Führers boten also günstige Grundlagen für eine fortgesetzte Gewährleistung des Primats der Politik, und es ist in der Tat sehr schwer, die auch nur indirekte Beteiligung von Wirtschaftsführern oder -verbänden an Reichswirtschaftsminister; Keßler war nur kurze Zeit, 1933—1934, „Führer der Wirtschaft"; Keppler war Hitlers persönlicher Wirtschaftsberater, fungierte 1936—1938 im Apparat des Vierjahresplans und wurde dann Staatssekretär im Auswärtigen Amt. 23 Vgl. Dieter Grosser: Die nationalsozialistische Wirtschaft, in Das Argument, 7. Jhrg., Heft 1 ; Petzina, a.a.O., Kap. 1. 24 In der Auseinandersetzung zwischen DAF und Industrie bzw. Bürokratie (s. unten) und in der Frage der Lohnpolitik lavierte er hoffnungslos; auch er hatte geringe volkswirtschaftliche Kenntnisse, wie er auf dem Reichspartei tag 1938 stolz verkündete.
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der staatspolitischen Willensbildung im Dritten Reich nachzuweisen. Einen sehr wichtigen Grund dafür bildete die veränderte Position Deutschlands im Welthandel und im internationalen Kapitalmarkt. Durch das Ende der Reparationen wurde der Komplex, wo sich in der Weimarer Republik Wirtschafts- und Außenpolitik am engsten verzahnt hatten, größtenteils aufgelöst. Deswegen und dank der weitgehenden Kontrolle über alle Devisengeschäfte, die Schachts Neuer Plan bewirkte, war die deutsche Außenpolitik nicht mehr eingeschränkt durch eine erzwungene Rücksicht auf mögliche wirtschaftliche Gegenmaßnahmen seitens der Westmächte; sie wurde in beträchtlichem Maße von wirtschaftlichen Schwächen unabhängig. Also überrascht es nicht, daß bei den Entscheidungen, aus dem Völkerbund auszutreten (November 1933), die militärische Dienstpflicht wiedereinzuführen (März 1935) oder das Rheinland wieder zu besetzen (März 1936), der Druck wirtschaftlicher Inter essen ver bände keine wichtige Rolle gespielt hat. 1933—1936 wurde den besitzenden Klassen die Wirtschaftspolitik, zum Teil auch die Sozialpolitik überlassen, aber außerhalb dieser Bereiche haben sie keine unmittelbar politische Rolle gespielt. Diese Arbeitsteilung und die Zustimmung der Wirtschaft zu den aggressiven außenpolitischen Schritten der Jahre 1933—1936 beruhte auf der Basis einer imperialistischen Konzeption, die Partei und Industrie gemeinsam zu teilen glaubten 25 . Dieser Konsens ist nicht nur aus der Zusammenarbeit von Schwerindustrie, Militär, Partei und Ministerialbürokratie in der Aufrüstung ersichtlich; was den Widerstand angeht, so hat es sehr wohl viele Unternehmer und Manager gegeben, die die Außenpolitik für ,etwas riskant', die Verfolgung von Kommunisten und Juden für ,nicht notwendig', sogar für Unrecht hielten; effektiver Widerstand aber wurde von diesen Kreisen — gerade denjenigen, die objektiv dazu in der Lage waren — in diesen Jahren überhaupt nicht geleistet. Diese scheinbare Harmonie der Herrschaftsgruppen in der Zielsetzung hatte ein zunächst paradox erscheinendes Nebenprodukt: die direkten Beziehungen zwischen den wirtschaftlichen und den politischen Führungsgruppen wurden schwächer als in der Weimarer Republik. In den Jahren des relativ unproblematischen wirtschaftlichen und militärischen Aufbaus hatte die Wirtschaft versäumt, ihre Machtstellung auf der politischen Ebene absolut abzusichern. Nachdem, in dieser Reihenfolge, Hugenberg sich als Reichswirtschaftsminister entlassen ließ, alle Parteien außer der NSDAP verboten wurden, Arbeitsminister Seldte der Überführung des von ihm geleiteten Stahlhelm-Verbands in die SA tatenlos zusah und v. Papen im Herbst 1934 vom Vize-Kanzler zum Sonderbotschafter in Wien herabgesetzt wurde, blieb von den Vertretern der alten Bourgeoisie in der Regierung nur 25 Diese ziemlich reibungslose Arbeitsteilung kam auf Kosten der NSGefolgschaft — insbes. des Handwerks und der radikalpopulistischen Kreise der Betriebszellenorganisation und der SA — zustande; eine imperialistische Außenpolitik konnte sich nur auf eine moderne Großindustrie stützen.
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Schacht übrig; alles wurde auf seinen Einfluß gesetzt24. Schacht baute die früheren Verbände, Kammern und Fachgruppen in eine umfassende „Organisation der gewerblichen Wirtschaft" um und schuf, in der Gestalt der Reichswirtschaftskammer, einen neuen Spitzenverband (1936). Dadurch sollte einmal die Lenkung der Wirtschaft durch den Staat erleichtert, die Machtstellung der Wirtschaft im Gesamtsystem jedoch konsolidiert werden 27 . In einem liberalen oder autoritären Staat wäre vielleicht auf dieser Basis eine profitable und dauerhafte Zusammenarbeit zwischen Staat und Wirtschaft zum Zweck einer schrittweisen imperialistischen Expansion möglich gewesen ohne einen weiteren institutionellen Ausbau der politischen Macht der Wirtschaft. Die Folgen der forcierten Aufrüstung aber machten diese Möglichkeit zunichte. Die Zersplitterung des industriellen Machtblocks Seit 1879 ist die Schwerindustrie maßgeblicher politischer Vertreter der deutschen Wirtschaft gewesen. Sie war — im Gegensatz zur englischen Erfahrung — Träger der industriellen Revolution gewesen, und in ihren vielen Auseinandersetzungen mit den Konsumgüterindustrien, Handwerk und Handel über Schutzzölle, Preisbindungen und zuletzt zivile Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in der Weltwirtschaftskrise hat sie sich immer behauptet; die Machtergreifung des Nationalsozialismus wäre ohne die Haltung weiter Kreise der Schwerindustrie in den Krisenjahren kaum möglich gewesen. Im Jahr 1936 aber trat eine gewaltige Strukturveränderung in der deutschen Wirtschaft ein, die, obwohl system-immanent, anscheinend von keiner der Herrschaftsgruppen vorausgesehen wurde. Während die Produktion der deutschen Wirtschaft in der Weimarer Zeit durch einen Mangel an flüssigem Kapital gehemmt worden war, traten nun infolge der Rüstungskonjunktur handfestere Produktionsgrenzen in Erscheinung: Mangel an importierten Rohstoffen und an Arbeitskräften. Diese wurden zu den bestimmenden Faktoren der deutschen Rüstungs- und Kriegswirtschaft und brachten eine sehr weitreichende Umbildung der wirtschaftspolitischen HerrschaftsStruktur mit sich, folglich eine Veränderung des Verhältnisses zwischen Wirtschaft und Politik. Zuerst der Devisenmangel: die Aufrüstung verlangte immer zunehmende Rohstoffimporte, ohne zu einer Steigerung des Exports entsprechend beizutragen 28 ; hinzu kam die Notwendigkeit, in erhöh26 v. Neuraths Position als Außenminister bis Anfang 1938 mag auch für die alte Bourgeoisie beruhigend gewirkt haben. Es wäre sehr wichtig zu klären, ob Beziehungen zwischen der Großindustrie und den ersten oppositionellen Gruppen in der Wehrmacht, 1937—1938, bestanden haben; dem Verf. ist nichts dergleichen bekannt. Es ist überhaupt merkwürdig, daß die Industrie keine Rolle im konservativen Widerstand für sich beansprucht hat. 27 Esenwein-Rothe, a.a.O., S. 72. 28 Der Devisenmangel war so groß, daß erhebliche Mengen von Waffen und der Waffenproduktion dienenden Werkzeugmaschinen exportiert wurden, letztere insbes. an Großbritannien.
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tem Maße Lebensmittel für eine Bevölkerung zu importieren, deren Gesamtkaufkraft durch die Vollbeschäftigung langsam anstieg. Ohne Drosselung der Aufrüstung konnte die Außenhandelskrise von 1936 nur dadurch aufgefangen werden, daß die einheimische Rohstoffproduktion gewaltig erweitert wurde. Eine Drosselung der Aufrüstung aber war für den Nationalsozialismus eine politische Unmöglichkeit; Schacht setzte sich vergeblich dafür ein, und die Stahl- und Eisenindustriellen leisteten ihm objektiv (wenn auch nicht bewußt) Unterstützung, indem sie sich dem Abbau minderwertiger deutscher Eisenerze widersetzten. Zum neuen ökonomischen Pfeiler des Dritten Reichs wurde die chemische Industrie, die nun darauf drängte, wesentliche Rohstoffe (Gummi, Benzin) in großem Umfang künstlich herzustellen 29 . Die Entscheidung der Staatsführung im Sinne der chemischen Industrie und die Verkündung des 2. Vierjahresplans im September 1936 — in der letzten Phase ein persönlicher Entschluß Hitlers — zerbrach endgültig die wirtschaftliche und politische Vormacht der Schwerindustrie; damit ging auch eine geschlossene und einheitliche politische Willensbildung oder Interessenvertretung des deutschen Kapitals zu Ende, wie sie der Reichsverband der deutschen Industrie in der Weimarer Republik noch dargestellt hatte. In der forcierten Aufrüstung der letzten Vorkriegsjähre verloren die Spitzenverbände den Überblick und die Kontrolle über die gesamte wirtschaftliche Entwicklung — es gab nur noch die Sonderinteressen von Firmen, höchstens die von Wirtschaftszweigen 30 . Die Schwerindustrie konnte nicht mehr behaupten, daß ihre Interessen denen des deutschen Imperialismus schlechthin gleich waren und diese alte Behauptung schon längst nicht mehr durchsetzen. Die Aufrüstung, wofür sie seit 1919 so stur und verbittert gekämpft hatte, wurde, dank des technologischen Fortschritts, zu ihrem Schicksal; sie wurde zum Opfer ihres eigenen Expansionismus. Die gesamte wirtschaftliche und außenpolitische Richtung des nationalsozialistischen Deutschland nach 1936 wurde durch die einheimische Rohstoffproduktion bestimmt; ohne den beschleunigten Ausbau der chemischen Industrie hätte 1939 ein europäischer Krieg nie riskiert werden können. Diese Strukturwandlungen wurden durch die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt gestärkt und beschleunigt. Bei schnell voranschreitender Aufrüstung wurde die öffentliche Hand zum gestalten29 Die Anfänge der Aufrüstung in der BRD standen a n s c h e i n e n d im Zeichen der schlechten Erfahrungen, die die Industrie gerade in dieser Frage der Beziehungen zwischen einzelnen Firmen und dem Staatsapparat im NS gemacht hatte: das öffentliche Ausschreiben jedes Rüstungsauftrags sollte zur Verhinderung einer neuen Umwälzung nach dem Muster von 1936 beitragen; die Haltung der westdeutschen Industrie zur Aufrüstung war bis Ende der 50er Jahre überhaupt kühl — s. G. Brandt: Rüstung und Wirtschaft in der Bundesrepublik, in G. Picht (Hrsg.): Studien zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr, 3. Folge, Witten 1966. 30 Hinweise in diesem Sinn in der sonst formalistischen Arbeit von Esenwein-Rothe, a.a.O., S. 82 ff.
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den Faktor der deutschen Wirtschaft; im Jahr 1939 betrug der Anteil der Reichsausgaben am Bruttosozialprodukt 34—35 °/o, wovon zwei Drittel der Kriegsvorbereitung dienten 31 ; bis Anfang 1939 unterlagen öffentliche Aufträge nicht dem Preisstop, wurden vielmehr mit erheblichen Gewinnspannen kalkuliert. Zur Maximierung des Profits versuchte jeder Unternehmer, solche Aufträge zu bekommen und möglichst pünktlich zu erledigen — damit er bei der nächste^ Verteilung der Aufträge wieder berücksichtigt wurde. Diese Tatsache, zusammen mit der durch die Aufrüstung herbeigeführten Verknappung von Arbeitskräften und Rohstoffen, führte zu einem hemmungslosen Wettbewerb zwischen den Firmen — nicht um Absatzmöglichkeiten, die für die beteiligten Industriezweige geradezu grenzenlos geworden waren, sondern um die grundlegenden Produktionsfaktoren. Die Firmen, die für die Aufrüstung produzierten, genossen einen privilegierten Status in der Zuteilung von Rohstoffen und waren dank der großzügigen Kostenberechnung in der Lage, Arbeitskräfte durch Lohnerhöhungen anzulocken, bzw. von anderen Firmen wegzuengagieren. Zu der durch den Aufstieg der chemischen Industrie verursachten Spaltung in der Wirtschaft trat also eine zweite Spaltung betriebswirtschaftlicher Natur: die zwischen den Firmen, die für die Aufrüstung und denen, die hauptsächlich für den Export oder für den Konsum produzierten. Obwohl z. B. der Kohlenbergbau für die Rüstungswirtschaft unentbehrlich war, lieferte er nicht direkt an die Wehrmacht; demzufolge blieben die Löhne niedrig, und die Arbeiter wanderten in zunehmendem Maß in andere Gewerbezweige ab; die Förderung pro Kopf der Bergarbeiter ließ nach; bei Kriegsbeginn gab es einen Mangel an Kohlen, der u. a. ernstlich drohte, das Bahntransportprogramm der Wehrmacht zu gefährden 32 . Diese Verlagerung und Verschärfung des kapitalistischen Wettbewerbs trug weiter zur Zersplitterung der wirtschaftspolitischen Macht der Industrie bei. Durch den Terror der Gestapo befreit von der Notwendigkeit, sich gegen eine politisch und gewerkschaftlich organisierte Arbeiterklasse zu verteidigen, durch die Rüstungskonjunktur befreit von der Notwendigkeit, die Produktion kartellmäßig zu planen und zu beschränken, verloren die besitzenden Klassen jeden Sinn eines kollektiven Interesses. Das kollektive Interesse des kapilistischen Wirtschaftssystems löste sich 1936—1939 schrittweise in eine reine Anhäufung von Firmenegoismen auf; die Firmen — um einen Spruch Lenins umzukehren — marschierten getrennt und fielen zusammen. Zum Interpreten des Interesses der Wirtschaft wurde, dank ihrer finanziellen Macht, die öffentliche Hand, d. h. die31 Vgl. Burton H. Klein: Germany's Economic Preparations for War, Harvard UP 1959. Der Anteil des B u n d e s 1965 war etwa halb so groß. Eine zuverlässige Wirtschaftsstatistik für die Jahre 1933—1945 gibt es noch nicht; eine solche Kompilation wäre von großer analytischer Bedeutung. 32 Diesem Abs. liegen unveröffentlichte Quellen zugrunde: Bundesarchiv Koblenz R 43 II, Bd. 528, R 41, Bd. 174, WiIF5, Bde. 560/1 u. 2, R 22 Gr. 5, Bd. 1206.
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selbe Institution, die auch die Außenpolitik bestimmte 3S. Die Reichswirtschaftskammer, 1936 als Krönungsstück der neuen, verstärkten Verbandsorganisation ins Leben gerufen, erfüllte fast nur technische Durchführungsaufgaben für die Reichsregierung und war außerstande, sich in der großen Politik durchzusetzen. Auf dem Gebiet der Rohstoffverteilung ist es dem Staat vor 1941 nicht gelungen, den Konkurrenzkampf der Firmen und der Auftraggeber zu zügeln 34 ; auf dem Arbeitsmarkt dagegen hatte der Staat aus politischen Gründen nur begrenztes Interesse an einer Regelung zugunsten der Industrie. Im Herbst 1936 hatte der Mangel an A r beitskräften in der Bau- und Metallindustrie schon zu erheblichen, z. T. durch Streiks erzwungenen Lohnsteigerungen und zum weitverbreiteten Wegengagieren von Facharbeitern von einer Firma in die nächste geführt. Es hätte zu diesem Zeitpunkt klar sein müssen, daß diese Phänomene keine vorübergehenden waren, vielmehr notwendige Folgen einer Aufrüstung darstellten, die wiederum selbst noch in ihrem Anfangsstadium war. Um einer Verbreitung dieser Zustände auf den gesamten Arbeitsmarkt zuvorzukommen und ihre der Rüstung abträglichen Auswirkungen auf den Produktionsablauf und auf die Verteilung des Sozialproduktes zu verhindern, wären zwei Maßnahmen erforderlich gewesen: eine allgemeine Beschränkung der Freiheit des Arbeitsplatzwechsels und die Festsetzung von Höchstlöhnen. Die nationalsozialistische Führung unterließ es bewußt, diese Maßnahmen zu treffen, bis im Sommer 1938 die Zuspitzung der internationalen Krise über das Sudetenland den propagandistisch notwendigen Vorwand dazu geliefert hatte und den Eingriff zugleich unumgänglich machte35. Der Mangel an Arbeitskräften war dann schon längst allgemein geworden. Die Gründe dieses Versäumnisses waren ganz eindeutig und werfen zugleich ein klares Licht auf die Frage nach dem Primat der Politik: die beiden Maßnahmen wurden von der politischen Führung abgelehnt, weil so radikale Schritte gegen das materielle Interesse der Arbeiterschaft mit der politischen Aufgabe, die Arbeiter zum Nationalsozialismus zu erziehen, nicht zu vereinbaren waren. Es war für das nationalsozialistische System, mindestens bis weit in den Krieg hinein, eine unabdingbare Notwendigkeit, der positiven Anteilnahme der Masse der Bevölkerung an seiner Weltanschauung und an allen seinen Maßnahmen sicher zu sein; der Versuch, die Arbeiterschaft durch Propaganda, Verbesserung der betrieblichen. Sozialeinrichtungen, KdF usw. soweit zu bringen, war nachweislich gescheitert — also mußte 33 Die Erforschung der Rolle der Kartelle 1936—1945 steht noch aus. Ein sehr plastisches Bild dieser Entwicklung liefern die vom Stadtpräsidenten angefertigten „Wirtschaftlichen Lageberichte für das Wirtschaftsgebiet Berlin" im Bundesarchiv Koblenz, R 41, Bde. 155—156. 34 Näheres über Rohstoffverteilung bei Geer und Petzina, a.a.O. 35 Unmittelbarer Anlaß für die Einschränkung des Arbeitsplatzwechsels in der Bauwirtschaft, die Ermächtigung des Reichsarbeitsministers, Höchstlöhne festzusetzen, und die Einführung der zivilen Dienstpflicht („wirtschaftlicher Gestellungsbefehl") im Mai—Juni 1938 scheint der beschleunigte Bau des Westwalls gewesen zu sein.
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ihre Zustimmung zum System durch hohe Löhne, bezahlte Feiertage usw. erkauft werden, obgleich diese Taktik im glatten Widerspruch zu den Erfordernissen des Rüstungsprogramms stand, welches gleichzeitig beschleunigt werden sollte 38 . Aus genau demselben Grund verhinderte die politische Führung das Bestreben der Wirtschaft (geführt von der Reichswirtschaftskammer), die anwachsende Macht der Deutschen Arbeitsfront zurückzudrängen: der Deutschen Arbeitsfront war die Aufgabe gestellt worden, die Arbeiterschaft für den Nationalsozialismus zu gewinnen — nichts, selbst nicht das ungestörte Funktionieren der Rüstungswirtschaft, durfte der Erfüllung dieser Aufgabe zuwiderlaufen, auch wenn sich die DAF in verkappter Form, aber nach 1936 in zunehmendem Maße als wirtschaftliche Interessenvertretung der Arbeiterklasse betätigte37. Der alte Widerspruch zwischen potentieller politischer Macht und wirtschaftlicher Ohnmacht der Arbeiterklasse war zwar vom Nationalsozialismus durch die Vernichtung der Arbeiterorganisationen „gelöst" worden; aber die plebiszitären Elemente des Systems, die nach Erreichen der Vollbeschäftigung notwendigerweise immer stärker hervortraten, machten es notwendig, die Arbeiterschaft nicht allein zu unterdrücken, sondern auch durch materielle Verbesserungen Zu mobilisieren. Der Widerspruch zwischen Demagogik (Kraft durch Freude) und politischer Praxis (forcierte Aufrüstung) reproduzierte den Widerspruch zwischen der notwendigen Massenbasis und der unveränderten Struktur der Eigentumsverhältnisse. Während der Vorschlag, die Freiheit des Arbeitsplatzwechsels zu beschränken, in Unternehmerkreisen kaum auf Widerspruch stieß, war es anders mit dem Vorschlag, Löhne mit bindender Wirkung nach oben festzusetzen. Die Firmen, die direkt oder indirekt an der Rüstungskonjunktur beteiligt waren, brauchten immer mehr Arbeitskräfte; eine Reservearmee von „volleinsatzfähigen" Arbeitslosen 38 war ab Frühjahr 1937 effektiv nicht mehr vorhanden. Die zusätzlichen Arbeiter mußten also von anderen Firmen wegengagiert werden, wobei das entscheidende Mittel das Angebot höherer Löhne war. Bis zur Entwicklung eines leistungsfähigen staatlichen Apparates für den Arbeitseinsatz — etwa Ende 1939 —, der Arbeitskräfte an die Rüstungswirtschaft dirigieren und sie dort zwangsverpflichten konnte, lag also ein Lohnstop keineswegs im Interesse aller Unternehmer; die Höchstlohnsätze, die in den letzten 12 Monaten vor Kriegsbeginn eingeführt wurden, wurden von vielen Unternehmern 36 Zu den Gründen für diese Taktik ist die Angst der NS-Führung vor einer Wiederholung des „Dolchstoßes" von 1917—1918 zu zählen; die November-Revolution hat anscheinend einen nachhaltigen Eindruck auf die NS-Führer gemacht. 37 Umfangreiche Akten hierzu im Bundesarchiv Koblenz, R 43 II, Bde. 530a, 548a u. b, R 41, Bd. 22, WiIF5, Bd. 1260; und im Deutschen Zentralarchiv Potsdam, RWM, Bde. 10311 und 10321; vgl. T.W. Mason: Labour in the Third Reich, Past and Present (Oxford), Nr. 33. 38 Als „volleinsatzfähig" wurden die Arbeitslosen amtlich bezeichnet, die gesund waren, auch bereit, überall in Deutschland auf Anhieb eingesetzt zu werden.
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durch verkappte Zulagen und Geschenke faktisch außer Kraft gesetzt M . Hinzu kam die Frage der vielfach sinkenden Arbeitsproduktivität; diese war Folgeerscheinung der generellen physischen Überbeanspruchung der Arbeitskräfte (viel Überstunden), der teilweise nicht ausreichenden Ernährung, der neuen Sicherheit des Arbeitsplatzes und der verdrossenen Gleichgültigkeit weiter Kreise der A r beiterschaft gegenüber dem ganzen gesellschaftlichen und politischen System des Nationalsozialismus. Als Gegenmaßnahme und als Anreiz zu höherer Leistung verstanden viele Unternehmer nur das Mittel der Lohnerhöhung. Hinter diesem Vorschlag, der sich in bescheidenerem Umfang im Krieg noch durchgesetzt hat, standen seitens der Unternehmer eine bemerkenswerte Gleichgültigkeit bezüglich der volkswirtschaftlichen Folgen einer solchen Maßnahme (Inflation) und eine durch die Großzügigkeit der öffentlichen Hand bedingte Gleichgültigkeit bezüglich einer normalen betriebswirtschaftlichen Kalkulation. Die historisch-typischen Verhaltensweisen einer kapitalistischen Wirtschaftsführung waren dank der forcierten Aufrüstung weitgehend irrelevant geworden; übrig blieben allein die primitivsten, kurzfristigsten Interessen einer jeden Firma. Dabei wurden die großen Firmen noch größer. Aus verschiedenen Gründen, die hier nicht näher erläutert werden können, führte die Aufrüstung zwangsweise zu einer Beschleunigung des Konzentrationsprozesses in der deutschen Wirtschaft. In der Elektroindustrie (Siemens), Chemie (IG Farben) und Eisen und Metall (Reichswerke Hermann Göring) trat diese Tendenz besonders stark in Erscheinung. Kraft ihrer Monopolstellung und der kriegswirtschaftlichen Bedeutung ihrer Produkte pflegten diese Unternehmen unmittelbare Beziehungen zum Staatsapparat und zur Wehrmacht; manchmal erreichten sie sogar auf personalpolitischer Ebene eine Gleichsetzung staatlicher und privatwirtschaftlicher Interessen 4<>. Aber auch für den Großteil der übrigen Industrie wurden infolge der Aufrüstung
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lassen, deren letzte Instanz die Wirtschaft allein als Mittel für die Erreichung zwar nur vage umrissener, jedoch offensichtlich prinzipiell unerreichbarer Ziele betrachtete. Auch das Heranziehen der „Führer der Wirtschaft" 1942—1944 an die staatliche Auftrags- und Materialverteilung durch Speer änderte wenig an dieser Tatsache. Die Ringe und Ausschüsse des Systems der „Selbstverantwortung und Verantwortlichkeit der deutschen Industrie" waren zwar von Industriellen besetzt, waren aber gemäß Führerprinzip dafür verantwortlich, daß die Richtlinien und Planungen des Ministeriums Speer ausgeführt wurden. Dazu wurde ihnen ein verhältnismäßig großer Spielraum gelassen; in den entscheidenden Fragen der Strategie und der Außenpolitik hatten sie kein Mitspracherecht. Ihre Kompetenz war eindeutig auf das Wie beschränkt41. Industrie und Weltkrieg Alle wichtigen außenpolitischen Entscheidungen 1938—1939 wurden von Hitler persönlich getroffen; inwieweit er wirtschaftliche Faktoren dabei berücksichtigt hat, kann noch nicht mit Sicherheit gesagt werden. Positive Beweise sind bis jetzt fast nicht vorhanden 42 . Göring und Gen. Thomas, die beide den Führern der Wirtschaft nahestanden, schlössen aus ihrer Kenntnis des Mangels an fast allen wehrwirtschaftlichen Reserven, daß Hitlers Außenpolitik waghalsig sei, daß der große Krieg vertagt werden müsse. Sie haben diesen Standpunkt nicht behaupten können; daß ihre pessimistischen wirtschaftlichen Prognosen sich erst später erfüllt haben, lag weitgehend an der militärischen Inaktivität bzw. Schwäche der Westmächte 1939—1940 (einem Faktor, den Hitler in seinen Blitzkriegsplänen z. T. miteinkalkuliert hatte) sowie an den Lieferungen der Sowjetunion und der Plünderung der besetzten Gebiete. Die von Thomas verlangte „Rüstung in die Tiefe" war aus den erwähnten plebiszitären Gründen für den Nationalsozialismus bis zur Niederlage bei Stalingrad eine innenpolitische Unmöglichkeit: sie hätte eine noch nie dagewesene Senkung des Lebensstandards erfordert. Die innenpolitische Funktion der Blitzkriegspläne lag in ihrem Versprechen, den Krieg ohne übermäßige Opfer der deutschen Bevölkerung so schnell wie möglich zu beenden und somit die vermeintliche rassische Vormachtstellung des deutschen Volkes in Europa durch eine soziale und wirtschaftliche Privilegierung zu untermauern. Obwohl also der Fehlbedarf an Rohstoffen und Arbeitskräften noch nicht als unmittelbare Kriegsursache zitiert werden kann, wan41 Siehe Alan Milward: Die deutsche Kriegswirtschaft, Stuttgart 1966. 42 Eine Ausnahme bilden Hitlers Ausführungen über die mangelnde Ernährungsgrundlage Deutschlands auf der sog. Hoßbach-Konferenz vom 5.11 37. P o s t - f a c t u m -Äußerungen, z.B. „In dem Lande (Polen) soll ein niedriger Lebensstandard bleiben, wir wollen dort nur Arbeitskräfte schöpfen" (Hitler, 19.10. 39, IMG Dok. 864-PS), gelten im strengen Sinne nicht als Beweis; in seiner programmatischen Rede zur Wirtschaftspolitik vom 18.11.39 vor dem Reichsverteidigungsrat erwähnte Göring n i c h t die Möglichkeit der Plünderung.
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delte sich der Krieg, einmal begonnen, zwangsweise in eine sich ständig steigernde Ausplünderung ganz Europas43. Die Kriegsführung ermöglichte erst und verlangte gleichzeitig die Plünderung. Dabei unterschied sich der zweite Weltkrieg in zwei wesentlichen Punkten von früheren imperialistischen Kriegen: der wirtschaftliche Bedarf, der dadurch befriedigt werden sollte, war keineswegs autonomwirtschaftlicher Natur (etwa fehlende Absatz- oder Investitionsmöglichkeiten), sondern stark politisch bedingt. Erst die forcierte Aufrüstung der Jahre 1936—1939 verursachte den Fehlbedarf an grundlegenden Produktionselementen, der wiederum durch den Krieg verstärkt wurde, gleichzeitig aber auf brutalste Art und Weise befriedigt werden konnte. Der Plünderung lagen also politische Entscheidungen (Aufrüstung, gewaltsame Ausdehnung des deutschen Machtbereichs) zugrunde, die zwar ursprünglich von Wirtschaftskreisen maßgeblich gefördert wurden, deren Ausführung aber seit 1936 weitgehend ihrer Kontrolle entglitten war: zum Teil wegen der politischen Struktur des Dritten Reichs, zum Teil aber wegen der unvermeidbaren Änderungen in der Wirtschaftsstruktur. Kriegsführung und Industrieproduktion wurden unter dem Nationalsozialismus zu einem sich gegenseitig bestimmenden Selbstzweck. Die hohen Steuersätze und die staatliche Kontrolle über den Kapitalmarkt störte die Industrie deshalb nicht, weil die Gelder in Form von öffentlichen Aufträgen an sie zurückkamen. Und daraus ergab sich der zweite wesentliche Unterschied zu anderen imperialistischen Kriegen. An konkreten Kriegszielen hat es dem Nationalsozialismus gefehlt; dementsprechend hat es kein Konzept einer neuen imperialistischen Ordnung Europas gegeben, das sich auf die Bedürfnisse der Wirtschaft stützte — es wurde einfach geplündert, damit der Krieg weitergeführt werden konnte. Weder politisch noch wirtschaftlich besaß das System einen Begriff von einem Status quo. Ein Sieg des Nationalsozialismus im herkömmlichen Sinne, der eine erstrebte' Friedensordnung voraussetzt, ist schon aus diesem Grunde unvorstellbar: denn die Rüstung hatte eine so große Änderung der Produktionsstruktur zugunsten der Grundstoff- und Investitionsgüterproduktion bewirkt, daß eine friedensmäßige Nachfragestruktur ohne das Nachfragemonopol des Staates nach Rüstungsgütern (d. h. aber ohne eine radikale Änderung des wirtschaftlichen und politischen Systems) undenkbar geworden war 44 . In der Tat rief der grenzenlose Expansionismus des Nationalsozialismus eine internationale Allianz ins Leben, die seine Vernichtung herbeiführen mußte. 43 Auch zu diesem zentralen Thema fehlt eine wissenschaftliche Untersuchung. Daß einzelne Dienststellen auf die Plünderung vorbereitet waren, beweist die Errichtung der ersten Erfassungsstelle für polnische „Fremdarbeiter" in besetztem Gebiet, die schon am 3. 9. 39 vorgenommen wurde — hierzu die bedeutende Untersuchung von Eva Seeber: Zwangsarbeiter in der faschistischen Kriegswirtschaft, Berlin-Ost 1964 (hier S. 28). 44 In den Jahren 1941—1942, als der Endsieg in Europa in greifbarer Nähe zu sein schien, hat diese Frage die NS-Führung stark beschäftigt; es wurde entschieden, das Problem durch ein großangelegtes, staatlich subventioniertes Wohnungsbauprogramm zu lösen (damaliger Fehlbestand
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Zusammenfassung Ab 1936 wurde der Rahmen des wirtschaftlichen Handelns in Deutschland durch die politische Führung definiert. Die Bedürfnisse der Wirtschaft wurden durch politische, vornehmlich durch außenpolitische Entscheidungen bestimmt und für ihre Befriedigung durch militärische Erfolge gesorgt. Die Tatsache, daß die wichtigsten Industriellen bei der „Arisierung" der Wirtschaft, bei der Enteignung eroberter Produktionsmittel, bei der Versklavung von 6 Mio. Menschen aus Osteuropa und bei der Beschäftigung von KZ-Häftlingen nicht nur passiv mitgewirkt, sondern oft die Initiative ergriffen haben, bildet zwar ein vernichtendes Urteil über das Wirtschaftssystem, dessen wesentliches Organisationsprinzip — Wettbewerb — solche Verhaltensweisen hervorrief. Es kann aber nicht behauptet werden, daß selbst diese Aktionen den Ablauf der Geschichte des Nationalsozialismus grundsätzlich gestaltet haben — sie haben vielmehr einen gegebenen Rahmen barbarisch ausgefüllt. Die großen Firmen haben sich mit dem Nationalsozialismus identifiziert, um sich wirtschaftlich weiter entwickeln zu können. Ihr vom System gefördertes Profit- und Expansionsstreben und der verbissene Nationalismus ihrer Führer hat sie aber, wenn auch ohne jede Bedenken, an ein politisches System gekettet, auf dessen Zielsetzung — insoweit sie überhaupt kontrollierbar war — sie so gut wie keinen Einfluß hatten. Eine elastische Zusammenarbeit von Wirtschaft und Staat zum Vorteil des Wirtschaftssystems hat es allenfalls in den Jahren 1934 bis 1936 gegeben und da nur in vorgetäuschter Form: denn diese Zusammenarbeit beruhte nicht auf einem stabilen Ausgleich der Klasseninteressen und nicht auf einem grundsätzlichen Konsens der öffentlichen Meinung, sondern auf der terroristischen Unterdrückung der Arbeiterbewegung und einer totalitären Publizistik. Die politische Führung baute sich eine institutionell weitgehend selbständige Machtposition aus, die sich als unerschütterlich erwies und die durch ihre Kontrolle über die Außenpolitik die gesamte Zielsetzung des Systems bestimmte. Die Machtergreifung des Nationalsozialismus ist auf eine unvermeidliche Zersplitterung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland zurückzuführen, und der Primat der Politik in seiner ausgereiften Form beruhte auf einer erneuten Zersplitterung in den Jahren 1936—1938. Das Gegen- und Nebeneinander war aber keineswegs auf die Wirtschaft beschränkt, es wurde vielmehr zum grundlegenden Organisationsprinzip des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. Eine neue, funktionierende Gesamtrepräsentation des Volkes ließ sich nicht allein durch Terror, Propaganda und außenpolitische Erfolge (d. h. durch die Politik) erzielen; dazu wäre vielmehr eine rationale Umstrukturierung der Gesellschaft nötig gewesen, wozu es weder in der Wirtschaft noch in der NSDAP den geringsten Ansatz etwa 3 Mio. Wohnungen). Daß diese Lösung die durch die Aufrüstung stark ausgebaute c h e m i s c h e und m e t a l l v e r a r b e i t e n d e Industrie in eine schwere Krise gestürzt hätte, liegt auf der Hand.
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gegeben hat. Die alten Gegensätze zwischen Landwirtschaft und Industrie, Kapital und Arbeiterklasse wurden in neuer Form, aber unentschärft weitergeführt; und dazu traten neue Strukturkonflikte: Gauleiter gegen Gauleiter und Reichsregierung, Partei gegen Wehrmacht und Beamtentum, SS und SD gegen alle 45 . (Es sei hier nur am Rande vermerkt, daß die in der BRD auffallende Entpolitisierung des Kampfes um die Verteilung des Sozialprodukts in der deutschen Geschichte schon einmal verwirklicht war, nämlich 1938/39. Die gebotene Geschlossenheit des nationalsozialistischen Systems nach außen verbot die öffentliche, d. h. politische Austragung der durchaus vorhandenen Gegensätze zwischen den einzelnen Machtträgern in dieser Frage; und Versuche, die Frage von unten her zu politisieren, führten zumeist ins KZ. Dagegen war eine nachhaltige, unpolitische, d. h. „ideologiefreie" Vertretung der eigenen materiellen Interessen sehr wohl system-konformes Verhalten, wie es in der Weimarer Republik keineswegs der Fall war. Dank des Terrors und der Propaganda entwickelte sich also ein breiter, komplexer „Interessenpluralismus", der dem heutigen nicht unähnlich war.) Das ganze System wurde durch zweierlei zusammengehalten: die frenetische, ziellose Dynamik des Expansionismus, die durch das fortlaufende Setzen neuer Aufgaben eine Zusammenarbeit der verschiedenen Organisationen und Interessen erzwang — denn Stillstand hätte einen Zerfall bedeutet; und zweitens durch die Funktion des Führerprinzips. Hitlers vermeintliche Taktik, den eigenen Machtbereich durch die Taktik des divide et impera auszudehnen, war eher eine systembedingte Notwendigkeit: denn die Pluralität der Interessen und Organisationen war schon gegeben; ihre Aufhebung scheiterte weniger an Hitlers Wunsch, immer schlichten zu können, als an der Macht derjenigen Interessen, die durch Grundsatzentscheidungen jeweils hätten geschwächt werden müssen 46 . Die Treue zum Führer, die Bereitschaft der Leiter der Staats- und Parteiorgane, seine Entscheidungen anzunehmen, war im Krieg oft die einzige Klammer, die das „tausendjährige Reich" vor der Anarchie bewahrte 47 . Allein aus dem Primat der Politik und aus der ihm zugrunde liegenden materiellen Pluralität des Herrschaftssystems sind die selbst45 Die Konflikte unter den Gauleitern und zwischen ihnen und der Reichsregierung, die im Krieg außerordentlich scharfe Formen annahmen, waren eigentlich eine Fortsetzung des alten Streits um den Föderalismus; zu den bekannten Aspekten des Kampfes zwischen der NSDAP und dem alten Staatsapparat muß ein sozialpolitischer hinzugefügt werden: die Partei widerstrebte mit Erfolg den Plänen des Arbeitsministeriums und des OKW, bei Kriegsbeginn eine allgemeine Lohnsenkung durchzuführen: Bundesarchiv Koblenz, R 41, Bd. 59. 46 Diese Ausführungen gelten für die Zeit vor dem Krieg; im Krieg wurde die Taktik d i v i d e e t i m p e r a z. T. bewußt betrieben. 47 Nicht zuletzt durch sein persönliches Charisma; in der breiten Bevölkerung scheint er sehr populär gewesen zu sein, was einen wichtigen Ausgleich für die Unpopularität seiner Helfer, der Ideologie, des Krieges usw. schuf — vgl. Heinz Boberach: Meldungen aus dem Reich (Rez. in diesem Heft).
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zerstörerischen Maßnahmen des Nationalsozialismus zu verstehen. Unter den ersten polnischen Juden, die in den Vernichtungslagern vergast wurden, befanden sich Tausende von gelernten Metallarbeitern aus polnischen Rüstungsbetrieben. Dies geschah im Herbst 1942, am Wendepunkt des Feldzuges gegen die Sowjetunion, der die Ansprüche der Wehrmacht an die deutsche Kriegswirtschaft noch weiter steigern sollte. Die Wehrmacht wies nachdrücklich auf die Irrationalität dieses Verfahrens hin, das die Kriegswirtschaft nur schwächen konnte, war aber nicht imstande, die jüdischen Rüstungsarbeiter für die Industrie zu retten. Der beschwerdeführende General wurde seines Postens enthoben 48 . Der Verwendung knapp gewordener Eisenbahneinrichtungen für den Abtransport jüdischer Verfolgter gegen Ende des Krieges anstatt für die Versorgung der Streitkräfte an der' Ostfront lag dasselbe interne Machtverhältnis zugrunde. Dank ihres Monopols über die Nachrichtendienste und die politisch-polizeiliche Waffengewalt und ihrer Position außerhalb des übrigen Rechtssystems und dank Himmlers Sonderstellung bei Hitler war die SS imstande, ihre ideologisch bestimmte Aufgabe der Judenvernichtung zum materiellen Schaden des gesamten Systems durchzuführen. Die Verselbständigung der Politik ist nirgends so klar zu sehen wie am Beispiel der SS, wo die Umsetzung der Ideologie in die Praxis den kriegswirtschaftlichen Interessen glatt widersprach und dennoch verwirklicht wurde 48 . Ein nicht ganz so krasses Beispiel liefert die Entscheidung vom März 1942, die Bevölkerung Osteuropas systematisch zu versklaven und der deutschen Rüstungswirtschaft zur Verfügung zu stellen. Gauleiter Sauckel, zu dem Zeitpunkt zum Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz berufen, schlug vor, die Knappheit an Arbeitskräften durch Rationalisierung der Produktionsmethoden und Zwangsverpflichtung der deutschen Frauen zu lösen: Sklavenarbeit sei politisch und technisch unzuverlässig, unproduktiv und biete zugleich rassenpolitische Gefahren für das deutsche Volk. Sein Programm wurde von Hitler mit der Begründung abgelehnt, es bleibe keine Zeit, die Wirtschaft zu rationalisieren, und die deutsche Frau gehöre ins Haus. Weitere 5 Mio. „Fremd- und Ostarbeiter" wurden daraufhin ins Reich verschleppt. Eine ideologisch bestimmte Politik siegte wieder über wirtschaftliche Kalkulation 50 . Der Versuch, diese Ideologie auf einen Nenner zu reduzieren oder sie als systematisch zu interpretieren, ist zum Scheitern verurteilt. Goebbels und sein Apparat haben zwar die Ideologie als beliebig manipulierbares Herrschaftsinstrument verstanden und benutzt. Letztlich wurde sie aber dennoch von der politischen Führung, 48 Gutachten von Dr. H. v. Krannhals im Prozeß gegen SS-Obergruppenführer Karl Wolff, München September 1964. 49 Die Vormachtstellung der SS kam nicht von ungefähr, erwuchs vielmehr aus ihrer für das System unerläßlichen Funktion bei der Zerschlagung der Linken, 1933—1936. 50 Vgl. Prozeß gegen Fritz Sauckel, IMG, insbes. Bd. 15. Die Mobilisierung weiblicher Arbeitskräfte war in England viel umfassender als in Deutschland.
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insbesondere von Hitler persönlich und von der SS als „rassischsittliche" Utopie so ernst genommen, daß ihr in entscheidenden Fragen selbst die kurzfristigen materiellen Bedürfnisse des Systems geopfert wurden. Gerade in den Fällen Judenvernichtung und A r beitseinsatz der Frauen war zu dieser Zeit die Ideologie keine notwendige Stütze des Systems mehr. Denn die Judenvernichtung wurde unter Geheimhaltung in Polen durchgeführt, und den „Meldungen aus dem Reich" zufolge hätte eine Zwangsverpflichtung der Frauen bei einem Großteil der Bevölkerung Verständnis gefunden. Was das System 1944 noch zusammenhielt, war die Angst: vor „dem Russen" und vor dem allgemein gewordenen Terror. Unter den Bedingungen kapitalistischer Produktion haftet der Behauptung eines Primats der Politik stets etwas Irrationales an, da das, wodurch sich dieser Primat legitimiert, das Gemeinwohl, nur vorgetäuscht werden kann. Erst dann, wenn der Staat einen Überblick und die Kontrolle über den gesamten wirtschaftlichen und sozialen Ablauf besitzt und in der Lage ist, die Zielsetzung des Systems nach Maßgabe des objektiv Möglichen zu bestimmen, kann von einem rationalen Primat der Politik die Rede sein. Die Radikalität des Primats der Politik im Nationalsozialismus dagegen wurzelte in der spezifisch historischen Auflösung der bürgerlichen deutschen Gesellschaft (1929—1933), des deutschen Kapitalismus (1936—1938) und der internationalen Politik in den 30er Jahren. Der politische Spielraum der nationalsozialistischen Regierung beruhte nicht auf dem Vertrauen einer politisch homogenen Gesellschaft, entstand vielmehr gerade aus der Zersplitterung der gesellschaftlichen Kräfte und der internationalen Opposition. Das Zusammentreffen beider Faktoren ermöglichte eine Verselbständigung des Staates, wie sie in der Geschichte ihresgleichen sucht. Die Entwicklung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems tendierte zwangsläufig zur Selbstzerstörung, denn eine Politik, die nicht auf den Bedürfnissen der gesellschaftlichen Reproduktion basiert, kann sich selbst keine begrenzten rationalen Aufgaben mehr setzen. Die Verselbständigung der Politik führte zu einem blinden Selbstlauf des Systems auf allen Gebieten, wofür die kapitalistische Konkurrenzwirtschaft besonders anfällig war: Zur Dialektik des Nationalsozialismus gehört die Lösung, des ökonomischen Konkurrenzprinzips von allen auf die Erhaltung der gesellschaftlichen Reproduktion gerichteten institutionellen Beschränkungen. Der sich daraus ergebende wirtschaftliche Sog, bedingt durch die unbegrenzte staatliche Nachfrage nach Rüstungsgütern, tendierte dazu, das Wirtschaftssystem aufzulösen. Die strukturelle Irrationalität fand ihren konkreten Ausdruck, zum Teil auch ihren Ursprung, in der spezifischen Irrationalität der nationalsozialistischen Ideologie. Diese Ideologie war Produkt einer untergehenden Gesellschaftsschicht und geriet mit der gerade durch die nationalsozialistische Herrschaft geschaffenen Wirklichkeit zunehmend in Konflikt. Die Bewegung, deren Ideologie auf die Bildung einer Gesellschaft von Einzelhändlern, Handwerkern und Kleinbauern gerichtet war, setzte eine gewaltige Beschleunigung des Konzen-
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trationsprozesses in Industrie und Handel und der Landflucht in Gang. Der Versuch, mit „rassisch einwandfreien" Bauernfamilien die Lebensraumideologie im „Warthegau" (Westpolen) wortgetreu in die Praxis zu übertragen, war ein eklatanter Mißerfolg; ebenso der Versuch, die Arbeiterklasse zum Idealismus zu erziehen — die Arbeiter mußten auf Kosten der militärischen Leistungsfähigkeit gekauft werden, und doch reichte auch dieses Mittel nicht aus. Am Ende konnte nur in der SS und durch die SS der Ideologie ein Platz im Alltag gewährt werden — und dann nur in der und durch die radikalste Gewaltanwendung. Opferbereitschaft und Kampfgeist auf der einen Seite und durchgreifende wehrwirtschaftliche Planung auf der anderen waren nur unter dem Druck der sich nähernden Niederlage zu verwirklichen. In den letzten Monaten jedoch — und zuvor schon im Widerstand des 20. Juli 1944 —, als sich die politische Führung in gegenseitige Vorwürfe und Intrigen endlich auflöste, flackerten schwache Zeichen von Selbsterhaltung wieder auf: Speer und der Industrie gelang es, die Durchführung von Hitlers Verbrannte-Erde-Befehl zu umgehen; und am 12. 3. 1945 entschied sogar Himmler, den Führerbefehl nicht auszuführen, alle KZs mitsamt Insassen in die Luft zu sprengen und ordnete gleichzeitig an, daß die Vergasung der Juden eingestellt werden sollte. Die Vorbereitung der Nürnberger Prozesse bei den Westmächten war bekannt geworden.
Besprechungen I. Philosophie Beyer, W.R. (Hrsg.): h o m o h o m i n i h o m o , Festschrift für Joseph E. Drexel zum 70. Geburtstag. C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München 1966 (327 S., Ln., 24,— DM). Eine Festschrift — aber ihr zentrales Thema ist der Schrecken. Zentral insofern, als das mittlere der drei Kapitel allein Gedichten von Günther Anders aus den Jahren 1933—1948 vorbehalten ist. Ihr Gesamttitel: „Der Schrecken". Welcher Schrecken gemeint ist, geht schon aus der Widmung hervor. Die Schrift ist Joseph E. Drexel zum 70. Geburtstag zugedacht, dem erfolgreichen Verleger, aber auch „dem tapferen Kämpfer für humanistische Ideale gegen faschistische Willkür, der trotz Mißhandlung und Peinigung an Leib und Seele nie den Glauben an den Menschen v e r l o r . . . " Um den Glauben an den Menschen geht es mehr oder weniger in allen Beiträgen zu dieser Festschrift, homo homini homo — das ist ein Postulat, dem homo homini lupus deutlich entgegengestellt. Was aber heißt es heute, nach der Erfahrung jenes Schreckens, ein Mensch zu sein? — In der letzten der hier gesammelten Erörterungen („Vom ,Alter Ego' zum Wir") schreibt der Herausgeber W. R. Beyer, und es liest sich wie ein Re-
Das Argument n°43 (1967)
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Der antifaschistische Widerstand der Arbeiterbewegung im Spiegel der SED-Historiographie 1 Es ist ohne Zweifel schwierig, über diesen Abschnitt in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung zu schreiben. Abgesehen von der Dürftigkeit der Quellen, fehlen uns noch die Maßstäbe, den fürchterlichen Leidensweg des Widerstands der Arbeiterklasse und die Motive der einzelnen Widerstandskämpfer und -gruppen verständlich zu machen. Denn, im Gegensatz zum konservativen Widerstand, hatten die illegalen Organisationen der Arbeiterklasse nicht den Anreiz zur Aktion, daß sie objektiv imstande gewesen wären, das NS-System zu stürzen; ihnen fehlten auch vollends die Stellungen innerhalb des Staatsapparats, die den Konservativen zum A u f bau einer weitverzweigten Organisation und zur Deckung der konspirativen Tätigkeit von so großer Bedeutung waren. Spätestens ab Mitte 1934 und bis Ende 1944 war die Entscheidung, sich dem sozialdemokratischen oder dem kommunistischen Widerstand anzuschließen faktisch eine Entscheidung, sich nach kurzer Zeit und ohne zur Erschütterung des Systems beigetragen zu haben, von der Gestapo verhaften und foltern und von der deutschen Justiz aburteilen zu lassen. Nichts war für den Arbeiterwiderstand gefährlicher als der Erfolg, denn je größer eine Gruppe wurde, je vielfältiger die Formen ihres Widerstands, desto schwieriger wurde die Geheimhaltung; die wenigsten Gruppen bestanden länger als 3 Jahre, viele nur Monate. Wenn dennoch in den 12 Jahren der NS-Herrsehaft schätzungsweise 150 000 Personen wegen sozialdemokratischer, gewerkschaftlicher oder — die meisten — kommunistischer Opposition verhaftet werden mußten, dann hat der Historiker mit Problemen der Interpretation zu tun, die jenseits der herkömmlichen Geschichtswissenschaft liegen. Wie kommt er über eine positivistische Schilderung des A u f 1 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung — Band 5. Von Januar 1933 bis Mai 1945. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Dietz Verlag Berlin, 1966.
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baus, der Organisation, der Tätigkeit und der Zerstörung der vielen einzelnen Gruppen hinaus? Hat der linke Widerstand eine historische Bedeutung, indem er die Politik der SPD oder der SED nach 1945 geprägt hat? — Es scheint fraglich. Unmöglich, daß es alles umsonst war; genauso unzureichend, von wirtschaftlichen Klassengegensätzen zu sprechen wie vom „anderen Deutschland" oder vom „nackten Heldentum"; lächerlich, die Widerstandskämpfer als Verräter der Nation abzutun. Die Verf. dieses Bandes haben es sich leicht gemacht. Ungestört durch diese oder ähnliche Fragen, haben sie sich hauptsächlich auf die Entwicklung der strategischen Linie des ZK der KPD im Exil konzentriert. Die zentralen Dokumente in dieser Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung sind die Beratungen, Beschlüsse, Aufrufe, Plattformen, Erklärungen, Stellungnahmen, Losungen, Aktionsprogramme und offenen Briefe dieses Gremiums oder anderer ihm nahestehender Organisationen. Sie sind ausführlich und ohne Kommentar wiedergegeben, und ihre Behandlung durch die Verf. wäre eher historischen Monumenten als historischen Dokumenten angemessen; ihre konkrete politische Bedeutung wird durch die Massivität der Darstellung suggeriert und nicht durch Argumentation erwiesen; es fehlt jede Analyse der praktisch-politischen Bedingungen, unter denen diese programmatischen Äußerungen entstanden sind. Folgendes Beispiel kann für viele ähnliche Passagen stellvertretend sein: Im zweiten Teil des Referates (auf der Berner Konferenz der KPD, Ende Januar 1939 — TWM) wandte sich Wilhelm Pieck der Hauptaufgabe zu, die gelöst werden mußte, sollte das Hitlerregime gestürzt und der Krieg verhindert werden:... Von der Einigung der Arbeiterklasse hing die Rettung und Sicherung des Friedens in erster Linie ab. Die einige deutsche Arbeiterklasse bildete im Bunde mit allen patriotischen Kräften des Volkes die entscheidende Macht, die das faschistische Regime des deutschen Imperialismus und Militarismus daran hindern konnte, einen Weltbrand zu entfachen. Die Herstellung der Einheitsfront der deutschen Arbeiterklasse war die wichtigste Voraussetzung für das Zustandekommen und für den Bestand der Volksfront, die das Bündnis der Arbeiterklasse mit den Bauern, dem Mittelstand, den Beamten und Intellektuellen darstellte. (S. 218-9) Das Irreale und das Schematische fallen auf. Hing der Frieden tatsächlich von der Einigung der Arbeiterklasse ab? Das Regime durch den Volkswiderstand stürzen? Wie sollte ein Bündnis mit den Bauern und dem Mittelstand im ns. Deutschland aussehen? Man sollte nicht annehmen, daß solche Fragen dem ZK selbst nicht aktuell waren. Die objektive politische Situation des ZK, die in den Jahren 1934—42 sehr problematisch war, ist zum Verständnis solcher Programme von größter Bedeutung; sie wird in diesem Band nicht diskutiert. Das ZK war im Exil, und der ns. Terror hatte es seiner eigentlichen Existenzberechtigung weigehend beraubt. Insbes. nach 1936 wurde
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seine faktische Führungsfunktion durch die Massenverhaftungen im Inland und durch die zunehmende Schwierigkeit der Grenzverbindung stark eingeschränkt. Es war aber dem ZK der KPD — im Gegensatz zu einigen Gruppen in der Exil-Leitung der SPD — prinzipiell unmöglich, diese Situation als solche anzuerkennen. Dies wäre dem Temperament und dem Sendungsbewußtsein der KPD zuwidergelaufen, wäre einem Verrat an der Kommunistischen Internationale und der SU gleich gewesen und hätte dem in der KPD stark verwurzelten Primat der Organisation widersprochen. Das ZK machte also weiter, beriet über strategische und taktische Linien, als wären sie tatsächlich von akuter praktischer Bedeutung, erließ Aufrufe an ein in Deutschland kaum noch erreichbares Publikum (wie es hier auch z. T. zugegeben wird — S. 130, 366) und verlangte unermüdlich den Umsturz des NS-Systems; es benahm sich noch wie die Leitung einer Partei, was, organisationssoziologisch gesehen, leicht verständlich ist. Die Haltung des ZK im Exil wurde dann durch die beiden Kreise, derer es als Publikum sicher sein konnte, näher definiert: die Exil-Leitung der SPD und die Führung der KPdSU. Gegenüber der SPD mußte das ZK seinen Anspruch auf die Führung im Widerstandskampf geltend machen; ab Mitte 1935 wurde die SPD wiederholt und ohne Erfolg zur Bildung einer anti-faschistischen Einheitsfront aufgefordert und jede Ablehnung wurde damals und wird noch in diesem Band als eine Schwächung des Widerstands bezeichnet. Es ist aber wirklich nicht einzusehen, daß die Zusammenarbeit der beiden Exil-Leitungen die Lage der Widerstandsgruppen im Inland bedeutend verbessert hätte; die Zusammenarbeit in Deutschland war 1934—35 sowieso ziemlich weitreichend. Auf der anderen Seite waren die Aufrufe usw. dieser Jahre auch teilweise für Stalin und die KPdSU bestimmt. Die großen „Säuberungen" 1936—39 und der Nicht-Angriffs-Pakt mit Deutschland 1939—41 gefährdeten die Politik und den Bestand des ZK der KPD, zeitweilig auch das Leben seiner Mitglieder. Über die Wirkungen der Säuberungen auf die deutsche Emigration sagt der Band kein Wort; die Säuberungen selbst werden in einem halben Absatz abgetan und „bestimmten negativen Charaktereigenschaften J. W. Stalins" sowie „provokatorischen Mitteilungen (der) imperialistischen Mächte" zugeschrieben (S. 206—7). Es ist wohl nicht ganz falsch anzunehmen, daß die irreal hohe Einschätzung der eigenen Wichtigkeit und die wirklichkeitsfremde Übertreibung der Möglichkeiten des Volkswiderstands, die die Aufrufe usw. des ZK in diesen Jahren kennzeichnen (S. 209, 223, 247, 253, 280, 530), zum Großteil auf die Notwendigkeit zurückzuführen sind, die eigene Existenz gegenüber der Führung der KPdSU zu rechtfertigen und zu sichern. Gegen all dies ist nichts zu sagen, aber solche Überlegungen mindern etwas den Quellenwert der Aufrufe und Plattformen, sprechen gegen die Behandlung dieser Dokumente als Meilensteine in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und gegen eine Behandlung des Themas vorwiegend aus der Sicht der Exil-Leitung. Denn der Ausgangspunkt der Verfasser hemmt zwangsläufig ihre Darstellung des inländischen Widerstands. Die Fragestellungen und der Stil
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sind genauso bürokratisch wie in den Kapiteln über das ZK; die Verf. haben kaum einen einzigen Versuch gemacht, die unmittelbare, alltägliche Wirklichkeit des Widerstands zu rekonstruieren oder die Motive der Widerstandskämpfer aufzuspüren und verständlich zu machen. Sie befassen sich fast ausschließlich mit der ideologischen Haltung und dem organisatorischen Reifegrad der illegalen Gruppen. Es wird z. B. nirgends erläutert, was es für die praktische Widerstandsarbeit hieß, wenn zwei Gruppen zueinander Verbindungen aufnahmen: wenn Hamburger Funktionäre „Verbindungen zu jugendlichen Sportlern und Künstlern herstellten" (S. 327), oder wenn andere Funktionäre „Kontakte mit Angehörigen des Mittelstands und antifaschistischen Soldaten" hatten (S. 397). Die Programme von Einheitsfront-Gruppen werden lobend hervorgehoben, ohne daß es im geringsten klar wird, welche Formen die Zusammenarbeit zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten eigentlich nahm (z. B. S. 98). Ging sie über die Verfassung eines gemeinsamen Aufrufs hinaus? Haben die Gruppen ihre Informationen über Gestapospitzel geteilt? Oder gemeinsame Schulungen und Flugblattaktionen durchgeführt und Lohnforderungen gemacht? Solche Fragen sind umsonst, denn die Darstellung bleibt durchgehend abstrakt und vermittelt ab und zu den Eindruck, als wären die illegalen Gruppen hauptsächlich als Etappen in der gesetzmäßigen Entfaltung einer großen Strategie von Bedeutung. Ihre Probleme waren aber entschieden anders als die des ZK und verdienen eine selbständige Behandlung. Die starke Betonung der Ideologie führt hier zu schweren Verzerrungen im Gesamtbild des Widerstands der Arbeiterbewegung. Erstens werden rein sozialdemokratische Gruppen kaum erwähnt, obwohl einige unter ihnen aus der ersten Zeit zu den größten Gruppen überhaupt zählten — wie etwa die Blumenberg-Gruppe in Hannover, der Internationale Transportarbeiterverband bei der Reichsbahn im Rheinland und die sog. „Brotfabrik" im Ruhrgebiet. Zweitens und noch schwerwiegender: die Behandlung des kommunistischen Widerstands in den ersten 3 Jahren der NS-Herrschaft ist völlig unzureichend. Beide Unterlassungen haben offensichtlich den gleichen Grund: die strategische Linie der KPD im Widerstand wurde erst gegen Ende 1935 nach dem 7. Kominternkongreß und der „Brüsseler" Konferenz der Partei festgelegt — Einheitsfront mit der Sozialdemokratie, womöglich Volksfront mit allen antifaschistischen Kräften mit dem Ziel des Aufbaus einer radikalen Demokratie in Deutschland. Die Linie blieb bis nach Kriegsende im Grunde unverändert, und dieser Band ist nicht zuletzt dazu angetan, ihre Zweckmäßigkeit zu beweisen (welche seit 1936 kaum von irgendeiner Seite in Frage gestellt worden ist.) Die vorliegende Darstellung hebt nur die Gruppen aus den Jahren 1933—35 hervor, die die Ende 1935 beschlossene Strategie im Keim schon entwickelt hatten; der rein kommunistische und rein sozialdemokratische Widerstand wird weitgehend ignoriert. Jener stand in der ersten Phase — die nach meiner Lektüre der Gestapo-Akten bei weitem die aktivste war — förmlich im Zeichen des Kampfes gegen die Sozialdemokratie und der bevorstehenden proletarischen Revo-
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lution und gilt demgemäß heute als irrtümlich. Entsprechend dieser damals zwar umstrittenen Strategie wurde der Widerstand im Lande vorwiegend regional aufgebaut, hätte noch Leitungen auf Bezirksund Landesebene und versuchte „Massenarbeit" (S. 50) zu leisten — d. h. Anhänger durch Propaganda zu gewinnen. Die pyramidenartige Struktur der Organisation und die Formen der Widerstandstätigkeit wirkten beide zum Vorteil der Gestapo: 1936, als sich die Gestapo eingespielt hatte, stiegen die Verhaftungen wegen „kommunistischer Umtriebe" auf durchschnittlich 1000 im Monat. Dieses Bild ist notwendigerweise provisorischer Natur, denn die erste Phase des Widerstands ist noch gar nicht gründlich erforscht worden; die Aktivität der illegalen kommunistischen Gruppen im 2. Weltkrieg ist viel besser dokumentiert. Das ist aber nicht der einzige Grund, warum dieser Band den Eindruck eines s t ä n d i g a n w a c h s e n d e n Arbeiterwiderstands zu vermitteln sucht, warum ein „Aufschwung des antifaschistischen Kampfes" (S. 129) auf die Beschlüsse der Brüsseler Konferenz folgte, warum weitere Aufschwünge Ende 1941, Ende 1942 und Anfang 1944 konstatiert werden und die Widerstandsbewegung Mitte 1944 „ihre größte Breite und Wirksamkeit" erreichte (S. 408). Vielmehr gab es nach Ansicht der Verf. eine direkte Beziehung zwischen dem Reifegrad der parteiamtlichen Strategie und Ideologie auf der einen, und dem Ausmaß des inländischen Widerstands auf der anderen Seite (vgl. S. 95—6, 397. Ein ähnlicher bürokratischer Idealismus charakterisiert die Erklärung des Siegs der Roten Armee 1942—45). Dieser Ansicht liegt eine Überschätzung der praktisch-politischen Bedeutung des ZKs und ihrer Plattformen für den Widerstandskampf zugrunde, auch ist ein ständig wachsender Kampf quellenmäßig kaum zu belegen. Das Ausmaß und die Formen des Widerstands hingen vielmehr in erster Linie von der Intensität des ns. Terrors ab. Es ist klar, daß die umfangreichen Verhaftungen der Jahre 1935—36 den Widerstand der 'Arbeiterbewegung erheblich geschwächt haben; erfahrene Kader wurden wiederholt zerstört, und es wurde immer schwieriger, sie zu ersetzen; potentielle Widerstandskämpfer wurden eingeschüchtert bzw. wandten sich weniger auffälligen Formen des Widerstands zu als der Mitarbeit in einer illegalen Organisation — etwa Flüsterpropaganda oder dem Abhören der von Emigranten gemachten Radiosendungen. Die Besetzung des Sudetengebiets und Prags und dann der Kriegsbeginn schwächten den Widerstand weiter, insofern seine Aktivität noch von Verbindungen mit den Exil-Leitungen abhängig war. Der Kriegsbeginn und die Invasion der SU wurden von größeren Verhaftungswellen begleitet. Ideologie, Strategie und Taktik des ZK waren gegenüber solchen Faktoren von geringer Bedeutung, und wenn auch mehrere festorganisierte Widerstandsgruppen in den Jahren 1937—41 zeitweilig existierten, so waren sie weder so stark noch so aktiv wie die früheren oder die im 3. Kriegsjahr neugegründeten Gruppen. Es relativiert keineswegs die enorme politische, organisatorische und propagandistische Leistung dieser kommunistischen Gruppen — um Bästlein, Abshagen und Jacob in Hamburg,
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um Poser und Neubauer in Thüringen, und vor allem um Saefkow, Uhrig und Sieg in Berlin —, daß die Gründlichkeit der Gestapo ab 1942 wahrscheinlich etwas nachließ. Die Leiter dieser Gruppen waren zwar in Fragen der Widerstandstechnik sehr erfahren, fast alle hatten mehrere Jahre im KZ verbracht, aber ihre großen Erfolge beruhten teilweise darauf, daß der-Unterdrückungsapparat zur Terrorisierung eines weit größeren Gebiets in einer Zeit verdünnt werden mußte, als die Kriegseinwirkungen eine immer tiefer werdende Unordnung in Deutschland selbst verursachten. Die Wende im Krieg selbst lieferte einen entscheidenden neuen Ansporn zum Widerstand, und der gemeinsame Nenner der politisch und gesellschaftlich sehr verschiedenen Gruppen und Personen, die in den letzten Kriegs jähren mit kommunistischen Organisationen zusammenarbeiteten, war wohl eher der Haß gegen das nicht mehr unbesiegbar erscheinende NS-System als eine positive Zustimmung zur Programmatik der KPD. Es bleibt noch die heikle Frage nach dem Verhältnis zwischen Emigranten und Widerstandskämpfern, nach der Sphäre, in der sich die größten Unterschiede zwischen SPD und KPD herausstellten. Zumindest auf rhetorischer Ebene hat das ZK der KPD niemals den Standpunkt aufgegeben, der Volkswiderstand könne maßgeblich zum Sturz der NS-Herrschaft beitragen; es versuchte dementsprechend fortwährend den illegalen Kampf zu gestalten, Organisationsform, Ideologie und Taktik im Sinne der größtmöglichen Aktivität zu beeinflussen. Die Haltung der Exil-Leitung der SPD war anfangs nicht anders, doch machten sich bald Zweifel über die Ratsamkeit einer tatkräftigen Förderung des Widerstands geltend: 1935 hatte sich das NSRegime offensichtlich gefestigt, und die großen Opfer der Parteimitglieder schienen in keinem Verhältnis zur geringen politischen Wirkung der Widerstandsaktionen zu stehen. Als Folge ging die SPD in den letzten Jahren vor Kriegsbeginn zu einer Politik über, die das Schwergewicht auf die Sammlung von Informationen im Inland legte. Ein weitverzweigtes und zuverlässiges Informationsnetz wurde bis in das Jahr 1939 aufrechterhalten, auf Grund dessen die sog. „Grünen Berichte" monatlich veröffentlicht wurden; diese trugen wesentlich zur Aufklärung der öffentlichen Meinung im Westen über den Charakter des NS bei; sie sind in diesem Band leider nicht erwähnt. Für die Erhaltung der sozialdemokratischen Tradition im Inland konnte sich die Exil-Leitung z. T. auf den p r ä - p o l i t i s c h e n Charakter der lokalen Kader sowohl der Partei wie auch der Freien Gewerkschaften verlassen. Die meisten kleinen Funktionäre und Betriebsräte waren ältere Männer und kannten einander aus jahrzehntelangem politischem und gesellschaftlichem Kampf zu gut, als daß ihre Geschlossenheit als Gruppe und ihre Solidarität mit der Arbeiterbewegung durch den NS zu erschüttern gewesen wären. Die Stammtischgruppe dieser Leute, die regelmäßig zur Diskussion der politischen Entwicklungen zusammentraf (— manchmal auch bei einem Mitglied zu Hause), taucht sehr häufig in den Gestapo-Berichten der späten 30er Jahre auf; solche Gruppen wurden beobachtet,
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gaben aber der Gestapo selten einen Vorwand zu ihrer Verhaftung. Die KPD, 1933 erst vor 13 Jahren begründet und auch im Durchschnittsalter ihrer Mitglieder eine viel jüngere Partei, hatte wohl keinen so festen sozialen Rückhalt jenseits der eigentlichen Parteiorganisationen. Schon deswegen ist die stärkere Betonung des Organisatorischen und der aktiven Massenarbeit durch das ZK der KPD 1933—35 verständlich. Aber es muß andererseits gefragt werden, ob das ZK in seinem dreijährigen Beharren auf dieser Taktik die Interessen der Widerstandskämpfer genügend berücksichtigt und die der Partei richtig verstanden hat — die Opfer waren sehr zahlreich und die vom ZK beschlossene Wende, die ab Ende 1935 die Auflösung der größeren Organisationseinheiten, eine Verlagerung der Widerstandsarbeit von den Nachbarschaften in die Betriebe (— die bessere Deckung boten) und eine Diversifikation der Kampfmethoden erwirken sollte, kam wohl zu spät. Der Umbau war zeitraubend, und bevor er durchgeführt werden konnte, saß ein Großteil der erfahrenen Illegalen im Gefängnis oder im KZ. Die neuere Geschichte kennt kaum eine politisch-ethisch schwierigere Situation als die des emigrierten Funktionärs, der 1934—35 wissen konnte, daß jedes Paket illegaler Druckschriften, das er dem Kurier zur Verteilung in Deutschland überreichte, die doppelte Möglichkeit in sich barg, passiv gewordene, frühere Genossen zum Widerstand anzuspornen u n d zahlreiche entschlossene Widerstandskämpfer der Folter der Gestapo auszuliefern. Sollte und konnte man den Eifer des Entschlossenen dämpfen, und mit welcher Begründung? Was stand den Neu-Aktivierten bevor? Was konnten sie erreichen? Konnte man 1936 die ans Inland gerichteten Aufforderungen zum Widerstand sich selbst gegenüber noch auf Grund der politischen Wirkung der illegalen Gruppen rechtfertigen? Die Verf. dieses Bands sind von solchen unproduktiven Zweifeln freigeblieben, und die Darstellung der Jahre 1933—36 dreht sich um die strategische Auseinandersetzung innerhalb des ZK, was auf eine gewisse Indifferenz gegenüber den leidtragenden Illegalen deutet. Obwohl einige Mitglieder des ZK, insbes. Pieck und Ulbricht, in den Anfangsjahren sehr bemüht waren, in engem Kontakt mit möglichst vielen illegalen Gruppen zu bleiben, scheinen die Fragen auch damals keine allzu große Rolle gespielt zu haben: Anfang 1939 wußte das ZK keine andere Reaktion auf die Zuspitzung der internationalen Krise als eine Rückkehr zur einheitlichen, regionalen Organisationsform für den Widerstand in Deutschland. Aus einem Brief der Parteiführung an die Leitungen und Funktionäre der KPD im Lande vom 21. 10. 39: . . . Die Erfüllung der historischen Aufgabe der deutschen Arbeiterklasse ist abhängig von der politisch-organisatorischen Stärkung der KPD. Manche Genossen beschränken sich auf die individuelle mündliche Propaganda und haben noch nicht erkannt, daß die großen Aufgaben, die unter den Bedingungen des Kriegs vor der Partei stehen, nur durch eine starke illegale Parteiorganisation erfüllt werden können. . . . Vor allem ist es notwendig, die Parteikader, die oft nur
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lose und zeitweise miteinander in Verbindung stehen, zu festen Parteizellen zusammenzuschließen und die kampferprobten Genossen als Leitungen zu bestimmen. Die opportunistische Auffassung, der Terror verhindere die Schaffung fester Parteiorganisationen, kommt dem Verzicht auf den revolutionären Kampf gleich... (S. 530—1). (Die Verf. sind anscheinend auch heute noch der fragwürdigen Auffassung, dem Volkswiderstand seien Grenzen eher durch die tiefe und breite Resonanz der NS-Propaganda unter den Deutschen als durch den Terror gesetzt gewesen — vgl. S. 70, 76, 215, 300, 406.) Und aus der „Politischen Plattform der KPD" vom Dezember 1939: . . . Die taktische Orientierung der KPD in der gegenwärtigen Situation muß auf die Entfaltung einer breiten Volksbewegung und auf die Schaffung der Volksfront der werktätigen Massen — einschließlich der nationalsozialistischen Werktätigen — zur Verteidigung der Interessen und Rechte der Volksmassen, zur Festigung und Vertiefung der Freundschaft mit der Sowjetunion und zur Beendigung des imperialistischen Kriegs im Interesse des Volkes gerichtet sein (253). Weiter in indirekter Rede: Die Parteileitungen (in Deutschland — T W M ) . . . sollten sich darauf konzentrieren, vorhandene Tendenzen des Wartens auf eine spontane Entwicklung der Ereignisse, eine gewisse Enge in der Parteiarbeit und ideologische Unklarheiten, die sich aus der ungenügenden Beachtung der veränderten Lage, der unzureichenden kollektiven Beratung der politischen Fragen und der Vernachlässigung der ideologischen Erziehung der Kader ergeben hatten, zu überwinden. (S. 256) Ganz abgesehen von der Frage, an welches Publikum diese Äußerungen tatsächlich adressiert waren, bedarf die Position dringend einer ausführlichen politisch-ethischen Begründung, bevor man die SPD des Defaitismus anklagen darf. Am 1. 9. 39, so heißt es hier, machte der Parteivorstand der SPD „keine konkreten praktischen Vorschläge, wie der Hitlerkrieg schnellstens beendet und die Nazidiktatur gestürzt werden könne" (S. 248); und der Standpunkt der SPD-Leitung Ende 1939 „bedeutete objektiv, . . . die antifaschistische Bewegung zur Passivität zu verdammen" (S. 257). Zur These Tarnows vom 8. 4. 40, die Beseitigung des NS sei nur durch militärische Niederlagen oder einen Aufstand der Generale denkbar: „ . . . diese illusionäre Politik widersprach den Interessen der Arbeiterklasse und der ganzen deutschen Nation" (S. 258). Gewiß, der Nichtangriffspakt hat die Situation des ZK außerordentlich erschwert, aber die bürokratische Geschichtsschreibung bleibt ihrer Bürokratie in allen Einzelheiten treu, selbst für die Zeit ihrer größten Entfremdung von der politischen Wirklichkeit. Und dennoch, so schlecht begründet die Haltung des ZK 1939—40 auch gewesen sein mag, so hat ihm die Geschichte fast recht gegeben; die Entwicklung des Weltkriegs ab Anfang 1942 verlieh der hohlen
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Rhetorik jener Jahre eine nachträgliche Relevanz. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die bedeutsamsten Organisationen des Volkswiderstands 1942—44 von Kommunisten geschaffen und geführt wurden. Und obwohl das ZK keinen unmittelbaren Anteil an der Gründung der neuen Gruppen in Berlin, Hamburg, München und im Ruhrgebiet usw. hatte, und obwohl sie in ihren Programmen von der Linie des ZK z. T. abwichen, so wären sie kaum entstanden, wenn das ZK 1939 die Hoffnungslosigkeit der Lage im Lande anerkannt hätte. In Zusammenarbeit mit Instrukteuren des ZK, die per Fallschirm aus der SU kamen, ist es sogar gelungen, die Anfang 1939 beschlossene „operative Leitung" für ganz Deutschland in Berlin aufzubauen und feste Kontakte unter den wichtigsten Gruppen zu etablieren sowie Zeitungen und Flugblätter herzustellen. Die Bildung einer einheitlichen, weitverzweigten Organisationsstruktur war aber nach wie vor gefährlich: der Gestapo gelang im Sommer 1944 die fast vollkommene „Aufrollung" des Apparats, und die illegale KPD wurde damit nur knapp um eine wichtige Rolle in der Befreiung gebracht. Die Darstellung dieser Phase des Widerstands ist hier etwas detaillierter, bleibt aber schematisch und in vielen wichtigen Fragen vage — z. B. über die Herkunft und Rolle nicht-kommunistischer Widerstandskämpfer — denn der Sammelbegriff „Antifaschist" erklärt wenig —; oder die Gründe des Erfolgs der Gestapo. Zum Schluß zwei allgemeine Punkte. Obwohl das Faschismusbild der Verf. wesentlich differenzierter ist als das in früheren marxistisch-leninistischen Werken, so unterliegen sie doch weiterhin der Versuchung, die Geschlossenheit und Effizienz des Systems zu übertreiben: die Frage der Wirksamkeit der Propaganda ist schon erwähnt worden; die Zusammenarbeit zwischen Monopolen und Staatsapparat war keineswegs so reibungslos, wie sie hier geschildert wird (z. B. S. 58—9); die Behauptungen, es seien für die Aufrüstung bis 1939 90 Mrd. RM ausgegeben und die Wehrmacht verfügte 1935 über „31 einsatzfähige Divisionen", sind längst widerlegt (S. 167); es ist unrichtig, daß die Einkommens- und Verbrauchssteuern vor Kriegsbeginn allgemein erhöht wurden und daß der Import von Nahrungsmitteln vor 1939 gedrosselt wurde (S. 67); viele andere Angaben über die soziale und wirtschaftliche Entwicklung unter dem NS sind fragwürdig oder zu pauschal. Das Problem der Funktion der DAF — hier „ein Instrument zur Bespitzelung, Entrechtung und Unterwerfung der deutschen Arbeiterklasse" (S. 70) — reicht weiter, denn, wenn das NS-System noch die Wesensmerkmale einer Klassengesellschaft beibehielt, so mußte man erwarten, daß bestimmte Grundformen des Klassenkampfes n o c h i n n e r h a l b d e s S y s t e m s in Erscheinung traten — d.h. unabhängig von der Tätigkeit des p o l i t i s c h e n Widerstands. Das ist auch geschehen, sowohl indem die DAF gezwungen wurde, die materiellen Interessen der Arbeiterklasse zeitweilig direkt zu vertreten, wie auch indem weite Arbeiterkreise sich weigerten, die vom System geforderten materiellen Opfer zu tragen. Wenn auch die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung letzten Endes eine p o l i t i s c h e Geschichte sein m u ß , ver-
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dienen doch diese Aspekte mehr Aufmerksamkeit, als ihnen hier gewidmet wird. Die DAF wird gar nicht behandelt, und die „disziplinlosen" Arbeiter werden geschlossen zu den „Antifaschisten" gerechnet, soweit sie verhaftet wurden. Langsames Arbeiten, Krankmeldungen und Schwänzen wurden zwar als Widerstandstaktik von den Exil-Leitungen der SPD und der KPD empfohlen und mögen auch objektiv die Leistungsfähigkeit des Systems etwas geschwächt haben, sie waren aber nicht notwendigerweise in allen Fällen Ausdruck einer antifaschistischen Haltung; dasselbe gilt für Fälle der Industriesabotage. Das Problem der Interpretation ist sehr schwierig. Zweitens, die Quellenlage zur Erforschung des Volkswiderstands 1933—45 ist außerordentlich ungünstig; die Gruppen hinterließen natürlich kaum schriftliche Zeugnisse, und die Akten der Gestapo und der Gerichte sind nicht nur unvollkommen und in allen Ecken Deutschlands verstreut, sondern auch inhaltlich unzuverlässig — allgemein war der Widerstand immer breiter und aktiver, als aus diesen Quellen hervorgeht. Eine sehr wichtige Quelle bilden die Erinnerungen alter Widerstandskämpfer, die in der DDR (nicht in der BRD!) systematisch gesammelt worden sind. Es ist um so bedauerlicher, daß die Verf. dieses Bands auf Quellenbelege fast ganz verzichtet haben; bei keinem anderen Thema ist die Herkunft einer Information so entscheidend für ihre Beurteilung durch den Historiker wie bei diesem. Generell dürfen die damaligen Propagandaschriften der Exil-Leitungen nur als Quellen für Sachfragen gebraucht werden, wenn eine unabhängige Bestätigung der Angaben möglich ist: zu den technischen Schwierigkeiten einer genauen Informationsvermittlung an das Ausland trat damals die verständliche Tendenz der ExilLeitungen hinzu, in ihren Veröffentlichungen das Ausmaß des Widerstands zu übertreiben und einzelne Aktionen überzubewerten. Die Verf. dieses Bands haben sich an diese Regel offensichtlich nicht gehalten — einem Aufruf von Siemens-Arbeitern, der 1940 in Buenos Aires veröffentlicht wurde, wird der Status eines Dokuments gegeben (Nr. 63); und die R o t e F a h n e dient als ausreichende Quelle für ein Bekenntnis sozialdemokratischer Arbeiter einer westdeutschen Großstadt zur Einheitsfront im Jahre 1939 (S. 230). Die häufige Vagheit der Angaben über Zeit, Ort und Folgen einzelner Widerstandsaktionen läßt befürchten, daß auf solche Materialien öfters zurückgegriffen worden ist. Auf jeden Fall mindert das Fehlen von Quellenbelegen die Nützlichkeit dieses Bandes für andere Forscher und Studenten, was um so mehr zu bedauern ist, da viele wichtige Einzelheiten der Darstellung neu sind. In zweifacher Hinsicht jedoch ist die Arbeit positiv zu bewerten: erstens wird die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung international verstanden und schließt Emigranten in den USA und Mexiko ein, sowie Spanienkämpfer und deutsche Helfer der russi-. sehen, griechischen und jugoslawischen Partisanen; und zweitens, die Arbeit setzt einen Anfang. In der BRD, wo man mit der Literatur zum 20. Juli kaum noch Schritt halten kann, gibt es immer noch keine größere Abhandlung zu diesem Thema.
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Primat der Industrie ? - Eine Erwiderung Aus verschiedenen Gründen werden die folgenden Ausführungen ziemlich kurz gehalten; damit auf Wiederholungen zumindest teilweise verzichtet werden kann, wird der Leser gebeten, auf den ersten Beitrag zu
dieser Diskussion zurückzugreifen: Der Primat der Politik — Politik und
Wirtschaft im Nationalsozialismus, in „Das Argument" Nr. 41 (8. Jhg./1966, Heft 6). Nur einige grundsätzliche Probleme können hier — zum ersten Mal oder erneut — behandelt werden, denn Erwiderungen pflegen langweüig zu wirken — erst recht dann, wenn sie durch eine ,das-habe-ichdoch-nicht-gemeint'-Position gekennzeichnet sind. Eine Erwiderung auf Eberhard Czichons Kritik muß jedoch mit gerade dieser Feststellung anfangen, denn das Aneinandervorbeireden ist manchmal ein Symptom großer Probleme der Interpretation.
I Einem Teil von Czichons Kritik liegen Mißverständnisse meiner Argumentation zugrunde, die auf grundsätzliche methodologische Schwierigkeiten hindeuten. Er versteht nämlich deskriptive Passagen, idealtypische Definitionen und selbst die distanzierte Anwendung damaliger Begriffe und Schlagwörter gewissermaßen als politische Bekenntnisse meinerseits. Es geht im folgenden nicht u m meine reine (oder auch nicht) politische Weste, auch nicht u m die fragwürdige Gepflogenheit, historische Argumente auf ihren vermeintlichen politisch-aktuellen Bezug abzuklopfen (hierzu noch einiges am Schluß), sondern u m die Erforderlichkeit und Richtigkeit der Argumente selber. Z. B. stimmt es einfach nicht, daß ich „axiomatisch den Staat als Repräsentation des Volkes" einführe, „die zwischen der Wirtschaft und der Arbeiterklasse einen harmonischen Konsens zu schaffen habe"; richtig ist, daß gewisse Voraussetzungen der Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft festgestellt wurden: die Fähigkeit des Staates, die Interessen der herrschenden Gesellschaftsgruppen aufeinander abzustimmen, das Vorhandensein eines dem Kapital erträglichen Ausgleichs mit den Interessen der Arbeiterklasse und ein Konsens der stärksten Meinungsorgane in Grundsatzfragen 1 . Daß diese Voraussetzungen 1930—1933 in Deutschland nicht erfüllt waren, bildete eine negative Vorbedingung der nationalsozialistischen Machtergreifung und bestimmte zugleich die gesamtgesellschaftlichen Aufgaben des neuen politischen Systems. Noch weniger erfreulich und ver1 Das Argument, Nr. 41, S. 478; künftige Seitenangaben in Klammern im Text. Czichons Paraphrase dieser Sätze ist sinnentstellend.
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ständlich ist die Unterstellung, ich würde meinen, daß der Nationalsozialismus den „fehlende(n) Konsens zwischen der Wirtschaft und der Arbeiterklasse, also eine politische Gesamtrepräsentation des Volkes, mit politischen Mitteln wiederhergestellt" hätte; denn es folgt im Original ein Nebensatz: „und das hieß 1933 mit offener Gewalt" (478). Jede Unklarheit über den Sinn dieser Sätze hätte durch die Feststellung behoben werden müssen: „Unter den Bedingungen kapitalistischer Produktion haftet der Behauptung eines Primats der Politik stets etwas Irrationales an, da das, wodurch sich dieser Primat legitimiert, das Gemeinwohl, nur vorgetäuscht werden kann" (493). Die Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft hängt nicht zuletzt von der erfolgreichen Vortäuschung der obengenannten Voraussetzungen ab; Merkmal der letzten Jahre der Weimarer Republik war gerade ein zunehmendes Unvermögen aller Kräfte und Interessengruppen, ein Gemeinwohl in diesem Sinne vorzutäuschen; es mußte also der Gesellschaft gewalttätig oktroyiert werden. Ebensowenig treffen auch Czichons Schlußbemerkungen im vorletzten Absatz über das zu, was ich angeblich von der kapitalistischen Gesellschaft erwarte; seine Feststellung, ich würde „die ökonomischen Prioritäten" in der Gesellschaftsstruktur sowie ihre Wirkungsweise gegenüber sekundären und politischen Infrastrukturen negieren, läßt befürchten, daß er meinen Ausgangspunkt mißverstanden hat, der darin lag, die Ursachen des Primats der Politik im Nationalsozialismus gerade in der Wirtschaftsgeschichte zu suchen. Diese Mißverständnisse werfen ein bezeichnendes Licht auf Czichons Methodologie, denn es sind eben die Passagen, die er entstellt, die über die Machtverhältnisse innerhalb der Industrie hinauszugehen versuchen; er selbst redet kaum von Staat, Gesellschaft, Politik. Indem er diese Bereiche implizit zu Epiphänomenen der monopolen Wirtschaftsstruktur degradiert, überbewertet er die faktische Macht der Monopole: die gesellschaftliche Reproduktion wird durch eine Absprache zwischen Vertretern zweier Industriegruppierungen am 4. 1. 1933 garantiert und der zweite Weltkrieg durch eine Verschiebung innerhalb des Oligopols mitverursacht. Es geht hier nicht um den unsinnigen Vorwurf (— unsinnig, weil gegen einen kurzen Aufsatz gerichtet —), daß Czichon keine umfassende Theorie der nationalsozialistischen Herrschaft vorlege, sondern darum, daß seine Vernachlässigung gesamtgesellschaftlicher Perspektive ihm alle Maßstäbe nimmt, um die historische Bedeutung einzelner Handlungen der Monopolgruppen genau einzuschätzen 2 . Die Entwicklung hin zum „staatsmonopolistischen Kapitalismus" schreibt keine bestimmte Herrschafts- oder Gesellschaftsstruktur gesetzmäßig vor, sondern hat sich in einer Vielfalt solcher Strukturen vollzogen (USA, England usw.), die man laufend vor Augen haben muß, um das historisch Spezifische an der deutschen Erfahrung richtig bewerten zu können. Diese Beispiele zeigen, daß das staatsmonopolistische System doch mit einem gewissen Maß vorgetäuschter oder aber krisenvorbeugen2
Beispiele unten, Teil III.
Primat der Industrie? •— Eine
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der „gesellschaftliche(r) Homogenität, soziale(r) Gerechtigkeit" durchaus vereinbar ist; wenn es auch fraglos die Hauptaufgabe einer aufklärenden Analyse darstellt, die Rolle der Monopole aufzuzèigen, so darf man dabei nicht unterlassen, den gesellschaftlichen und politischen Rahmen zu untersuchen, innerhalb dessen sie sich durchzusetzen haben. Dieser Rahmen bestimmt mindestens die Wirkungsioeise „der ökonomischen Prioritäten", er kann aber auf längere Sicht auch die gesamtgesellschaftlichen Folgen ihrer Wirkung, ja sogar ihre Existenz als Prioritäten bestimmen. Denn dem staatsmonopolistischen Wirtschaftssystem an sich wohnen kaum Garantien seiner eigenen Selbsterhaltung und -reproduktion inne; diese werden vielmehr in erster Linie im größeren gesamtgesellschaftlichen und politischen Rahmen gesichert — oder auch nicht. Also bleibt die Analyse des staatsmonopolistischen Systems allein, wie sie Czichon vollzieht, unvollkommen; selbst wenn man ein enges kausales Verhältnis zwischen wirtschaftlichen Gruppierungen und außenpolitischen Konzeptionen 1933—41 oder etwa eine Vorrangstellung der Wirtschaft in der nationalsozialistischen Okkupationspolitik nachweisen könnte, so hätte man längst nicht alle wesentlichen immanenten Tendenzen nationalsozialistischer Herrschaft festgestellt: Die Frage nach der Selbsterhaltung und Reproduktion des gesamten Systems bliebe immer noch offen und ihr ist auch nicht allein mit Mitteln der Analyse beizukommen. Darüber, ob der Nationalsozialismus als historisch spezifische Herrschaftsform etwa eine Lösung des ökonomischen Konkurrenz- und Expansionsprinzips von allen auf die Sicherung der gesellschaftlichen Reproduktion gerichteten Beschränkungen bewirkt hat, ob sich eine stabile, lebensfähige nationalsozialistische „Neuordnung" Europas vorstellen läßt (493), darf man sicherlich geteilter Meinung sein. Man darf nur nicht behaupten, die Fragen seien unsinnig oder aber identisch mit der Frage nach der Abhängigkeit der Staatsführung von bestimmten wirtschaftlidien Interessen. Anstatt eine konkret-historische Theorie zu entwerfen, geriete man so in die Gefahr, eine Metaphysik positivistisch belegen zu wollen 3 . Bei aller Verflechtung von Staat und Industrie bleibt die Verantwortung f ü r das Gesamte beim Staat. Zur Theorie gehört, neben der Analyse der Machtverhältnisse, auch noch eine Herrschaftsphänomenologie. Um den sehr skizzenhaften Versuch hierzu (492 f.) etwas deutlicher zu machen: Man kann einen grundsätzlichen Mangel an Konformität zwischen politischem Kalkül und wirtschaftlicher Führung im nationalsozialistischen Deutschland feststellen. Tendieren die politischen Führungen seit 1945 überall im Westen dazu, sich immer mehr als Leitung eines Großunternehmens zu verstehen, die vor allem durch eine vermeint3 An Metaphysik grenzend erscheinen mir Czichons Strukturmodell des monopolistischen Systems, S. 170 f., Sätze wie „Doch die Zielprojektion als Leitlinie der Aktivität...," S. 187 und „Der Nationalsozialismus, der mit seinen extrem terroristischen Herrschaftsmethoden...", S. 191 — ich kann hierbei keine Rückvermittlung auf die historischen Vorgänge vollziehen.
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liehe Zweckrationalität gekennzeichnet wird, so kannte Hitler dagegen, wie er selbst sagte, nur eine politische Spielregel: va banque.4 Er hat auch konsequent danach gehandelt. Die Ergebnisse dieser Politik waren gewiß zeitweilig f ü r die Industrie ertragreich; ihr fehlte aber jeder auch nur mittelbare Bezug zu den Bedürfnissen der gesellschaftlichen Reproduktion. Dies ist daran zu sehen, daß die expansionistische Zielsetzung in keinem Verhältnis zum deutschen wirtschaftlichen Potential stand; daß die Zielsetzung an sich schon irreal — weil unbegrenzt — war und zur Niederlage führen mußte; daß die größte Unklarheit betreffs Zweck und Organisation der deutschen Herrschaft über die eroberten Gebiete bestand; und daß die Expansion selbst die Widersprüche im Gesamtsystem stark verschärfte, einmal durch die Hervorrufung eines aktiven sozialistischen wie auch konservativen Widerstandes, zum anderen durch ihre Förderung der Machtkämpfe innerhalb der politischen Führung. Aber darüber hinaus ist va banque keine Maxime des monopolistischen Wirtschaftens; das Großunternehmen kann es sich nicht leisten, solche Risiken in solchem Tempo einzugehen — es hat sie auch nicht nötig. Es wäre allzu leicht, im nachhinein ein imperiales Programm f ü r das Deutschland von 1938—39 zu entwerfen, das eine dauerhafte politische und wirtschaftliche Vorherrschaft in ganz Europa gewährt hätte, die dann hätte verfestigt und weiter ausgebaut werden können. Hierzu gab es Ansätze, nicht nur im konservativen Widerstand insgesamt, sondern vor allem auch im Denken von General Thomas 5 . Eine grundsätzliche Frage zum Nationalsozialismus (— die üblicherweise vom falschen Standpunkt aus gestellt wird!) lautet: warum ist der deutsche Anspruch auf diese imperiale Vorherrschaft nicht verwirklicht worden? Ab 1936 war die internationale Kräftekonstellation in vieler Hinsicht sehr günstig. Eine durch Detailforschung belegte Analyse, die die va banque Politik der Jahre 1938—41 als adäquaten Überbau der monopolwirtschaftlichen Basis darzustellen vermag, steht noch aus. Die Schwierigkeiten dabei sind nicht in erster Linie empirischer Natur, noch liegen sie im sehr komplexen Charakter der Vermittlung zwischen Basis und Überbau; daß die Analyse lange vor 1938 angesetzt werden müßte, bildet auch kein prinzipielles Hindernis. Die Schwierigkeit liegt gerade darin, daß die va banque-Politik nachweislich kein adäquater Überbau war: ihr Vermächtnis bestand aus Trümmern und Asche — und einer (noch) anhaltenden Niederwerfung des selb4 Zitiert von A. Bullock, „Hitler and the Origins of the War of 1939— 45", Raleigh Lecture, British Academy, November 1967. 5 Vgl. seine von Wolfgang Birkenfeld herausgegebene „Geschichte der deutschen Wehr- und Rüstungswirtschaft", Boppard a. Rh., 1966, Kap. XVII und S. 509 f. Noch 1939 pflegte Thomas Beziehungen zu Schacht, Goerdeler und einem Kreis nicht-nationalsozialistischer Industrieller und Großgrundbesitzer um Paul Reusch — Hist. Archiv der Gutehoffnungshütte, Bde. 40010124/4—5. Vgl. auch den Beitrag von H. Graml zum Sammelband „Der deutsche Widerstand gegen Hitler", hrsgg. von Walter Schmitthenner und Hans Buchheim (Köln/Berlin 1966).
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ständigen deutschen Imperialismus. Es soll hierdurch nicht generell impliziert werden, nur der zweckrationale Imperialismus könne sich historisch behaupten, noch, daß die Zweckrationalität allein den geschichtlichen Erfolg des Imperialismus garantiere. In der konkreten Situation Deutschlands Ende der 30er Jahre aber hätte eine vorsichtigere Politik den imperialistischen Interessen sowohl lang- als auch kurzfristig besser gedient. Auch f ü h r t dieses Urteil nicht zu der f ü r den Historiker widersinnigen Position, man würde die eigentlichen Interessen der Monopole besser verstehen als ihre eigenen Führer selbst. Es erhebt sich vielmehr die Frage, warum die va banque-Politik keinen adäquaten Überbau darstellte, wieso diese Politik überhaupt möglich wurde; und diese Fragen weisen wiederum auf den gesamtgesellschaftlichen Rahmen zurück, auf die Bedingungen, unter denen die Monopole sich durchzusetzen hatten, auf die Herrschaftsform des Nationalsozialismus. Daß der Nationalsozialismus unfähig war, seine Politik durch die Bedürfnisse der gesellschaftlichen Reproduktion bestimmen zu lassen, darf man freilich nicht allein aus der totalen Niederlage von 1945 schließen; fehlt es doch von der va banque-Politik über die Vergasung der Juden und die irrationale Arbeitseinsatz- und Siedlungspolitik bis hin zu Hitlers Zerstörungsbefehl (verbrannte Erde) vom März 1945 nicht gerade an weiteren Indizien. Expansion ist gewiß eine grundsätzliche Voraussetzung der Reproduktion des Monopolkapitalismus, aber die nationalsozialistische Expansion ging weit über die Bedürfnisse des Wirtschaftssystems in dieser Hinsicht hinaus, war sozusagen Expansion schlechthin. Daß die Großunternehmen rege daran teilnahmen, stellt keinen zwingenden Beweis dafür dar, daß ihre Bedürfnisse und Interessen dieser Expansion zugrunde lagen, noch daß das aus dieser Expansion entstehende, neue Gesamtsystem lebens- und reproduktionsfähig gewesen wäre Das Verhalten der Großunternehmen ist eher als eine unmittelbare, selbstverständliche (— weil dem Konkurrenzprinzip entsprechende) Wahrnehmung wunschtraumhafter Möglichkeiten zu begreifen, ihre eigene wirtschaftliche Macht fast kostenlos auszudehnen. Das sagt viel über die diesem Wirtschaftssystem innewohnende Gewalttätigkeit und Irrationalität aus, weniger aber über die Ursprünge nationalsozialistischer Politik. Czichons Darstellung vermittelt den Eindruck, als seien die Gewalttätigkeit und Irrationalität des Monopolkapitalismus identisch mit denen der nationalsozialistischen Herrschaft; als habe die Funktion dieser allein darin bestanden, den Konkurrenzkampf der Monopole und ihren Expansionstrieb von allen ausgleichenden staatlichen Regelungen und gesellschaftlichen Hemmnissen zu befreien, ja sie zu verschärfen und zu beschleunigen 7 . Gegen den zweiten Teil dieser Formulierung ist weniger einzuwenden, nur stellt sie den Ausgangs6 Eine Untersuchung der deutschen Friedensplanung 1941—42, in der Zeit, als der Krieg kurz vor Abschluß zu sein schien, ist dringend nötig. 7 So erwähnt Czichon S. 187 f. nur die industriell-imperialen Expansionsbetriebe. Was war ihr Verhältnis zu Hitlers Vorstellung von „Lebensraum"?
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punkt und nicht den Schluß der Debatte dar; denn welchen Interessen war dadurch gedient, daß die ohnehin geringen Momente der Selbsterhaltung im Wirtschaftssystem untergraben wurden und daß der Staat seine Funktion als Garant der Selbsterhaltung und Reproduktion des Gesamtsystems immer weniger erfüllte? Kurzfristig gesehen waren es vielleicht die der Firmen im Rüstungssektor; in der Tat aber waren es die Interessen der Staatsführung, die f ü r den Nationalsozialismus im Ausbau eines größtmöglichen freien Entscheidungsspielraums bestanden. Eine solche freischwebende Politik, wie sie Hitler sich vorstellte und auch praktizierte, war aber nur zu verwirklichen, wenn der Staat auf seine Funktion als Garant der Reproduktion des Gesamtsystems verzichtete, wenn politische Entscheidungen ohne hemmende Rücksicht auf die diesbezüglichen Bedürfnisse von Wirtschaft und Gesellschaft getroffen werden konnten, wenn alles zu einer „Willensfrage" gemacht wurde (Hitler über den Vierjahresplan). Die nationalsozialistische Staatsführung hat tatsächlich über einen solchen freien Entscheidungsspielraum verfügt; eine Ursache dafür lag gerade in ihrer Ausnutzung der von ihr selbst gesteigerten wirtschaftlichen Konkurrenz (zwischen Gruppen sowie zwischen Firmen), in deren Zuge die Industrie den Sinn f ü r ihr kollektives, an der Erhaltung eines Gesellschaftssystems orientiertes Interesse verlor; eine zweite bestand darin, daß die Staatsführung diesen Spielraum kaum ausdrücklich gegen die kurzfristigen Interessen der Industrie anwendete. Ferner gab es eine auffällige Parallelität zwischen den Entwicklungen der wirtschaftlichen und der politischen Herrschaftsstrukturen, denn jene war genausowenig durch ein wirklichkeitsnahes Zukunftsbild bestimmt wie diese. Staatliche Ordnung zerfiel in eine „fortwährende Neubildung von Hoheitsträgern mit eigenem, willkürlich abgestecktem und von älterer staatlicher Organisation nicht wirklich geschiedenem Kompetenzbereich". Die Entfaltung nationalsozialistischer Herrschaft beruhte „auf einer fortschreitenden parasitären Zersetzung eines überkommenen Obrigkeitsstaates" 8 — ohne daß dabei eine neue Ordnung zustande kam, die fähig gewesen wäre, sich selbst zu reproduzieren. Selbst in dem von ihm ausgewählten und verherrlichten Bereich der politischen Ordnung barg der Nationalsozialismus keine Zukunft in sich. Dies will nicht heißen, daß ich dem Staat „axiomatisch" irgendwelche Form oder Funktion zuschreiben will; es will nicht heißen, daß ich irgendwelche Rationalität von der monopolkapitalistischen Gesellschaft erwarte. Die Frage ist vielmehr diese: Der Monopolkapitalismus hat sich im allgemeinen nur allzu zählebig und reproduktionsfähig erwiesen — nur die nationalsozialistische Version nicht. Warum? Es müßte möglich sein, die allgemeinen Voraussetzungen der Selbsterhaltung des Monopolkapitalismus und ihr Nichtvorhandensein im Nationalsozialismus festzustellen, ohne deswegen politischer Bekenntnisse verdächtigt zu werden., 8 Hans Mommsen, Beamtentum im Dritten Reich, Stuttgart 1967, S. 13.
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II Czichon geht in seiner Kritik nur auf einen Teil meiner Argumentation ein, und zwar auf den, der die politischen Machtverhältnisse innerhalb der Industrie betrifft. Daß die Entwicklung eines Primats der Politik im Nationalsozialismus allein auf Verwandlungen in diesem Bereich zurückzuführen sei, stand niemals zur Diskussion. Es ging doch gerade darum, diesen Aspekt in historische Verbindung zu den anderen wirtschaftlichen Verwandlungen zu setzen, durch die die Jahre 1933—39 gekennzeichnet sind. Dazu gehörten: die weitgehende Ausschaltung von Vertretern der Industrie aus dem unmittelbar politischen Willensbildungsprozeß (vgl. im Gegensatz dazu die Bundesrepublik heute); das außerordentlich rapide Anwachsen der wirtschaftlichen Rolle des Staates als Auftraggeber, Absatzmöglichkeit und damit als bestimmender Faktor f ü r die Produktion; die Verlagerung der kapitalistischen Konkurrenz vom Kampf um Märkte auf den Kampf um Rohstoffe und Arbeitskräfte. Dieser war wiederum Produkt allein der Aufrüstung (also der staatlichen Aufträge), war wesentlich schärfer als die idealtypische kapitalistische Konkurrenz, da ganze Industriestrukturen dadurch gefährdet wurden 9 und führte zu umfangreichen staatlichen Regelungen (— unterschiedlichen Erfolgs); der nachweisliche Machtverfall der wirtschaftlichen Interessenverbände; das Unvermögen der Rüstungswirtschaft, die von ihr f ü r notwendig gehaltene Umverteilung des Sozialprodukts vor 1942 durchzusetzen. All diese, keineswegs zufälligen Entwicklungen traten im gleichen Zeitraum, 1936—37, erstmalig oder verstärkt in Erscheinung, wie die Ablösung der montanen Schwerindustrie durch IG Farben als der politisch führenden Industriegruppe. Sie waren weitgehend gruppenindifferente Erscheinungen im Sinne Czichons; so wurden z. B. die Aufbaupläne der IG Farben durch Mangel an Kapital, Rohstoffe und Arbeitskräfte genauso beeinträchtigt wie die des Ruhrkohlenbergbaus 1 0 . Sind sie deswegen f ü r die Fragestellung nach dem Primat der Politik bzw. der Industrie irrelevant? Czichon beweist dies nicht; es scheint überhaupt notwendig, den Rahmen dieser Fragestellung so weit wie möglich abzustecken, das Verhältnis Staat-Wirtschaft unter möglichst allen wichtigen Gesichtspunkten zu untersuchen, auch wenn das vorderhand bei dem gegenwärtigen Stand der Forschung auf diesem Gebiet noch zu einer „stark punktuellen Analyse" führen muß. Macht man den gesamten Bereich der politischen Ökonomie zum Gegenstand der Diskussion, so kann man wohl doch von „schwerwiegenden Strukturveränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft" in den Jahren 1936—37 sprechen, denenzufolge der Staat bedeutend an Selbständigkeit gewann. 9 Z. B. 1939 alle auf Kohle angewiesenen Industrien — BA Koblenz, R 41 Bd. 174. 10 Vgl. D. Petzina, Der nationalsozialistische Vierjahresplan, Diss., S. 156—63.
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Czichons sehr detaillierte Darstellung der Ursprünge und des Verlaufs der „Machtverschiebung im Oligopol", durch die die IG Farben ihre Vorrangstellung erarbeitete, steht im gewissen Gegensatz zur , Dürftigkeit seiner Analyse ihrer Folgen. Ob dieser Führungswechsel ein „Novum" war oder nicht, ist f ü r eine konkrete historische Analyse dieser Frage ziemlich belanglos. Der entscheidende Aspekt des Primats der Politik in den Jahren 1936—41 war die Außenpolitik und die Strategie; der innenpolitische Machtanspruch der nationalsozialistischen Staatsführung wurde immer durch Bezug auf diesen Bereich begründet, einzelne Maßnahmen hierdurch gerechtfertigt; außenpolitische „Erfolge" lieferten die wichtigste Legitimation der nationalsozialistischen Herrschaft im Innern, und der Expansionismus untermauerte die Machtstellung der Staatsführung, insoweit er die Zuordnung neuer, immer größer werdender Aufgaben an Industrie, Bürokratie und Militär erforderte — und gerade hierin sah Hitler die Voraussetzung f ü r die Erhaltung des spezifisch Nationalsozialistischen im Herrschaftssystem: innen- und außenpolitische Konsolidierung wäre nur den konservativen Kräften in Staat und Gesellschaft zugute gekommen 11 . Der Vierjahresplan ermöglichte der Staatsführung, gerade einer solchen Konsolidierung auszuweichen, indem er eine wirtschaftliche Basis f ü r die abenteuerliche Außenpolitik der Jahre 1939—41 schuf 12 , die sonst nicht vorhanden gewesen wäre; eine Außenpolitik, die wiederum den prägnantesten Ausdruck des Primats der Politik bildete. Es ist schlechterdings unmöglich, diese Politik als „Einzelentscheidung(en) über den taktisch günstigsten Moment der Auslösung der speziellen Annexionsaktionen" (Czichon) abzutun, denn hier stand alles auf dem Spiel: ob Deutschland mit oder gegen England, Frankreich und die USA die Niederwerfung der Sowjetunion erstreben würde; ob Zeitpunkt, Zielsetzung und kriegswirtschaftliches Potential in angemessenem Verhältnis zueinander standen. Um seine These konsequent zu verfechten, müßte Czichon argumentieren, daß die tatsächliche Außenpolitik 1939—41 in einem erkennbaren Sinne die der neuen führenden Gruppe im Oligopol war (— natürlich nicht in allen Einzelheiten); das behauptet er zwar, aber die Wiederholung dieser Behauptung bildet keinen Ersatz f ü r eine Beweisführung 1 3 . Dagegen ist es nachzuweisen, daß die beiden wichtigsten politischen Vertreter der Wirtschaft, Göring und General Thomas, die beide IG Farben nahestanden, die außenpolitische Entwicklung 1939—40 f ü r verhängnisvoll überstürzt hielten, und die Schwierigkeiten, die Krauch bei der Beschaffung von Kapital, Rohstoffen und Arbeitskräften f ü r den Ausbau des chemischen Sektors hatte, lassen schließen, daß auch er derselben 11 Vgl. die sog. Hossbach-Niederschrift vom 5. 11. 37, Documents on German Foreign Policy, ser. D, vol. 1, pp. 29 ff. 12 Umfassende Produktionsstatistik bei Petzina, a.a.O., S. 249 f. Die Planziele wurden auf nur wenigen Sektoren erreicht, die tatsächlichen Produktionserhö'hungen waren dennoch beträchtlich. 13 S. 185.
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Meinung war 1 4 . Es wird nicht bestritten, daß ein Eroberungskrieg einen zentralen Platz in der historischen Logik nationalsozialistischer Herrschaft hat; auch nicht, daß die Industrie aus verschiedenen Gründen an einem solchen Krieg stark interessiert war. Aber die Fragen, welcher Krieg? gegen wen? unter welchen Voraussetzungen? bleiben Fragen welthistorischer Bedeutung. Es mag Czichon erscheinen, daß ich mir „eine Überhöhung der Persönlichkeitsbewertung, insbesondere der Funktion Hitlers und seines Entscheidungsbereiches" habe zuschulden kommen lassen; aber allé aktenkundigen Erforschungen sind darüber einig, daß die wichtigen strategischen und außenpolitischen Entscheidungen von Hitler persönlich, oft gegen den Rat seiner nächsten Gefolgschaft getroffen wurden 1 5 . Worin war diese Selbständigkeit begründet?
III Czichons mangelhaftes Verständnis f ü r den gesellschaftlichen und politischen Rahmen, in dem die Industrie zu handeln hatte, f ü h r t ihn zur Mißdeutung vieler Einzelheiten, die, zusammengezählt, seine Grundthese auch von einem empirischen Standpunkt etwas fragwürdig erscheinen lassen; im folgenden soll auf sie kurz eingegangen werden: a) Es bleibt in Czichons Analyse wie auch in seinem Buch 1 6 unklar, wie es Anfang Januar 1933 zu der Verständigung zwischen den beiden Monopolgruppen (Elektro-Chemie und Schwerindustrie) kam, dem Nationalsozialismus an die Macht zu verhelfen, und wie dieses Einverständnis dann sofort durch fortgesetzten Kampf zwischen ihnen verlorenging, in dem die Schwerindustrie mühelos siegen konnte. Noch fehlen die Belege, sowohl f ü r den Vorgang selbst wie auch f ü r seine Bedeutung. Es ist keineswegs klar, daß die erstgenannte Gruppe an der Regierung Schleicher viel auszusetzen hatte, noch daß die Verständigung die Voraussetzung sine qua non der „Machtergreifung" darstellte, nicht einmal, daß sich die weitere^ Beziehungen zwischen den beiden Gruppierungen so eindeutig und 14 Göring, s. B. Dahlems, The last Attempt, London 1947; Thomas, Geschichte..., a.a.O.; Krauch, vgl. Anm. 10 oben — im April 1940 fehlten ihm 4 000 Techniker und chemische Facharbeiter: BA Koblenz, R 41 Bd. 278, Bl. 127. Diese Haltung von Göring und Thomas steht nicht im Widerspruch zur These, der Vier jahresplan hätte Hitler die wirtschaftliche Basis für seine Abenteuerpolitik geliefert; denn ohne den Vierjahresplan wäre selbst der Feldzug gegen Polen kaum möglich gewesen; zudem hatten Hitler und Thomas unterschiedliche Vorstellungen von dem zu erwartenden Ausmaß des Kriegs. 15 Bullock, der das Material nun dreimal durchgearbeitet hat, bekräftigte diese Position erneut in seinem Vortrag, a.a.O. 16 „Wer verhalf Hitler zur Macht?", Köln 1967.
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sauber entwickelten, wie Czichon sie darstellt 1 7 . Eine weitere Frage ist die nach den Vorstellungen der betreffenden Industriellen über die Rolle von Papens in der neuen Regierung, die am 4.1.1933 ausgehandelt wurde. b) Die „Adolf-Hitler-Spende der deutschen Wirtschaft" war auch etwas zweideutiger, als man Czichons Bemerkungen entnehmen muß. Inspirator der Spende war weniger Krupp als die SA und die unteren Gliederungen der NSDAP, die im Laufe der „Erhebung" vom F r ü h j a h r 1933 überall Geld von der Industrie verlangten. Krupp, ordnungsbesessen wie immer, war bereit, einen Preis f ü r die Einstellung der wilden Sammlungen zu zahlen. Was soll man hervorheben — die Entstehungsgeschichte der Spende, oder die Spende als Symbol der Allianz zwischen Schwerindustrie und NSDAP? 18 c) Noch weniger aussagekräftig als Beleg ist der Generalrat der Wirtschaft, eins der zahlreichen Beratungsgremien, die 1933 ins Leben gerufen wurden und über das Jahresende hinaus nicht weiter existierten. Der Generalrat trat nur ein einziges Mal zusammen, diskutierte über Arbeitsbeschaffungsprobleme und hörte kurze, allgemein gehaltene Reden von Hitler und Ley 1 9 . d) Es ist nicht nachgewiesen, daß „im Frühjahr (1935)... Schacht und andere Wirtschaftsführer" annahmen, das Regime hätte sich soweit konsolidiert, daß „man zur offenen Militarisierung übergehen konnte" und daß „deshalb" der Aufbau der Luftwaffe ebenso wie die Einführung der Wehrpflicht verkündet wurden. Von einer beratenden Rolle der Wirtschaftsführer in diesem Zusammenhang sagen die Akten nichts aus — sie wäre auch unwahrscheinlich, denn die wirtschaftliche Situation, besonders was Außenhandel und Devisen betraf, war alles andere als konsolidiert. Ebensowenig steht Schachts Memorandum „Finanzierung der Rüstung" in einem ursächlichen Verhältnis zu seiner Ernennung zum Generalbevollmächtigten f ü r die Kriegswirtschaft. Diese war vielmehr nur ein Aspekt der allgemeinen Mobilmachungsvorbereitungen vom Frühjahr 1935, die durch verschiedene „Schubladengesetze" und die Schaffung neuer Organi17 Czichon unterschätzt m. E. die Bedeutung des Benzinvertrags, der im Bergbau sehr umstritten war, und überschätzt die Verdrängung der Elektro-Chemie-Gruppe nach 1933. Sehr fraglich erscheint mir die These, die Schwerindustrie hätte sich ab 1938 mit der neuen Prioritätsgruppe „identifiziert": entscheidend war eher die Tatsache, daß die staatliche Nachfrage für ihre Produktion, entgegen ihrer Erwartung, immer noch anstieg; darüber hinaus, daß ein effektiver wirtschaftspolitischer Widerstand nicht mehr möglich war. 18 Eine detaillierte Untersuchung der „Erhebung" vom März 1933 steht noch aus; m. E. war diese Terrorwelle weiter verbreitet, spontaner und politisch bedeutungsvoller als Bracher/Sauer/Schulz, „Die nationalsozialistische Machtergreifung", sie darstellen. Eingriffe in die Wirtschaft waren sehr zahlreich. 19 Stenogr. Bericht in BA Koblenz, R 43 II Bd. 321/1 (20. 9. 33).
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sationsformen f ü r einen (damals noch eventuellen) Kriegsfall gekennzeichnet waren. Schacht bekam den Posten nicht zuletzt, weil Hitler die Zuständigkeiten auf keinen Fall dem Militär übertragen wollte 20 . e) Der Briefwechsel zwischen Ley und Funk im Frühjahr 1941 beweist fast genau das Gegenteil von dem, was Czichon daraus verstehen will. Es war nämlich so, daß Landfried sich gegen den sich immer mehr beschleunigenden Konzentrationsprozeß in der Wirtschaft und gegen die enge Verfilzung der Monopole mit Staat und Partei gewandt hatte; er bekannte sich zur freien Initiative des selbständigen Unternehmers. Ley, dessen DAF über große Versicherungs-, Bank- und Produktionseinrichtungen verfügte, die bestrebt waren, aus ihrer Verbindung zur Partei geschäftliche Vorteile zu ziehen, fühlte sich durch Landfrieds Ausführungen persönlich angegriffen. Funks Antwort war völlig illusorisch, wie der rasch voranschreitende Ausbau der Hermann-Göring-Werke in den besetzten Gebieten und die Zuordnung des gesamten Wohnungsbaus an die DAF bald zeigten; der Machtzuwachs dieser neuen, teils privaten, teils partei-gesteuerten, teils staatlichen Riesenunternehmungen war nicht aufzuhalten, schon gar nicht durch die rhetorische Heraufbeschwörung einer freien Unternehmerinitiative. Funks Meinungen waren sowieso nicht maßgeblich, da das Reichswirtschaftsministerium schon den größten Teil seiner Kompetenzen an den Apparat des Vierjahresplans bzw. an das Ministerium-Todt hatte abgeben müssen 21 . f) Der Stellenwert der Forderungen der Industrie nach tschechischen, polnischen und französischen Betrieben f ü r eine Interpretation des Expansionsdrangs hängt zum guten Teil von ihrem Datum ab; d. h., ob sie vor oder nach der militärischen Besetzung erhoben wurden. Im letzteren Fall ist ihre Beweiskraft f ü r die Vorrangstellung wirtschaftlicher Momente etwas gemindert. Czichon läßt seine Beispiele dieser Forderungen meistens ohne Datum. g) Struktur und Zusammensetzung der von Speer geschaffenen Ringe und Ausschüsse zur Lenkung der Kriegsproduktion sind in einem anderen Zusammenhang von Interesse als in dem von Czichon zitierten: es ist schon vo,n Bedeutung, daß Speer und die Industrie die Macht hatten, sich einer Kontrolle durch Organe der NSDAP weitgehend zu entziehen — darüber gab es auch harte Auseinander20 Im Mai 1935 wurde das erste Reichsverteidigungsges. sowie ein Ges. über den deutschen Volksdienst verabschiedet; die ersten Beratungen über „Mob.fall-Maßnahmen" liefen an. Hitler hielt konsequent mit der Ernennung von Göring, Todt und Speer an seiner Linie fest, die Wehrmacht von der jeweils entscheidenden wirtschaftspolitischen Instanz fernzuhalten. 21 Schriftwechsel Funk-Ley auch im BA Koblenz, R 43 II Bd. 352 b; Übernahme des Wohnungsbaus durch die DAF, ebda., Bde. 529, 1007— 1009 b, 1033 b, 1174—1175; zum Abbau der Kompetenzen des RWM, s. Petzina, a.a.O., S. 61—67; Alan S. Milward, Die deutsche Kriegswirtschaft 1939—45, Stuttgart 1966, Kap. III—IV.
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Setzungen. Aber dies hatte wenig mit dem Primat der Politik zu tun; entscheidend waren die Funktionen dieser industriellen Selbstverwaltungs-Organisationen, die eindeutig auf die Durchführung von Planungen beschränkt waren. Die kollektive Verfügungsgewalt der Großunternehmer über ihr Eigentum wurde aufrechterhalten, aber im Bereich der „großen Politik" hatten die Ringe und Ausschüsse wenig zu sagen. h) Was die Vergasung von 6 Millionen Juden mit einer angeblich vorhandenen, .rapiden Verschärfung der Klassenwidersprüche' oder mit einer .Übersteigerung und extremen Zuspitzung der durch die kapitalistische Eigentums- und Gesellschaftsstruktur bedingten Irrationalität' zu tun hatte, bleibt mir immer noch unklar. Wirtschaftliche, aus dem Konkurrenzprinzip hervorgehende Momente spielten sicherlich im Antisemitismus eine große Rolle (Boykott 1933, Arisierung 1938), führten aber weder logisch noch faktisch zu Auschwitz. Die Argumentenkette ist auch nicht durch Verfeinerung von Begriffen zu retten; dem Konkurrenzprinzip wohnen wohl starke selbstzerstörerische Tendenzen inne, zu welchen aber eine Tendenz zur Massenvernichtung kaum gezählt werden kann. Die Massenvernichtung der Juden wirkte in einem ganz handfesten Sinne selbstzerstörerisch auf das Gesamtsystem. Wie sollte man diesen Tatbestand anders ausdrücken? Warum soll die kapitalistische Irrationalität zu ihren vielen anderen auch noch ein Begriffsmonopol erhalten? All diese detaillierten Einwände betreffen denselben Punkt — eine Überbewertung der unmittelbaren Rolle des Wirtschaftlichen, die auf die Unterlassung zurückzuführen ist, dieses in seinem Gesamtrahmen zu sehen. Auch im „staatsmonopolistischen Kapitalismus" gibt es keine Identität von Wirtschaft und Staat bzw. Gesellschaft. !V Der „Begriffskonfusion" (Czichon) erkläre ich mich gerne schuldig. Es ist klar, daß eine Gegenüberstellung von Wirtschaft und Politik in der Analyse des Imperialismus theoretisch unhaltbar ist, weil es zu einer im allgemeinen unfruchtbaren Suche nach einem sich dem Zugriff der Wissenschaft immer entziehenden politischen Raum führen muß; ferner zu einer analytischen Methodologie (welche Gruppen haben diesen oder jenen Willensbildungsprozeß bestimmt? usw.), wohingegen eine synthetische Darstellung des jeweiligen Gesamtsystems das wissenschaftstheoretisch einzig vertretbare Ziel ist. Aber gerade f ü r den Nationalsozialismus erscheint der nächstliegende, synthetische Zugang zur historischen Entwicklung — der über den staatsmonopolistischen Kapitalismus — mehr Probleme aufzuwerfen, als er zu lösen vermag. Der Begriff hat sicherlich seine Rechtfertigung, indem er ein neues und allgemeines Entwicklungsstadium des Kapitalismus vom vorhergehenden differenziert — in diesem epochalen Sinne kann man wohl die nationalsozialistische Herrschaft als staatsmonopolistisch bezeichnen, das Bismarckreich
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etwa dagegen nicht. Der Begriff ist auch insofern einleuchtend, als er auf die Widersacher hinweist, die dem Staat und den Monopolen gemeinsam sind: Arbeiterklasse, koloniale Bevölkerung, konkurrierende staatsmonopolistische Strukturen — Staat und Monopole sind enger miteinander als mit irgendwelchen anderen Kräften verbunden. Aber die Anwendbarkeit des Begriffs hat dort ihre Grenze, wo es darum geht, die internen Machtverhältnisse innerhalb des Systems zu klären, denn es trifft weder im Falle einzelner Entscheidungen noch in einer größeren Perspektive zu, daß Staat und Monopole sich zu einer neuen (wenn auch in ihren Komponenten dynamischen) Einheit verschmelzen. Gerade in einem neuen, diktatorischen Herrschaftssystem wie dem Nationalsozialismus muß man die Frage „Wer wen?" auch an die Herrschaftspartner richten •— denn der Nationalsozialismus verstand sich als alles andere, nur nicht als Vollstrecker großindustrieller Forderungen. Freilich wurde er dennoch in großem Maß durch die Gesellschaftsstruktur in diese Rolle hineingezwungen. Das Verhältnis zwischen Staat und Monopolen war jedoch in diesen Jahren eine Allianz, worin sich diè eigentlichen Vertragsbedingungen fortlaufend verschoben. Insofern die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus ein bestimmtes Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft voraussetzt—die Instrumentalisierung des Staates durch diese oder jene industrielle Gruppierung —, geht sie über gerade die Frage hinweg, die es aufzuklären gilt, um an die Ursprünge der nationalsozialistischen Dynamik zu gelangen. In diesen Überlegungen war der Rückzug auf den unbeholfenen Begriffsapparat: Politik, Wirtschaft, Staat, begründet; das gleiche trifft f ü r „besitzende Klassen" zu, woran Czichon Anstoß nimmt, denn wie soll man Besitzer von Produktionsmitteln anders beschreiben, wenn sie keine herrschende Klasse zu bilden scheinen? Audi können die Schriften von Marx und Lenin wenig zur Lösung dieser Probleme beitragen, schon gar nicht, wenn man sie nur wiederholt 2 2 ; der Nationalsozialismus war zu sehr ein grundsätzlich neues Phänomen, als daß diese darüber Verbindliches im voraus hätten sagen können. Jedoch bleibt der Marxsche Ansatz unabdingbar: die Ana-' lyse nationalsozialistischer Herrschaft muß bei der Gesellschaftsstruktur anfangen und das Verhältnis zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung als Kernproblem nehmen. Der Ansatz liefert ferner unentbehrliche Hypothesen, Maßstäbe zur Wertung der Bedeutung einzelner Vorgänge, Theoreme zur Feststellung gewisser Korrelationen,. Aber er kann weder die Ergebnisse noch den Begriffsapparat vorschreiben. Czichons härteste Einwände gegen meine Darstellung haben genau den deduktiven Zug, der aus einer Anwendung der Theorie zur Feststellung der Forschungsergebnisse entsteht: „Überbewertung der Differenzen innerhalb der herrschenden Klasse . . . die Rivalitätsprobleme in der Führungsproblematik der Gesamtklasse nah22 Vgl. Czichon, Anm. 88 a — ,die Priorität steht der Basis zu'. Gerade das steht zur Diskussion.
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men niemals einen intransingenten Charakter an, weil sie die gemeinsame sozioökonomische Basis der Klassenherrschaft nicht verlassen konnten"; meine Ausführungen über die Zersplitterung der wirtschaftspolitischen Macht der Industrie und die weitgehende Auflösung des kapitalistischen Wirtschaftssystems in seine Bestandteile überschätzen angeblich den „Wirkungsgrad der Konkurrenz", negieren „die sozioökonomische Gesamtkonzeption der herrschenden Klasse" und stehen schließlich „im krassen Widerspruch zu den historischen Tatsachen". Vier theoretische Grundsätze werden hier postuliert. Läßt man die historischen Tatsachen erstmal beiseite, gibt es keine zwingenden theoretischen Erkenntnisse, die den Differenzen innerhalb der herrschenden Klasse oder dem Wirkungsgrad der Konkurrenz irgendwelche Grenzen oder Folgen vorschreiben — Grenzen und Folgen sind von den allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen abhängig, unter denen die Differenzen ausgetragen werden und Konkurrenz vollzogen wird. Es ist drittens außerordentlich schwierig, eine sozioökonomische Gesamtkonzeption der herrschenden Klasse f ü r die späten dreißiger Jahre empirisch herauszuarbeiten — es sei denn, daß diese Gesamtkonzeption mit der der politischen Führung identisch gewesen sein soll (— eine Interpretation, die kaum zu unterstützen ist). Freilich müßte es, theoretisch gesehen, so etwas gegeben haben; man kann ihren Inhalt aber weder aus der Theorie noch aus der späteren Haltung und Politik der herrschenden Klasse im Krieg deduzieren 23 . Gewisse Grundsätze sind schon klar — die herrschende Klasse war anti-demokratisch und nationalistisch eingestellt, unterdrückte die Arbeiterbewegung und sah Mittel- und Süd-Ost-Europa als deutschen Kolonialraum an. Aber das reicht nicht aus, um die nationalsozialistische Politik zu erklären: gewisse Andeutungen (— weitere Aktenforschung auf diesem Gebiet ist erforderlich) sind schon jetzt vorhanden, daß der Angriff auf Polen 1939 und auf Frankreich 1940 keinen unabdingbaren Teil der Gesamtkonzeption der herrschenden Klasse bildete — wenn man Bürokratie, Militär und Industrie zu dieser herrschenden Klasse zählt; und es war auch umstritten, ob der Nicht-Angriffspakt mit der Sowjetunion deutschen Interessen nicht besser dienen würde als ein Eroberungskrieg 24 . Es wäre schließlich von großem Interesse, etwas über die Haltung führender Industriekreise zur zunehmenden Verschlechterung der deutsch-amerikanischen Beziehungen 1939—41 zu wissen. Die Gesamtkonzeption der herrschenden Klasse ist in allen wesentlichen Einzelheiten noch zu untersuchen; stellt man aus den oben zitierten Gründen die Arbeitshypothese auf, 23 Plünderimg, Sklavenarbeit und die Errichtung von Betrieben in den KZs waren immer system-immanente Möglichkeiten, wurden aber nur durch spezifische politische Entscheidungen „notwendig" gemacht — was freilich die juristische Verantwortung der betr. Unternehmer und Manager in keiner Weise vermindert. 24 Vgl. Anm. 5 und 14, oben. Zur Invasion der SU s. Thomas, a.a.O., S. 266 bis 274, 514—532; Frankreich, Hans-Adolf Jacobsen, „Fall Gelb", Wiesbaden 1957.
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eine Konsolidierung der neuen deutschen Machtstellung sei 1938—41 wichtiger Komponent dieser Gesamtkonzeption gewesen, dann muß man erklären, warum keine Konsolidierung stattgefunden hat. Die tendenzielle Auflösung des kapitalistischen Wirtschaftssystems in ein bloßes Nebeneinander von Firmenegoismen trägt zur Erklärung bei, wenn man die Frage stellt: durch wen, in wessen Namen und wie war eine Forderung nach Konsolidierung politisch geltend zu machen? Es bleibt noch Czichons vierter, aus der Theorie abgeleiteter Grundsatz: „die gemeinsame sozioökonomische Basis der Klassenherrschaft", die nicht verlassen werden konnte, und die den Differenzen in der herrschenden Klasse Grenzen setzte. Wenn ich ihn richtig verstehe, heißt das, daß Richtungskämpfe und Konkurrenz nur soweit ausgetragen wurden, wie sie die Erhaltung des Wirtschaftssystem selbst nicht gefährdeten 2 5 . Dieses Syndrom gehört sicherlich mit zur Dialektik aller kapitalistischen Gesellschaften, war aber kein besonderes Merkmal des deutschen Systems ab etwa 1936. Denn die gemeinsame Basis ergibt sich nicht direkt aus Eigentum und Verfügungsgewalt, sondern wird auch gestärkt und geprägt durch Gefährdung und Konflikt; so führte die Revolution von 1918—19 zu organisatorischen Zusammenschlüssen auf Arbeitgeberseite, Schleichers Wirtschaftsprogrammatik zur endgültigen Hinwendung der Industrie zum Nationalsozialismus, Überproduktion zur Kartellisierung usw. Aber bis Ende der dreißiger Jahre war die deutsche Industrie keinen allgemeinen Drohungen dieser Art mehr ausgesetzt. Gewerkschaften und Arbeiterparteien waren zerschlagen worden, öffentliche Aufträge versetzten die Sorge um die Überproduktion in die mittlere Zukunft der Zeit nach siegreichem Friedensschluß und auch die internationale industrielle Konkurrenz war keineswegs stark. Die gemeinsame sozioökonomische Basis verlor an Bedeutung gerade weil sie nirgends in Frage gestellt oder angegriffen wurde; sichtbarster Ausdruck dieser Tendenz war die Degradierung der Wirtschaftsverbände zu halbstaatlichen Ausführungsinstanzen, die mit Rohstoff-, Devisen- und Auftragsverteilung beschäftigt wurden. Reichswirtschaftskammer (Pietzsch) und Reichsgruppe Industrie (Zangen) hatten im Herrschaftssystem nur noch wenig Gewicht, und es gab sonst keine Organe, die die Gesamtbedürfnisse der sozioökonomischen Basis hätten zum Ausdruck bringen können. Großunternehmen und Kartelle verhandelten direkt mit dem marktbeherrschenden Staatsapparat, der dadurch zum Treuhänder der Basis wurde. Es war nicht so, daß allein die Differenzen innerhalb der herrschenden Klasse, allein die verschärfte kapitalistische Konkurrenz das Wirtschaftssystem direkt auflöste; sie taten es mittelbar, über den Staat, dessen Führung Politik ohne Bezug auf die gesellschaftliche Reproduktion betrieb. Diese Entwicklung hatte mit einer Aufhebung der Klassenherrschaft im sozialen und wirtschaftlichen Sinne nichts zu tun; diese „Basis" war noch vorhanden, nur ist es nicht 25 Der andere, abstrakte Sinn dieser Formulierung ist tautologisch.
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Tim Mason
nachzuweisen, daß sie im Marxsdhen Sinne als Basis politisch fungiert hat. Sie wurde nicht „verlassen", sondern setzte sich zum großen Teil außer Kraft. Die historischen Tatsachen, zu denen meine Thesen in krassem Widerspruch stehen sollen, können hier nicht ausführlich referiert werden. Die Akten aller betreffenden Ressorts f ü r die Zeit ab Mitte 1937 haben fast nur ein einziges Thema: Mangelerscheinungen und die daraus entstehende Konkurrenz — Konkurrenz um Rohstoffe, Arbeitskräfte, Devisen, Kapital und Kompetenzen. Ob man die Akten der Reichsanstalt f ü r Arbeitslosenversicherung und Arbeitsvermittlung nimmt, ob die des Reichswirtschaftsministeriums, ob die des Wehrwirtschaftsstabs im Reichskriegsministerium (bzw. im OKW) oder der Reichskanzlei: die allgemeinen Berichte über die wirtschaftliche Lage und die detaillierten Schriftwechsel zwischen Firmen und Behörden sind alle gleichen Inhalts. Die wirtschaftliche Entwicklung hatte das Darwinistische an der parteioffiziösen Ideologie zum einzigen gesellschaftlichen Ordnungsprinzip gemacht. Die Intensität dieser Konkurrenzkämpfe kann vielleicht daran deutlich gemacht werden, daß die Oberkommandos des Heeres und der Marine und das Reichsverkehrsministerium 1939 einander ausführlich des gegenseitigen Wegengagierens von einigen Ingenieuren beschuldigten, daß die Kohlenproduktion 1939 f ü r die dringlichsten Aufgaben nicht ausreichte und daß die Reichsbahn dennoch nicht genügend Eisen zum Bau von Kohlen waggons beschaffen konnte 2 6 . Das Ausmaß der Konkurrenzkämpfe mag daran deutlich werden, daß es Ende 1938 schon fast eine Million offener Stellen in der deutschen Wirtschaft gab, daß im März 1939 die Entfernung eiserner Gartenzäune vor öffentlichen Gebäuden verfügt wurde, daß die Bedarfsmeldungen f ü r Eisen, Metalle, Zement und Devisen zur gleichen Zeit rund 100 % über den vorhandenen Reserven lagen und daß die Behebung des ölmangels durch den Bau einer Leitung nach Rumänien wie auch durch Ausbau der Donauschiffahrt am Eisenmangel scheiterten 27 . „Die Aufrüstung", stellte General Keitel in einer Sitzung des Reichsverteidigungsausschusses am 15. 12. 1938 summarisch fest, „hat zu einem Kampf aller Bedarfsträger um menschliche Arbeitskräfte, Rohstoffe und Geld geführt." 28 Diese Problematik hatte drei Folgen f ü r das Verhältnis Staat-Wirtschaft: Der Staat wurde gezwungen, seine Bestrebungen zu intensivieren und den Konkurrenzkampf durch Bewirtschaftungsmaßnahmen zu bändigen; die Abhängigkeit der Firmen von ihren staatlichen Auftraggebern hinsichtlich der Beschaffung der Produktionsfaktoren nahm ständig zu; die entscheidende Folge aber war, daß das Problem der Mangelerscheinungen und Engpässe zu dem alles beherrschenden Problem der Industrie wurde — alle anderen Fragen traten in den Hintergrund. Die „Lösung" dieses
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26 BA Koblenz, R 41 Bde. 244, 174. 27 Ebda. R 43 II Bd. 533, 355 a; WilF 5 Bd. 560/1; Jacobsen, a.a.O. S. 188; R 41 Bd. 152. 28. BA Koblenz, WilF 5 Bd. 560/2.
Primat der Industrie? •— Eine
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Problems aber lag eindeutig in der Hand der politischen Führung, die entschlossen war, den durch die Aufrüstung verursachten volkswirtschaftlichen Fehlbedarf (aber keineswegs allein aus diesem Grund!) durch einen Expansionskrieg gleichzeitig zu verschärfen und zu decken. Alle Branchen der Industrie machten mit — d. h. sie plünderten; so kam ein politisch-wirtschaftlicher Teufelskreis zustande, der nur durch eine totale Niederlage gebrochen werden konnte. Allein die Tatsache, daß die Industrie bis zum Ende mitmachte, besagt, daß die Rüstungskonjunktur, der Konkurrenzkampf und die leichte Beute der frühen Kriegsjahre ihr den Sinn f ü r das eigene kollektive Interesse genommen hatten.
V „Exkulpation" ist ein moralischer oder juristischer, keinesfalls aber ein geschichtswissenschaftlicher Begriff; seine Einführung kann die Diskussion nur verwirren, besonders dann, wenn eine objektive und keine absichtliche Exkulpation unterstellt wird. Der Sache des Fortschritts heute wird nicht durch eine Erforschung der Vergangenheit gedient, die irgendetwas schont und wird nicht durch eine Objektivität geschädigt, die überlieferte fortschrittliche Theorien auf ihre Angemessenheit wissenschaftlich überprüft. Das ist auch kein Plädoyer f ü r den Objektivismus. Czichon verweist mit Recht auf die gegenwärtige Situation der Bundesrepublik, wodurch unsere historischen Erkenntnisse stark geprägt sind — ob man will oder nicht; besser daß man es will und dessen bewußt wird. Dabei stellt er die aktuellen Implikationen meiner Hypothesen ziemlich auf den Kopf. Denn wenn der Primat der Politik unter den Bedingungen des Monopolkapitalismus nur in der äußerst radikalen Form der nationalsozialistischen Herrschaft zu behaupten war, so ist der bundesdeutsche Staat um so mehr als Überbau der ökonomischen Basis zu betrachten. Diese Basis mag „sowohl sozio-ökonomisch als auch personell identisch" sein mit der der späten dreißiger Jahre (— es ist fraglich), aber ihre Wirkungsweise hat sich entscheidend geändert. Vielleicht haben die Monopolherren von der Geschichte gelernt; vielleicht hatten sie guten Grund dazu. Ist das Schlagwort „Primat der Wirtschaft" nur im Kampf gegen die Mitbestimmung entstanden? Es gibt fraglos Tendenzen in der Industrie heute, die f ü r die Demokratie gefährlich sind; das Erkennen dieser Sachverhalte wird aber durch Vergleiche mit dem Nationalsozialismus eher erschwert als gefördert. Denn die Gefährlichkeit jener Tendenzen liegt, auf lange Sicht, gerade in ihrem vorsichtigen, verdeckten und zweckrationalen Charakter. Va banque-Politik und „Zusammenbruch" sind heute undenkbar; die Reproduktion des Systems ist oberstes Gebot geworden. „Exkulpation" ist erforderlich, damit wir nicht von falschen Erwartungen über Prioritäten und Verhaltensweisen des Gegners ausgehen.